12
Unverkäufliche Leseprobe aus: Herausgegeben von Peter Sillem Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein Ein Lesebuch Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bil- dern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesonde- re für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Unverkäufliche Leseprobe aus: Herausgegeben von Peter ... · PDF fileSören Kierkegaard Der Unglücklichste 146 Sigmund Freud Trauer und Melancholie 162 Walter Benjamin Exkurs über

  • Upload
    vudieu

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Unverkäufliche Leseprobe aus:

Herausgegeben von Peter SillemMelancholie oder Vom Glück, unglücklich zu seinEin Lesebuch

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bil-dern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesonde-re für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

INHALT

Vorbemerkung 7

Hippokrates bei DemokritEine Begegnung, nacherzählt von Robert Burton 14

Pseudo-AristotelesProblem xxx, 1 21

Abû Ma’sarDas Wesen des Saturn 29

Aus der ›Enzyklopädie der Lauteren Brüder‹ 31

Ishaq Ibn ’ImranAbhandlung über die Melancholie 34

Marsilio FicinoMelancholie und SaturnAus ›Drei Bücher vom Leben‹ 39

Timothy BrightTraktat über die Melancholie 55

John EarleEin Mißvergnügter 64

Robert BurtonDemokrit Junior an den LeserAus der ›Anatomie der Melancholie‹ 67

»Das ist mein ganz leben, welches eben nicht garlustig ist«Aus den Briefen der Liselotte von der Pfalz 107

»… daß ich nicht, Gott bewahre, in melancholischeGedanken sollte kommen«Aus den Memoiren der Glückel von Hameln 112

Denis Diderot et al.»Melancholie« Aus der ›Encyclopédie‹ 117

Johann Georg ZimmermannÜber die Einsamkeit 130

Giacomo LeopardiAus dem ›Gedankenbuch‹ 135

Sören KierkegaardDer Unglücklichste 146

Sigmund FreudTrauer und Melancholie 162

Walter BenjaminExkurs über die MelancholieAus ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹ 181

Susan SontagIm Zeichen des Saturn 204

Jean StarobinskiDemokrit sprichtDie melancholische Utopie des Robert Burton 228

Oliver VogelDie diskrete Form der Melancholie oderEs gibt sie noch, die guten Dinge 260

ANHANG

Auswahlbibliographie 271Verzeichnis der Autoren und Quellen 277Bildnachweis 283

HIPPOKRATES BEI DEMOKRIT

Eine Begegnung, nacherzählt von Robert Burton

Als Hippokrates nun in Abdera angekommen war, sammeltensich die Leute um ihn, von denen einige weinten, andere ihnanflehten, sein Bestes zu tun. Nach einer kurzen Rast suchteer Demokrit auf, wobei ihm die Menschen folgten, und fandihn allein in seinem Garten vor der Stadt, auf einem Steinunter einer Platane sitzend, ohne Strümpfe und Schuhe, einBuch auf den Knien und damit beschäftigt, verschiedene Tierezu sezieren und seinen Studien nachzugehen. Die Menge ver-sammelte sich im Kreis, um das Treffen der beiden zu beob-achten. Hippokrates begrüßte Demokrit nach einer kurzenPause und sprach ihn mit seinem Namen an, worauf Demo-krit den Gruß erwiderte, etwas beschämt, daß er den Namenseines Gegenübers nicht zu nennen oder zu erinnern wußte.Hippokrates fragte ihn, womit er beschäftigt sei. Und Demo-krit antwortete, er sei dabei, verschiedene Tiere zu zerlegen,um die Ursache der Verrücktheit und Melancholie zu ent-decken. Hippokrates lobte sein Unternehmen und bewunder-te sein Glück und seine Muße. Und warum, gab Demokritzurück, besitzt du diese Muße nicht? Weil mich, so Hippo-krates’ Antwort, private Verpflichtungen daran hindern, de-nen ich um meinet- und der Nachbarn und Freunde willennachkommen muß: Aufwendungen, Krankheiten, Gebrechenund Sterbefälle, Familienangelegenheiten und die Diener-schaft, das alles beraubt uns unserer Zeit. Bei diesen Wortenbrach Demokrit in nicht enden wollendes Gelächter aus, wäh-rend seinen Freunden und den Umstehenden die Tränen ka-men und sie seine Geisteskrankheit beklagten. Hippokrateswollte von ihm wissen, weshalb er lache. Demokrit verwies

auf die Eitelkeiten und die Ziererei seiner Zeitgenossen, diesich allen tugendhaften Handelns entschlagen hätten, endlosnach Gold jagten, sich grenzenlos ihren Leidenschaften über-ließen, unendliche Mühen nicht scheuten, um ein bißchenRuhm und Gunst zu erhaschen, auf der Suche nach Gold tiefeStollen in die Erde trieben und darüber oftmals ihr Leben undihr Vermögen verlören. Einige liebten Hunde, andere Pferde,wieder andere wollten, daß ihnen viele Provinzen gehorchten,und kannten doch selbst keinen Gehorsam. Einige liebten ihreFrauen zuerst zärtlich, nur um sie später zu verlassen und zuhassen, oder zeugten Kinder, die sie mit viel Sorgfalt undhohen Kosten aufzögen, aber kaum, daß sie volljährig gewor-den seien, verachteten, vernachlässigten und mittellos demMitleid der Umwelt überließen. Sind diese Verhaltensweisennicht Zeichen unerträglicher Torheit? Wenn Menschen inFrieden leben, gelüstet es sie nach Krieg, sie verachten dieRuhe, setzen Könige ab und andere an ihrer Stelle ein und er-morden Männer, um mit deren Frauen Kinder zu zeugen. Wieviele sonderbare Launen hausen in den Menschen? Wenn siearm sind und bedürftig, suchen sie Reichtümer, und wenn siesie besitzen, genießen sie sie nicht, sondern verbergen sieunterirdisch oder vergeuden sie sonstwie. O weiser Hippo-krates, über ein derartiges Verhalten muß ich lachen, und dasum so mehr, wenn es kein gutes Ende nimmt oder etwas soWidersinniges bezweckt. Unter den Menschen gibt es wederWahrheit noch Gerechtigkeit, denn täglich zieht der einegegen den anderen zu Felde, der Sohn gegen den Vater und dieMutter, Bruder gegen Bruder, Verwandte und Freunde gegenihresgleichen, und alles das um Reichtümer willen, die nie-mand nach seinem Tode weiter besitzen kann. Trotzdemschneiden sie sich die Ehre ab und bringen sich gegenseitigums Leben, begehen alle möglichen Gesetzesverstöße undverachten Gott und die Menschen, Freunde und Vaterland.Von leblosen Dingen machen sie viel Aufhebens und haltenStatuen, Bilder und andere bewegliche Habe für einen wichti-

H i p p o k r a t e s b e i D e m o k r i t 15

gen Teil ihrer Schätze. Vieles davon ist teuer bezahlt, undmanches Kunstwerk mit solchem Geschick angefertigt, daßnur noch die Sprache zu fehlen scheint, und doch lassen sichihre Besitzer nur höchst ungern von Menschen aus Fleischund Blut ansprechen. Andere verkomplizieren ihr Leben nachKräften; wenn sie auf dem Festland wohnen, ziehen sie aufeine Insel und von dort wieder zurück und so weiter, so flat-terhaft sind ihre Wünsche. Sie loben Tapferkeit und Kamp-fesstärke und lassen sich doch selbst von Lust und Geiz besie-gen; kurz, ihr Geist ist nicht weniger in Unordnung, als es derKörper des Thersites war. Und also scheint mir, ehrwürdigerHippokrates, du solltest angesichts so vieler menschlicherNarreteien mein Lachen nicht tadeln; denn niemand machtsich über seine eigene Torheit lustig, sondern nur über die sei-nes Nachbarn, und also verspotten sie sich gerechterweise ge-genseitig. Der Trunkenbold nennt den Vielfraß, von dem erweiß, daß er nüchtern ist. Viele lieben das Meer, andere dieLandwirtschaft, kurz, nicht einmal, was ihren eigenen Handelund Wandel angeht, sind sie sich einig, geschweige denn inWort und Tat.

Als Hippokrates so flüssig und ohne lange nachzudenkenüber die Eitelkeit der Welt und ihre lächerliche Widersprüch-lichkeit reden hörte, antwortete er: Die Notwendigkeit zwingtdie Menschen zu solchen Taten, und nach göttlichem Rat-schluß gibt es die unterschiedlichsten Bestrebungen und Ab-sichten, damit wir nicht untätig sind, denn nichts ist den Men-schen abträglicher als Faulheit und Schlendrian. Außerdem istdas menschliche Geschick so unberechenbar, daß man zukünf-tige Ereignisse nicht vorhersehen kann. Ließen sich die Grün-de der späteren Abneigung und Trennung vorhersagen, würdeniemand heiraten; Eltern würden nicht so rührend für ihreKinder sorgen, wüßten sie die Stunde ihres Todes, ein Land-mann säen, wenn er nicht auf reiche Ernte hoffte, ein Kauf-mann sich aufs Meer hinauswagen, ahnte er den Schiffbruchvoraus, ein Magistrat sich nicht wählen lassen, wüßte er von

16 H i p p o k r a t e s b e i D e m o k r i t

seiner baldigen Absetzung. Werter Demokrit, jeder hofft nuneinmal auf das Beste, und zu diesem Zweck handelt er, ohnesich aus diesem Grund lächerlich zu machen.

Als Demokrit diese armselige Entschuldigung hörte, lachteer wieder laut auf, weil er erkannte, daß ihn Hippokrates miß-verstanden hatte und nicht richtig nachvollziehen konnte, waser über die Geistesverwirrung und die Geistesruhe ausgeführthatte. Wenn die Menschen mit Umsicht und Weitblick handelnwürden, würden sie sich nicht wie jetzt zu Narren machen, under hätte keinen Grund, sie zu verlachen. Aber, so sagte er, siehaben keinen Verstand und blasen sich in diesem Leben auf, alswären sie unsterbliche Halbgötter. Wenn sie nur die Unbe-ständigkeit der Welt bedächten und wie sie sich ohne alle Fe-stigkeit und Sicherheit herumwälzt, wäre das ausreichend, umsie klug werden zu lassen. Der, der jetzt obenauf ist, liegt mor-gen am Boden, der heute auf dieser Seite sitzt, sieht sich mor-gen auf jene geschleudert, aber unbedacht, wie sie sind, stürzensie sich in Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten, begehrenund dürsten nach nutzlosem Zeug und manövrieren sich blind-lings ins Elend. Wenn sie nicht mehr in Angriff nähmen, alsihnen zuträglich ist, würden sie zufrieden leben, und die Selbst-erkenntnis würde ihrem Ehrgeiz Zügel anlegen. Sie würden be-merken, daß die Natur genug gewährt, wenn man nichts Über-flüssiges und Wertloses begehrt, was ohnehin nur Kummerund Belästigungen mit sich bringt. Wie ein fetter Körper anfäl-liger für Krankheiten ist, so die Reichen für Albernheiten undtörichtes Zeug, das manches Opfer fordert, manchen Verdrußbereitet. Viele achten nicht darauf, was anderen durch schlech-ten Lebenswandel zustößt, und stürzen durch eigene Schuldauf dieselbe Weise, ohne die handgreiflichen Gefahren voraus-zusehen. Dies sind arge Verrücktheiten, sagte er, die mich la-chen machen, denn jetzt bezahlt ihr den Preis eurer Gottlosig-keit, eures Geizes, Neides, der Bosheit, der ungeheuerlichenSchurkereien, des Aufbegehrens, der unstillbaren Wünscheund heillosen Laster, ganz abgesehen von der Heuchelei und

H i p p o k r a t e s b e i D e m o k r i t 17

Verstellung, dem tödlichen Haß, mit dem ihr euch begegnet,während ihr gute Miene zum bösen Spiel macht, dem Schwel-gen in schmutzigen Lüsten, der Übertretung aller Gesetze derNatur und des Anstands. Auf manches, was sie aufgegeben ha-ben, sei es Landwirtschaft oder Seefahrt, werfen sie sich nacheiniger Zeit von neuem, nur um davon, wankelmütig und un-beständig wie sie sind, wieder abzulassen. Wenn sie jung sind,möchten sie alt sein und umgekehrt. Fürsten loben die Zurück-gezogenheit, den Privatmann gelüstet es nach öffentlichen Eh-ren. Der Magistratsherr empfiehlt ein ruhiges Leben, der, derruhig lebt, begehrt sein Amt und die damit verbundene Macht.Und was ist der Grund all dieser Verwirrung: die fehlendeSelbsterkenntnis. Einige finden Vergnügen am Zerstören, an-dere am Aufbauen und wieder andere daran, ein Land auszu-plündern, um ein anderes und sich selbst zu bereichern. In alldiesen Dingen benehmen sie sich wie Kinder, die ohne Überle-gung und Einsicht sind, und gleichen den Tieren mit Ausnah-me der Tatsache, daß die Tiere besser sind als sie, weil sie sichan dem, was die Natur gewährt, Genüge sein lassen. Hat manjemals einen Löwen gesehen, der Gold vergräbt, oder einenStier, der um eine bessere Weide kämpft? Wenn ein Eber dur-stig ist, trinkt er, soviel er braucht, nicht mehr; und wenn seinMagen voll ist, hört er auf zu fressen. Nur wir Menschen sindmaßlos in beidem wie auch in der Sinnenlust, denn während dieTiere nur zu gewissen Zeiten in Brunst sind, suchen wir unsständig zu paaren und ruinieren so unsere körperliche Ge-sundheit. Und verdient der verliebte Narr etwa nicht ausge-lacht zu werden, der sich nach einem Weibsbild verzehrt, einerungestalten und ungewaschenen Schlampe hinterhergreint undheult, obwohl er zwischen den schönsten Frauen wählenkönnte? Gibt es dagegen in der Medizin ein Mittel? Ich sezie-re und zerlege diese armen Tiere, um die Ursache solcher gei-stigen Störungen, Eitelkeiten und Torheiten herauszupräparie-ren, obwohl ich, wenn meine empfindsame Natur das zuließe,besser menschliches Anschauungsmaterial benutzen sollte.

H i p p o k r a t e s b e i D e m o k r i t18

Von der Stunde seiner Geburt an ist der Mensch elend, schwachund kränklich; während er noch an der Brust hängt, wird ervon anderen angeleitet, wenn er erwachsen und kräftig ist, übter sich im Unglückzufügen, und im Alter wird er wieder zumKind und bereut sein vergangenes Leben. An dieser Stelle wur-de Demokrit von jemandem unterbrochen, der ihm Bücherbrachte, und dann bekräftigte er seine Ansicht von neuem, daßalle verrückt, unbedacht und dumm seien. Um das, was ich aus-geführt habe, zu belegen, braucht man sich nur die Gerichteund die Privatsphäre anzusehen. Richter urteilen zu ihrem ei-genen Vorteil und fügen den Armen schreiendes Unrecht zu,um sich bei anderen beliebt zu machen. Anwälte ändern Urtei-le und lassen gegen Bestechung wichtige Urkunden unauffind-bar werden. Einige sind Falschmünzer, andere manipulierenGewichte. Einige verunglimpfen ihre eigenen Eltern oder stür-zen ihre leiblichen Schwestern ins Verderben, andere fertigenlange Klage- und Schmähschriften an, bringen anständigeMenschen um ihren guten Ruf und rühmen die Unzüchtigenund Lasterhaften über den grünen Klee. Einige berauben die-sen Klienten, andere jenen; Richter machen Gesetze gegenDiebe und sind doch selbst die größten Langfinger. Manchebringen sich um, andere verzweifeln, wenn sie nicht ans Zielihrer Wünsche gelangen können. Andere tanzen, singen, la-chen, feiern Feste und Gelage, während ihre Nächsten seufzen,schmachten, wehklagen, weil sie weder zu essen oder zu trin-ken haben noch Kleidung besitzen. Etliche schmücken ihreKörper, und ihre Gedanken kreisen um die abscheulichstenLaster. Wieder andere lungern herum, um falsch Zeugnis ab-zulegen, und sind für Geld zu jeder Aussage bereit. Obwohldie Richter davon wissen, drücken sie, bestechlich wie sie sind,beide Augen zu und dulden, daß falsche Verträge über die Ge-rechtigkeit siegen. Frauen verbringen den ganzen Tag damit,sich herauszuputzen, um in der Öffentlichkeit anderen Män-nern den Kopf zu verdrehen, laufen aber zu Hause wie Schlam-pen herum, ohne sich für ihre Ehemänner, denen sie gefallen

H i p p o k r a t e s b e i D e m o k r i t 19

sollten, im mindesten herzurichten. Wenn ich solche Unbe-ständigkeit, Unvernunft und Maßlosigkeit sehe, kann ich garnicht anders, als über diejenigen zu lachen, die sich in ihrer Tor-heit weise dünken, ihre Geistesverwirrung nicht bemerken undalso auch nicht von ihr geheilt werden wollen.

Es wurde spät, und Hippokrates verabschiedete sich. Kaumhatte er Demokrit verlassen, sammelten sich die Städter umihn, um zu erfahren, was er von dem Fall halte. Hippokratesantwortete ihnen knapp, daß die Welt trotz gewisser Nachläs-sigkeiten in Kleidung, Körperpflege und Ernährung keinenweiseren, klügeren, ehrenhafteren Menschen besitze als De-mokrit und daß die sehr im Irrtum seien, die ihn als verrücktbezeichneten.

H i p p o k r a t e s b e i D e m o k r i t20

Pseudo-Aristoteles

PROBLEM XXX, 1

Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen,Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholikergewesen? Und zwar einige in solchem Maße, daß sie sogarunter den von der schwarzen Galle verursachten krankhaftenAnfällen litten, wie in der Heroensage von Herakles berichtetwird. Denn dieser scheint eine solche Naturanlage besessenzu haben, weshalb auch die Alten die Anfälle der Epileptikernach ihm die »heilige Krankheit« nannten. Sowohl die Wahn-sinnstat gegen seine Kinder als auch das Aufbrechen seinerWunden vor der Entrückung auf dem Öta macht dies deut-lich – denn solches wird bei vielen durch die schwarze Gallebewirkt: ebendies geschah auch mit den Wunden des Lysan-der von Sparta vor seinem Tode. Ferner die Geschichten vonAjax und Bellerophon, von denen der eine völlig wahnsinnigwurde, der andere in die Einsamkeit floh, weshalb auch Ho-mer über ihn folgendermaßen gedichtet hat:

»Aber nachdem auch jener verhaßt war allen Göttern,Irrt’ er umher, einsam, durch die Aleïsche Flur,Sein Herz in Kummer verzehrend, der Menschen Pfade

vermeidend.«

Auch viele andere unter den Heroen litten offenbar in dersel-ben Weise wie diese. Unter den Späteren waren es Empe-dokles, Platon und Sokrates und zahlreiche andere berühmteMänner, sowie auch die meisten Dichter. Viele von ihnen wer-den von Erkrankungen befallen infolge einer derartigenMischung in ihrem Körper, bei andern zeigt die Naturanlageeine deutliche Neigung zu diesen Leiden. Alle aber, um es

knapp zu sagen, sind also, wie bereits erwähnt, von Natur ausso beschaffen.

Wir müssen nun die Ursache hiervon herausfinden, indemwir uns zunächst eines Vergleiches bedienen. Wein in großerMen-ge genossen versetzt offensichtlich Menschen in solcheZu-stände, wie wir sie bei den Melancholikern finden, und ruftbei den Trinkenden die verschiedensten Charakterzüge hervor,indem er sie zum Beispiel jähzornig, menschenfreundlich,rührselig oder draufgängerisch macht; doch weder Honig nochMilch, noch Wasser, noch etwas anderes dieser Art hat eine sol-che Wirkung.

Daß der Wein bei den Menschen die verschiedensten Cha-rakterzüge hervorbringt, kann man auch sehen, wenn man be-obachtet, wie er die Trinkenden allmählich verändert: diejeni-gen, welche am Anfang, in nüchternem Zustand, kühl undschweigsam waren, macht er, wenn sie nur ein wenig zuviel ge-trunken haben, geschwätziger; trinken sie noch ein wenigmehr, macht er sie großsprecherisch und übermütig und, wennsie fortfahren, draufgängerisch. Trinken sie noch mehr, somacht er sie frevelhaft und schließlich rasend. Ein allzu großesÜbermaß jedoch erschöpft sie und macht sie stumpfsinnig wiejene, die von Kindheit an Epileptiker waren oder deren Zu-stand an extreme Melancholie grenzt.

Wie nun der einzelne Mensch seinen Charakter ändert beimTrinken, je nach der Menge des Weines, die er zu sich genom-men hat, so gibt es – entsprechend jeder solchen temporärenVerhaltensweise – gewisse Menschentypen, die sie verkörpern.Denn so wie der eine in diesem Augenblick der Trunkenheit ist,so ist ein anderer von Natur: der eine geschwätzig, der andereerregbar, der dritte stets den Tränen nahe – denn auch in diesenZustand bringt der Wein den Menschen, weshalb es auch beiHomer heißt:

»Und sie sagt, daß ich in Tränen schwimme, weil mir der Sinnvom Wein beschwert ist.«

P s e u d o - A r i s t o t e l e s22