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1 DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Zwischen Shakespeare und Stalin Der legendäre Schauspieler Solomon Michoels Produktion: RBB/DLF 2013 Regie: Gerda Zschiedrich Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 25. Januar 2013, 20.10 - 21.00 Uhr

Urheberrechtlicher Hinweis - unkorrigiertes Exemplar ... · proisnosit s takim vostorgom – kak budto on zar. Sprecherin Alla Das war eine Paraderolle für Michoels, der ja im guten

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DEUTSCHLANDFUNK

Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel

Redaktion: Sabine Küchler

Feature Zwischen Shakespeare und Stalin Der legendäre Schauspieler Solomon Michoels Produktion: RBB/DLF 2013 Regie: Gerda Zschiedrich Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

©

- unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 25. Januar 2013, 20.10 - 21.00 Uhr

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(Regie: Bitte Pausen im Oton weitestgehend lassen, russischen Oton ruhig länger frei stehen

lassen vor der Übersetzung, keine Musik)

Oton Kotljarova

OK1 CD 6/25'28-25’43 Kak mozno ne pomnit?...godu. 25’55-26’39 a kogda mi

prishli ….. kak zit dalshe neizvestna.

Sprecherin Kotjla: Wie kann man das je vergessen? Wie kann man? Es war im Jahr 1948.//

Als wir am 13. Januar zur Theaterprobe kamen, haben wir es erfahren.

Es ist sehr schwer, unseren Zustand, unsere Gefühle in Worten

wiederzugeben. Das bleibt bis heute unvergesslich. Wir hatten alle nicht

nur einen Menschen verloren, der uns nahestand – (putzt sich die Nase)

nein, das ganze Leben brach zusammen. Wir wussten nicht, wie es

weitergehen sollte.

Oton Natalija:

ONA1 19’33-19’54 Ja litschno…avtomobilnaja katastrofa

Sprecherin Natalija: Ich habe von seinem Tod am Telefon erfahren. Man hat mich angerufen

und mir gesagt, dass mein Vater umgekommen sei. Ich verstand nicht.

Am anderen Ende der Leitung sagte man mir: Ein Autounfall.

Oton Kotljarova:

OK2 CD 6 28’38-28’53 cpervovo momento…..eto ne katastrofa.

Sprecherin Kotlj: Vom ersten Moment an wussten wir, dass man ihn umgebracht hat. Wir

wussten nicht wie und haben damals auch noch nicht verstanden,

warum. Aber wir wussten sofort: Es war kein Unfall.

ANSAGE:

ZWISCHEN SHAKESPEARE UND STALIN –

DER LEGENDÄRE SCHAUSPIELER SOLOMON MICHOELS

Feature von Brigitte van Kann

Künstlerische Bearbeitung: Gabriela Hermer

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Atmo GOSET: Geigen werden gestimmt

Dazu Musik: Komposition Dietrich Petzold

Erzähler: Moskau, 1. Januar 1921. In einem ehemaligen Bankettsaal, der in ein

kleines Theater umgewandelt worden ist, versammeln sich die ersten

Gäste. Der Saal hat die Form einer Schuhschachtel. Gerade einmal 90

Zuschauer passen hinein. Marc Chagall, damals noch wenig bekannt,

hat den Vorhang mit zwei Ziegenköpfchen bemalt - auch die

farbenfrohen, üppigen Wandbilder und Kostüme stammen von seiner

Hand.

Musik GOSET: instrumental

Erzähler: Das GOSET, das erste jüdische Staatstheater der Welt, feiert seine

Eröffnung. Das Ensemble spielt drei Einakter nach dem jiddischen

Klassiker Scholem Alejchem. Ein Mann auf der Bühne, klein, schmal, mit

einer imposant hohen Stirn und eindringlichem Blick, zieht die

Zuschauer sofort in seinen Bann: Solomon Michoels. Bald wird er der

Star der jungen Truppe sein.

Atmo GOSET: Szene aus Benjamin: Wos is de kretschme, Senderle? Gut. Losich mir

zulegn. Gut. Oisruhen. Aiaiaiai

Sprecherin Natalja: Mein Vater war 28 Jahre alt. Er studierte im letzten Semester an der

Juristischen Fakultät in St. Petersburg und bereitete sich auf seine

Diplomarbeit vor.

Erzähler: schreibt Natalja Michoels später in ihrer Biographie über ihren Vater.

Atmo GOSET Szene aus Benjamin weiter: Gähnen, Hörst Du Benjamin, hörste

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Sprecherin Natalja: Als er von der geplanten Gründung eines jüdischen Theaters erfuhr, lief

er zum Vorsprechen und wurde noch am selben Tag genommen.

Atmo GOSET: Szene aus Benjamin weiter: freistehen lassen

….. Kartofflech. Und Du? Ich? Nein, hörst Du Senderle?

Musik GOSET: instrumental

Dazu Musik: Komposition Dietrich Petzold

Erzähler: Der Wunsch auf jiddisch zu spielen ist Ausdruck eines neu erwachten

Selbstbewusstseins. Die Revolution hatte die russischen Juden von

Verfolgung und Diskriminierung im Zarenreich befreit. Alexei Granovski,

ein junger Regisseur, der in Berlin bei Max Reinhard studiert hat, ist die

treibende Kraft hinter diesem modernen, zeitgenössischen jüdischen

Theater. Die Dramen, die er auf die Bühne bringt, sind antireligiös, dem

postrevolutionären Zeitgeist entsprechend. Und links. Der einfache,

werktätige Mensch steht im Mittelpunkt.

Oton Alla U nevo bil ocen intellektualni podchot… Ganovskovo

Sprecherin Alla: Granovski, hatte einen sehr intellektuellen Zugang zum Theater, zur

Regie, zum modernen europäischen Schauspiel.

Erzähler: Alla Suskin, Tochter des Schauspielers Veniamin Suskin.

Oton Alla: A trupa vobcem bila iz mestecok…..pronikcja.

Sprecherin Alla: Die Schauspieler jedoch kamen größtenteils aus dem Shtetl. Der Einzige,

der studiert hatte, war Solomon Michoels. Während seines Jura-

Studiums in St. Petersburg hatte er sich auch mit Philosophie, Latein und

antikem Recht beschäftigt. Deshalb fand Granovski sofort Gefallen an

Michoels.

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Musik GOSET: Lied „Nit Schimele“/ Michoels aus „200 000“/ instrumental, steht etwas

frei, dann

Erzähler: 1923 feiert das Theater seinen ersten großen Erfolg mit dem Stück

"Zweihundertausend" nach Scholem Alejchem. Solomon Michoels spielt

die Hauptrolle, einen armen Schneider.

O-Ton Nina: Tam rec idjot o tom, cto malenkij portnoj vyigryvaet dengi – 200 000.

Vot – i on baldejet.

Sprecherin Nina: Der Schneider hat mit seinen beiden Gesellen und seiner Tochter eine

kleine Schneiderei. Eines Tages gewinnt er in einer Lotterie 200 000 -

und verliert völlig den Kopf.

Erzähler: Nina Michoels, die jüngere Tochter des Schauspielers.

Musik GOSET: Michoels singt: Semion Makarovitsch 3 x, bin ich geboren, dann

darunter:

Oton Nina: I on pojet tam pecenki schto teper ja Semion Makarovitch. Ja bolschoi

chelovek. Ja Millioner. Vco eto kak con.

Sprecherin Nina: Er singt, jetzt bin ich Semion Makárovitsch, jetzt bin ich ein großer

Mann, ein Millionär. Das ist wie ein Traum.

O-Ton Alla: Ocen chorosaja rol dlja Michoelsa. U nego byla vsegda sklonnost v

chorosem smysle slova k pafosnom…..pripodnivit. A kogda on pojot, cto

ja teper ne Simele, a Semjon Makarovic – etot „Semjon Makarovic“ on

proisnosit s takim vostorgom – kak budto on zar.

Sprecherin Alla Das war eine Paraderolle für Michoels, der ja im guten Sinne eine

Neigung zum Pathetischen hatte. Wenn er singt, „ich bin jetzt nicht

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mehr Schimele, sondern Semjon Makárovitsch“ – dann macht er das mit

einer Begeisterung, als wäre er Zar geworden.

Musik GOSET: (Semion Makarovitsch) frei stehen lassen (Semion Makarovitsch), dann

instrumental weiter, drauf:

Erzähler: Schimele aus dem Shtetl gehört jetzt zur besseren Gesellschaft. Doch

dann wird er von Betrügern aus eben dieser besseren Gesellschaft um

seinen Gewinn gebracht. Erleichtert kehrt er zu seinem ehrlichen

Handwerk zurück.

O-Ton Nina: No on govorit: nechevo. Glavnojo shto....evrejcki optimism.

Sprecherin Nina: Na ja, macht nichts, sagt er sich. Hauptsache mir bleibt meine Tochter

und ihre große Liebe, mein Geselle. So muss man das Leben sehen:

Heute hast Du in der Lotterie gewonnen, morgen ein anderer. Das ist

jüdischer Optimismus.

Musik GOSET tai, tai, taier etwas frei stehen lassen, dann darauf:

Erzähler: Die beiden Schwestern Nina und Natalija Michoels, wie auch Alla Suskin

leben seit den 1970er Jahren in Tel Aviv. Alle drei Frauen – mittlerweile

hochbetagt - arbeiten seit Jahrzehnten daran, die Erinnerung an das

Moskauer jüdische Staatstheater aufrecht zu erhalten. Nina, die als

junges Mädchen gemeinsam mit ihrem Vater in Moskau auf der Bühne

stand, unterrichtet bis heute in Israel Schauspiel. Natalja hat eine

Biographie über ihren Vater geschrieben, die in mehrere Sprachen

übersetzt wurde. Alla Suskin reist noch immer unermüdlich um die Welt,

hält Vorträge und organisiert Ausstellungen über das Theater und seine

Künstler.

Musik GOSET Klares Musikende "Taier" frei stehen lassen

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Oton Alla: A suskin prishol poje.// I on kakto ocevidno uvedil …net. I tut on

potshustvevol …notsheloc eto …matematiceski vycesleno.

Sprecherin Alla: Mein Vater, Veniamin Suskin kam erst zwei Jahre nach Michoels ans

Theater. Und Granovski erkannte bald, dass er mit Michoels, als dem

Star der Truppe, zwar die intellektuelle Seite der jüdischen Gesellschaft

unterstrich, die Verbindung aber zu der emotionalen Seite fehlte. Die

hat dann Suskin mitgebracht. Zusammen bildeten Suskin und Michoels

ein ausgezeichnetes Paar. Suskins amateurhafte Elementargewalt stand

genau im Gegensatz zum mathematisch exakten Spiel von Michoels.

Atmo GOSET: Szene aus Benjamin III. A gute Nacht...schlof.

Oton Kotlja: Vy znajete, on ved byl nevysokogo rosta ... ocen ne krocivi.

Sprecherin Kotlja: Michoels war ja nicht besonders groß und er war hässlich, sehr hässlich

sogar.

Erzähler: erinnert sich die Schauspielerin Maria Kotljaróva.

Oton Kotlja: no na scene….smotrel.

Sprecherin Kotlja: Aber auf der Bühne spielte das keine Rolle, denn er spielte wie ein Gott.

Sprecherin Natalija: „Ich würde mein Gesicht am liebsten ins Pfandhaus tragen und die

Quittung verlieren“, sagte mein Vater gern. Aber in seinem Inneren litt

er zweifellos an seinem kleinen Wuchs und seiner Hässlichkeit – die

seinen ganzen Zauber ausmachte.“

Musik: Komposition Dietrich Petzold

Erzähler: Sein ganzer Zauber - In den wenigen erhaltenen Filmaufnahmen ist er

noch immer zu spüren. In Michoels Spiel verschmilzt expressionistische

Theaterkunst mit ostjüdischer Schauspieltradition, die sich im Laufe der

Jahrhunderte an jiddischen Wandertheatern geformt hat.

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Atmo GOSET: Szene Benjamin: aiaiai, wos ist, wos schreiste? …..Senderl., dann Musik

instrumental

Erzähler: „Das GOSET, die größte Errungenschaft der sowjetischen Kunst“ – jubeln

die Parteizeitungen Mitte der zwanziger Jahre. Mit seinen satirischen

Stücken über das rückständige, religiöse Leben im Schtetl macht das

jüdische Theater Furore, wird in einem Atemzug mit anderen Moskauer

Theatern genannt. Das Publikum strömt, nicht nur das jüdische. 1924

zieht das Ensemble in einen größeren Theatersaal um. Chagalls

Wandbilder schmücken nun das Foyer - der Maler selbst lebt

mittlerweile in Frankreich.

letzte Takte der Musik ausklingen lassen, dann

Atmo GOSET: 20’25-20'42 Dialog aus Benjamin III. „oi, unser Städtl.-Senderl.

Erzähler: Im April 1928 geht das GOSET auf Reisen: Es wird seine Produktionen in

Österreich, Deutschland, Belgien, Holland und Frankreich zeigen.

O-Ton Kolja Na pervom spectakle...zweig i ves zal vstal…i dolgo, dolgo aplodirovali.

Sprecherin Kotlja: Bei der Premiere in Berlin saßen auch Stefan Zweig, Feuchtwanger und

viele andere prominente Gäste im Publikum. Und als der Vorhang

aufging, sie spielten „Die Nacht auf dem Alten Markt“ (wiederholt den

Titel auf jiddisch im OT) – da stand der ganze Saal auf, noch bevor das

erste Wort gefallen war. Es gab einen langen, tosenden Applaus.

Musik GOSET: Frau singt aiaiai, darunter:

Erzähler: „Große Kunst“ schreibt Alfred Kerr nach einer Aufführung der „Hexe“

am Berliner Theater des Westens. „Welch eine Körperbesessenheit“,

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schwärmt Herbert Ihering. „Wie fegt das durch den Raum, wild,

elementar.“

Musik GOSET weiter: steht frei, dann singt Frau wieder aiaiai, darunter:

Oton Alla Suskin: Kogda na gastroljach .... kak afischa oni podderzivali. 09:08

Sprecherin Alla: Während die Truppe im Westen begeistert empfangen wurde, kamen

aus Moskau ständig Briefe – man hätte gehört, die Schauspielerinnen

würden in die Geschäfte rennen, die Schauspieler würden sich mit

Ausländern oder mit sogenannten Ehemaligen wie Chagall treffen – es

gab immer irgendwelche Vorbehalte, immer irgendwelche

Einschränkungen, während das Theater zugleich als Aushängeschild galt

und entsprechend unterstützt wurde.

Musik: Komposition Dietrich Petzold

Erzähler: In Moskau kritisiert man das fehlende Bemühen der Truppe, sich als

sowjetisches Theater mit sowjetischer Ideologie zu präsentieren. Der

Volkskommissar für Aufklärung veröffentlicht einen Brief in der Presse,

das Theater sei seiner "einfachen sowjetischen Pflicht“ nicht

nachgekommen. Das Ensemble spürt die Gefahr, sagt bereits geplante

Auftritte in den USA ab und kehrt nach Moskau zurück – der Regisseur

und Künstlerische Leiter Alexei Granovski jedoch bleibt im Westen.

Musik weiter: Komposition Dietrich Petzold

Sprecherin Natalja: Jeder Schritt konnte in die Katastrophe führen. Schon 1929 gab es

Massenverhaftungen – Die Kollektivierung hatte begonnen und Stalins

Schlagwort von der „Verschärfung des Klassenkampfs“ wirkte sich

negativ auf die Kunst aus.

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O-Ton Kotljarova I konecno, kto mog stat rukovoditelem teatra?

Sprecherin Kotlj: Und wer konnte in dieser Situation die künstlerische Leitung

übernehmen?

O-Ton Kotljarova: idinstveni , Michoels.

Sprecherin Kotlj: Natürlich Michoels.

Oton Alla S: Michoels bil faktischocki.....aktjorami.

Sprecherin Alla S. Michoels war faktisch Granovskis rechte Hand gewesen, aber er war

kein Regisseur im eigentlichen Sinne. Wie mein Vater liebte er viel mehr

die Arbeit an konkreten Szenen mit konkreten Schauspielern.

Atmo GOSET: Michoels bei der Probe: Konnst gehen..(klatscht) – Genau, sehr gut,

richtig, nur.....Abale(?)

O-Ton Kotlja: A dlja nas – eto byl celovek-otec. Otec. A poka on zil, my voobsce nicego

ne znali i ne o cem ne dumali, mojno skazat.

Sprecherin Kotlja: Für uns Schauspieler war er wie ein Vater. Solange er lebte, wussten wir

von keinerlei Gefahr und dachten auch nie darüber nach.

Musik: Komposition Dietrich Petzold Erzähler: Der Druck von staatlicher Seite nimmt zu. Die zuständigen

Kulturfunktionäre fordern in den 30er Jahren die Sowjetisierung des

Theaters. Jüdische Kommunisten und jüdische Kollektivbauern sollen

auf der Bühne erscheinen – anstelle der Luftmenschen aus dem Shtetl,

der Philosophen und Taugenichtse. Michoels steht vor einem Dilemma:

Denn zeitgemäße, sowjetische Stücke gibt es auf jiddisch noch nicht.

Oton Alla Kak sovetskije pisateli ... i u kogo menee…period

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Sprecherin Alla: Die sowjetischen jiddischsprachigen Schriftsteller fingen also an, auf die

Schnelle Stücke zu schreiben – ohne dass sie Erfahrung als Theater-

Autoren gehabt hätten.

Oton Nina: Ljudi pecali strashniji peci, bec pomashniji. Igratc eto bilo ne vosmozno.

...lechce bilo igrat.

Sprecherin Nina: Die Autoren waren furchtbar hilflos. Alles, was sie geschrieben haben,

war unmöglich auf der Bühne umzusetzen. Da war es schon leichter, ein

Telefonbuch zu spielen.

Erzähler: Schematische Lehrstücke, Bühnenbilder und Kostüme von

naturalistischer Öde ... die Besucherzahlen gehen merklich zurück – bis

das GOSET einen Ausweg aus dieser Zwangslage findet. 1935 überrascht

es Zuschauer, Kritiker und Funktionäre mit einer klassischen Tragödie.

Atmo GOSET Szene aus Lear: Mein Kenig. Lear.....Schrei

Sprecherin Natalja: Unsere winzige Wohnung quoll über vor russischen und jiddischen

Übersetzungen des König Lear, die alte Antiquare für meinen Vater

anschleppten. 1935, im Shakespeare-Jahr, fand dann die Premiere statt.

Michoels spielte den König Lear, Suskin den Narren.

Atmo GOSET Szene aus Lear weiter: Lied des Narren, steht frei, dann darauf:

Sprecherin Natalja: Ich habe den Lear über einhundert Mal gesehen. Ich kannte ihn

auswendig.

Oton Nina Ja na njom rosla.....vosrast.

Sprecherin Nina Mit König Lear bin ich groß geworden. Ich war genau 10 Jahre alt, als die

Inszenierung Premiere hatte. Das ist schon ein Alter, in dem man

bewusst nachdenkt.

Musik GOSET Musik aus der Lear Inszenierung

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Sprecherin Natalja: Der allererste Eindruck vom Auftritt des Königs ist mir als besonders

erschütternd in Erinnerung geblieben:

Zu den Klängen eines höfischen Marschs ziehen feierlich die Höflinge

ein. Plötzlich bricht die Musik ab. In völliger Stille taucht unbemerkt von

der Seite der alte König auf. Gebeugt, in seinen Königsmantel wie in ein

häusliches Kleidungsstück gewickelt, geht er zu seinem Thron, den Kopf

gesenkt, ohne jemanden anzusehen.

Oton Nina No ponat Skakespeare ili korolja lira mne nikto ne

obisnal….nespiridlivost. Nu mozet bit ne do tokoi ctepeni no .....vlacti i

zisni.

Sprecherin Nina: Niemand hat mir Shakespeare oder den König Lear erklärt. Niemand hat

mich auf das Stück vorbereitet. Ich habe es gesehen und das

empfunden, was ich eben mit 10 Jahren empfinden konnte: Ich hatte

das Gefühl von schrecklicher Ungerechtigkeit. Die Ungerechtigkeit

zwischen der Macht und dem Leben.

Atmo GOSET Monolog Lear

Sprecherin Natalja: Auf dem Thron hat bereits der Narr Platz genommen. Mit zärtlicher

Nachlässigkeit packt Lear ihn am Ohr und zieht ihn herunter. Endlich

hebt er den Kopf und umfängt die versammelten Höflinge mit einem

Blick. Zum ersten Mal sieht man sein Gesicht. Ohne Schminke. Ohne den

üblichen Bart. Das Gesicht eines Herrschers und Skeptikers.

Oton Nina celovek mojet stats celovekom tolko togda....igar.

Sprecherin Nina Ein Mensch kann nur zum Menschen werden, wenn er seine Macht

verliert. Das war eine der zentralen Aussagen dieses Stücks für meinen

Vater. Aber es wäre zu einfach, zu direkt, dies auf Stalin zu beziehen.

Nein, nein. Die Ansicht, dass Theater immer die Gegenwart

widerspiegeln muss, war ihm zuwider.

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Atmo GOSET Szene aus Lear: Cordelia, Cordelia, haha. Man hat sie umgehangn.

Lachen. Mein Kind….Lear singt. Schrei (zweimal) Schrei am Ende steht

frei

Musik: Komposition Dietrich Petzold

Sprecherin Natalja: Mit leichter Bewegung der Finger zählt er die Versammelten. Er sieht

Cordelia nicht, sie hat sich hinter dem Thron versteckt. Als sie

hervorkommt, bricht Lear in ein brüchiges Greisenlachen aus. Dieses

Lachen ist eines der Leitmotive des Lear. In der Schlussszene endet Lears

letzter Atemzug mit diesem Lachen. Es ist kein sorgloses Lachen wie im

ersten Akt. Man weiß nicht, ob es ein Lachen oder ein Schluchzen ist.

Musikende: steht frei

Erzähler: „Lear“ sollte die berühmteste Inszenierung des GOSET werden.

Michoels hat sich an die Spitze der weltbesten Darsteller gespielt. In den

drei folgenden Jahren steht das Stück 200 Mal auf dem Spielplan.

O-Ton Nina: Byl takoj Gordon Craig, odin iz krupnejsich rezissorov Anglii. On prijechal

v 35 om godu – b Moskve byl Festival Shakespeara. Ego priglasili na etot

spektakl. On kak anglicanin dostatocno vezliv, skazal cto on prosit

postavit emu stul v konce – potomu cto esli on iz-za jazyka ne mozet

vosprinimat, to emu chvatit odnogo akta.

Sprecherin Nina: Gordon Craig, der berühmte englische Regisseur und Shakespeare-

Forscher kam 1935 zum Shakespeare-Jahr nach Moskau. Man lud ihn ins

GOSET zum „König Lear“ ein. Als höflicher Engländer bat er um einen

Platz ganz hinten, damit er – falls ihm die Sprache Probleme bereiten

sollte – unbemerkt nach dem ersten Akt gehen könne.

O-Ton-Kotljarova: On ne tolko ne vysel, on disel do konca, i na sledujuscij spektakl opjat

prisel posmotret Korolja Lira.

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Sprecherin Kotlja: Nicht nur, dass er nicht gegangen ist, er blieb bis zum Schluss und zur

nächsten Aufführung von „König Lear“ ist er wiedergekommen.

O-Ton Nina: A potom on napisal ogromnuju statju v Anglii, cto on teper ponimaet,

pocemu v Anglii net nastojascego Korolja Lira – potomu cto – net

Michoelsa.

Sprecherin Nina: Später hat er dann in einem großen Artikel geschrieben, ihm sei klar

geworden, warum es in England keinen echten König Lear gebe – weil

sie eben keinen Michoels hätten.

Oton Kotljarova Vot takie kak Michoels, Suskin,….vi ponimaete?

Sprecherin Kotlja: Michoels, Suskin und all die anderen Star-Schauspieler von unserem

Theater, die nicht nur jüdische Hochkultur, sondern Hochkultur an sich

repräsentierten - sie alle waren sehr bescheidene Leute. Sie stellten sich

nie über andere. Sie begegneten allen mit Respekt. Sogar der Chauffeur

von Michoels fühlte sich gleichberechtigt. Auch mit der Putzfrau redete

er auf Augenhöhe.

Musik: Komposition Dietrich Petzold

Sprecherin Natalja: Dann kam das Jahr 1937. Jeder Tag brachte Nachrichten von immer

neuen Verhaftungen von Freunden und Bekannten.

Oton Natalja: V 37 om godu, ja pomnju, cto papa prichodil posle spektaklja k nam.

...sidjel snami.

Sprecherin Natalja: Ich kann mich erinnern wie Vater immer nach der Vorstellung zu uns

kam. Wir wohnten in der zweiten Etage und er hatte sein Zimmer im

Parterre. Und gewöhnlich saß er sehr lange bei uns.

O-Ton Natalja: I my casto podchodili k dveri i slusali .// I my zdali, i papa zdal.

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Sprecherin Natalja: Wir gingen oft an die Wohnungstür und lauschten ... Und so haben wir

gewartet, und Vater hat gewartet.

O-Ton Nina: On lozilsja spat v cetyre, potomu cto emu pokazalos, cto jesli do

cetyrjoch he zabrali, to cegodnja ne zaberut.

Sprecherin Nina Er ging erst um vier Uhr morgens in Bett – weil er der Meinung war,

wenn man bis vier nicht abgeholt wurde, dann holen sie einen in dieser

Nacht nicht mehr ab.

O-Ton Natalja: On pravda skazal mne, cto imej vvidu, jesli menja zabirut, a nivcem ne

vinovat. Eto on mne skazal, nu, tak specialno my bolse o etom nikogda

ne govorili.

Sprecherin Natalja: Einmal hat er zu mir gesagt: Wenn sie mich abholen, sollst du eines

wissen: Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Danach haben

wir über dieses Thema nie wieder gesprochen.

Musik: Komposition Dietrich Petzold

Erzähler: Angst und Schweigen – das Jahr 1937, der Höhepunkt des stalinistischen

Terrors mit Verhaftungen, Schauprozessen und Erschießungen geht

vorüber, ohne dass einer der Schauspieler des jüdischen Theaters

verhaftet worden ist – ihre Zeit ist noch nicht gekommen.

Musik GOSET Tewje erst frei, dann darunter

Sprecherin Natalija: Drei Jahre waren vergangen zwischen der Inszenierung des Lear und

Tewje, dem Milchmann.

Atmo GOSET Szene aus Sholem Alejchem: Tewje der Milchige, zwejter Akt.

Sprecherin Natalija: Das Stück nach Sholem Alejchem ging dreißig Jahre später unter dem

Titel Fiddler on the roof als Broadway-Musical um die Welt. 1938

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inszenierte es mein Vater und spielte die Hauptrolle. Tewje war seine

letzte Rolle.

Musik GOSET Kotljarova singt aus Tewje

O-Ton Kotljarova: Etot spektakl progremel bukvalno. Neskolko let nelzja bylo na nego

popast.

Sprecherin Kotlja: Das Stück machte derart Furore – jahrelang war kaum an Karten zu

kommen.

Atmo GOSET Szene Dialog Tewje – Chava: Chavale. Wos is tate. Mich rufst Du? Sog

mir Tochter was ich will bei dir fragen. …. Masl dir mit deiner

bekanntschaft. …Du kennst ihn? Kennen tu ich ihn nit. Hob sein

ichesbrief niet gelesen. Nur verstehn, versteh ich….sprusch

Oton Nina: U nevo 5 docerej...samuj. rosnovo vostrosto.

Sprecherin Nina: Tewje hat fünf Töchter und muss sie alle verheiraten.

Oton Nina: cama mlaja kotoraja vichodit zamush......doleko.

Sprecherin Nina: Die jüngste Tochter heiratet einen reichen Mann und zieht mit ihm nach

Amerika. Tewje kommt zu ihrer Hochzeit - und alles ist ihm fremd.

Dieser ganze Reichtum, überall hängen Spiegel, das ist ihm fremd und er

kritisiert es.

Atmo GOSET Szene Dialog Tewje – Chava: wer sein tate is, weiss ich nit, bei mir sin

alle menschen gleich….was für a sort mensch is er? – Musik Tewje

O-Ton Kotljarova: Obscaja tema v nacale spektaklja – „Fregt di welt an alte kasche“ –

„sprasivaet mir staryj vopros“, vot est takaja narodnaja pesnja i ves

orchester natchenal: trarara:

Sprecherin Kotlja: Das allgemeine musikalische Thema stammte aus dem Volkslied: „Die

Welt stellt eine alte Frage. Und das ganze Orchester legte los: (tamtatam

im OT)

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Sprecherin Natalija: Damals sollte die Kunst optimistisch sein und auf alles eine Antwort

bieten – aber mein Vater hat „die alte Frage“ weder mit seiner

Inszenierung noch mit seinem Spiel beantwortet.

Atmo GOSET: Dialog Tewje weiter

Oton Nina: odna devocka chocet .....ljudi rovni.

Sprecherin Nina: Eine andere Tochter möchte einen jungen Mann heiraten, der

Papirossen herstellt, doch er ist ein Revolutionär. Als man ihn verhaftet,

möchte das Mädchen zu ihm fahren. Sie geht zu ihrem Vater und sagt

ihm: Ich möchte zu meinem Geliebten fahren. Er antwortet ihr: Schämst

Du Dich nicht, Deine Mutter für diesen Mann zu verlassen. Er ist doch

bestimmt ein Gauner, wenn man ihn verhaftet hat. Sie erwidert: Papa,

Du verstehst nichts. Alle Menschen sind gleich.

Atmo GOSET: Szene Dialog Tewje – Chava, emotionaler Dialog: Du darfst nit vergessn,

wer bist Du und wer is er...

Oton Nina: Potom on vkonce....tjerajet dotch.

Sprecherin Nina: Letztlich verstößt Tewje seine Tochter. Das ist ein Drama. Dann stirbt die

Mutter aus lauter Kummer, die Tochter verloren zu haben.

Atmo GOSET: Ende Szene Tewje: Hörst Du Tochter? ….Tate!

Oton Nina: koncajatco tjem, shto....

Sprecherin Nina: Das Stück endet damit, dass die Juden das Gouvernement auf amtlichen

Befehl verlassen müssen. So etwas gab es in der Zarenzeit.

Also verlässt er sein Haus, schließt das Fenster, schließt die Tür ab, denn

man muss ein Haus ordentlich verlassen. Ein Schemel ist alles, was er

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mitnimmt. Und dann sagt er sich: Na, dann gehen wir eben weiter,

Tewje. Weiter.

Musik GOSET: Kotljarova singt Melodie unter Natalja und Erzählertext.

Sprecherin Natalija: Die Bühne strahlt in hellem Licht. Das sollte optimistisch wirken - und

dennoch machte die Szene einen zutiefst tragischen Eindruck.

Erzähler: 1939 wird Michoels mit dem Titel „Volkskünstler der UdSSR“ und dem

Lenin-Orden ausgezeichnet. Die Möglichkeiten, die er mit diesen hohen

Auszeichnungen erhält, nutzt er sofort, um die Lebensbedingungen

seiner Schauspieler zu verbessern.

Sprecherin Natalja: Am Tag nach der Ehrung setzte er sich ans Telefon und sprach mit den

entsprechenden Stellen. Dann aß er zu Mittag, nahm ein Taxi und fuhr

zu irgendeinem hohen Tier, um die Frage der Wohnungsverteilung zu

regeln. Er versprach Freikarten für den Lear, einen Zeitungsartikel oder

einen Auftritt im Club der Miliz – denn Wohnungsfragen wurden vor

allem auf der Miliz entschieden, und als er schließlich zehn Wohnungen

bekommen hatte, sagte er erschöpft: „Für die bin ich doch nur ein

Deckmäntelchen – wenn es heißt, bei uns gäbe es Antisemitismus, dann

können „sie“ ruhigen Gewissens sagen: „Und Michoels?“

Damals hörte ich zum ersten Mal von Vater ein Wort über

Antisemitismus. Der Terror, der im Land herrschte, betraf die gesamte

Bevölkerung, und die offizielle Politik hob, wie mir schien, die Juden

nicht besonders heraus. Aber mein Vater sah das natürlich besser. Er

sah den entfesselten Antisemitismus in der UdSSR ebenso voraus wie

die Gefahr, die von Deutschland ausging.

O-Ton Nina: Ja obvesan cuzimi sudbami, on govoril. Potomu cto ot nego zdali,

dumali, cto on mozet absoljutno vsjo, do absurdnosti, ob ustrojstve, o

pripiske, o lekarstvach, o vescach, vsjo.

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Sprecherin Nina: Mein Vater hat einmal gesagt: Ich bin mit fremden Schicksalen behängt.

Denn die Menschen wandten sich an ihn, sie glaubten, er könne alles:

Arbeit besorgen, Meldebescheinigungen, Medikamente, Kleidung,

einfach alles.

Musik Komposition Dietrich Petzold

Sprecherin Natalja: In den regnerischen Herbsttagen des Jahres 1941 war eines klar – die

Deutschen sind nahe. Sie bereiteten sich darauf vor, Moskau zu

zerstören und die Juden zu vernichten.

Oton Alla Suskin: V avguste bil radio meeting …..sojuzum

Sprecherin Alla: Im August 41 hatte es zum ersten mal eine Kundgebung von Juden im

Radio gegeben. Sie wurde auf Jiddisch in die ganze Welt übertragen.

Michoels und andere berühmten jüdischen Persönlichkeiten sind da

aufgetreten und haben sich an die Juden der ganzen Welt gewandt. Die

sowjetische Regierung war an finanzieller und ideeller Unterstützung

interessiert, denn sie wusste, dass die Juden eine starke Lobby waren -

besonders in Amerika. Sie erhoffte sich, dass sie der Sowjetunion, die

gegen den Faschismus kämpfte, helfen würden.

Erzähler: Michoels Reden beeindrucken nicht nur die Hörer. Auch Stalin schätzt

die rhetorische Kraft des Theatermannes – und nutzt sie, wo er kann.

Oton Koljarova: Byvali takie slucai, cto priezzali v voinskuju cast. Vecerom koncert, a

zavtra eto vojnskaj cast otpravljajetsja na front ... I vot ja pomnju paru

slucajev takich, cto Michoels vyezzal s nami v takuju cast. Kak on govoril!

Ljudi posle koncerta, im uze ne nuzen byl otdych, oni by sejcas ze

pojechali na front. Bot tak on umel govorit. Nu skazat cto on velikij

orator, eto bydet malo, vi ponematete?

Sprecherin Kolja: Im Krieg sind wir vor Truppeneinheiten aufgetreten. Abends war unsere

Vorstellung, am nächsten Tag fuhren sie an die Front. Ich erinnere mich

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an ein paar solcher Auftritte, zu denen Michoels mitkam. Wie er

sprechen konnte! Danach wären die Soldaten am liebsten sofort in den

Kampf gezogen. Zu sagen, er war ein begnadeter Redner, das wäre zu

wenig.

Erzähler: 1942 ernennt Stalin Michoels zum Vorsitzenden des Jüdischen

Antifaschistischen Komitees und entsendet ihn in dieser Funktion ein

Jahr später in die Vereinigten Staaten. Er soll Spenden sammeln und zur

Eröffnung einer zweiten Front gegen Hitlerdeutschland aufrufen.

Atmo: Rede Michoels: Brider.....

Oton Kotljarova U nevo byli ruki…krasavtco.

Sprecherin Kotlja: Er hatte Hände mit dicken Fingern, eher wie Stümpfe. Doch er bewegte

seine Finger, wie ein Vogel seine Flügel. Jede Geste war gerechtfertigt er

machte nie eine überflüssige Bewegung. Er hat die Menschen schon

allein mit seiner Gestikulation verzaubert.

Oton Alla Suskin Otec sporil s Michoelsam ... Vot eto osuscenije: komitet i strach – eto u

nas doma ostalsja.

Sprecherin Alla Mein Vater stritt mit Michoels. Er war dagegen, dass sich Michoels so

stark für das Komitee engagierte. Mein Vater fand, man müsse den

Juden indirekt etwas geben. Durch das Theater sollten sie begreifen,

wer sie sind, sollten sich an jüdischer Kunst und Musik erfreuen – alle

diese politischen Aktivitäten mochte er nicht, obwohl auch er Mitglied

des Komitees war. Das Antifaschistische Komitee war bei uns zu Hause

immer mit Angst verbunden.

Oton Kotljarova: On ne byl clenom partii, byl ocen krupnym obscestvennym dejatelem,

antifasistom nastojascim. On byl absolutnym patriotom, eto tocno.

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Sprecherin Kotlja: Er war nicht in der Partei, aber er war eine wichtige Figur in der

Öffentlichkeit, er war ein echter Antifaschist. Und ein großer Patriot, das

auf jeden Fall.

Atmo Rede Michoels: Brider un Schwestern...... (andere Stelle)

Oton Kotljarova Michoels govoril o tom, kak zdes stradaet narod, c kotorym vy svjazany

po krovi. Kak vy mozete sidet zdes spokojno, kogda zdychajutsja,

istekajut krov – i skoro ne budet naroda uze. Sprecherin Kotlja: Michoels sagte: Hier leiden eure Blutsverwandten. Wie könnt ihr ruhig

da sitzen, wenn euer Volk erstickt und verblutet – bald wird es ganz

vernichtet sein.

Oton Kotljarova vie ponimaete….ocen mnogo.

Sprecherin Kotlja: Verstehen Sie, welche Kraft Michoels besaß und warum man ihn ins

Ausland schickte? Stalin wusste sehr gut, was Michoels bewirken

konnte.

Erzähler: Die Rechnung des sowjetischen Diktators geht auf. 46 Millionen Dollar

hat Michoels auf seiner Reise durch die USA, Kanada, Mexiko und

England eingeworben.

Musik GOSET Kotlja singt Melodie aus „Frejlechs“, darauf:

Sprecherin Natalja: Als alle Rundfunkstationen in der Nacht auf den neunten Mai das Ende

des Kriegs verkündeten, rannten wir außer uns vor Freude nach unten

zu Vater. Er begrüßte uns mit den Worten: „Den Krieg gewinnen, das ist

leicht. Jetzt muss man den Frieden gewinnen, das ist erheblich

schwieriger.“ Womit er unsere sorglose Hochstimmung ein wenig

trübte.

Musik GOSET Kotljarova singt Melodie aus „Frejlechs“

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Erzähler: Und dennoch: Mit „Frejlechs, Fröhlichkeit“ einem ausgelassenen

farbenfrohen Musical begrüßt Michoels kurz nach Kriegsende sein

Publikum.

Oton Nina: on necenalsja vatjme.....vitji iz tjmi.

Sprecherin Nina: Das Stück beginnt in der Dunkelheit. Auf der Bühne liegen sechs Diener,

mit dem Gesicht nach unten. Und aus der Dunkelheit kommen zwei

Conférenciers. Der eine, eher ein Philosoph, den spielte Suskin, der

andere ein nüchterner Rationalist, dem die Schuhe drücken. Die beiden

werden das Publikum durch eine traditionelle Hochzeit führen. Suskin

kommt aus der Dunkelheit hervor und sagt: Zündet die Kerzen an. Die

sechs Diener erheben sich, zünden die Kerzen an und sagen: Es werde

Licht. Damit die Finsternis vertrieben wird. Dieser Monolog von Suskin,

zusammen mit der Musik und all dem anderen schufen eine Spannung,

eine Wärme und den Wunsch wieder zurück ins Leben zu kehren, aus

der Finsternis herauszukommen.

Oton Kotljarova: zenchini…..kostjumach

Sprecherin Kotlja: Die Frauen traten in alten historischen Kleidern auf, in wunderbaren

nationalen Kostümen. Und ebenso die Männer. Es war sehr fröhlich und

bunt auf der Bühne.

Oton Nina: kogda opuskalsja sanavec.....ne bilo nog.

Sprecherin Nina: Am Ende gab es mindestens 20 Vorhänge. Das Publikum hielt es einfach

nicht mehr auf seinen Plätzen.

O-Ton Kotljarova: V vidu togo cto pogiblo 6 millionov jevreev, on chotel etim spektaklem

skazat, cto narod ubitj neljsa. //i on chotel skozatj ziv, ego ne unicitozes,

narod ziv i budut esce svadby i nikto ne budjet zabyt.

Sprecherin Kotlja: Angesichts der sechs Millionen Juden, die ermordet worden waren,

wollte Michoels mit diesem Stück sagen: Das Volk lebt, man kann es

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nicht umbringen. Es lebt, es wird wieder Hochzeiten feiern und niemand

wird vergessen sein.

Musik: Komposition Dietrich Petzold, dazu:

Musik GOSET: Ende Gesang Kotljarova/Melodie.

Erzähler: 1946 erhält Michoels für „Frejlechs“ den Stalinpreis.

Musik: Komposition Dietrich Petzold weiter

O-Ton Natalja: No eto byla ideologija. C ognoj storonoj bit, a c drugoj – knutom i

prjanikom, tak skazat.

Sprecherin Natalja: Das war alles ideologisch. Auf der einen Seite belohnen, auf der anderen

schlagen – Zuckerbrot und Peitsche.

Erzähler: Der Stalinpreis wird das letzte "Zuckerbrot" sein - nicht nur für Michoels

und sein Theater. Für das gesamte sowjetische Judentum beginnt nach

Ende des zweiten Weltkriegs erneut eine Zeit des Schreckens. Während

des Krieges ließ sich das nationale Selbstbewusstsein der Juden in der

Sowjetunion für patriotische Ziele nutzen. Nachdem der äußere Feind

besiegt ist, braucht Stalin nun einen inneren – und brandmarkt die

Juden als „heimatlose Kosmopoliten“. Die antisemitische Kampagne

richtet sich vor allem gegen die Intellektuellen.

Sprecherin Natalja: Das Antifaschistische Komitee aufzulösen und massenhaft jüdische

Kulturschaffende zu verhaften, das war unmöglich, solange mein Vater

noch am Leben war.

Erzähler: In seiner Funktion als Vorsitzender des jüdischen antifaschistischen

Komitees fordert Michoels beharrlich materielle und seelische

Unterstützung der jüdischen Holocaustüberlebenden in der

Sowjetunion. Vergebens.

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Musik: Komposition Dietrich Petzold

Sprecherin Natalja: Dienstag, der 13. Januar 1948. Ein klarer sonniger Tag. ...Um ein Uhr

mittags klingelt das Telefon. Von diesem Augenblick an zerfällt das

Leben in „vor“ und „nach“. Die Stimme am anderen Ende sagt Worte,

deren Sinn mein Bewusstsein im ersten Augenblick nicht erreicht.

Erzähler: Ein Autounfall – heißt es offiziell.

Oton Kotljarova: (Stimme zittert) A kogda mi prishli na repetciciju---usnali obetom.

cpervovo momento…..eto ne katastrofa. 26’31- 26’39 ruchnulac zisn, .. a

kak zit dalshe ne isvestna.

Mi uze is teatra ne….grob

Sprecherin Kotlj: Als wir am 13. Januar zur Theaterprobe kamen, haben wir es erfahren.

Wir wussten nicht wie man ihn umgebracht hat und haben damals auch

noch nicht verstanden, warum. Aber wir wussten sofort: Es war kein

Unfall. Wir hatten keine Ahnung, wie wir ohne ihn weiterleben sollten.

Tag und Nacht saßen wir im Theater – nur einmal haben wir es

verlassen, um seinen Sarg am Bahnhof in Empfang zu nehmen.

Erzähler: Für den Ermordeten wird ein Staatsbegräbnis angeordnet. Ungeachtet

ihrer Angst, strömen Menschenmassen ins Theater, um sich von

Michoels zu verabschieden.

Oton Natalja: kogda on lezal vteatre vgrabu....on nejbil izurodinin.

Sprecherin Natalja: Als er im Theater im geöffneten Sarg lag, streichelte ich seine rechte

Hand. Sie war zwar gebrochen, das konnte ich spüren, aber außer einem

Bluterguß unter dem Auge war sein Körper unversehrt.

Musik: Komposition Dietrich Petzold

Erzähler: New York, 15. Januar 1948

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An das Jüdische Antifaschistische Komitee, Kropotkinskaja 10, Moskau

Ihrem Komitee und dem Jüdischen Theater bringe ich meine Trauer

und meinen Schmerz anlässlich des Unglücks aus, das uns ereilt hat –

des Todes unseres teuren Freundes Michoels. Er war die strahlendste

Figur unserer jüdischen Kunst.

Ihr ergebener

Marc Chagall

Musik: Komposition Dietrich Petzold steht frei

Erzähler: Es soll weitergehen, beschließt das Ensemble. Es ernennt Allas Vater,

Veniamin Suskin, zum neuen Theaterleiter.

Oton Alla: U otca bila becsonitca…. strodal besconitci. A tut Michoels…. mnogovo

stoelo.

Sprecherin Alla: Mein Vater litt an Schlaflosigkeit, dazu hatte er immer etwas geneigt.

Und nun war Michoels ums Leben gekommen, durch einen Unfall, an

den niemand glaubte – niemand wusste, was aus dem Theater werden

würde. Und mein Vater stand unter großem Stress. Auf den Proben hielt

er sich tapfer und redete den Schauspielern gut zu, aber das kostete ihn

viel Nervenkraft.

Oton Nina: Oni menjshe i menjshe....kupitj abonimenti.

Sprecherin Nina: Immer weniger Menschen kamen ins GOSET weil die Atmosphäre um

die Juden und die jüdische Literatur herum einfach furchtbar war. Juden

wurden massenweise verhaftet. Auf dem Meldeamt stand immer das

Wort Jude hinter dem Namen einer russischen Familie jüdischen

Ursprungs. Die Leute hatten Angst, ins jüdische Theater zu gehen. Sie

kauften Abonnements, aus Solidarität, um das Theater wenigstens

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irgendwie zu unterstützen, aber sie kamen dann nicht. Offiziell sah es so

aus, als ob die Aufführung ausverkauft wäre, aber im Saal saß kaum

Publikum.

Oton Alla: On predlazel otcu….nervi vporjodak. //I vbalnice kogda on spal….tam on

prosnulca.

Sprecherin Alla: Dann schlug ein Arzt meinem Vater vor, ins Krankenhaus zu gehen und

sich in künstlichen Tiefschlaf versetzen zu lassen – das war eine neue

Methode, überlasteten Menschen zu helfen. Als er im Krankenhaus lag

und schlief, sind sie nachts gekommen haben ihn in ein Bettlaken

gewickelt und ins Gefängnis des Geheimdienstes gebracht. Da ist er

aufgewacht.

O-Ton Natalja: Teatr zakryli, studiju zakryli, izdatelstvo jevrejskoe toze zakryli, ne bylo

nicego pecatano.

Sprecherin Natalja: Das Theater wurde geschlossen, die Schauspielschule wurde

geschlossen und der jüdische Verlag auch; – es wurde nichts mehr

gedruckt. Die Schließung des Theaters im Dezember 1949 ist faktisch

das Ende der jüdischen Kultur in der Sowjetunion gewesen.

Atmo GOSET: Szene aus Lear: „Der Kenig geht“, Schrei, dazu:

Musik Komposition Dietrich Petzold, frei, dann unter Oton weiter

Oton Kotljarova: Fefer, Markisch, Kwitko, Chofstein, Charik, Fininberg, Kuschnerow,

Kulbak, …

Musik Komposition Dietrich Petzold weiter

Erzähler: Im August 1952 werden 13 Mitglieder des Antifaschisten Jüdischen

Komitees zum Tode verurteilt und hingerichtet, darunter viele, die mit

dem GOSET verbunden waren. Insgesamt verliert die jüdische Kultur der

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Sowjetunion bis zum Tode Stalins 450 Schriftsteller, Schauspieler,

Musiker, Maler und Bildhauer.

Musikende steht frei

Absage: Zwischen Shakespeare und Stalin

Der legendäre Schauspieler Solomon Michoels

Feature von Brigitte van Kann

Künstlerische Bearbeitung: Gabriela Hermer

Kurze Stille

dann:

Sprecherin Alla: Alla Suskin und ihre Mutter werden in die Verbannung geschickt. Erst

ein Jahr nach ihrer Freilassung, im November 1955, erfahren sie, dass

Veniamin Suskin hingerichtet wurde.

Sprecherin Natalja: Michoels ältere Tochter Natalja lebt mit ihrer kleinen Tochter in

ständiger Angst. Nataljas Ehemann, der Komponist Mieczyslaw Weinberg wird 1952 verhaftet. Nach Stalins Tod wird er auf Drängen

seines Freundes Schostakowitsch freigelassen.

Sprecherin Nina: Nataljas Schwester Nina, Schauspielerin am GOSET, kann ins Regiefach

wechseln und arbeitet schließlich an russischen Theatern.

Sprecherin Kotlja: Die Schauspielerin Marija Kotljarova, Mutter eines kleinen Kindes, bleibt

von Verhaftungen verschont und verdient sich ihren bescheidenen

Lebensunterhalt durch Heimarbeit.

Absage: Es sprachen: Gabriele Heinz, Wera Herzberg, Anne Katrin

Bürger, Johanna Schall und Ingo Hülsmann.

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Originalaufnahmen aus dem GOSET,

Violine und Klavier-Perkussion von Dietrich Petzold

Ton: Kaspar Wollheim und Susanne Bronder

Musik: Komposition Dietrich Petzold steht frei, dann darunter:

Erzähler: 1988 ordnet Gorbatschow die Untersuchung des Prozesses gegen das

Jüdische Antifaschistische Komitee an. Im Dezember 1989 werden alle

Angeklagten posthum rehabilitiert.

Musikende: steht frei

Absage: Regieassistenz: Annika Erichsen

Regie: Gerda Zschiedrich

Redaktion: Gabriela Hermer

Eine Produktion des Rundfunk Berlin Brandenburg mit dem

Deutschlandfunk, 2012.