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Verfolgung unterm Sowjetstern Stalins Lager in der SBZ/DDR XV. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung Büro Leipzig 13. und 14. Mai 2004 Dokumentation Gefördert durch die Erich-Brost-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Verfolgung unterm SowjetsternStalins Lager in der SBZ/DDR

XV. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung

Büro Leipzig

13. und 14. Mai 2004

Dokumentation

Gefördert durch die Erich-Brost-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung

XV. Bautzen-Forum 13.– 14. Mai 2004

Grußworte

Sabine Kaspereit 6Harald Möller 9Thomas Jurk 12Marko Schiemann 16Michael Harig 20

Referate

Bernd Bonwetsch: Der Gulag kommt 22nach Deutschland. Internierungslager in der Sowjetischen Besatzungszone 1945–1950

Klaus-Dieter Müller: Aus der Geschichte 37gelernt. Gemeinsame Aufarbeitung von Kriegsgefangenen- und Zivilistenschicksalen

Podiumsgespräch Diktaturaufarbeitung in Russland und den ehemaligen Ostblockstaaten

Marianne Birthler, 62Stephan Hilsberg, Klaus-Dieter Müller, Viktor TimtschenkoModeration: Burkhard Birke

Referate

Andreas Hilger: Sowjetische Militärtribunale 84in der SBZ/DDR. Ideologie und Recht

4 Inhalt

Mike Schmeitzner: Sowjetische Militärtribunale 94in der SBZ/DDR 1945–1950. Deutsche vor Gericht

Jörg Rudolph: Totenbuch deutscher Opfer des 108stalinistischen Terrors auf dem Moskauer Friedhof Donskoje

PodiumsgesprächHaftschicksale und Hafterfahrungen

Jan von Flocken, 111Lothar Otter, Erika Riemann, Horst SchülerModeration: Silke Klewin

Ausstellungseröffnung „Geschichte des Speziallagers Bautzen. 1945–1956“ in der Gedenkstätte Bautzen

Joachim Stern 134Gedichte und Texte von Bautzener Häftlingen 137Silke Klewin 141Norbert Haase 147

Teilnehmer und Autoren des 149XV. Bautzen-Forums

Bautzen-Foren im Überblick 151

Impressum 152

Inhalt 5

Sabine Kaspereit

Grußwort

Sehr geehrte Landtagsabgeordnete, Herr Landrat, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren,

der Name dieser Stadt Bautzen hat bei mir, die ich 1945 geborenwurde, in meiner Kindheit eine vage Beklommenheit ausgelöst,die ich damals nicht verstehen konnte. „Bautzen“ wurde hintervorgehaltener Hand geflüstert – begleitet von einem viel sagen-den Blick nach vorn und einem scheuen Blick zurück über dieSchulter, wusste man doch nie, wer zuhörte!Als ich gebeten wurde, Sie als Vorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung zum XV. Bautzen-Forum zu begrüßen, habe ichmich gefreut und lange über die Begrüßungsworte nachgedacht.Dabei wurde mir bewusst, dass man eigentlich keine Worte finden

6 Grußwort

kann, die dem Schicksal derer gerecht werden können, die ameigenen Leide erfahren haben, was Widerstand gegen Diktaturenbedeutet.Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass ich mich mit den Themen„Verfolgung“ und „Widerstand“ beschäftige. Ich war in meineraktiven politischen Zeit quasi per Amt für diese Themen Ansprech-partner und habe eine ganze Reihe von Diskussionen geführt,deren Inhalt mich immer tief betroffen gemacht hat.Da ist sie wieder, die Beklommenheit, nur dass sie nicht mehr ausvager Furcht resultiert, sondern aus Abscheu und Verachtung vorden Tätern und dem Unvermögen, meiner Hochachtung denOpfern gegenüber angemessen Ausdruck zu verleihen – aber auchaus dem Wissen heraus, nicht wirklich allen Erwartungen an Wie-dergutmachung entsprechen zu können. Dank Ihrer aktivenArbeit und auch Dank der Arbeit des Bautzen-Forums wissen wirheute – und mit „wir“ meine ich diejenigen, die nicht „gesessen“haben – konkret von den Verbrechen, die unter dem Sowjetsternund später unter dem so genannten Arbeiter- und Bauernstaat anMenschen begangen wurden, die keine Chance hatten, sich gegenWillkür zu wehren. Es ist ja eine hilfreiche menschliche Eigen-schaft, Schlechtes vergessen zu können und die guten Seiten desLebens in der Erinnerung aufzubewahren. Aber Ihr Wissen um dasSchreckliche muss bewahrt und weiter getragen werden, damitwir nicht in die Versuchung geraten, die DDR-Zeit zu verklären.Und ein Zweites: bei Gesprächen mit westdeutschen Mitbürgerin-nen und Mitbürgern stelle ich immer wieder eklatante Wissenslü-cken über die Situation in der ehemaligen DDR fest. Für die meis-ten Westdeutschen ist ein Gespräch über die Zeiten der DDR eherwie der Blick in ein Gruselkabinett, verbunden mit dem wohltuen-den Gefühl, gottlob nicht in der DDR gelebt zu haben. Ich glaube,dass hier ein großes Feld beackert werden muss, bei dem dieErgebnisse und Dokumentationen des Bautzen-Forums eine guteSaat sind.Marko Schliemann hat die Arbeit des Bautzen-Forums im vergan-genen Jahr als einen vernachlässigten Beitrag zur Geschichts-schreibung bezeichnet: „Denn Geschichte, die von und mit denOpfern geschrieben wird, bleibt Geschichte, die man nicht mehrwegwischen kann.“ Das Bautzen-Forum ist ein umfassender Fun-dus an Belegen dieser Geschichte für alle, die sie hören wollenund hören müssen, damit sie sich nicht wiederholen kann. Deshalbempfinde ich es als eine der wichtigsten Aufgaben der Opfer-Ver-

Sabine Kaspereit 7

bände, den Gedanken und das Gedenken an Widerstand gegenWillkür, erlittenes Unrecht und zugefügtes Leid in den Köpfenzukünftiger Generationen wach zu halten.Wir müssen diese Diskussionen führen, die auch in der Erinnerungnoch immer schmerzlich sind und die bei Leuten wie mir, ebendenen, die nicht gesessen haben, Beklommenheit hervorruft –darüber, nicht aktiv widerstanden zu haben. Aber das wäre eineandere Dimension der Aufarbeitung, die wohl jeder für sich selbstleisten muss. Verzeihen Sie mir den Ausflug in die Nachdenklich-keit einer nicht unmittelbar Betroffenen und lassen Sie sich herz-lich willkommen heißen. Das Bautzen-Forum tagt heute bereits zum 15. Mal. Ich finde, dassdiese Tatsache Erwähnung finden darf, denn sie dokumentiertden hohen Stellenwert als eines der größten Opfertreffen vonpolitisch Verfolgten des SED-Regimes. Die Reputation der gewon-nenen Referenten und das öffentliche Interesse sind Indikatorendafür, dass die Stadt Bautzen heute nicht mehr ein Synonym fürUnterdrückung und Leid ist, sondern ein Beispiel für Aufarbeitungund die Aussöhnung der Vergangenheit mit der Zukunft. Ich wün-sche der Veranstaltung einen guten Verlauf und möchte schonjetzt Herrn Eisel und seinen Mitstreitern für die Vorbereitung unddie Organisation danken.

Ihnen allen von Herzen alles Gute.

8 Grußwort

Harald Möller

Grußwort

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Gäste, liebe Kamera-dinnen und Kameraden,

zum 15. Mal veranstaltet das Regionalbüro Leipzig der Friedrich-Ebert-Stiftung das Bautzen-Forum, eine Veranstaltung, die nichtmehr wegzudenken ist und sich keinesfalls nur darauf beschränkt,ein jährliches Wiedertreffen ehemaliger politischer Häftlinge desGelben Elends und des Stasiknastes zu sein. Vielmehr geht es hierum die geschichtliche Aufarbeitung der Zeit der kommunistischenGewaltherrschaft. Wir freuen uns, das es auch in Zeiten wirtschaftlicher Schwierig-keiten der Friedrich-Ebert-Stiftung gelungen ist, wieder ein Baut-zen-Forum durchzuführen und diesmal eine Thematik zu wählen,

Harald Möller 9

die uns ehemals Verurteilte sowjetischer Militärtribunale in beson-derer Weise berührt. Wir bedanken uns für dieses Engagement,wir danken aber auch Regierung und Parlament des FreistaatesSachsen für bisher geleistete Hilfen für das Bautzen-Komitee undhoffen, dass die Unterstützung auch nach der Landtagswahl nochvollen Bestand hat. Ein besonderer Dank gilt aber auch dem Land-kreis Bautzen und der Stadt Bautzen für ihre bisher geleistetegroße Hilfestellung. Damit ist auch schon das Positive gesagt.Als besonders negativ sehen wir die Tatsache an, dass von derRegierungskoalition der Gesetzantrag der CDU/CSU zur Zahlungeiner Opferrente eindeutig abgelehnt worden ist. Im Vorfeld des50. Jahrestages des 17. Juni 1953 wurden Hoffnungen geweckt,selbst der Bundespräsident und der Bundesratspräsident habendiese verstärkt. Und heute stehen wir wieder dort, wo wir vor vie-len Jahren gestanden haben. Während die Abgeordneten der bei-den demokratischen Parteien SPD und CDU im Sächsischen Land-tag trotz ebenfalls ganz erheblicher Finanzprobleme sich mutigunserer Sache angenommen haben, wofür wir hier nochmals dan-ken, hat es beispielsweise eine hochrangige Abgeordnete desBundestages, die der SPD angehört, selbst nach zweimaligenAnschreibens sich für die Sache der politischen Häftlinge einzuset-zen, nicht für nötig gehalten, eine Eingangsbestätigung,geschweige denn eine Antwort zu geben. Auch ein Schreiben anden Landesverband Bayern der SPD, zu dem diese Abgeordnetegehört, wie auch ein Schreiben an den Generalsekretär der SPDsind unbeantwortet geblieben, für unsere Begriffe ein unmögli-ches Verhalten einer Häftlingsorganisation gegenüber. In allenSchreiben hatten wir darauf hingewiesen, dass gerade hier inBautzen viele Sozialdemokraten gelitten und zum Teil ihr Lebenverloren haben. Wir hatten besonders darauf verwiesen, dass denSED-/Stasi-Tätern durch Gerichtsbeschluss ihre Forderungen inForm einer Sonderversorgung erfüllt worden sind und man sienicht auch noch zu moralischen Siegern durch Ablehnung desGesetzentwurfes machen sollte. Genau das ist jedoch eingetreten.Unsere Gesellschaft beklagt die Geschichtslosigkeit unsererJugend, viel schlimmere Klage unsererseits gilt es gegen Abgeord-nete zu führen, die über die Verfolgung ihrer sozialdemokrati-schen Genossinnen und Genossen über eine große Bildungslückeverfügen. Insbesondere trifft das leider auch auf einige ostdeut-sche Abgeordnete zu, die ihre Freiheit und auch ihre Mandateletztendlich zu einem Teil dem Leiden und Sterben der in Bautzen

10 Grußwort

eingesessenen ehemaligen politischen Häftlinge mehr oder weni-ger mit zu verdanken haben, in ihren Reden jedoch stets Bautzenals Symbol für Unfreiheit benutzen. Viele unserer Kameradinnen und Kameraden, die z. T. am Existenzminimum leben, gelegentlich auf Antrag aus dem Stif-tungsfonds ein Almosen bekommen, sind, wie ich bereits im ver-gangenen Jahr schon sagte, in die Resignation abgewandert undes verwundert kaum noch, wenn heute von einigen offen aus-gesprochen wird, ob es überhaupt richtig war, sich einem Gewalt-regime zu widersetzen. Diese Zahl wird noch zunehmen, weil vieleunserer Kameradinnen und Kameraden sich 15 Jahre nach derWiedervereinigung noch immer wegen der in der Haft erlittenenSchäden mit Versorgungsämtern und Sozialgerichten streitenmüssen, während Forderungen hauptamtlicher Stasimitarbeiterwegen überproportionaler Kürzungen ihrer Rente vom Bundesso-zialgericht dem Bundesverfassungsgericht mit der Begründung,hier handele es sich um hochqualifizierte Mitarbeiter, zur Ent-scheidung vorgelegt worden sind. Für uns wahrhaftig ein Skandal,nun werden also hochqualifizierte Stasitäter, die das Wort Men-schenrechte erst nach der Einheit Deutschlands kennen gelernthaben, dafür belohnt, dass sie jahrzehntelang diese Menschen-rechte eklatant verletzt haben.Trotz allem gibt es noch eine Reihe von Ehemaligen, die ihre letz-te Kraft darauf verwenden, diese Zeit nicht vergessen zu lassen.Wir wissen, dass diese Zeit begrenzt ist und sollten daher denRegierenden öffentlich zur Kenntnis bringen, dass wir ihre Sonn-tags -und Fensterreden nicht mehr ertragen und bei Gedenkfeiernund Gedenktagen getrost auf sie verzichten können. Wir habenhinter Gittern die Hoffnung nicht aufgegeben, eines Tages wiederfreie Menschen zu sein und so verlieren wir trotz großer Bitterkeitdie Hoffnung nicht, eines Tages doch noch mit der Einsicht derRegierenden rechnen zu können.

Harald Möller 11

Thomas Jurk

Grußwort

Sehr geehrte Frau Kaspereit, sehr geehrte Herren Möller, Schiemann, Harig und Eisel,meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich war in den letzten Jahren öfter beim Bautzen-Forum. Heutebietet sich mir die Gelegenheit, Sie mit einem Grußwort zu begrü-ßen. Ich tue das gerne als Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktionin Sachsen. Auch weil ich weiß, dass mein stellvertretender Frakti-onsvorsitzender Prof. Dr. Cornelius Weiss im letzten Jahr aus sei-nem eigenen Erleben als Internierter in einem russischen Lager, indem er gemeinsam mit seinen Eltern Kindheit und Jugend verbrin-gen musste, berichtet hat, und das heutige Thema sich Lagern inder SBZ widmet.Ich glaube, dass Cornelius Weiss Ihnen sehr intensiv aus seinemLeben schildern könnte. Ich könnte sicherlich auch einige Reminis-

12 Grußwort

zenzen aus meinem Leben anführen, aber ich möchte darauf ver-zichten. Ich möchte einfach sagen, dass ich Ihre Einladung, heuteein Grußwort zu sprechen, sehr gerne angenommen habe. Dennhier nach Bautzen zu kommen ist für mich eben keine Pflicht, esist mir ein Bedürfnis.Es führt mich immer wieder ein bisschen zurück zu den Wurzelndes eigenen politischen Anfanges im Herbst 1989 und der Über-windung des SED-Regimes. Das alljährliche Bautzen-Forum istauch für mich ein wichtiger Ort der Erinnerung und aus ihr herausder immer wieder notwendigen eigenen politischen Standortbe-stimmung. Vor genau 15 Jahren begann der Anfang vom Ende mit der Kom-munalwahl vom 7. Mai 1989. Erinnern wir uns: Mitglieder ver-schiedenster Oppositionsgruppen organisierten eine Kontrolle derStimmenauszählung, und konnten so erstmals den SED-Wahlbe-trug nachweisen. Danach wurden in ganz Sachsen HunderteOppositionelle verhaftet und verhört. Leider habe ich in denMedien wenig bis gar nichts darüber gelesen. Obwohl die Tatsa-che, dass wir in einem Monat in Sachsen Kommunalwahlen – undzwar freie – haben, Grund wäre, diesen Jahrestag gebührend zuwürdigen. Es scheint überhaupt so zu sein, dass nach der großenAufmerksamkeit für den 50. Jahrestag des Aufstandes vom 17.Juni 1953 die Erinnerung wieder eingeschlafen ist. Wer erinnertsich nicht an den Staatsakt in Görlitz? Wer erinnert sich nicht andie Festveranstaltung im Sächsischen Landtag? An viele klugeWorte, an viele mutige Reden, viele Worte auch der Erinnerung?Aber dennoch, heute findet man in den Medien kaum noch einenVerweis darauf.Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, schlimmer noch, ineinigen Kreisen wird nicht nur offen mit dem Vergessen der Men-schen spekuliert, sondern bewusste Geschichtsklitterung betrie-ben. Oder wie soll ich es werten, wenn die PDS-Fraktion im Sächsi-schen Landtag ein Gedenkfrühstück für Otto Buchwitz ansetzt,der ungeachtet aller antifaschistischer Meriten zu einem üblenStalinisten wurde und eigene Genossen ans Messer lieferte? Oderwie soll ich es werten, wenn im Dresdner Blätt´l ein Artikelerscheint, in dem der Sturm auf die Stasi-Gebäude in Sachsen alsErgebnis westdeutscher Sensationsjournalisten dargestellt wird?Eine Legende, die schon im Herbst ´89/90 zur Propaganda der SEDzählte. Und wenn ich meinen Fraktionskollegen Weiss erwähnt habe, so

Thomas Jurk 13

möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass er sich vor weni-gen Tagen auch zu dem Vorhaben des Berliner Wissenschaftsse-nators geäußert hat, der bekanntlich von der PDS gestellt wird,wonach im Zuge der demokratischen Erneuerung an den Ost-Ber-liner Universitäten entlassene so genannte Professoren nun wie-der von ihm rehabilitiert werden sollten. Cornelius Weiss hat ein-deutig darauf hingewiesen, dass es sich um Professoren handelt,die oft nicht die fachliche Qualifikation nachweisen konnten, son-dern vielmehr durch das Parteibuch Professor an ostdeutschenUniversitäten geworden sind. Er hat sich mit Entschiedenheitdagegen gewehrt. Aber wie das manchmal so ist: Cornelius Weisshat mir berichtet, dass er selten so viele E-Mails erhalten hat, aller-dings mehr beschimpfender Art. E-Mails, in denen darauf hinge-wiesen wurde, dass er sich gefälligst an seine eigene Vergangen-heit erinnern solle, was auch immer damit gemeint wäre.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ihnen drei Bei-spiele genannt, die es notwendig machen, dass wir uns erinnern,und dass wir diesen Bestrebungen mit aller Entschiedenheit ent-gegen treten.Herr Möller hat zu Recht auf die schwierige Situation bei derFrage der Opfererntschädigung hingewiesen. Er hat auch daraufhingewiesen, dass es Sonntagsreden gibt, dass es manche Verspre-chungen gab, und dass vielleicht wenige gehalten wurden. Sicher,es gab Veränderungen, das brauche ich nicht zu erklären. Ich habeletztes Jahr die lebhafte Diskussion mit Hans-Jochen Vogel, demfrüheren SPD-Vorsitzenden und ehemaligen Fraktionsvorsitzen-den im Deutschen Bundestag erlebt, der natürlich auch auf dieGeschichte hingewiesen hat, und da muss sich natürlich jede Bun-desregierung, auch die, die in der Vergangenheit nach 1990regiert haben, fragen lassen, was sie getan haben, was sie erreichthaben. Dennoch glaube ich, dass es wichtig ist – und da schaue ichin Richtung des Kollegen Schiemann von der CDU –, dass wir unstatsächlich im Sächsischen Landtag zwischen CDU und SPD ver-ständigt haben, dass wir uns gemeinsam für die Opferinteressenin einem Antrag stark gemacht haben. Ich selbst habe vor etwa 14 Tagen einen Vorschlag unterbreitet,der sich auf die Verwendung des offensichtlich jetzt dem Bundes-finanzminister zufließenden Geldes aus ehemaligem DDR-Vermö-gen bezieht – Stichwort KOKO, Kommerzielle Koordinierungunter Schalck-Golodkowski. Wenn ich richtig informiert bin, gibtes ein entsprechendes Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Berlin.

14 Grußwort

Das sage ich auch an einem Tag, an dem Hans Eichel die Steuer-schätzung präsentieren wird. Vielleicht gelingt es uns, aus diesemdurch SED-Unrecht zusammen getragen Vermögen Mittel für eineArt Stiftung zu mobilisieren. Es ist ein Vorschlag von mir, ich binnicht im Deutschen Bundestag, ich sitze nicht in der Bundesregie-rung. Aber ich möchte die Anregung geben, dass, wenn Mittel,die durch SED-Unrecht erwirtschaftet wurden, jetzt in den Bun-deshaushalt zurückfließen, es zu überlegen wäre, ob diese Mittelnicht in eine Stiftung einfließen könnten, mit der dauerhaftOpferentschädigung realisiert werden kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts des schlei-chenden und offen vorangetriebenen Verlustes an gesellschaftli-chen Wissen und Bewusstsein, bin ich zu der Meinung gekommen,dass es gut ist, dass das Bautzen-Forum nicht bloß 15 Jahre, nachMöglichkeit 50 oder noch viel mehr Jahre jene Arbeit leisten kann,um gerade auch jungen Menschen zu berichten, wie es gewesenist. Ich habe die Beispiele der Geschichtsklitterung bereitsbenannt. Wir alle müssen wachsam sein. Ich sage das ganzbewusst, weil ich oft den Eindruck habe, dass Geschichte schnell,viel zu schnell, verdrängt wird. Und wir sind alle in der Pflicht, dieszu verhindern.

Ich wünsche dem Bautzen-Forum ein gutes Gelingen!

Thomas Jurk 15

Marko Schiemann

Grußwort

Sehr geehrte Frau Kaspereit, sehr geehrter Herr Möller und alle anwesenden ehemaligen Vor-sitzenden des Bautzen-Komitees, sehr geehrter Kolleg Jurk, lieberLandrat Michael Harig,liebe Kameradinnen, liebe Kameraden,werte Gäste.

Was soll ich Ihnen jetzt sagen, da ich doch schon so oft vor Ihnengestanden habe und die Gelegenheit bekommen habe, hier einGrußwort zu sprechen. Zunächst gilt mein Dank der Friedrich-Ebert-Stiftung, denn hier haben sich Leute gefunden, die nunschon zum 15. Mal Opfern aber auch anderen Menschen, dieetwas aus der Geschichte dazu lernen wollen, ein Forum bieten.Ganz herzlichen Dank Ihnen, Herr Eisel, und allen Frauen undMännern, die sich an der Vorbereitung beteiligt haben.

16 Grußwort

Wenn ich mich so im Saal umsehe, sehe ich viele bekannte Gesich-ter. Ich sehe aber auch Gesichter, die neu hinzugekommen sind. Esist mir eine besondere Freude, dass ich auch eine Vielzahl von Leh-rern gesehen habe, die schon oft da waren, und dass aber auchneue hinzugekommen sind. Denn es wird wichtig sein, den Schü-lern, der jungen Generation, eine Chance zu bieten, das zu verste-hen, was den Opfern widerfahren ist. Dabei können die Lehrermithelfen, diese Geschichte zu transportieren.Wenn ich in die Gesichter blicke, dann erinnere ich mich an vieleGespräche, die ich mit vielen von Ihnen hier im Raum geführthabe. Aus den Gesprächen, aber auch aus den Gesichtern, habeich nicht erfahren können, wie schwer das Leid bei jedem einzel-nen von Ihnen war. Denn das ist auch das Wunder der Opfer. DieOpfer sind bis heute anständig geblieben. Sie sind oft zu sehr ver-schlossen und erzählen nicht viel über das Leid, das ihnen selbstwiderfahren ist, sondern oft über das Leid, das den Kameradinnenund Kameraden geschehen ist, und vergessen dabei ihre eigenePerson. Ich sehe das als Anstand an, aber auch als etwas vornehmMenschliches. Dennoch würde ich mir wünschen, dass die Opferauch manchmal an sich denken und davon erzählen, was ihnenpersönlich widerfahren ist. Denn das gehört auch zur Geschichte.Und es gehört auch dazu, dass wir als die Nachgeborenen etwasdavon erfahren.Ich weiß nicht, ob wir begreifen werden, wie man in Haft oder inVerfolgung weiter für Freiheit, für Würde und für Menschlichkeiteintreten konnte. In vielen Gesprächen wurde mir gesagt: Wirhaben uns um den Mitkameraden gekümmert. Herr Corbat hateinmal davon gesprochen, die Menschen seien in den Gefängnis-sen gestorben wie die Fliegen. Das können wir uns gar nicht vor-stellen, was das alles bedeutet. Ich bitte Sie, dass Sie gerade auchdiese menschlichen Fragen weitergeben. Geben Sie es an dienächste Generation weiter, und überlassen Sie es nicht nur denHistorikern.Viele von Ihnen haben die Lager erlebt. Einige von Ihnen dieLager von Bautzen bis Workuta. Die Grausamkeiten der erlebtenJahre dürfen nicht vertuscht werden und sollen nicht vergessenwerden. In diesem Zusammenhang bin ich dankbar, dass Herr Kol-lege Jurk und auch Herr Möller darauf hingewiesen haben, dasswir im Sächsischen Landtag uns zumindest oft bemüht haben, zwi-schen den beiden großen demokratischen Parteien einen Weg zufinden, der nicht die Überzeugung der einzelnen Parteien, son-

Marko Schiemann 17

dern das Thema der Opfer in den Vordergrund stellt. Damit ist esuns in den letzten vierzehn Jahren durchgängig gelungen, einengemeinsamen Weg zu gehen, der immer die Anliegen der Opferin den Vordergrund gestellt hat. Das empfinde ich als eine guteSache, die man in der Politik auch durchstehen kann.Wenn man vom XV. Bautzen-Forum spricht, dann sollte man auchdaran denken, dass wir heute hier nicht sitzen würden, wenn es1989 nicht Menschen gegeben hätte, die für Recht, Freiheit unddie Menschlichkeit auf die Straße gegangen sind. Dieser Herbst isteng verbunden mit dem Wirken der Opfer. Wir können heutenicht so einfach hier sitzen, wenn wir nicht daran denken, dass esOpfer in den Lagern der SBZ gegeben hat. Dass Menschen sichüber 40 Jahre lang für demokratisches Handeln eingesetzt haben,und dann im Jahre 1989 im Herbst gemeinsam mit vielen, vielenanderen, eine Kraft auf die Straße gebracht haben, die uns jetztdie Chance bietet, in Freiheit, in Demokratie, aber noch nicht involler Gerechtigkeit diese neue Zeit aufzubauen. Dafür danke ichdiesen Frauen und Männern, die auf die Straße gegangen sind.Dennoch gehört es auch dazu zu sagen, dass wir vieles erreichthaben, aber vieles auch nicht erreicht wurde. Die Opfer habeneinen Anspruch darauf, dass die Regierenden auf sie Rücksichtnehmen. Die Politik muss den Opfern Anstand geben. Mit derZusammenlegung der Arbeitlosen- und Sozialhilfe bedeutet dasauch für viele Opfer in den neuen Ländern, dass sie künftig nichtmehr als 330 Euro im Monat erhalten werden. Und dennoch enga-gieren sie sich in den Opferverbänden- und vereinen. Die Opfer-rente wäre eine kleine Hilfe, gerade für die Menschen, die nach1989 keine Arbeit mehr gefunden haben und jetzt mit 330 Euroabgespeist werden sollen. Ich bitte Sie alle, ein Ruck sollte von die-ser großen Veranstaltung ausgehen, damit den Mächtigen nocheinmal gesagt wird, sie müssen ihre Meinung überdenken, es mussetwas für die Opfer getan werden. Die Opferrente wäre eineChance, eine kleine Entschuldigung dafür, dass man die Jahrezuvor zu wenig für die Opfer getan hat. Ich bitte Sie, dass Sie die-sen Appell auch von Bautzen, von Ihrer Veranstaltung, in dieRegionen Deutschlands bringen, und auch an die Regierungen inIhren Heimatländern herantreten. Auch diese Regierungen habeneine Verantwortung, sich damit auseinander zu setzen. Was wäregewesen, wenn die Russen in Bayern und in Niedersachsen ein-marschiert wären, und die Amerikaner zu uns nach Sachsen undThüringen gekommen wären? Wie würde das jetzt aussehen? Und

18 Grußwort

wie würden wir reagieren? Ich weiß es nicht. Deshalb sagen Sie esauch Ihren Regierungen. Die haben auch eine Verantwortung,etwas für die Opfer zu tun. Wir sollten gemeinsam heute und in den nächsten TagenGeschichte schreiben. Geben Sie diese Geschichte den mutigenLehrern, die sich in dieser Runde befinden, weiter, damit dienächste Generation nicht nur darüber schreiben kann, was denOpfern in der Diktatur widerfahren ist, sondern damit sie auchdavon berichten kann, dass die Demokratie die Opfer nicht ganzvergessen hat.

Ich wünsche Ihnen Gottes Segen, Kraft und Gesundheit für dieGeschichtsschreibung.

Marko Schiemann 19

Michael Harig

Grußwort

Sehr geehrte Damen und Herren,

zur Eröffnung des diesjährigen Bautzen-Forums der Friedrich-Ebert-Stiftung möchte ich Sie im Namen der Landkreisverwaltung,des Kreistages Bautzen, aber auch im Auftrag des Oberbürger-meisters dieser Stadt, Herrn Christian Schramm, ganz herzlich will-kommen heißen.Diese Veranstaltung findet alljährlich im Mai, nun bereits zum 15.Mal, statt. Viele Themen wurden bisher erörtert. Erinnerungen andie Geschehnisse zweier Diktaturen werden hier an historischerStelle in Bautzen wach gehalten. Betroffene und interessierte Bür-ger aus allen Teilen Deutschlands, Jung und Alt, kamen und kom-men ins Gespräch und erleben Geschichte eindrucksvoll aufberei-tet. Die Zukunft gestalten kann nur derjenige, der die Geschichtekennt. Aus der Historie lernen kann aber nur der, der sie analy-

20 Grußwort

siert, aufarbeitet, sich seiner bewusst wird, Schlussfolgerungendaraus zieht und diese nicht verdrängt.In den vergangenen 15 Jahren seit der politischen Wende hat sichviel getan. Die kommunistische Diktatur auf deutschem Bodenwurde überwunden. Die Demokratie im Osten Deutschlands istneu aufgebaut, Infrastruktureinrichtungen rekonstruiert, marodeBausubstanz erneuert, kurzum, die Stadt Bautzen, die Region undder Osten Deutschlands haben ihr Antlitz von Grund auf gewan-delt. Viele, viele weitere Beispiele ließen sich aufzählen. Die atem-beraubende Geschwindigkeit der Entwicklung unserer Gesell-schaft sowie in Europa und der Welt hält an. Vor genau 13 Tagenvergrößerte sich die Europäische Union um zehn weitere Staaten.Die Fläche wuchs um 23 Prozent. Von einem auf den andern Tagstieg die Zahl der Unionsbürger um 75 Millionen auf insgesamt450 Millionen 2004 – ein wahrhaft historisches Jahr. Große Chan-cen bestehen für unsere Region, die es zu nutzen gilt. Der Lebens-standard der übergroßen Mehrheit unserer Bevölkerung hat sichin den vergangenen Jahren entscheidend verbessert. Dennoch,trotz aller positiven Veränderungen, ist es noch nicht gelungen,das Hauptproblem unserer Gesellschaft zu lösen, die Arbeitslosig-keit entscheidend zu verringern. Dies gefährdet die Demokratieund muss deshalb Schwerpunkt unseres Handelns in allen Politik-feldern sein.In verschiedenen Medien wird in einer Art „Ostalgiewelle“ dievergangene Diktatur bereits wieder verharmlost und glorifiziert.Dieses Bild zu entzerren und darzustellen, was alle Diktaturenwaren und sind, ist Inhalt und Auftrag Ihrer Foren, auch des dies-jährigen. Mit Daten, Fakten und Berichten über erlittenes Unrechtbelegen sie den Mechanismus dieser menschenverachtenden undauf Machterhalt durch Repression ausgerichteten Regime.Das Bautzen-Forum 2004 steht unter dem Motto „Verfolgungunterm Sowjetstern, Stalins Lager in der SBZ/DDR“. Dieses Kapitelunserer Vergangenheit konnte in diesem Teil Deutschlands erst inden letzten Jahren offen diskutiert werden. Neue Erkenntnisseund Zusammenhänge werden durch ihre Veranstaltungen einerinteressierten Öffentlichkeit vorgestellt. Allen, die an der Vorbe-reitung und Durchführung Anteil haben, dafür Dank und Aner-kennung. Mögen bei interessanten Gesprächen viele neue Kon-takte entstehen.Seien Sie herzlich willkommen in der Stadt und im Landkreis Baut-zen.

Michael Harig 21

Bernd Bonwetsch

Der Gulag kommt nach Deutschland. Internierungslager in derSowjetischen Besatzungszone 1945–1950

Die Rede ist von Lagern, die in der SBZ zu Internierungszweckeneingerichtet wurden. Diese Lager sind 14 Jahre nach dem Sturzdes SED-Regimes immer noch ein sensibles Thema. Manchen sindsie noch als Teil persönlichen Schicksals in Erinnerung, manchen istes Teil familiärer Überlieferung, manchen ist es vergangeneGeschichte und Teil des historischen Bewusstseins. Das Verhältnis

22 Referate

der Zeitgenossen zu dem Sachverhalt ist also ganz unterschiedlich,obwohl es um objektiv dieselbe Sache geht. Für den Autor selbstist es vergangene Geschichte, die er als Historiker zu rekonstruie-ren und zu verstehen sucht, wenn auch nicht ohne indirektenfamiliären Bezug: sein Vater war Insasse eines Internierungslagers,allerdings bei den Briten, in Neuengamme bei Hamburg. Insofernist die Beschäftigung mit sowjetischen Speziallagern in der SBZ fürihn auch Teil der eigenen Erinnerungsarbeit. Dennoch hofft er,dass Leser mit unterschiedlichem persönlichen Hintergrund, ihreErinnerung, ihre eigene historische Wahrheit in der Darstellungzumindest in den Grundzügen wieder finden. Worum geht es? Es geht um das Deutschland bei Kriegsende, daszugleich das Ende des nationalsozialistischen Deutschland war,und es geht um das sowjetische Verständnis von Feinden und denUmgang mit Ihnen. Beides ist untrennbar mit dem Begriff Gulagverbunden. Zum Deutschland des Dritten Reiches ist daran zu erinnern, dass essich um einen Staat handelte, der mit der Zustimmung eines Teilsund der stillen Duldung der großen Masse seiner Bürger in einembis dahin unbekannten Maße gegen ethische und rechtlicheGrundprinzipien verstoßen und dabei auch noch einen großen TeilEuropas seiner Gewaltherrschaft unterworfen hatte. Bestrafungnicht nur einiger hoher Funktionäre, sondern zumindest all derje-nigen, die sich in strafrechtlichem Sinne schuldig gemacht hatten,und kollektive Bußeleistung durch die Deutschen gehörte deshalbzum selbstverständlichen Programm aller Siegermächte. Auf denKriegskonferenzen und in Kontrollratsbeschlüssen ist das entspre-chend vereinbart worden. Insofern stehen das Verhalten Deutschlands und die Tatsache, dassder Gulag 1945 nach Deutschland kam, in einem kausalen Zusam-menhang. Dies sollte man sich im Hinblick auf die Einrichtung derInternierungslager bewusst machen. Allerdings nicht in demSinne, dass die deutschen Verbrechen in der Sowjetunion letztlicherklären, warum die Sowjetunion auf deutschem Boden so han-delte, wie sie es tat. Mit der Kategorie „Vergeltung“, die häufigzur Erklärung des sowjetischen Verhaltens bemüht wird, kommtman diesem Handeln nicht bei. Aber ausblenden darf man dieVorgeschichte der Besetzung des östlichen Teils Deutschlandsdurch die Rote Armee auch nicht, selbst wenn das Vorgehen derSowjetunion auf deutschem Boden letztlich weniger mit den alli-ierten Beschlüssen als mit ihren Vorstellungen von Siegerrechten,

Bernd Bonwetsch 23

ihrer Feindpsychose und ihren Strafrechts- und Strafvollzugsprak-tiken zu tun hatte. Dieses Vorgehen im Hinblick auf die Behandlung der deutschenFeinde ist im Titel dieses Beitrags plakativ mit den Worten „DerGulag kommt nach Deutschland“ bezeichnet. Gulag ist im Deut-schen kein Fremdwort mehr. Seit Anfang der 70er Jahre ist esdurch Alexander Solschenizyn Ausdruck für das sowjetische Straf-lagersystem, den „Archipel Gulag“, zumindest außerhalb der sow-jetischen Hegemonialsphäre in den allgemeinen Sprachgebraucheingegangen. In der Sowjetunion war es mehrere Jahrzehnte langein ganz offizieller, aber in der öffentlichen Sprache tabuisierterBegriff. Zu erkennen ist darin die Abkürzung von „Lager“, eineEntlehnung des Russischen aus dem Deutschen. Gulag steht fürdie „Hauptverwaltung der Besserungs-Arbeitslager und Arbeitsko-lonien“, eine Abteilung des NKWD, des Volkskommissariats fürinnere Angelegenheiten der UdSSR (Im März 1946 wurden dieVolkskommissariate in Ministerien umbenannt). Ihr unterstand dasLagerimperium, das sich, wie Solschenizyn es treffend ausgedrückthatte, seit Anfang der dreißiger Jahre wie ein Archipel über dieSowjetunion ausgebreitet hatte. Und diese Lagerwelt wiederumsteht für ein Strafrechtssystem und einen Strafvollzug, die jegli-cher Rechtsstaatlichkeit entbehrten und bis zum Tode Stalins dassowjetische Herrschaftssystem und das Leben ungezählter Sowjet-bürger prägten.Der Stalin-Terror der dreißiger Jahre, die Verfolgung von Millio-nen von „Volksfeinden“, „Konterrevolutionären“ und „Verrätern“mit dem Höhepunkt in den Jahren 1937/38, als etwa 600 000 Men-schen einschließlich der höchsten Militärführung mit General-stabschef Tuchatschewski an der Spitze reihenweise zum Tode ver-urteilt und erschossen wurden, soll hier nicht ausführlich erörtertwerden. Dieser Terror sei nur erwähnt, um deutlich zu machen,dass der Sowjetstaat, der seit Ende der zwanziger Jahre herme-tisch von der Außenwelt abgeschottet war, in einem fast unvor-stellbaren Maße durch die Furcht vor Feinden geprägt war. Erführte einen permanenten Krieg gegen die eigene Bevölkerung,ja gegen die eigenen Diener. Dieser innere Krieg kann auch heute,nachdem viele Archive offen sind, nicht anders als vor 65 Jahrenerklärt werden, nämlich nur dadurch, dass dieser Staat sich voninneren wie äußeren Feinden akut bedroht fühlte und zugleichdie Fähigkeit verloren hatte, zwischen tatsächlichen und vermeint-lichen Feinden zu unterscheiden.

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Wie das geschehen konnte, ist eine schwierige und zugleich simp-le Frage: Man findet das, wovon man überzeugt ist, dass es da ist.Wie fatal dieser Zusammenhang auch in einer offenen Gesell-schaft ist, hat sich am Beispiel der Überzeugung vom Vorhanden-sein der Massenvernichtungswaffen des Irak vor Beginn des Irak-Krieges gezeigt, als Geheimdienstmeldungen und Überläuferbe-richte eindeutig in diesem Sinne interpretiert wurden. Um wie vielleichter war es in Stalins Sowjetunion, aufgrund der Überzeugungvon ihrem Vorhandensein die de facto nicht vorhandenen Feindezu finden. Durch physischen und psychischen Zwang, durch Folteralso, brachte man fast jeden Verdächtigen dazu, auch noch dieabsurdesten Straftaten zu gestehen. Seit Anfang der dreißigerJahre bestand das Beweismaterial in Strafverfahren wegen „Kon-terrevolution“, die nach dem berüchtigten Paragraphen 58 dessowjetischen Strafgesetzbuches verhandelt wurden, nur aus denGeständnissen der Beschuldigten. Materielle Beweise, die einGeständnis belegt hätten, gab es in keinem Falle. In der Regel gabes kein auch nur ansatzweise ordentliches Strafverfahren. DieMasse der Urteile wurde durch so genannte Troiki, d. h. drei Perso-nen gefällt: je einem Vertreter der Partei, des Innenkommissariatsund der Staatsanwaltschaft, de facto häufig allein durch denzuständigen Vertreter des Innenkommissariats, nachdem die bei-den anderen Vertreter schon blanko unterschrieben hatten. Ent-schieden wurde nach Aktenlage in geheimen Schnellverfahren,ohne die Angeklagten, ohne Richter, ohne Verteidiger, ohne Zeu-gen – nach dem Motto: „Die Sowjetmacht verhaftet keinenUnschuldigen“. Diese Standardbehauptung war im Übrigen fürdiejenigen, die Zeugen der Vorgänge waren, ein wichtiges Entlas-tungsargument, um eigene Zweifel zu besänftigen. All dies soll verdeutlichen, dass dieser Staat in allen und überallFeinde sah und jeden Beschuldigten durch entsprechend „robusteVerhörmethoden“, wie das neuerdings genannt wird, zumGeständnis bringen konnte. So wurden z. B. 65jährige Frauen, dienicht lesen und schreiben konnten, in der tiefsten Provinz Russ-lands zu „Spionen des japanischen Geheimdienstes“, ohne dassdie Untersuchungsbeamten sich fragen lassen mussten, ob sienoch ganz bei Trost seien. Mit jedem Geständnis aber sah derStaat sich in seiner Furcht vor Feinden und Verrätern bestätigt.Und mit jedem Geständnis wuchs die Zahl der Volksfeinde, denndie Verurteilten hatten wiederum Namen von Bekannten undFreunden genannt, mit denen sie Verkehr hatten. Das reichte in

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einem Land, in dem Verwandtschaftsbeziehungen zu einem„Volksfeind“ seit 1934 ein eigener Straftatbestand waren, undzog neue Verhaftungen, Geständnisse und Verurteilungen nachsich. Statt weniger wurden es ganz offensichtlich immer mehrFeinde. Dies war Stalin und seinem Führungskern offenbar sounheimlich, dass sie den zuständigen Volkskommissaren selbst denProzess wegen Verschwörung machten: Jagoda und Jeschow.Beide gestanden ihre Verschwörung und wurden 1938 bzw. 1940erschossen. Auch unter dem neuen Volkskommissar für innere Angelegenhei-ten Berija ging die Verfolgung von zumeist imaginären Feindenweiter. Neu war unter Berija die kollektive Verdächtigung sogenannter „konterrevolutionärer nationaler Kontingente“: sowurden seit 1938 nationale Minderheiten, deren Mehrheitenaußerhalb der Sowjetunion einen eigenen Staat hatten, ins Lan-desinnere deportiert. Deutschstämmige wurden z. B. nicht erst1941 nach dem deutschen Überfall deportiert, sondern schon1938, wenn auch damals nur, soweit sie in Rüstungsbetriebenarbeiteten. Alle, die irgendwie mit dem Ausland Kontakt hattenoder hätten haben können, galten als verdächtig. Das betrafschon vor dem 1. September 1939 Zehntausende von Polen, Baltenund Finnen im Westen und Koreaner im Fernen Osten. Insofern waren während des Krieges nicht nur weitere Deporta-

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tionen ganzer Völkerschaften sondern auch Maßnahmen imRücken der eigenen Truppen zum Schutz des Hinterlandes eineSelbstverständlichkeit. Mit dem Vormarsch der Roten Armee nachWesten und der Besetzung nichtsowjetischer Länder nahm derKampf gegen feindliche Elemente an Bedeutung zu. Man beden-ke, dass im Baltikum, in Weißrussland, in der Ukraine und in Polenstarke antisowjetische Kräfte tätig waren. Im Baltikum die Wald-brüder, in Weißrussland und Polen die AK, in der Ukraine die UPA.Hinzu kamen eigene verdächtige Landsleute, die als Einwohnerdes besetzten Gebiets, als Ostarbeiter oder als Kriegsgefangenelängere Zeit dem Einfluss des Gegners ausgesetzt gewesen warenoder gar als Hiwis und Wlassow-Leute mit der Waffe in der Handauf Seiten der Deutschen gekämpft hatten. Die neue Sicherheitslage beim weiteren Vordringen nach Westenwurde daran deutlich, dass man den Schutz des Hinterlandes abDezember 1944 für das Vorgehen in den osteuropäischen Ländernneu organisierte und am 11. Januar 1945 für jede Front im Westen(Front = Heeresgruppe) einen hochrangigen Beauftragten desNKWD zur „Säuberung des Hinterlandes der Roten Armee vonfeindlichen Elementen“ ernannte und ihnen Truppen des NKWDin Stärke von 60 000 Mann zur Verfügung stellte. Die bedeutend-sten Beauftragten wurden den Fronten zugewiesen, die deut-schen Boden besetzen und den Kampf um Berlin führen sollten:An der 3. Belorussischen Front war es der Leiter der Spionageab-wehr (Smersch) Viktor Abakumow, ab 1946 Minister für Staatssi-cherheit der UdSSR; an der 2. Belorussischen Front der Volkskom-missar für Staatssicherheit Weißrusslands Zanawa, später Stellver-tretender Minister für Staatssicherheit der UdSSR, und an der 1.Belorussischen Front der Stellvertretende Volkskommissar fürinnere Angelegenheiten der UdSSR Iwan Serow, der seit Juni/Juli1945 Vertreter des NKWD bei den sowjetischen Besatzungstrup-pen und Leiter der Zivilverwaltung der SMAD war. Er war auch fürdie Speziallager in der SBZ verantwortlich. Hauptaufgabe der Frontbeauftragten und ihrer Truppen war dieSicherung des Hinterlandes vor allen möglichen Feinden und ihreInhaftierung in entsprechenden Lagern. Daneben wurden in demBefehl vom 11. Januar 1945 auch zahlreiche Kategorien von Funk-tionsträgern des NS-Regimes als zu verhaftende aufgezählt, alsodiejenigen, die ohne aktive feindliche Tätigkeit dem unterlagen,was die Amerikaner „automatischen Arrest“ nannten. In der Pra-xis erwies sich jedoch die Einbringung, ja geradezu die Jagd auf

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Arbeitskräfte als ebenso wichtige Aufgabe der Frontbeauftragtenund ihrer operativen Einheiten wie die Unschädlichmachung vontatsächlichen Gegnern der Besatzungsmacht. Es ging der sowjeti-schen Regierung um die Überführung möglichst vieler arbeitsfähi-ger Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren zum Wiederaufbau indie Sowjetunion. Dabei nahm man es weder beim Alter noch beimGeschlecht so genau. Sie galten als Mobilisierte, wurden interniertund sollten in Form von Arbeitsbataillonen organisiert und aufverschiedene Volkskommissariate verteilt werden. Anfang Februar 1945 ging man in Moskau von zunächst 500 000Mobilisierten als Zielgröße aus, tatsächlich wurden es dann docherheblich weniger. Am 16. April, als man über knapp 100 000Mobilisierte verfügte, wurde die weitere Internierung potentiellerziviler Arbeitskräfte eingestellt. Auf sowjetischer Seite nahm manformell lieber Kriegsgefangene, weil diese im interalliierten Ver-hältnis unproblematisch waren. Der im Januar 1945 gegenüberden Alliierten sowjetischerseits erhobene Wunsch nach Nutzungmehrerer Millionen deutscher Arbeitskräfte im Sinne von Repara-tionsleistungen blieb dagegen umstritten und wurde nicht Gegen-stand eines gemeinsamen Beschlusses der Alliierten. Die Sowjetre-gierung verließ sich mit gewissem Recht nicht auf die Solidaritätder Alliierten in dieser Frage und war deshalb auch mit der Prü-fung des Status der Betroffenen nicht so genau. So konnten dennauch schon einmal 16jährige Mädchen als Kriegsgefangene einge-stuft werden. Als man sich davon überzeugt hatte, dass akute deutsche Wider-standstätigkeit im besetzten Gebiet sich in unerwartet engenGrenzen hielt und die Bemühung um die Mobilisierung zivilermännlicher Arbeitskräfte am Allgemeinzustand der Inhaftiertenscheiterte, schlug Berija vor, sich auf die Unschädlichmachung vonaktiven Gegnern im Hinterland der Truppe und auf die Verhaf-tung von bestimmten Kategorien von Amtsträgern des DrittenReiches und der NSDAP zu beschränken. Die Verhafteten solltenauch nicht mehr grundsätzlich, sondern nur in Einzelfällen in dieSowjetunion geschafft werden. Diese Kursänderung wurde imBefehl Berijas vom 18. April 1945 festgelegt. Zusammengefasstging es nach diesem Befehl um die Ausschaltung von Personen, die Sicherheitsrisiken für dieBesatzungsmacht darstellten; um die Internierung von Funktionsträgern der Partei und Amtsträ-gern des Dritten Reiches einschließlich seiner Propagandisten.

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Damit wurde in gewisser Weise die in Jalta grundsätzlich verein-barte personelle Entnazifizierung auch durch die Sowjetunion ineine konkrete Anweisung umgesetzt. Allerdings mit deutlichenUnterschieden: Die Definition der NS-Funktions- und Amtsträgerwar im Vergleich zur entsprechenden amerikanischen Anweisungsehr schwammig, und vor allem war ein wichtiger Personenkreis,der zu den wesentlichen Trägern der NS-Herrschaft zu zählen war,ausdrücklich und in diesem Fall präzise ausgeschlossen: Angehöri-ge der SS, der SA sowie das Personal von Gefängnissen und Kon-zentrationslagern sollten als Kriegsgefangene behandelt unddamit auch in die Sowjetunion verbracht werden. Über die Grün-de für diese Anordnung lassen sich nur Vermutungen äußern.Möglicherweise ging es auch hier in erster Linie um Arbeitskräfte.Dieser Befehl bildete die Grundlage für die Verhaftungspraxis dersowjetischen Sicherheitsorgane in der SBZ, hatte Bedeutung aller-dings nur in der Periode entsprechender Verhaftungen bis zumOktober 1946. Danach kamen praktisch nur noch SMT-Verurteiltein die Lager, die der ersten in Berijas Befehl vom 18. April ange-sprochenen Kategorie von „Feinden“ angehörten. Wie zuvorschon in den deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße wur-den in der Folge auch in der SBZ Internierungslager eingerichtet,insgesamt zehn. Dazu wurden, wie auch in den Westzonen, ehe-malige Konzentrations- oder Kriegsgefangenenlager und Gefäng-nisse verwendet. Sie wurden nach und nach wieder aufgelöst. Beider Gründung der DDR bestanden nur noch drei Lager: Sachsen-hausen, Buchenwald und Bautzen. Im Amtsrussisch hießen sieabgekürzt im Singular „Spezlag“, im Plural „Spezlagerja“, insDeutsche als „Speziallager“ übernommen. Die viel verwendeteVorsilbe „Spez-“ hatte in der Sowjetunion ähnliche Bedeutungwie im Dritten Reich die Vorsilbe „Sonder-“, und zwar einschließ-lich des nicht unwesentlichen Aspekts, dass man in aller Regel alsNormalbürger wusste, dass einen die genaue Bedeutung derSache, um die es ging, nichts anging, dass man am besten nichtfragte. In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, dassdie Lager wie auch die gesamte, wenig koordinierte Tätigkeit dersowjetischen Sicherheitsorgane in der SBZ (NKWD, NKGB,Smersch) nicht der SMAD, sondern den entsprechenden Einrich-tungen in Moskau direkt unterstanden. Sie sollten aber, wie es ineinem Schreiben Serows nach Moskau hieß, als „Organe der Mili-täradministration „getarnt“ werden. Die Bevölkerung der SBZbzw. DDR wurde über die Existenz der Speziallager offiziell erst

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bei deren Auflösung und der Übergabe der verbliebenen Häftlin-ge an die DDR-Behörden informiert. Zur absoluten Zahl der Speziallagerhäftlinge wurde 1990 erstmalsvon sowjetischer Seite eine offizielle Zahl genannt, von der auchdie von Lutz Niethammer und Alexander von Plato geleiteteArbeitsgruppe zu den Speziallagern in Deutschland ausgeht. Eshandelt sich dabei um die Abschlussstatistik der Speziallagerver-waltung. Sie besagt, dass insgesamt 158 000 Menschen in dieseLager eingewiesen wurden, davon 123 000 Deutsche. Die übrigen35 000 waren fast ausnahmslos Sowjetbürger. Es ist nicht ganzklar, warum sie nicht in die PFL, die Überprüfungs- und Filtrierla-ger eingewiesen wurden, zumindest solange diese bestanden (bis1947). Eins scheint sich jedoch abzuzeichnen: es wurden zu einemgroßen Teil bereits verurteilte Sowjetbürger eingewiesen, für diedie Speziallager eine Art Durchgangslager bildeten. Sie wurdenalle in die Sowjetunion weitergeschafft.Etwa fünf Prozent der Gesamthäftlinge waren Frauen. Wie großder Anteil der SMT-Verurteilten an den Häftlingen war, lässt sichanscheinend nicht präzise sagen. Allgemein sei nur festgestellt,dass 1945–1955 etwa 35 000 Deutsche durch SMT verurteilt wur-den, die große Masse davon bis 1950. Soweit sie nicht zur Strafver-büßung in die Sowjetunion deportiert wurden, kamen sie imWesentlichen in die Lager Bautzen und Sachsenhausen und wur-den von den Internierten, also den Häftlingen ohne Urteil, deut-lich getrennt und schlechter behandelt, weil sie als gefährlichergalten. Im Herbst 1946 gab es 7 351, im Herbst 1947 11 700 und imHerbst 1948 13 900 SMT-Verurteilte in den Speziallagern, bei derAuflösung der Lager 1950 waren es 16 700. Fügt man die Zahl deraus den Lagern in die Sowjetunion geschafften 1 661 SMT-Verur-teilten hinzu, dann dürfte man mit über 18 000 die Mindest-Gesamtzahl dieser Kategorie von Lagerhäftlingen erhalten, dennein Teil von ihnen wird zu denen gehören, die im Lager gestorbensind. Von den deutschen Häftlingen sind 45 000 entlassen worden, vorallem ab Sommer 1948, über 19 000 wurden in die Sowjetuniondeportiert, 14 000 wurden bei der Auflösung der letzten Lager1950 an die DDR-Behörden übergeben bzw. in DDR-Gefängnisseübergeführt, 43 000 Inhaftierte kamen ums Leben, und an 756Lagerinsassen wurde ein Todesurteil vollstreckt. Soweit zur Statistik. Die innere Organisation der Lager wurdeHäftlingen übertragen, so dass es unter den Gefangenen eine

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deutliche Hierarchie gab. Sie konnte, wie das auch aus anderenLager-Zusammenhängen bekannt ist, über Leben und Tod ent-scheiden. Das war insbesondere im Winter 1946/47 der Fall, als dieSterberate in den Lagern wegen unzureichender Ernährung hoch-schnellte und im Februar 1947 4 280 erreichte. Die große Zahl derim Lager ums Leben Gekommenen hat vor der Öffnung der Archi-ve immer wieder die Vermutung genährt, dass der Tod der Häftlin-ge beabsichtigt war. Die Archivdokumente dagegen belegenetwas, das ebenfalls mit dem Gulag nach Deutschland kam undmindestens ebenso erschreckend ist: die Gleichgültigkeit gegen-über dem Schicksal von Menschen, die keinen Nutzen für denStaat hatten. Es geschah ganz ungezielt: Angesichts einer Missernte in der Sow-jetunion im Jahr 1946, die zu etwa 1,5 Millionen Hungertotenführte, hatte man die Ernährung der damals ca. 80 000 Spezialla-gerhäftlinge kurzfristig der SMAD übertragen. Diese wiederumhatte die ohnehin knappen Rationen für die Häftlinge zum 1.November 1946 drastisch gesenkt, um die vorhandenen Mengendem Bedarf zumindest rechnerisch anzupassen. Zugleich aber hat-ten Marschall Sokolowski und der MWD-Beauftragte Serow in

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einem gemeinsamen Schreiben die Führung in Moskau am 4.Dezember gebeten, 35 000 „minderbelastete“ Häftlinge entlassenzu dürfen. Dabei stützte man sich einerseits auf die Kontrollratsdi-rektive Nr. 38 vom 12. Oktober 1946, die die Belastungskategorienfür Deutsche festlegte (Hauptschuldige, Belastete, Minderbelaste-te, Mitläufer, Entlastete) und auch auf die Praxis der westlichenAlliierten verwies, andererseits aber auch auf das „nutzlose Ernäh-ren“ dieser Häftlinge. Als jedoch eine Reaktion aus Moskau aus-blieb, überließ man die Häftlinge ihrem Schicksal. Von November1946 bis Juni 1947 starben nach der Lagerstatistik 14 450 Häftlingean Hunger oder Hungerfolgen. Die zweifelhafte Moskauer „Ant-wort“ war die Anordnung vom 23. Dezember 1946, 27 500 Häft-linge zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion überzuführen.Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes war dies jedoch indiesem Umfang nicht entfernt möglich. Im Grunde ist Vernachlässigung das Schlüsselwort zum Umgangder sowjetischen Stellen mit den Häftlingen. Auch in den Westzo-nen war man in der Behandlung der Internierten nicht zimperlich,aber nach relativ kurzer Zeit erfolgte in geordneten, rechtsstaatli-chen Verfahren eine Überprüfung mit entsprechenden Konse-quenzen: Entlassung oder ordentliches Verfahren. Fast die Hälftealler in den drei West-Zonen summarisch Internierten war gegenEnde 1946 bereits wieder entlassen, während für die Verbleiben-den die Haft formell aus einer „vorläufigen Sicherungsmaßnah-me“ zur „Untersuchungshaft“ wurde, wie Ralf Possekel dasbeschrieben hat. Für die Internierten der SBZ galt das nicht: Manging schon bei der Verhaftung recht willkürlich vor und überprüf-te dann zwar auch, aber ohne die oben genannten rechtsstaatli-chen Konsequenzen. Die anfänglich Internierten wurden deshalbautomatisch zu Häftlingen ohne Urteil. Es war, als ob es nieman-den interessierte. Erst die prekäre Versorgungslage ließ Soko-lowski und Serow im Dezember 1946 ihren Vorstoß in Moskauunternehmen. Es kam keine Reaktion, und damit begnügte mansich in Berlin, ordnete zum 1. Januar 1947 allerdings die Erhöhungder Verpflegungsrationen an. Das kam für Tausende vonGeschwächten jedoch zu spät. Die erstmalige Entlassung einer großen Gruppe von Häftlingenohne Urteil erfolgte zwar nach einer weiteren Überprüfung, aberdiese war kein Resultat rechtsstaatlichen Vorgehens, sondern einAkt politischer Opportunität. Denn im Zuge der Herausbildungdes Kalten Krieges wollte man die deutsche Bevölkerung nicht

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länger vor den Kopf stoßen. Nachdem Sokolowski am 27. Februar1948 ziemlich unvermittelt die formelle Beendigung der Entnazifi-zierung verkündet hatte, war auch die Opportunität der weiterenInhaftierung der Speziallagerhäftlinge durch eine Kommissionüberprüft worden. Am 30. Juni 1948 folgte das Moskauer Politbü-ro dann der Empfehlung der Überprüfungskommission und ord-nete an, 27 749 der insgesamt noch 44 000 Häftlinge ohne Urteilzu entlassen. Diese Entlassenen hatten über ihre Lagererfahrungen zu schwei-gen, wie überhaupt offiziell über die Lager, über Verhaftungenund den Verbleib der Verhafteten nichts von Amts wegen geäu-ßert wurde. Die Betroffenen verschwanden einfach. Auch das ent-sprach der Strafrechts- und Strafvollzugspraxis der Sowjetunion, inder man allerdings bei entsprechender Hartnäckigkeit der Ange-hörigen etwas über das Schicksal der Angehörigen herausfindenkonnte. Der Besatzungsmacht wurde immer wieder nur überUnruhe und Gerüchte in der Bevölkerung berichtet, aber änderntat sich nichts an dieser Praxis, die selbst im Vergleich zur Praxis imDritten Reich ungewöhnlich war, und das Ansehen der Sowjet-union bei der Bevölkerung schwer belastete.Neben der Vernachlässigung ist deshalb mangelnde Rechtsstaat-lichkeit das zweite wesentliche Element der Behandlung der Spez-lag-Häftlinge, und zwar aller, ob ohne oder mit Urteil. Die Wald-heimer Prozesse nach der Übergabe der Speziallagerhäftlinge andie DDR-Behörden waren lediglich eine rechtsstaatlich bemäntelteFortführung der weiterhin praktizierten Rechtlosigkeit. Währenddie strafrechtliche Unhaltbarkeit der Urteile von Waldheim wieauch der SMT aber unbestritten ist, galt das für die ursprünglicheInternierung der späteren Häftlinge ohne Urteil aber nicht.Zumindest bildete die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung in derersten Zeit nach der Wende den Gegenstand heftiger Kontrover-sen zwischen den ehemaligen Häftlingen der KZs vor und der Spe-ziallager nach 1945 bzw. ihren jeweiligen Opferverbänden, ja eskam zu einer Art Konkurrenz der Opfer um öffentliche Aufmerk-samkeit und Anerkennung als wahre Opfer. Selbst auf diejenigen,die sich von Amts wegen mit der Aufarbeitung der „doppeltenVergangenheit“ einiger Gedenkstätten befassten, hat dieser Kon-flikt zeitweise etwas ausgestrahlt. Die Heftigkeit, mit der diese Kontroverse ausgetragen wurde, hatnicht nur persönliche, sondern auch tiefere Gründe, die z. B. auchbei der Diskussion, ja Aufwallung um das Goldhagen-Buch „Hitlers

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willige Vollstrecker“ 1995 oder bei der Diskussion um die Zwangs-arbeiter-Entschädigung eine Rolle gespielt haben. Es gibt nachdem einprägsamen Wort des so unrühmlich in Erinnerung geblie-benen Historikers Ernst Nolte eine „Vergangenheit, die nicht ver-gehen will“. Und was hier nicht vergehen will, das ist die Frage anuns Deutsche nach der Mitschuld am NS-Regime und seinen Unta-ten – nicht in einem strafrechtlichen, sondern in einem allgemeinmoralischen Sinn. Das gleiche gilt für die Mitschuld am DDR-Regime. Und ich denke, den Speziallagerinsassen der SBZ ging esim Bewusstsein vieler nicht direkt betroffener Deutscher in gewis-ser Weise wie den Heimatvertriebenen: Man sah ein, dass sie viel-leicht individuell Leid und Unrecht erlitten hatten, aber insgesamtwar dies doch angesichts des Leids und Unrechts, das auch inihrem Namen und vielleicht sogar mit ihrer Mithilfe – und sei esnur als Mithilfe eines Mitläufers – an anderen verübt worden war,irgendwie auch nicht unverdient. Die Heftigkeit der damaligenund z. T. bis heute andauernden Diskussion hat vermutlich viel mitdieser unterschwelligen, nicht vergehen wollenden Frage nach derMitschuld zu tun, einer Mitschuld, die man bei anderen meistleichter ablädt als bei sich selbst. Das ist menschlich. Zur Frage der Berechtigung der Inhaftierung sei nur festgestellt,dass der für einen großen Teil der Internierten von den sowjeti-schen Organen als Internierungsgrund angeführte NS-Hinter-grund keineswegs erfunden war. Das gilt im Wesentlichen für die-jenigen, die 1945/46 verhaftet und interniert, d. h. ohne Urteil imLager gehalten wurden. Der größte Teil von ihnen gehörte derAltersgruppe der über 45jährigen an. Viele dieser Älteren warenauch, wie das anhand der Überprüfungen festgestellt wurde, Par-teimitglieder oder Funktionsträger der Partei oder des Staates.Damit ist jedoch überhaupt keine Aussage über die individuelleBelastung oder Schuld der ohne Urteil Inhaftierten gemacht.Bloße Parteimitgliedschaft galt in keiner Zone als Belastungs-grund. Dann hätten Millionen Deutsche bei Kriegsende inhaftiertwerden müssen. Schließlich war der Mitgliedsbestand der NSDAP1945 auf rund 8,5 Millionen angestiegen. Der in den Akten festgestellte NS-Hintergrund ist nicht einmaleine Aussage darüber, ob es sich dabei um den tatsächlichen Ver-haftungsgrund handelte. Man kann lediglich sagen, dass für dieMehrheit der kurz nach Kriegsende verhafteten Älteren ein NS-Hintergrund als Regel anzunehmen ist. Für die später hinzuge-kommenen Häftlinge, die in der Regel SMT-Verurteilte waren,

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kann man den NS-Hintergrund grundsätzlich ausschließen. Siewaren zu einem großen Teil sehr jung. So war von 25 000 SMT-Verurteilten, zu denen Angaben vorliegen, genau ein Drittel 194520 Jahre alt oder jünger. Sie sind nach den Feindvorstellungen desSowjetstaates verhaftet und nach seinen Rechtsvorstellungen und-verfahren verurteilt worden, in der Regel zu sehr hohen Strafenvon 10–25 Jahren Lager, wenn nicht sogar zum „höchsten Straf-maß“, der Todesstrafe. Man kann summarisch feststellen, dass siezum größten Teil wegen erfundener Vergehen bestraft wurden. Der Grad der tatsächlichen NS-Belastung der Internierungshäftlin-ge ist nur in Ausnahmefällen Gegenstand von Untersuchunggewesen – in den wenigen Fällen, wo Internierten der Prozessgemacht wurde. Man kann generell sagen, dass zwei Faktoren dieZusammensetzung der Internierten beeinflussten: erstens die Tat-sache, dass die stärker belasteten Zivilisten sich doch eher vor derRoten Armee nach Westen abgesetzt hatten, so dass in der Regelnur die sprichwörtlichen „kleinen Fische“ übrig blieben; zweitensdie Tatsache, dass die eigentlichen Schergen des Regimes wie SS-Angehörige und KZ-Personal als Kriegsgefangene behandelt wur-den. Das schließt nicht aus, das auch ernsthaft Belastete im Sinneder Kontrollratskategorien unter den Häftlingen ohne Urteilwaren, aber generell waren die so genannten „Funktionäre“unter ihnen doch eher vom Schlage der Blockwarte. Die Einstu-fung von 35 000 der im Dezember 1946 insgesamt 80 000 Häftlin-ge als „minderbelastet“, sollte man schon als Indiz nehmen, selbstwenn der pragmatische Grund, unnütze Esser loszuwerden beidieser Charakterisierung auch eine Rolle gespielt haben mag.Man muss allerdings zur sowjetischen Internierungspraxis nocheine weitere Bemerkung machen, die die Gleichgültigkeit, mit derman die Internierten, also die Häftlinge ohne Urteil, behandelteund einstufte, zusätzlich erklären kann. Die Verbrechen des NS-Staats und die Mitverantwortung einzelner Deutscher für dieseVerbrechen, für die die westlichen Alliierten insbesondere unteramerikanischem Einfluss Strafe und Sühne durchzusetzen suchten,haben die Sowjetunion nie groß bewegt. Dazu waren sich dieRegime zu ähnlich. Die systematische Ermordung der Juden etwa,der Inbegriff der NS-Verbrechen, ist in der Sowjetunion nie öffent-lich zur Sprache gebracht oder gar angeprangert worden. Ebensowenig Euthanasie oder die Verfolgung von Zigeunern. Es ging derSowjetunion um Strafe und Sühne für deutsche Untaten in derSowjetunion und an Sowjetbürgern. Wenn Untaten des NS-

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Regimes in Deutschland angeprangert wurden, dann die Verfol-gung von Kommunisten, aber nicht die NS-Verbrechen an sich.Wenn dennoch NS-Nähe als allgemeiner Verhaftungsgrund dien-te, dann eher wegen des nahe liegenden Verdachts, dass diebetreffenden Personen am ehesten für antisowjetische Aktivitäteninfrage kamen. Sie wollte man isolieren, und das tat man. Umangemessene Bestrafung für Taten in der Vergangenheit, soweitsie nicht Sowjetbürger oder die Sowjetunion betrafen, machteman sich im Grunde keine Sorgen. Da man sich zugleich aber umMenschen, die keinen Nutzen für den Staat brachten, weil sienicht arbeiteten, ebenfalls keine Sorgen machte, erklärt sich dieauf den ersten Blick so erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüberden Speziallagerhäftlingen. Das galt umso mehr, als man sie pau-schal als „Faschisten“ bezeichnen konnte.So lassen sich die sowjetischen Speziallager als Einrichtung und dieBehandlung ihrer Insassen auf mehrere Gründe zurückführen:zum einen auf die tief sitzende sowjetische Feindpsychose und diesowjetische Strafrechts- und Strafvollzugspraxis. Sie übertrug manohne große Veränderungen auf die SBZ, wobei lediglich erstaunt,dass man die Häftlinge keine Zwangsarbeit verrichten ließ. Zumanderen aber geht gerade das gleichgültige Verhalten gegenüberden Häftlingen ohne Urteil, die ursprünglich als NS-Belasteteinterniert worden waren, auf das weitgehende Unverständnis fürden Wunsch der westlichen Alliierten zurück, NS-belastete Deut-sche zur allgemeinen Wiederherstellung des Rechts zu bestrafen.

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Klaus-Dieter Müller

Aus der Geschichte gelernt. Gemeinsame Aufarbeitung vonKriegsgefangenen- und Zivilistenschicksalen

Lernen aus der Geschichte, lernen aus Leid und Verfolgung, kannman das eigentlich? Eine schwierige Frage für Deutschland. Hieram Ort in Bautzen, an dem es vornehmlich um kommunistischeUnterdrückung geht: Kann und muss nicht auch die frühere Sow-jetunion aus ihrer Repressionsgeschichte lernen? Hat sie diesgetan, in ausreichendem Maße getan, was ist dabei für die Aufar-beitung der Unterdrückung Deutscher durch sowjetische Organeherausgekommen? Und gehen wir noch einen Schritt weiter: IstBautzen, sind andere Orte, die politische Verfolgung markieren –etwa Verfolgung in der NS-Zeit und anschließend in der SBZ/DDR –, nicht auch Anlass, darüber nachzudenken, ob man – nach derÜberwindung auch der kommunistischen Diktaturen in Europa vorbald 15 Jahren – nicht gemeinsam aus der Geschichte von Tod,

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Leid und Unterdrückung lernen kann und sogar muss? Ist eingemeinsames Lernen aber überhaupt möglich, wenn manbedenkt, welche Opfer die UdSSR vorher durch Deutsche im Zwei-ten Weltkrieg zu beklagen hatte?Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass man allediese Fragen mit einem vorsichtigen Ja beantworten kann, und ichdenke, dass insgesamt die letzten 15 Jahre nach dem Niedergangdes Kommunismus eine Erfolgsgeschichte nicht nur deutscher Auf-arbeitung, sondern auch internationaler Aufarbeitung sind. Im Ergebnis langjähriger Kooperation können wir heute über poli-tische Repression gemeinsam sprechen – wie häufig schon auf denBautzen-Foren geschehen –, haben mit unseren russischen Kolle-gen eine doch weitgehend gemeinsame Sprache gefunden. Schondas ist ein erstaunliches Faktum. Immerhin handelt es sich um dasLand, das Opfer deutscher Aggression während des Zweiten Welt-kriegs geworden ist und mehr als 20 Millionen Tote – neben allensonstigen Zerstörungen – zu beklagen hat. In diesen Zusammen-hang gehören auch die Millionen zur Zwangsarbeit verschlepptenZivilisten. Dies ist heute dort keineswegs vergessen und im nächs-ten Jahr – 60 Jahre nach Kriegsende – wird es erneut Aktualitäterlangen.Auch auf deutscher Seite ist dieser Krieg nicht nur im öffentlichenBewusstsein verankert, sondern auch ganz konkret bei Menschen,die Angehörige verloren haben, und insbesondere bei solchen, diebisher keine Nachricht von Vermissten erhalten haben. Und diesbetrifft nicht nur wenige. Auch auf deutscher Seite ging die Zahl der Gefallenen und in dersowjetischen Kriegsgefangenschaft Verstorbenen in die Millionen.Nach Kriegsende trafen Repression, Verschleppung und Zwangsar-beit Hunderttausende von Deutschen. Das Leiden war 1945 nichtbeendet. Auch dies ist auf deutscher Seite nicht vergessen. NichtHass soll unser Denken bestimmen, aber vergessen dürfen wirnicht, so heißt es beispielsweise zur Aufarbeitung bei Benno Prieß.Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen, so steht es zehntau-sendfach auf Denkmälern des Zweiten Weltkriegs in Russland.Die Ereignisse zwischen 1941–1945, und für viele noch Jahre spä-ter, war für beide Staaten eine Tragödie von bis dahin unvorstell-barem Ausmaß. Dass trotz dieser Repressionserfahrungen und desLeides eine gemeinsame Zusammenarbeit möglich ist, halte ichdaher angesichts der Millionen Opfer, die Deutsche zu verantwor-ten haben, keineswegs für normal oder gar selbstverständlich. Es

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sollte uns eigentlich erstaunen. Wir sollten deshalb nicht immerzuerst fragen und darüber klagen, warum dies oder jenes nochnicht befriedigend gelöst ist, sondern sollten auch darüber nach-denken, ob angesichts dieser furchtbaren Vergangenheiten nichtschon erstaunlich viel erreicht worden ist. Lassen Sie mich einige Thesen formulieren, die ich im Folgendenetwas näher erläutern möchte und die dann auch mit dem Podiumdiskutiert werden können.Die Leiderfahrungen beider Völker als Opfer von Nationalsozialis-mus auf der einen Seite und Stalinismus auf der anderen Seitewaren dafür die wichtigste Grundlage. Daraus folgt, dass deutscheund sowjetische/russische Geschichte im 20. Jahrhundert wedergetrennt betrachtet noch aufgearbeitet werden können.Weitere Grundlage ist die Anerkennung von Ursache und Folge,Schuld und Verantwortung. Auf dieser Grundlage ist m. E. vielmehr erreicht worden, als vor etwa eineinhalb Jahrzehnten über-haupt absehbar war. Ich will dies an zwei Bereichen – der Verfol-gung deutscher Zivilisten durch sowjetische Organe sowie dergemeinsamen Aufarbeitung von Kriegsgefangenenschicksalen –erläutern. Durch gemeinsame Aufarbeitung leisten beide Seiteneinen Beitrag zur Versöhnung und Überwindung des Trennendender Vergangenheit.Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Zusammenarbeitliegt in einer geteilten Grunderfahrung: der Erfahrung mit politi-scher Repression in der UdSSR von 1917 bis 1991, in Deutschlandvon 1933–1945 und 1945–1989. Ich halte das für die zentraleGrundlage. Sowjetische – und auch deutsche Bürger sind Opferdes Nationalsozialismus geworden, neben sowjetischen und sindaber auch deutsche Bürger Opfer des Stalinismus geworden. Es istkaum vorstellbar, dass für deutsche Opfer der sowjetischenRepression eine Rehabilitierung durch russische Militärorganemöglich geworden wäre, wenn es nicht auch für Millionen Bürgerin der UdSSR schreckliche Repressionserfahrungen durch eigeneOrgane gegeben hätte.Dabei ist es wichtig, die jeweilige Leiderfahrung des anderenanzuerkennen, Ursache und Folgen zu benennen, aber auch deut-lich zu machen, wo Handlungen keine Folgen vorhergehenderUrsachen mehr sein können, sondern eindeutig neues Unrecht –sui generis – schaffen. Es ist wichtig, festzustellen – was zum Bei-spiel SMT-Verurteilte betrifft –, dass Deutsche von sowjetischenGerichten durchaus berechtigter Weise wegen Kriegsverbrechen

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und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden sind.Dies betrifft zum Beispiel Urteile, die gegen ehemalige deutscheSoldaten und Zivilisten wegen ihrer Tätigkeit in den besetztensowjetischen Territorien (nicht nur SS-Einsatzgruppenmitgliederoder Mitglieder der Polizeiersatzbataillone), die gegen in derLandwirtschaft und Industrie Tätige wegen der Beschäftigung vonZwangsarbeitern während der Kriegszeit oder gegen Truppen derSS-Totenkopfverbände wie im Fall des Konzentrationslagers Sach-senhausen ergangen sind. In diese Gruppe legitimer Ahndung vonVerbrechen gehören etwa auch Mediziner wie Hans Heinze, derfür seine Beteiligung im Rahmen der Euthanasie-Morde voneinem SMT verurteilt worden ist.Wichtig ist jedoch auch festzustellen, dass der überwiegende Teilder Deutschen, die aufgrund so genannter konterrevolutionärerStrafbestimmungen verurteilt wurden, nur aus stalinistisch-politi-schen Gründen verurteilt wurden, d. h. zu Unrecht. Sie werdenheute rehabilitiert. Damit erkennt der Nachfolgestaat der Sowjet-union, Russland, offiziell und auch für den deutschen Staat bin-dend an, dass damals Unrecht geschah, und ermöglichst zumin-dest eine Teilwiedergutmachung dieses Unrechts.Wenn man die Geschichte der Diktaturen in Europa im 20. Jahr-hundert in den Blick nimmt, so muss man – so meine zweite Aussa-ge - zu dem Schluss kommen, dass sich deutsche und sowjetischeGeschichte des 20. Jahrhunderts nicht trennen lassen. DieseGeschichte fügt beide Völker zusammen, und wenn bestimmteJahrestage bevorstehen, müssen beide Seiten sich zu ihnen Positi-on beziehen. Bei einigen Daten und Ereignissen ist das relativ leicht. BestimmteJahreszahlen von 1917 bis 1953 stehen für schmerzliche und bluti-ge Momente im Leben beider Völker. So zum Beispiel das Datumder Oktoberrevolution in Russland, oder die Machtübernahme derNationalsozialisten im Januar 1933. Beide markieren jeweils denBeginn einer blutigen Diktatur. Zwei Jahreszahlen spielen im kol-lektiven Gedächtnis des deutschen und des russischen Volkessowie für die jeweilige nationale Geschichte eine herausgehobeneRolle: Einmal der 22. Juni 1941 als Beginn des Krieges gegen dieUdSSR, des eigentlichen Kerns des Zweiten Weltkriegs (auch fürDeutschland: 80 Prozent aller umgekommenen Wehrmachtsolda-ten sind an der Ostfront gefallen). Für Deutschland ist mit diesemDatum der Beginn eines beispiellosen Verbrechens verbunden: derVölkermord an den europäischen Juden und ein Besatzungsre-

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gime, das Völkermord an den Slawen zumindest einkalkulierteund teilweise umsetzte. Hitlers Überfall hatte für Stalin das para-doxe Ergebnis, dass sich nach anfänglichem Zögern schließlichdoch die Menschen um Stalin scharrten: Der sowjetische Siegmachte aus dem Massenmörder der dreißiger Jahre, Stalin, einenweltgeschichtlichen Helden und festigte letztendlich seine dikta-torische Herrschaft. Der russische Schriftsteller Ales Adamowitschbemerkte dazu einmal bitter, Deutschland – er meinte West-deutschland – sei bereits 1945 befreit worden, die sowjetischenVölker aber erst 1991.Das zweite Datum, der 8. Mai 1945, hat für beide Völker eine ähn-liche Bedeutung: objektiv war er es ein Tag der Befreiung, genau-er der Befreiung von Nationalsozialismus und Krieg. Gleichwohlsind mit ihm – zumindest damals – naturgemäß ganz unterschied-liche Wahrnehmungen und Gefühle verbunden. Während dasEnde des Zweiten Weltkriegs in Europa für die UdSSR einfach einTag der Freude, der Genugtuung, des Sieges war und ist – bisheute –, ist die Einstellung in Deutschland bisher nicht immer soeindeutig. Für die damals Lebenden war es – so schildern viele –eben auch ein Tag der Niederlage, der Ungewissheit, des schein-bar endgültigen Endes deutscher Staatlichkeit und Geschichte,und für einen Teil der Deutschen begann erneut ein Leidensweg.Das nächste Datum, der Tod Stalins am 5. März 1953, ist für beideLänder ausgesprochen positiv besetzt und bildete zugleich einenÜbergang in der sozialistischen Diktatur. In den politischen Füh-rungen der sozialistischen Länder herrschte danach Unsicherheit.Ohne Stalins Tod wäre der 17. Juni unvorstellbar gewesen. Bezüg-lich der politischen Repression in ihren (massen-) mörderischenDimensionen jedenfalls war dieses Datum ein Wendepunkt, fürdie UdSSR wie für die DDR. Bereits unmittelbar danach begannder Auflösungsprozess des Gulag, begannen die ersten zaghaftenVersuche zur Rehabilitierung.An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf das Jahr 1941 zurück-kommen. Man kann das Thema „Politische Repression gegenDeutsche“ nicht angemessen behandeln, wenn nicht berücksich-tigt wird, dass zuerst die Aggression von Deutschland gegen dieUdSSR ausging. Deutsche, ihre Verbündeten und ihre einheimi-schen Helfershelfer haben Millionen Menschen in den besetztenGebieten entweder ermordet, haben deren Tod in Kauf genom-men oder sind für ihren Tod im Reichsgebiet verantwortlich – sozum Beispiel für mehr als zwei Millionen verstorbene sowjetische

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Kriegsgefangene im Reichsgebiet und den besetzten Gebieten. Eshat Kriegsverbrechen und es hat damit Kriegsverbrecher gegeben.Das Recht der UdSSR, diese Verbrechen zu ermitteln und zu ahn-den, kann und darf auch heute nicht infrage gestellt werden. Die Redlichkeit verpflichtet uns, als Deutsche die Tatsache der Verbrechen offen einzugestehen und anzunehmen. Diese Aner-kennung ist Voraussetzung dafür, auch von der russischen Seitedieselbe Offenheit gegenüber den von sowjetischen Organen zuverantwortenden Verbrechen der Nachkriegszeit an Deutschen zuerwarten.Ich möchte an dieser Stelle nicht den Kollegen vom Hannah-Arendt-Institut vorgreifen, die sich morgen ausführlicher mit demThema der Verurteilung von Zivilisten befassen werden. Es reichtzu sagen, dass insgesamt – aus Osteuropa wie auch der SBZ/DDR –von 1945 bis 1955 ca. 380 000 deutsche Zivilisten in sowjetischeHaft – zumeist als Internierte geführt, ein Teil Verurteilte – gera-ten waren. Etwa ein Drittel von ihnen hat die Heimat nicht lebendwieder gesehen oder verstarb in den Speziallagern in Deutsch-land.Es ist bekannt, dass sowjetische politische Verfolgungsmaßnah-men und Maßnahmen zur Ahndung von NS-Verbrechen zumeistgleichzeitig geschahen. Politische Säuberung und die Aburteilungdeutscher Verbrechen – die fatale NS-Erbschaft – auf der einenSeite und die gleichzeitige Sowjetisierung auf der anderen Seitebildeten eine Mischung, deren Bestandteile nur schwer zu trennensind. Beide Ziele, das zeigt der Vergleich der verhafteten Gruppen wieder Vorgehensweise der sowjetischen Sicherheitsapparate, bestan-den nicht isoliert voneinander, sondern griffen ineinander. Auf derGrundlage der inzwischen am Hannah-Arendt-Institut wie der Stif-tung Sächsische Gedenkstätten gesammelten und ausgewertetensowjetischen Einzelfallpersonalunterlagen im Umfang von mehre-ren zehntausend Fällen kann man allerdings sehr deutlich Trendsablesen und muss damit zu anderen Gewichtungen kommen, alssie noch Anfang oder Mitte der neunziger Jahre sowohl in derwissenschaftlichen Literatur wie in der Zeitzeugenerinnerungdominierten. Es gilt anzuerkennen, dass im Zeitraum vom letztenKriegshalbjahr bis etwa Ende 1946 bzw. Mitte 1947 eindeutig Ver-brechensahndung, Sicherheits- und Reparationsaspekten zentraleBedeutung für Verhaftungen mit anschließender Verurteilungzukam. Ob allerdings immer, oder auch nur überwiegend, tatsäch-

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lich die Schuldigen solcher Kriegsverbrechen verurteilt wurden, istnicht abschließend geklärt. Erhebliche Zweifel sind angebrachtund haben mit der Tatsache vielfacher gerichtlicher Unzulänglich-keiten bzw. stalinistischer Deformationen der Rechtspflegeorganeder UdSSR zu tun. In einigen, freilich nur sehr wenigen Fällen kames auch zu Rehabilitierungen, die darauf zurückzuführen sind,dass die damaligen Organe nicht umfassend ermittelt haben undinsofern das Urteil nicht bestandskräftig bleiben konnte.Auch die über 100 000 nichtverurteilten Speziallagerhäftlingekamen in dieser Zeit in sowjetischen Gewahrsam, in die bekann-ten sowjetischen Speziallager. Folgt man der Präambel des ihrerVerhaftung zugrunde liegenden Befehls 00315 vom 18 April 1945,so handelte es sich offiziell um Inhaftierungen zur Sicherung desHinterlandes der Roten Armee, also klassische Maßnahmen derKriegs- und Besatzungspolitik, freilich im Rahmen einer totalitä-ren Besatzungsmacht mit allen bekannten Folgen. Erst ab 1947verlagerte sich der Schwerpunkt der Haftgründe eindeutig auf dasZiel der Durchsetzung der kommunistischen Diktatur unter maß-geblicher Mitwirkung der deutschen Kommunisten selbst. Wie sieht nun die russische Militärstaatsanwaltschaft selbst dieEntwicklung der Repression? Russische Militärstaatsanwälte habenmehrfach in Vorträgen über den Stand der Rehabilitierung berich-tet und dabei auch die Aufmerksamkeit auf die zugrunde liegen-de politische Repression in der UdSSR und auf dem Boden derSBZ/DDR gerichtet. Im Mai 1997 hielt Oberst Leonid Kopalin einenVortrag über Rehabilitierungsprobleme. Auch er begann mit denEreignissen des Zweiten Weltkriegs. Dieser, so Kopalin, sei „derunmenschlichste in der Geschichte des Krieges. Zudem trat einenoch nie da gewesene Unmenschlichkeit in Nazideutschland undin der Sowjetunion nicht nur gegenüber den Angehörigen desMilitärs und der Zivilbevölkerung zutage, sondern auch gegen-über den eigenen Völkern.“ Das NKWD, das im und nach demKrieg für die Feststellung von Verbrechern zuständig war, wandtegegenüber Zivilisten, aber auch gegenüber Kriegsgefangenen,ungesetzliche Mittel an. So heißt es bei Kopalin, es „befanden sichunter den Bedingungen der damaligen juristischen Maßlosigkeiteine Vielzahl von Menschen unter den Verdächtigen und danachauch unter den Verurteilten, die jene Taten, derer sie beschuldigtwurden, nicht begangen hatten. Grundlage für die Verurteilun-gen waren nicht selten Anzeigen, die jeder Grundlage entbehrtenoder Angaben geständiger Angeklagter, die während der Ermitt-

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lungen unter dem Einsatz von physischer und psychischer Gewaltzugestanden gekommen waren. Einige Akten wurden einfach vonden Mitarbeitern des NKWD gefälscht und den Gerichten überge-ben.“Die Militärstaatsanwälte Alexander Morin und Valerij Kondratowerklärten 2001 zusammenfassend: „Die politischen Repressionenin der UdSSR dauerten in unterschiedlichen Variationen bis zu Sta-lins Tod im Jahre 1953 an. Es ist praktisch unmöglich, die Gesamt-zahl der Opfer politischer Repression zu ermitteln.“ Nach 1945, sodie Autoren, „betrachtete die sowjetische Besatzungsmacht diedeutsche Bevölkerung nahezu ausnahmslos als schuldige Nation,und erst später lässt sich eine differenzierte Herangehensweisebeobachten.“ Weiter wird betont, die Prüfung der Strafaktenheute habe gezeigt, „dass eine beträchtliche Zahl ausländischerBürger, darunter auch Deutsche, ungerechtfertigt strafrechtlichverfolgt wurden. Aufgrund verschiedener Umstände wurden vieleMenschen in der Nachkriegszeit verdächtigt und verurteilt, ob-wohl sie keine der ihnen zur Last gelegten Handlungen begangenhatten. Der Grund für die unrechtmäßigen Urteile waren häufigverleumderische Anschuldigungen durch ehemalige Kollegenbzw. Geständnisse, die durch physische und psychische Gewaltan-wendung erpresst wurden.“ All dies werden viele von Ihnen, die hier anwesend sind, bestäti-

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gen können. Allein diese wenigen Zitate belegen, dass doch eineweitgehend übereinstimmende Sichtweise auf deutscher und rus-sischer Seite vorliegt.Zwei der Daten aus den neunziger Jahren sind für die Geschichteder Rehabilitierung von herausragender Bedeutung, obwohl sie inder Öffentlichkeit bisher recht wenig Beachtung gefunden haben.Gleichwohl sind auch sie für einen Teil der russisch-deutschenGeschichte und insbesondere viele ehemaligen Häftlinge wichtig.Zwar hatte es kurz nach Stalins Tod Versuche zur Rehabilitierunggegeben, die jedoch immer zu kurz griffen, weil sie das Grund-übel, das repressive System des Kommunismus in der UdSSR, nichtzugrunde legten. Am 18. Oktober 1991 wurde in der Russischen Föderation einRehabilitierungsgesetz angenommen, das bis heute die Haupt-grundlage für Rehabilitierung, Aktenauswertung und auch fürden Aktenzugang bildet. Es war ein wirklicher Neuanfang. Für diesystematische Einbeziehung der Deutschen in die Urteilsüberprü-fungsverfahren (eben im Rahmen des russischen Rehabilitierungs-gesetzes) kommt ein zweites Datum aus den neunziger Jahren zurGeltung. Am 16. Dezember 1992 wurden in Moskau zwei wichtigeRegierungsabkommen unterzeichnet: Einmal das Kriegsgräberab-kommen, das mit zur Überwindung der Folgen des Zweiten Welt-kriegs beitrug – auf dieser Grundlage baut der Volksbund Deut-sche Kriegsgräberfürsorge in Russland Friedhöfe, es ist aber eineunserer Grundlage bei den Fragen zur Schicksalsklärung von Zivi-listen und Kriegsgefangenen im Rahmen des Kriegsgefangenen-projekts, denn darauf wird in den Präambeln der Kooperations-verträge in Russland ausdrücklich Bezug genommen –, zum ande-ren eine gemeinsame Erklärung von Bundeskanzler Kohl undPräsident Jelzin, der zufolge auch die deutschen unschuldigenOpfer der Gewaltherrschaft rehabilitiert werden sollten. Für dieAusländer unter den Opfern politischer Repression wurde einigeZeit später sogar eine eigene Abteilung in der Militärstaatsanwalt-schaft eingerichtet.Welche Bedeutung haben solche Verfahren für die Betroffenenund ihre Hinterbliebenen, welche Bedeutung haben sie für dieWissenschaft? Hier sind mehrere Ebenen zu unterscheiden: Esgeht um Schicksalsklärung, um humanitär-moralische Fragen,rechtliche sowie sozial-finanzielle Folgen, und letztlich natürlichauch um wissenschaftliche Fragen.Das Prüfungsverfahren bei der Rehabilitierung ist grundsätzlich

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ein Prozess mit offenem Ausgang, der allein auf der Grundlageder damals angelegten Akten durch die russische Militärstaatsan-waltschaft oder entsprechende Gerichte erfolgt und gemäß denVorgaben des russischen Rehabilitierungsgesetzes sowie obersterGerichtsentscheidungen durchgeführt wird. Es ist möglich, auchUnterlagen mit zu senden, die dabei Berücksichtigung finden kön-nen.Was bedeutet Rehabilitierung in Russland, was heißt das für deut-sche Betroffene? Mit der Rehabilitierung wird das damalige Urteilaufgehoben und der Verurteilte wieder als – allerdings nur bezüg-lich der damaligen Anklagepunkte – unschuldig erklärt. Der ent-sprechende Passus im Gesetz lautet, er sei nur aus politischenGründen verurteilt worden. Sein guter Name sei wieder herge-stellt. Der Makel, ein Verbrecher zu sein, wird von ihm genom-men. Als Folge daraus hat der Rehabilitierte das Recht, bestimmteKompensationen für zu Unrecht verbüßte Haft zu erhalten. Wei-terhin stehen ihm bestimmte soziale Leistungen zu, und der Ver-mögensschaden muss – soweit möglich – wieder gut gemacht wer-den. Dies alles gilt allerdings nur für Personen, die heute in derRussischen Föderation leben. Im Übrigen sind die Ausgleichsleis-tungen gemessen an deutschen Verhältnissen sehr gering.Auch für in Deutschland lebende Betroffene oder ihre Hinterblie-benen hat eine Rehabilitierung unmittelbare rechtliche und finan-zielle Folgen. Wenn eine Rehabilitierung vorliegt, ist damit grund-sätzlich für deutsche staatliche Institutionen (Gerichte, Landessozi-alämter, Stiftungen, Vermögensämter usw.) der Beleg erbracht,dass die Anerkennung als politischer Häftling festgestellt werdenkann und bestimmte soziale Hilfsleistungen oder Ausgleichsleis-tungen durch den deutschen Staat möglich werden. Bedeutunghat eine Rehabilitierung auch für unmittelbar in Zusammenhangmit dem damaligen Urteil stehende Vermögensenteignungen. DasBundesverwaltungsgericht hat 1999 festgestellt, dass in diesen Fäl-len die Betroffenen nicht unter den Einigungsvertrag mit seinemVerbot der Aufhebung sowjetisch-veranlasster oder geduldeterEnteignungen fallen. Damit ist grundsätzlich die Rückgabe oder –falls das nicht mehr möglich ist – eine entsprechende Entschädi-gung zwingend.Wer kann einen solchen Rehabilitierungsantrag stellen? Das russi-sche Rehabilitierungsgesetz sieht vor, dass sowohl Betroffene, Hin-terbliebene, gesellschaftliche Organisationen als auch andere Ein-zelpersonen einen Antrag auf Rehabilitierung einreichen können.

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In der Praxis sind unterschiedliche Motive für die Antragstellungzu beachten. Zum einen geht es Familienangehörigen selbstver-ständlich um die Feststellung der Unschuld des Verurteilten. Tau-sende von Einzelanträgen Betroffener, teils auch politischer Partei-en oder Verfolgtenverbände zeugen davon. So haben etwa derBundesvorstand der SPD und der CDU Hunderte von Namen ver-hafteter Parteimitglieder zur Überprüfung der Urteile bereits voretwa acht Jahren nach Moskau geschickt. Lagergemeinschaftenwie die Lagergemeinschaft Workuta/Gulag Sowjetunion habendies ebenfalls getan. Seit etwa Mitte der neunziger Jahre sindauch über wissenschaftliche Einrichtungen wie den ehemaligenArbeitsbereich Widerstandsforschung am Dresdner Hannah-Arendt-Institut, den der Autor bis 1999 geleitet hat, bzw. seit 1999über die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenk-stätten eine Vielzahl von Anträgen gestellt worden. Mit den Antragstellungen, die bisher über das HAIT oder dieDokumentationsstelle gingen, waren verschieden Ziele verbun-den. In den ersten Jahren waren überwiegend allein wissenschaft-liche Interessen maßgebend, da sowjetische Militärtribunale zumForschungsbereich des Autors gehörten. Nur mittels Aktenüber-prüfung im Verfahren der Rehabilitierung war es möglich, Infor-mationen über den damaligen Verhaftungs- und Gerichtsfall zuerhalten. Alle sowjetischen Unterlagen – die in deutschen Archi-ven im Rahmen des Schriftverkehrs zwischen sowjetischen unddeutschen Dienststellen nur spärlichen Niederschlag gefundenhaben – waren von der sowjetischen Besatzungsmacht in dieUdSSR überführt und dort in verschiedenen Archiven der Sicher-heitsdienste gelagert worden. Zugang zu ihnen war und ist nur –dies regelt das Rehabilitierungsgesetz – über eine erfolgreicheRehabilitierung sowie eine Vollmacht eines Betroffenen oder sei-nes Verwandten möglich. Im Falle der Ablehnung werden zumin-dest kurze Urteilsauszüge sowie biographische Daten des Häft-lings in den Ablehnungsbescheiden mitgeteilt. Die Rehabilitierungbildet generell den einzigen möglichen Zugang zu Untersu-chungs- und Strafakten.In den letzten Jahren ist die Dokumentationsstelle der StiftungSächsische Gedenkstätten zu einer bundesweit bekannten Anlauf-stelle für viele Betroffene, Hinterbliebene, mit politischen Häftlin-gen befasste Landesbehörden (Behörden der Landesbeauftragtenfür die Stasi-Unterlagen), Ämter sowie wissenschaftliche Einrich-tungen geworden. Hinzu kommt, dass auch das Bundesarchiv

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Anfragende bittet, falls es selbst keine zweckdienlichen Auskünftegeben kann, sich an die Dokumentationsstelle zu wenden. Seiteinigen Jahren laufen die meisten der Anträge auf Rehabilitie-rung überhaupt über die Dokumentationsstelle der Stiftung Säch-sische Gedenkstätten.Die Anfragenden lassen sich grundsätzlich in drei Gruppen unter-teilen:Anfragen von Hinterbliebenen zum Schicksal bis dahin Verscholle-ner.Anfragen mit der Bitte, ggf. Informationen zum Schicksal einesVerwandten zu ergänzen bzw. bei der Aktenbeschaffung behilf-lich zu sein;Anfragen von Angehörigen oder Ämtern, Nachweise oder Aus-künfte über Haftgründe und Haftzeiten zu bekommen, um aufdieser Grundlage die Frage der Anerkennung als ehemaliger poli-tischer Häftling (sog. 10–4-Bescheinigung) prüfen und ggf. übersoziale Ausgleichsleistungen Entscheidungen herbeiführen zukönnen. Hierbei können entweder die bereits vorhandenen Infor-mationen bereitgestellt oder müssen auf dem Wege der Zusam-menarbeit mit osteuropäischen Archivdiensten beschafft werden.Weiterhin sind z. B. Gutachten oder Auskünfte für Ämter anzufer-tigen, in denen es auch um die Einordnung von Haftgründen imRahmen der verschiedenen SED-Unrechtsbereinigungsgesetze

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bzw. des Häftlingshilfegesetzes geht. Um diese Arbeiten durchführen zu können, gibt es eine geregelteZusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, der Deutschen Bot-schaft Moskau sowie dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreu-zes. Anfragen von Personen und zu Personen gehen im Übrigenaus allen Bundesländern ein. Außerdem verfügt die Dokumentati-onsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten aufgrund von For-schungsprojekten und sonstigen Arbeiten über stabile und per-sönliche Beziehungen zu mehreren russischen Archiven und Insti-tutionen. Mitarbeiter der Dokumentationsstelle bzw. ihrer Partnersind mehrfach im Jahr in der Russischen Föderation, um diesenBelangen nachzugehen. Für alle diese Vorgänge gilt, dass dieRegeln des Datenschutzes Deutschlands wie auch der russischenArchive genaue Beachtung finden.Seit der genannten Kohl-Jelzin-Erklärung von 1992 sind nicht nurArchivangaben zu Hunderttausenden von Verschleppten und Spe-ziallagerhäftlingen oder zu Kriegsgefangenen durch deutscheSuchdienste und gemeinsame Forschungsprojekte – etwa auchbeim Kooperationsprojekt „Sowjetische Speziallager“, das dieFernuniversität Hagen auf deutscher Seite und das Staatsarchivder Russischen Föderation auf russischer Seite durchgeführt haben– nach Deutschland gekommen. Es wurden auch immerhin auchTausende Deutsche rehabilitiert, und eine ganze Anzahl von Straf-akten konnte gesichtet und erschlossen werden. Wenn die letzten Zahlen betrachtet werden, so ergibt sich folgen-des Bild: Etwa 20 000 Anträge sind allein über die deutsche Bot-schaft an die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft bzw. zurück an dieAntragsteller weitergeleitet worden. Mindestens 13 000 Personensind bisher rehabilitiert worden. Die Ablehnungsquote liegt beietwa 10 Prozent (ca. 1 300). Im Bestand der Dokumentationsstellebefinden sich neben Unterlagen zu einer Gruppe von etwa 7 400Rehabilitierten etwa 250 Unterlagen mit materiell-rechtlichenAblehnungen der Rehabilitierung (d. h. diese 250 Urteile geltenauch heute noch als bestandskräftig).Der Personenkreis, der unter den Geltungsbereich des russischenRehabilitierungsgesetzes fällt, ist im letzten Jahr sogar nocherweitert worden. Nichtverurteilte, die einem formellen Untersu-chungsverfahren unterworfen waren, das jedoch nicht abgeschlos-sen wurde, können inzwischen ebenfalls rehabilitiert werden. Essind inzwischen einige hundert Fälle bekannt, bei denen die meis-ten tatsächlich nach nur relativ kurzer Haft wieder freigelassen

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wurden, einige kamen in der Untersuchungshaft um, und nurwenige wurden trotz Einstellung des Verfahrens anschließend inSpeziallager überwiesen.Aus meiner Sicht ist damit eine Entwicklung in Gang gekommen,die vor mehr als zehn Jahren noch nicht erwartet werden konnte.Freilich sind auch – das darf man nicht verschweigen – Problembe-reiche aufgetreten bzw. nicht gelöst worden, zuweilen sind auchüberraschende Ergebnisse der Überprüfung aufgetreten.Erstens fällt eine Gruppe von Verhafteten – die so genanntenNichtverurteilten der Speziallager – seit 1997 nach russischer Auf-fassung als formellen Gründen nicht mehr unter das Rehabilitie-rungsgesetz. Sie könne, so wird argumentiert, nicht rehabilitiertwerden, weil sie nicht verurteilt sei.Zweitens haben sich besonders im Bereich der Überprüfung vonUrteilen, die wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen dieMenschlichkeit ergangen sind, bestimmte Änderungen vollzogen.Wenn Verurteilte damals zwar nach so genannten konterrevolu-tionären Strafrechtsartikeln verurteilt worden sind, sie jedochgleichzeitig auch gegen alliiertes Recht oder innersowjetischesStrafrecht verstoßen haben, werden Urteile nicht aufgehoben,sondern umqualifiziert. So gibt es zum Beispiel seit Jahren für sogenannten „illegalen Waffenbesitz“ keine Rehabilitierungenmehr. Alle damals ausgesprochenen Urteile werden auf Artikel182 des sowjetischen Strafgesetzbuches entgegen vorheriger Pra-xis umqualifiziert. Damit ist eine Rehabilitierung nicht möglich,jedoch entfallen die vermögensrechtlichen Teile des damaligenUrteils. Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Einsatz vonZwangsarbeitern, deren Ausbeutung und Misshandlung – werdenebenfalls in der Regel nicht rehabilitiert, sondern auf Kontrollrats-gesetz 10 umqualifiziert.Auch Verurteilungen wegen Handlungen wie Requirierungen inden besetzten Gebieten, Misshandlung oder Tötung von Zivilistenund Kriegsgefangenen, Deportation von Zivilisten zum Zwangsar-beitseinsatz nach Deutschland oder Verhaftung von sowjetischenStaatsbürgern – häufig entflohene Zwangsarbeiter oder Kriegsge-fangene – wurden und werden in der Regel nicht aufgehoben. Esgibt nur sehr wenige Gegenbeispiele. Ein solches Gegenbeispielbezieht sich auf einen Mitarbeiter der Kriminalpolizei. H. B. warim November 1946 verhaftet, im Januar 1947 zum Tode verurteiltund drei Monate später hingerichtet worden. Ihm wurde zur Lastgelegt, zehn sowjetische Bürger festgenommen und der Gestapo

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übergeben zu haben. Im Aufhebungsbeschluss aus dem Jahr 2000heißt es, H. B. habe bei den Verhören ausgesagt, er habe nurschwerer Verbrechen verdächtige Personen festgenommen, under habe auch keine ungesetzlichen Vernehmungsmethoden ange-wandt. Diese Aussagen, so die Rehabilitierungsinstanz, seien inder Untersuchung und vor Gericht nicht widerlegt worden, so dasskeine vom Strafgesetzartikel (Ukas 43: Stellt Misshandlung oderTötung sowjetischer Zivilisten oder Kriegsgefangener durch dieWehrmacht – überwiegend auf dem Gebiet der UdSSR – unterStrafe) erfassten strafbaren Handlungen nachweisbar seien. Esliege kein Tatbestand vor. Das heutige russische Gericht hat also indubio pro reo entschieden.Auch in einem anderen Fall kommt dieser Grundsatz zur Geltung.Auf Bitten der Tochter war 2002 beantragt worden, das Urteilgegen ihren Vater P. K. zu überprüfen. Er war 1946 zu zehn JahrenHaft verurteilt worden, weil er als Landwirtschaftsführer in derUkraine Lebensmittel und andere landwirtschaftliche Güter nachDeutschland habe abtransportieren lassen. Wie das Überprüfungs-gericht dazu ausführte, seien P. K. jedoch keine Plünderungenoder andere kriminelle Delikte nachgewiesen worden; er habehierzu auch keine Anweisungen gegeben. Beweise für rechtswid-riges Verhalten lagen nicht vor. Wegen Tatbestandsmangel seidaher das Urteil – entgegen einer Empfehlung der Staatsanwalt-schaft auf Umqualifizierung – aufzuheben. Mit Vollmacht derTochter konnte daraufhin im nächsten Jahr die Akte des Vaters imArchiv in Moskau eingesehen werden; ihr wurden Kopien aus derAkte ausgehändigt.Verfahren, in denen es um die Misshandlung von Zwangsarbeiterngeht, begegnen uns 1945 und 1946 recht häufig. So wurde zumBeispiel W. P., der als Wachmann für ein Lager mit zur Arbeit ein-gesetzten Kriegsgefangenen zuständig war und u. a. einzelneKriegsgefangene dabei geschlagen haben soll, zu zehn JahrenHaft verurteilt. Es habe Zeugen im Prozess gegeben, und derAngeklagte habe die Schuld eingeräumt. Bei der Überprüfung2002 blieb die Strafe erhalten, allerdings wurde die Strafgrundla-ge auf Kontrollratsgesetz 10 umqualifiziert. Bei der Urteilsfindunghat das Gericht ausdrücklich betont, dass es in der Akte keinerleiAngaben über illegale Ermittlungsmethoden gebe. In einem anderen Fall, bei dem es um den Bauern E. F. ging, demvorgeworfen wurde, in der Kriegszeit Zwangsarbeiter zu harterArbeit gezwungen und sie zuweilen auch geschlagen zu haben,

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verhängte das sowjetische Gericht 1946 die Todesstrafe. Auchdiese Strafe wurde im Verfahren der Rehabilitierung umqualifi-ziert und nicht aufgehoben. Es sind in den letzten Jahren durchdie Vermittlung der Dokumentationsstelle inzwischen eine Reihevon Todesurteilen ermittelt worden, bei denen die Antragstellerbis dato keine konkreten Angaben über das Schicksal der Vermiss-ten hatten. So konnte einer Antragstellerin mitgeteilt werden,dass Ihr Großvater A. B. am 10. September 1945 hingerichtet wor-den war, weil er „unmenschliche Taten“ gegenüber Zwangsarbei-tern verübt haben soll.Es gibt auch eine ganze Reihe von Verfahren, bis hin zum Militär-kollegium des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, indenen Angehörige die Ablehnungen der Rehabilitierung anfech-ten. Die Probleme für einen Protest gegen die Entscheidungenbestehen dabei darin, dass es schwierig ist, die Aktenlage – dama-lige Beschuldigungen und Beweise – zu erschüttern, da die Aktennicht eingesehen werden können. Mitunter ziehen sich solche Ver-fahren, die immer auf Betreiben der Angehörigen durchgeführtwerden, über Jahre hin. In einem solchen Fall war ein Landwirt, G.G., 1947 wegen Misshandlung von Zwangsarbeitern zu zehn Jah-ren Haft verurteilt worden. Der Antrag auf Rehabilitierung aufBitten der Familie aus dem Jahre 1997 wurde 1998 abschlägigbeschieden. Daraufhin legte die Familie Ende 1998 Beschwerdeein und ließ auch eine Reihe von Unterlagen ins Russische überset-zen. Obwohl dann einige Beschuldigungen fallengelassen wur-den, blieb das Urteil letztendlich bestehen und wurde nur aufKontrollratsgesetz 10 umqualifiziert.Im Jahr 2000 wandte sich eine Frau an uns, um Aufklärung überdas Schicksal ihres bis dahin verschwundenen Vaters, W. T., zuerhalten, der als Bauer mit Zwangsarbeitern zu tun hatte. Ineinem ersten Schreiben äußerten wir die Vermutung, er sei wohlwegen dieser Tatsache zum Tode verurteilt worden. Der Überprü-fungsantrag brachte daraufhin tatsächlich – wie erwartet – dieAblehnung der Rehabilitierung mit der Bestätigung des Todesur-teils und Todeszeitpunktes. Die Tochter brachte dann umfangrei-che Zeugnisse aus der Nachkriegszeit bei, die belegen sollten, dassdie Beschuldigungen zu Unrecht erhoben worden seien. Dochtrotz dieser Materialien, die dann vom zuständigen MoskauerMilitärgericht geprüft wurden, blieb das Urteil bestandskräftig.Auch der Hinweis, dass einer der Hauptbelastungszeugen selbstspäter von einem SMT abgeurteilt worden ist, führte, nachdem

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das Gericht sich argumentativ damit auseinander gesetzt hatte,nicht zur Änderung. Es blieb den Angehörigen nichts anderesübrig, als nach drei Jahren zu akzeptieren, dass eine Aufhebungnicht erreicht werden kann.In einem anderen Verfahren, das bereits mehrfach vor dem Mili-tärkollegium des Obersten Gerichts verhandelt wurde, ging es umeinen Kriminalsekretär im Reichssicherheitshauptamt. Er, J. G., war1945 „nur“ interniert worden. 1950 beschloss eine sowjetischeKommission, ihn vor ein sowjetisches Sondergericht zu stellen undnicht zu entlassen. Der Enkel, der dieses Verfahren betreibt, hattesich bereits – um Klarheit über die Beschuldigungen gegen seinenGroßvater zu erreichen – seit 1998 um eine Rehabilitierungbemüht. Es ging letztlich darum zu klären, warum sein Großvatererstens nicht schon früher vor Gericht gestellt wurde und warumzweitens seine Verurteilung durch ein Ferntribunal erfolgte undnicht durch ein Militärtribunal. In mehrfachen Eingaben gegen dieEntscheidung der russischen Gerichte blieb letztlich das Urteil bisheute unverändert. Es kam jedoch im Rahmen dieser Eingabensowohl auf Seiten des Antragstellers wie auch des Gerichts zu aus-führlichen rechtlichen Erörterungen. So endet ein Teil der Verfahren heute recht unbefriedigend für dieAntragsteller, weil die Argumentation der russischen Behördennicht im Detail nachvollzogen werden kann. Freilich werden diewissenschaftlichen Kenntnisse über damalige Fälle in wichtigenPunkten gerade durch solche Verfahren vertieft, und die Erfahrun-gen können dazu beitragen, Antragsteller besser bezüglich derChancen solcher Anträge zu beraten.Chancen bestehen auf jeden Fall dann, wenn schon allein Beschul-digung und objektive Umstände in einem eklatanten Missverhält-nis stehen und auch Verfahrensverstöße zu erwarten sind. Dies giltzum Beispiel für die Aburteilungen im Rahmen der Massenverur-teilung von deutschen Soldaten 1949/50, als etwa 20 000 Verfah-ren in wenigen Monaten „durchgezogen“ wurden. In einem Falllässt sich dies recht genau nachvollziehen. Er soll daher hier refe-riert werden. Aufgrund einer 2002 eingegangenen Anfrage einesVersorgungsamtes sowie einer Anfrage des Sohnes über den Häft-ling W. H., verhaftet 1945, in die UdSSR deportiert, 1949 zu 25 Jah-ren Zwangsarbeit verurteilt und 1953 in die Heimat entlassen,konnten wir aufgrund damals schmaler sowjetischer Unterlagenmitteilen, dass durch die Umstände sowie den Urteilstenor mehrfür als gegen eine Anerkennung als politischer Häftling sprach.

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Relativ überraschend ist kurze Zeit später sogar der Antrag aufRehabilitierung positiv entschieden worden. Er soll hier kurz skiz-ziert werden, weil er die Unzulänglichkeit der damaligen Massen-verfahren 1949/50 veranschaulicht. Das zuständige Bezirksmilitär-gericht Ural stellte nämlich fest, W. H. sei 1949 zu 25 Jahren Haftverurteilt worden, weil er von 1941–1945 als Meister in einerFabrik Zwangsarbeiter geschlagen und sie zu Arbeiten gezwun-gen habe, die sie nicht hätten erfüllen können. Der Angeklagtehabe sich nicht schuldig bekannt. Die Voruntersuchung habe vierTage vor der Gerichtsverhandlung nur einen Tag gedauert. SeineGegenargumente seien nicht geprüft worden. Es gäbe keineBeweise dafür, dass G. H. sich Verbrechen am sowjetischen Volkschuldig gemacht habe. Dann zitiert das Gericht aus einer inter-nen Anweisung des sowjetischen Innenministeriums vom 29.November 1949, der zufolge „Amtspersonen deutscher Indus-trieunternehmen, die die Arbeitskraft von zur Arbeit nachDeutschland verschleppter ausländischer Arbeiter genutzt haben,ohne Beweis einer konkreten verbrecherischen Tätigkeit alleinwegen der Zugehörigkeit zu den genannten Kategorien vonAmtspersonen als Mittäter von Verbrechen dem Gericht“ zu über-geben seien. Es gäbe aber keinerlei Beweise der Schuld. DasGericht hob daher das Urteil vom 20. Dezember 1949 wegen Tat-bestandsmangel 2002 auf.Ähnlich verhält es sich im Fall Werner Baumann, der ebenfalls imDezember 1949 als Helfershelfer bei Kriegsverbrechen zu 25 Jah-ren Haft verurteilt worden war. Die Verurteilung erfolgte auf derGrundlage eines Strafartikels, der Kriegsverbrechen in Form vonMisshandlung und Tötung von Zivilisten und Kriegsgefangenenauf dem Boden der UdSSR unter Strafe stellte. Baumann hattesowjetischen Boden freilich erstmals 1946 betreten, nachdem eraus westlicher Kriegsgefangenschaft entlassen, von sowjetischenBehörden kurze Zeit später bereits wieder verhaftet worden warund anschließend als Kriegsgefangener in die UdSSR transportiertworden war. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen wurde dasUrteil schließlich 2003 aufgehoben.Ein Sonderbereich soll zum Schluss hier noch erwähnt werden.Zuweilen enden – wie bereits angesprochen – Prüfungen auch mitfür uns überraschenden Ergebnissen. An einem Fall – Hans Heinze,Häftling im Speziallager Sachsenhausen – soll dies beleuchtet wer-den, an dem zugleich noch einmal deutlich gemacht werdenkann, was Rehabilitierung bedeutet und was nicht damit verbun-

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den ist. Das Hannah-Arendt-Institut arbeitete damals an einemForschungsprojekt zu Sowjetischen Militärtribunalen. Fälle vonAburteilungen von NS-Tätern gehörten in den Forschungskatalog.Zum anderen kam hinzu, dass der Fall Heinze immer wiederGegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen in der Gedenk-stätte Sachsenhausen geworden war. Aus zwei Gründen war esdaher interessant, zu wissen, weshalb Hans Heinze tatsächlich ver-urteilt worden war: Erstens: Inwieweit wussten sowjetische Orga-ne um seine Beteiligung an NS-Euthanasie-Verbrechen? Zweitens:Wenn sie es wussten, war das für sie der tatsächliche Urteilsgrund?Die damals bekannten sowjetisch-deutschen Justizunterlagenwaren sehr heterogener Natur und nannten zwei unterschiedlicheHaftgründe: Einmal „Euthanasie-Verbrechen mit der Aussonde-rung von mehr als 200 angeblich unheilbar Geisteskranken undihrer späteren Ermordung“, andererseits die Beschuldigung, Hein-ze sei als Propagandist verhaftet und verurteilt worden. Hinzukam die Tatsache, dass als Urteilsgrund Artikel 58-2 des Strafge-setzbuches der RSFSR herangezogen wurde. Dieser bestraft denEinfall bewaffneter Banden in die UdSSR mit konterrevolutionä-ren Absichten. Um hier Klarheit über die Gründe der Sowjets zuerhalten, wurde zur Überprüfung des Falles eine Rehabilitierungbeantragt. Die Prüfung der Militärstaatsanwaltschaft ergab, dasser tatsächlich wegen NS-Verbrechen, freilich zu einer relativ gerin-

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gen Strafe, vergleicht man andere gleich gelagerte Verfahren, ver-urteilt worden ist. Diese Tatsache ist seitdem in mehreren Publika-tionen auch so dargestellt worden und trug letztendlich dazu bei,diesem Teil der SMT-Verfahren auch im Bereich der Wissenschaftmehr Aufmerksamkeit zu schenken als bis dahin notwendigerschien. Ein anderer Weg, als sich Klarheit mittels des Verfahrens derAktenprüfung im Rahmen der Rehabilitierung zu verschaffen, warweder damals noch ist er heute möglich. Wäre die Überprüfungnicht geschehen, hätte auch heute noch nicht mit Sicherheitgesagt werden können, dass Heinze tatsächlich wegen NS-Verbre-chen verurteilt worden ist. Freilich war mit der Aktenüberprüfungauch eine Rehabilitierung Hans Heinzes ergangen. Die öffentlicheBekanntgabe der Rehabilitierung hätte damals die Auseinander-setzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen und den Umgangmit dem Häftling Hans Heinze nur verstärken können. Einmalhätte man die Rehabilitierung als einen scheinbaren Beleg insge-samt für die Schuldlosigkeit Heinzes ansehen können, andererseitshätte das Verfahren der Rehabilitierung im Ganzen in Zweifelgezogen werden können, wie es zuweilen in der deutschenÖffentlichkeit geschehen ist. Das Hannah-Arendt-Institut hatdaher entschieden, wie es dann auch geschehen ist und derAntragstellung zugrunde lag, sich mit dem Fall Heinze im Rahmendes SMT-Projektes zu beschäftigen. Auch die Gedenkstätte Sach-senhausen – der die Rehabilitierung bekannt war – hat sich seinesFalles im Rahmen ihrer 2003 eröffneten Speziallagerausstellungangenommen.Aus den uns vorliegenden russischen Akten ergibt sich, dass Hein-ze tatsächlich mit dem Haftgrund „Propagandist“ am 15. Oktober1945 verhaftet worden war. Er gehört zu den relativ wenigen Fäl-len, in denen während der Untersuchungshaft sich offenbar ande-re Haftgründe ermittelt wurden, die dann schließlich zur Verurtei-lung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit am 14. März1946 führten. Freilich wies, wie die russischen Unterlagen belegen,das Verfahren damals gravierende Verstöße selbst gegen die eige-ne sowjetische Strafprozessordnung auf. So wurde die seiner Ver-urteilung zugrunde liegende Strafrechtsbestimmung gegenüberder Anklageschrift stillschweigend geändert, zum anderen hat dieAnklagebehörde keinerlei Beweise für seine Schuld vorgelegt.Vorhaltungen, Zwangssterilisierungen vorgenommen zu habensowie mehr als 200 Menschen ausgesondert zu haben, damit diese

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anschließend getötet werden, hatte er zurückgewiesen undbehauptet, nichts über die Absichten der Tötung gewusst zuhaben und zudem nur auf Befehl gehandelt zu haben. Die sowje-tische Behörde hat offensichtlich keine Mühe darauf verwandt,weitere Materialien aus den Untersuchungsakten für die imHerbst 1946 begonnenen Nürnberger Prozesse anzufordern odersonst weitere Beweise zu recherchieren. Es gab nur die Beschuldi-gungen und die Einlassungen Hans Heinzes dazu. Insofern hat die Militärstaatsanwaltschaft das Verfahren derAktenüberprüfung 1998 ordnungsgemäß durchgeführt und ist zuden rechtlich logischen Schlussfolgerungen gekommen. Es handeltsich also in diesem Falle um eine Rehabilitierung sowohl aus for-malrechtlichen (Verstoß gegen die Strafprozessordnung) wie auchinhaltlichen Gründen, da die Verteidigung Heinzes nicht mitBeweismitteln widerlegt worden war. Daraus kann selbstverständ-lich kein Unschuldsbeweis bezüglich seiner Tätigkeit als „Euthana-sie“-Gutachter, die durch Forschungen inzwischen gut belegbarist, abgeleitet werden. In diesem wie auch einigen anderen Fällen,in denen es gar nicht zu einer Anklage durch sowjetische Organekam, hätte eine Abgabe des Falles an deutsche Gerichte erfolgensollen. Dies ist jedoch aus bisher nicht bekannten Gründen nichtgeschehen.Diese wenigen Fälle, in denen – freilich nur bei oberflächlicherBetrachtungsweise – Schwerstbelastete entlastet scheinen, eignensich keinesfalls, das Gesamtverfahren der Rehabilitierung unterGeneralverdacht zu stellen. Es wäre eine unzulässige Pauschalie-rung, aus einem problematischen Einzelfall auf das Gesamtverfah-ren zu schließen. Seit letztem Jahr werden im Übrigen die nochnicht bearbeiteten Straffälle automatisch von der Militärstaatsan-waltschaft bearbeitet. Es ist von Seiten der Militärstaatsanwalt-schaft geplant, in einigen Monaten die Überprüfung abzuschlie-ßen. So sind in den letzten Jahren Hunderte neuer bisher unbear-beiteter Akten durchgesehen und entsprechende Entscheidungengefällt worden. Es kommt in der überwiegenden Zahl der Fälle zuRehabilitierungen, aber auch zu einem gewissen Teil von Ableh-nungen. Es kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass dabeiauch Personen rehabilitiert werden, die sich im Sinne der Täter-schaft von NS-Verbrechen schuldig gemacht haben. Es ist jedochfür die russische Seite nicht möglich – weder in der Vergangenheitnoch in den letzten Jahren bei den automatischen Überprüfungen–, jeweils bei der deutschen Seite anzufragen, ob solche Belastun-

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gen vorliegen könnten oder gar eigene umfangreiche Ermittlun-gen anzustellen.

Lassen Sie mich jetzt noch kurz zum zweiten Beispielbereich kom-men. Eine neue Ebene und der Zusammenarbeit wurde vor eini-gen Jahren erreicht. Im Jahre 1999 begann ein Projekt zur Schick-salsklärung von sowjetischen Kriegsgefangenen, das inzwischenauch um ein Teilprojekt zur Schicksalsklärung deutscher Kriegsge-fangener und Zivilisten ergänzt wurde. Auf russischer wie weiß-russischer und inzwischen auch ukrainischer Seite wurde in denletzten zwei Jahren offiziell akzeptiert, – das ist meine vierte Aus-sage – dass es gemeinsame Aufgabe ist, zur Schicksalsklärung allerGruppen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit – hierbesonders sowjetische und deutsche Kriegsgefangene, sowjetischeund deutsche Zivilisten – gemeinsame Anstrengungen zu unter-nehmen und die Archive hierfür zu öffnen. In schneller Folge sind hierfür Kooperationsabkommen mit russi-schen, weißrussischen und ukrainischen Institutionen abgeschlos-sen worden, so auch mit Geheimdienstarchiven. Bereits mehrfachwurden Projektergebnisse – ich betone, Ergebnisse, die ausgemeinsamer Arbeit hervorgegangen sind – unter Mitwirkungvon deutschen Regierungsvertretern der Öffentlichkeit hier und inRussland präsentiert. Sie ergänzen damit in idealer Weise dieArbeit des DRK-Suchdienstes sowie anderer, die bereits seit Jahr-zehnten in Osteuropa Arbeiten zur Schicksalsklärung vornehmenund deren Arbeiten ebenfalls seit Anfang der neunziger Jahre aufneuer Grundlage durchgeführt wird.Die Institutionen, die in Stalins Zeiten für Massenrepressionen ver-antwortlich waren, und danach auch zur politischen Unterdrü-ckung, sind nunmehr bereit, mit deutschen Institutionen nicht nurzusammenzuarbeiten, sondern auch langfristige Verträge abzu-schließen, deren gemeinsames Ziel in der Schicksalsklärung vonOpfern des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit besteht.Jeder, der eine solche Entwicklung 1990 prognostiziert hätte, wäreals Phantast abgetan worden.

Warum waren und sind postsowjetische Stellen bereit – und damitkommen wir zur fünften These –, heute eng mit deutschen Institu-tionen zusammenzuarbeiten und dabei auch die Schicksale deut-scher Zivilisten zu klären, also letztlich auch dies als eigene Aufga-be aufzufassen? Lassen wir die damalige stellvertretende russische

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Ministerpräsidentin Matwienko antworten. Zur ersten Vertragsun-terzeichnung zwischen der Stiftung Sächsische Gedenkstätten undder Assoziation Voennye Memorialy über sowjetische Kriegsgefan-gene im Jahr 2000 sagte sie in einem Grußwort: „Im Verlauf desVollzugs des Vertrages werden russische Familien zum ersten Malüber das Schicksal ihrer Verwandten aufgeklärt, aber auch überdie Grabstelle. Ich bin überzeugt, dass der jetzige Vertrag der wei-teren Verstärkung der freundschaftlichen Beziehungen zwischenden Völkern Russlands und Deutschlands dienen wird.“Oder nehmen wir die Presseerklärung des KGB Weißrussland beieiner weiteren Vertragsunterzeichnung 2002. Dort heißt es u. a.:„Der Krieg ist bekanntlich ein Übel, das keine nationalen, religiö-sen oder irgendwelche anderen Grenzen kennt. Daher ist die Pfle-ge von Gräbern der Opfer des Krieges und der Unterdrückungeine allgemeinmenschliche Verpflichtung, die im Genfer Kriegsge-fangenenabkommen von 1949 bekräftigt wird. Die Erinnerung andie Opfer und die Sorge um die Gräber ist der Unterpfand dafür,dass zukünftig die Menschen keine Wiederholung der Schreckendes Krieges erleiden werden.“Nehmen wir schließlich eine Aussage des Archivdienst des Gene-ralstabs der russischen Streitkräfte aus einem vom VolksbundDeutsche Kriegsgräberfürsorge und im Kriegsgefangenenprojekterstellten Artikel aus dem Jahre 2002. Darin heißt es u. a.: „DieJahre vergehen, die Jahrzehnte vergehen und eine Generationlöst die andere ab. Aber keiner hat das Recht, den Zweiten Welt-krieg zu vergessen, sein kolossales Ausmaß, seine Opfer und Zer-störungen. Und es gibt Menschen in Russland und Deutschland,und in vielen anderen Ländern, für die die Bewahrung des Geden-kens an diesen Krieg Lebensaufgabe geworden ist ... Dank dergemeinsamen Anstrengungen der deutschen und russischen Seitewird eine große und ehrenvolle Arbeit zur Verewigung desGedenkens an jene Opfer des Zweiten Weltkriegs geleistet, die fürimmer in der ihnen fremden Erde geblieben sind, die sie nicht ausfreien Stücken betreten haben.“

Das Kriegsgefangenenprojekt begann mit der zweitgrößtenOpfergruppe des Zweiten Weltkriegs, den sowjetischen Kriegsge-fangenen in deutscher Hand. Heute ist es ausgedehnt auf dieErforschung von deutschen Kriegsgefangenen und Zivilisten.Deren Personalakten – um den Hauptpunkt des Projekts zu nen-nen – im Umfang von etwa 2 Millionen werden in den nächsten

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sechs Jahren unter Beteiligung des DRK-Suchdienstes, der fürdiese Arbeiten die Verantwortung trägt, bearbeitet, verzeichnetund verscannt. Mit diesen Akten wird es vielen Familien möglichsein, das Schicksal ihrer Angehörigen in sowjetischer Haft nachzu-vollziehen und – so vorhanden – auch persönliche Unterlagen ausden Akten zu erhalten. Das Archiv, das diese Akten aufbewahrt,war bis 1991 für jeden Ausländer verschlossen. Sein Inhalt wurdeals Staatsgeheimnis behandelt. Heute kann man konstatieren,dass diese Bestände nicht nur bearbeitet werden können, sonderndass dies sogar mit ausdrücklicher Unterstützung beider Regierun-gen geschieht. Ich denke, dass gerade das Kriegsgefangenenpro-jekt, in denen es um Millionen Einzelschicksale geht, die neueDimension der Zusammenarbeit verdeutlicht. Aus meiner Sicht sind damit in den letzten Jahren ermutigendeSchritte getan worden. Es haben sich stabile vertragliche und auchpersönliche Beziehungen zwischen der Stiftung SächsischeGedenkstätten, anderen deutschen Institutionen, russischen undanderen osteuropäischen Partnern entwickelt. Besuche hüben unddrüben, Diskussionen der Aufarbeitungserfahrungen, gemeinsa-me Suche nach Lösungen zwischen den Regierungen haben dazubeigetragen, dass zumindest ein Teil der Vergangenheit seinetrennenden Momente verloren hat. Versöhnung über den Grä-bern ist das Leitmotiv des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfür-sorge. In Anlehnung daran man kann auch formulieren, dass Ver-söhnung über den, mit den und durch die Akten ebenfalls eineMöglichkeit zum besseren Verständnis darstellt. Dazu gehört diegegenseitige Anerkennung der eigenen Schuld nicht im Sinne vonAufrechnung, sondern von Anerkennung der historischen Wahr-heit.In diesem Sinne sind beide Seiten dabei, ihre Lehren aus derGeschichte zu ziehen. Wir müssen die Geschichte im Zusammen-hang betrachten, nicht isoliert. Ohne als Voraussetzung sowjeti-scher Repressionsmaßnahmen nach 1945 eigene Repressionserfah-rungen und Massenverbrechen durch Deutsche bis 1945 zu beden-ken, ergibt sich kein angemessener Rahmen für Beurteilungen;ohne Überspitzungen und Deformationen des Kommunismus undStalinismus anzuerkennen, die zu den Verbrechensopfern nach1945 führten, ergibt sich ebenfalls kein Weg zu Wahrheit und Ver-ständigung. In dem schon erwähnten Vortrag der Militärstaatsan-wälte 2001 heißt es: „Wir hoffen, dass auch unser historischesGedächtnis an die unrühmlichen Zeiten des Totalitarismus es

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ermöglichen wird, das gesellschaftliche Bewusstsein von seinenDeformationen zu befreien und den ehrlichen Namen allerunschuldig Repressierten wiederherzustellen, und zwar unabhän-gig von ihrer Staatsangehörigkeit und Nationalität.“Wir haben inzwischen viel erreicht, aber es bleibt auch noch vielzu tun. Es geht nicht nur um die Schicksalsklärung aller Spezialla-gerinsassen und SMT-Verurteilten, sondern auch Hunderttausen-der von vermissten Wehrmachtangehörigen und Zivilisten. Es gehtdarum, den Angehörigen sowjetischer Kriegsgefangener konkreteInformationen über ihre in fremder Erde bestatteten Familienmit-glieder zu geben. Lassen Sie uns gemeinsam an dieser Aufgabe mitwirken undzuweilen, vielleicht im Lichte meiner hier heute vorgebrachtenAnregungen, auch das bisher Erreichte nicht vergessen. Ich denke,auch so etwas trägt damit zur Verständigung zwischen ehemali-gen Gegnern bei, zwischen Völkern, die jeweils Opfer und Täteraufwiesen. Es hilft, die Gräben, die das 20. Jahrhundert aufgeris-sen hat, zu überwinden. Aus meiner Sicht sind wir auf einemguten Weg.

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Podiumsgespräch

Diktaturaufarbeitung in Russland und den ehemaligen OstblockstaatenMarianne Birthler, Stephan Hilsberg, Klaus-Dieter Müller, Viktor TimtschenkoModeration: Burkhard Birke

Birke: Ich freue mich ganz besonders, hier auch als Vertreter desDeutschlandsfunks, des Informationsprogramms des Deutschland-

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radios, zu sein. Denn unser Auftrag ist ja auch, gerade nach derWiedervereinigung, für das Zusammenwachsen Deutschlands zusorgen; aber nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas,womit wir ja indirekt schon fast beim Thema sind.Gestatten Sie mir ein paar kurze einleitende Worte: Diktaturaufar-beitung ist Vergangenheitsbewältigung – ich weiß, Frau Birthler,Sie mögen das Wort nicht – sagen wir dann vielleicht Vergangen-heitsaufarbeitung. Dies setzt einen selbstkritischen, aufkläreri-schen Prozess der Reflektion auf allen Seiten voraus. Das Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung bietet jetzt schon seit einein-halb Jahrzehnten eine denkwürdige Bühne um zu erinnern,aufzuarbeiten, zu gedenken, vor allem aber auch um neue Wegeund Gemeinsamkeiten auszumachen. Das Thema der Podiumsdiskussion in diesem Jahr lautet: Diktatur-aufarbeitung in Russland und den ehemaligen Ostblockstaaten.Einige dieser ehemaligen Ostblockstaaten gehören seit wenigenTagen zum erlesenen Kreis der Europäischen Union. Die Rede warund ist von einem Erweiterungsprozess, und ich persönlich mussbetonen, das Wort Einigungsprozess wäre mir eigentlich lieber.Denn eine Einigung geht von der Prämisse gleichberechtigterPartner aus. Erweiterung klingt immer so, als ob der Stärkere sichSchwächere einverleibt. Weshalb ist dieser scheinbar nur semanti-sche Unterschied so bedeutsam? Bezogen auf das Thema aus mei-ner Sicht deshalb, weil letztendlich der Kampf gegen alte undneue totalitäre, rassistische und antisemitische Gefahren undBedrohungen nur gewonnen werden kann, wenn wir nicht nurdie eigene Geschichte aufarbeiten, sondern auch Verständnis fürdas Leid der anderen entwickeln, und das auf der Basis der Gleich-berechtigung. Dieses Verständnis für das Leid des jeweils anderensetzt gemeinsame Werte voraus. Gemeinsame Werte mit den Staa-ten Mittel- und Osteuropas, die jetzt unsere direkten Partner inder EU geworden sind. Aber auch mit Staaten wie Rumänien undBulgarien, die bald schon Mitglieder der EU werden wollen. Aberauch mit Staaten wie Russland, der Ukraine und Weißrussland.Dieses Verständnis muss wachsen, und es wird in dem Maße wach-sen, wie es uns gelingt, das eigene Leid zu artikulieren, und an dasfremde zu erinnern. Natürlich wird das Erlebte stets in der Per-spektive der Täter und/oder der Opfer besehen, und jede Person –das wissen Sie am besten – deutet ihr eigenes Schicksal eher ausder Perspektive, ob sie sich den Siegern oder Besiegten zurechnet.Genau an diesem Punkt sind wir jedoch gefordert, uns von histori-

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schen Traumata zu lösen, und den eingangs beschriebenen selbst-kritischen Prozess der Reflektion einzuleiten. Und genau das wollen wir jetzt tun. Deshalb möchte ich zunächst an MarianneBirthler die Frage richten: Sie haben sich immer für eine weitereInstitutionalisierung der Aufarbeitung ausgesprochen, auch aufeuropäischer Ebene. Sehen Sie in dieser Hinsicht die Behörde, dieSie jetzt schon seit einigen Jahren leiten, als Modell für eine euro-päische Aufarbeitung der Vergangenheit?

Birthler: Danke für die Frage. Ich würde gerne damit beginnen, eine Ver-bindung herzustellen zwischen dem Vortrag, den wir eben gehörthaben, und dem Thema mittel- und osteuropäische Länder. Ichselbst gehöre zu einer kleinen Bürgerinitiative, nicht als Bundes-beauftragte, sondern als Bewohnerin des Stadtbezirks PrenzlauerBerg in Berlin. Unser Ziel ist es, an einer früheren Haftstätte desNKWD ein Gedenkzeichen zu errichten. Seit einem Jahr steht dortwenigstens eine Informationstafel. Solche Haftstätten gab es ja inallen Stadtbezirken Berlins und in der ganzen sowjetisch besetz-ten Zone, und fast nirgendwo findet sich ein Hinweis auf dieGeschichte dieser Orte. Der Leidensweg von Herrn Zahn zum Bei-spiel begann in der Haftstätte Prenzlauer Allee und der vieleranderer auch.Die Erfahrungen, die wir in dieser Bürgerinitiative machen, sindsehr interessant. Wir müssen uns ja auch mit anderen auseinandersetzen. Die Ausschreibung für Künstler erfordert es, dass erst ein-mal auf zwei, drei Seiten zusammengefasst wird, was denn dorteigentlich passiert ist und welches Verständnis wir davon haben.Da geht die Diskussion schon mal los, denn zur Rolle der sowjeti-schen Besatzungsmacht gibt es noch keinen allgemeinen Konsens.Aber das ist ein notwendiger Streit. In der kommenden Wochewird es eine Veranstaltung dazu geben. In unserem Bezirk habenwir eine nicht zu knappe PDS-Lobby, und wie zu hören ist, wird zudiesem Thema auch dort gestritten. Letztendlich kommt es auf dieFrage an, wie wir die Leidenszeit der vielen unschuldigen Opfer indiesen Haftstätten bewerten: Manche mögen die Verhaftungenund Verurteilungen Unschuldiger für so etwas wie einen Kollate-ralschaden halten, für den überschießenden Zorn sowjetischer Sol-daten nach den Erfahrungen, die sie im Krieg mit den Deutschengemacht haben. Oder sind diese Opfer doch eher einem neuenMachtanspruch und den politischen Zielen zu verdanken, die die

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Russen in der Sowjetzone verfolgten? Diese Debatte, die wir zurZeit in unserem Berliner Bezirk führen, wird sich im nächsten Jahraus Anlass des 60. Jahrestages des Kriegsendes vielleicht auswei-ten. Ich erwähne dieses Nachkriegsthema, weil es auch mit Blick aufdie ehemaligen Ostblockländer von Interesse ist. Die Kontakte zuden Aufarbeitungsinitiativen oder -institutionen in den neu zurEU hinzugekommenen Ländern nehmen erfreulicherweise zu. Ichfinde, dass dieses Thema sehr viel begründeter diskutiert werdenkann, wenn man den internationalen Kontext mit einbezieht,wenn nicht nur über Russen und Deutsche diskutiert wird, son-dern auch darüber, was im Baltikum geschehen ist, in Ungarn, inPolen. Das vervollständigt doch das Bild und erlaubt noch einmalganz neue Perspektiven. 1990, als die Deutschen angefangen haben, über die Stasi-Aktenzu diskutieren und dann sogar eine eigene Behörde dafür gründe-ten, waren die Kommentare bei unseren östlichen Nachbarn eherbelustigt: Die Deutschen mal wieder, jetzt gründen die auch nochfür die Aufarbeitung eine Behörde: typisch, typisch. Da gab es einpaar Bemerkungen mit mokantem Unterton. Das hat sich dannaber geändert, als man gemerkt hat, dass die verschlossenenAkten viel gefährlicher sind als die offenen. Jemand, der den Ruf-mord eines anderen mit dem Vorwurf plante, dass derjenige ein-mal für den Geheimdienst gearbeitet hätte, hatte freie Bahn,denn man konnte einen solchen Vorwurf überhaupt nicht entkräf-ten. Dafür, solche ungerechtfertigten Vorwürfe zu entkräften,sind die Unterlagen ja auch da. Nach und nach erfolgte in unserenNachbarländern ein Umdenken, nicht zuletzt auch, weil in derÖffentlichkeit personelle Erneuerung gefordert wurde. Sicher hat auch eine Rolle gespielt, dass man auf dem Weg nachEuropa bestimmte Standards im Hinblick auf Diktaturaufarbei-tung einhalten muss. Und so kam es, dass mittlerweile in einerganzen Reihe von Ländern – in Polen, Ungarn, Tschechien – ver-gleichbare Institutionen und auch entsprechende Gesetze existie-ren. Auch in Bulgarien gab es ähnliche Regelungen, die aber lei-der von der aktuellen Regierung wieder kassiert worden sind. Inanderen Ländern gibt es zwar keine Aktenbehörden, aber dochOkkupationsmuseen oder Reste der KGB-Archive, die nutzbarsind. Ganz allmählich vernetzen sich diese Institutionen. Ohneübertriebenes Eigenlob können wir sagen, dass unser Weg zumMaßstab geworden ist. Der zeitliche Vorlauf, den wir hatten, wird

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von anderen genutzt, um sich ein bisschen Know-how zu holen,andererseits ist auch die Stimme Deutschlands in diesen Ländernnicht ohne Gewicht. Das stärkt dort die Aufarbeiter, und ich finde,daraus erwächst für uns eine Verantwortung. Ich glaube, dass mit dem Beitritt zur EU diese Herausforderungnoch einmal ein neues Gewicht bekommt. Bis jetzt waren ja wirOstdeutschen die einzigen in der EU, die aus dem Ostblock kamen.Das war ziemlich wenig. Jetzt sind wir mehr und können mit mehrEnergie darauf hinwirken, dass diese größer gewordene EU dieGeschichte des Kommunismus nicht nur als ein Randphänomen,sondern als einen wichtigen Teil europäischer Geschichte wahr-nimmt und auch aufarbeitet. Ich will jetzt nicht zu viele Hoffnun-gen wecken, aber ich würde mich sehr dafür einsetzen, dass es aufeuropäischer Ebene so etwas wie ein europäisches Institut zurAufarbeitung des Kommunismus gibt. Anfänge gibt es schon,

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auch in vernetzter Arbeit. Wir sind gerade dabei, eine Vereinba-rung mit unserer polnischen Partnerorganisation in Warschau vor-zubereiten. Nächstes Jahr wird es einen großen internationalenKongress in Warschau geben, wo wir diese Fragen thematisieren,auch mit der Hoffnung, dass es so etwas wie eine Westerweite-rung der Aufarbeitung gibt. Denn dies ist keine Privatgeschichteder mittel- und osteuropäischen Länder, sondern ein europäischesThema. Dabei spielen wir keine ganz unwichtige Rolle, und ichfinde, dass die Bundesrepublik sich dieser Verantwortung auchstellen muss.

Birke: Vielen Dank, Frau Birthler. Sie haben einige wichtige Stichwortegenannt. Ich greife mal eines auf: ein europäisches Institut zugründen. Stephan Hilsberg, Politiker sind ja bekannt dafür, oft sol-che Ideen aufzugreifen und dann auch in salbungsvollen Wortenanzukündigen – ich denke zum Beispiel an den Dialog, der zwi-schen der Russischen Republik und der BRD stattfindet, die Peters-burger Gespräche. Ist denn da mehr als dieser Rahmen, ist da wirk-lich Inhalt zu spüren? Wird über solche Probleme, wie wir sie hierin diesem Kreis erörtern, wirklich gesprochen? Aufarbeitung alsThema deutsch-russischer Beziehungen?

Hilsberg: Bei diesen Gesprächen bin ich nicht dabei. Mein Eindruck aber ist,dass dem Thema Aufarbeitung bedauerlicherweise nur eine ver-schwindend geringe, vielleicht auch gar keine Bedeutungzukommt. Aber lassen Sie mich noch kurz ein wenig ausholen. Ichfinde, das Thema einer gemeinsamen Aufarbeitung aller ehemali-gen Ostblockstaaten, an der Spitze natürlich mit der ehemaligenSowjetunion, ausgesprochen spannend und notwenig. Es über-raschte mich allerdings schon ein Stück, als ich von diesem Themaerfuhr. Das hängt nicht damit zusammen, dass das Thema ohneInteresse ist, sondern liegt eher daran, welche Stellung die Ver-gangenheitsbewältigung bei uns und im Vergleich in anderenLändern des ehemaligen Ostblocks einnimmt. Ich beschränke michhierbei auf die besondere Gemengelage in Russland, weil diesesLand sowohl einen Sonderfall darstellt, als auch das größte Landvon allen ist, und weil es als ehemaliges Herzland und Mutter desKommunismus eine ganz spezifische Sonderstellung bezieht, mitder man sich gerade beschäftigen muss.

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Ich bin weit davon entfernt zu sagen, dass alles, was mit Aufarbei-tung in Deutschland zusammenhängt, auf dem richtigen Weg ist,oder dass hier nichts zu tun sei. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibtgroße Defizite, nicht nur in der Frage möglicher Entschädigung,darüber ließe sich reden, sondern gerade in Fragen der Verdrän-gung. Schicksal wird zum Teil instrumentalisiert, es findet Ge-schichtspolitik statt. Eine aufgeklärte, mündige Diskussion habenwir natürlich, aber es gibt auch große Mängel und Fehler. Dabeiwill ich gar nicht nur über die Frage der Koalition mit der PDSreden. Es besteht ja immer die Gefahr, dass man das ganze Themaeinengt. Aber verglichen mit dem, was in anderen ehemaligenLändern des Ostblocks, insbesondere in Russland passiert, ist dieSituation, die wir hier haben, noch ein bisschen besser.Man ist versucht zu vergleichen, sollte aber nicht vergleichen.Wenn wir unsere eigene Aufarbeitung ernst nehmen, und wennwir wirklich in einen Dialog darüber treten wollen, was ich fürwichtig und für richtig halte, dann muss man als Erstes davonwegkommen, dass man Aufarbeitung alleine als eine Frage dernotwendigen Rehabilitierung ansieht, eventuell sogar der Ent-schädigung. Es ist doch sehr, sehr viel mehr. Und Russland ist fürmeine Begriffe das Beispiel dafür, was passiert, wenn Aufarbei-tung nicht stattfindet. Dann geht die Geschichte nämlich weiter.Und genau das ist der Fall. Es gibt keinen Rechtsstaat in Russland,im Gegenteil, manchmal habe ich das Gefühl, es gibt eine Rück-wärtsentwicklung. Es ist ein Skandal, wenn Putin es sich leistenkann, in seinem Kampf gegen den Terrorismus, der zweifellos imLande vorhanden ist, die gesamten Tschetschenen als islamistischeTerroristen darzustellen. Das ist eine Denunzierung außergleichen,der man sich in jeder Hinsicht entgegenstellen muss. Was dortstattfindet, beispielsweise das Ausschalten von pluralen Medien,ist ein Verbrechen an der Spitze eines Staates, das nicht toleriertwerden kann. Das Fatale aber auch Schwierige für uns Deutsche ist, dass wir daeine gewisse Rolle gespielt haben. Und man kann sich auch ausdieser ganzen Geschichte nicht wegdelegieren. Wenn man Aufar-beitung ernst nimmt, muss man das benennen. Für meine Begriffeist die besondere Herausforderung, vor der die Russen stehen,eine Symbiose. Eine Symbiose von altem, imperialem Machtan-spruch, Kolonialsystem, das übrigens bis heute noch nicht über-wunden wurde, verbunden mit russischem Sendungsbewusstseinund kommunistischer Ideologie. Das ist eine unschlagbare Symbio-

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se von gewaltiger Bedeutung, deren Grenzen offen sind. So ist esin Russland wieder möglich ist, Filme über den Zweiten Weltkriegzu zeigen, in denen Stalin glorifiziert wird, indem er persönlichgezeigt wird, wie er in Berlin zur Besetzung einmarschiert. Dasheißt, sogar der Personenkult geht an dieser Stelle weiter. In Russ-land sind die Rahmenbedingungen für die Menschen, die sichernsthaft um Aufarbeitung bemühen ausgesprochen schwierig.Kowaljow und die Freunde von Memorial sind da als Beispiel zunennen. Diese Gruppen haben es schwer, das ganze Ausmaß derVerbrechen zu benennen, zu veröffentlichen, welche Opfer esalles gegeben hat. Neulich hatte ich die Autobiographie vonJewgeni Jewtutschenko, einem russischen Dichter, in der Hand. Dawird dann eben doch letztlich klar, dass es fast keine Familie inRussland gegeben hat, die nicht Blutzoll für dieses System gezahlthat. Was mir aus der deutschen Geschichte so bekannt vorkommt,ist die Art und Weise, wie das sozusagen zum Normalfall wird.Wie man darüber hinweg sieht, dass Familienmitglieder imGULag, in den KZs verschwunden sind, und zur Tagesordnungübergegangen wird. Dass somit fast alles vergessen wird. Die Russen haben keine Chance – und ich sage das so deutlich –ein wirklich westliches System zu werden, ein System, das derDemokratie, den Menschenrechten und der Freiheit verpflichtetist, wenn sie diese Geschichte nicht aufarbeiten. Aber das Problemfür uns besteht darin, dass wir uns mit dem nationalsozialistischenÜberfall – und Herr Müller hat das deutlich gemacht – an demSchicksal der Russen, die schon an ihrem eigenen Schicksal genugzu tragen hatten, auf verbrecherische Art und Weise beteiligthaben. Wir haben im Grunde durch den deutschen Überfall 1941dieses System noch stabilisiert. Denn ihre eigene Klassenkampf-these wurde durch den deutschen Überfall bestätigt. Ich weißnicht, ob nicht eine Destabilisierung in Russland früher hätte statt-finden können, wenn Deutschland es nicht überfallen hätte. Daswirkt ja bis heute nach. Der große vaterländische Krieg ist ja nachwie vor identitätsstiftend. Putin bedient sich dieser Sachen jaauch, es ist interessant, das alles zu beobachten. Trotzdem, undgerade deshalb brauchen wir einen Dialog darüber. Wer Aufarbei-tung ernst nimmt, muss genau dort ansetzen. Es muss gesprochenwerden, denn ich glaube, wir sind nach wie vor bestimmtenGrundwerten verpflichtet, die für uns wichtig sind, und die ich füralle für wichtig halte. Das ist zum Beispiel das Stichwort Solidarität. Solidarität mit den

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einfachen Menschen. Solidarität mit denen, die Freiheit wollen.Solidarität mit denen, die einen Rechtsstaat wirklich wollen, weilsie wissen, dass er nicht nur für sie gut ist, sondern die eigentlichenotwendige Rahmenbedingung für eine friedliche, freundlicheund letztlich dem angemessenen Wohlstand und Lebensstandardverpflichteten Entwicklung einer Gesellschaft ist. Ohne Rechts-staat werden sie keine Wirtschaft, keine sozialen Standards, wer-den sie keine Umweltstandards entwickeln können, sind Korrupti-on und politische Verbrechen an der Tagesordnung. Insofern gibtes einen ganz engen Zusammenhang. Und ich finde, wir bräuch-ten einen Dialog darüber. Die Idee eines europäischen Instituts zur Aufarbeitung des Kom-munismus, wie sie von Marianne Birthler geäußert wurde, ist garnicht falsch. Ich will das jetzt nicht in salbungsvollen Wortenbegrüßen. Ich halte sie für richtig. Der Petersburger Dialog, derzwischen Putin und unserem Kanzler begonnen wurde, ist sicher-lich auch nicht falsch. Aber wenn man beispielsweise hört, dassdort eine Sektion „Offene Gesellschaft“ existiert, zu der die Ver-treter des russischen Staates Mitglieder der „offenen Gesellschaft“erst gar nicht eingeladen haben, sondern sozusagen nur Ministeri-albeamte, dann weiß man, wo die Defizite liegen. Und das mussdann auch benannt werden. Wissen Sie, ich bin in einer ganz fatalen Situation, das darf ichvielleicht zum Schluss noch sagen. Ich gehöre ja als ehemaligeOpposition und als ehemaliger DDR-Bürger zu denen, die demWesten immer vorgeworfen haben: Ihr benennt die Defizite imOsten zu wenig. Ihr sagt zu wenig dazu. Jetzt bin ich in dem glei-chen System, in einem westlichen System, und erlebe von innenheraus, wie schwer es ist, diese Sachen zu benennen, und wieschwer es ist, eine Politik zu führen, die zu mehr Menschenrechtenführt. Das ist das eine Problem. Das andere ist, dass es immer nochAngelegenheiten gibt, wo es aus der „Freundschaft“ heraus fastzur Staatsräson erklärt wird, über bestimmte Dinge eben nicht zusprechen. Und dazu gehört die Art und Weise, wie mit dem Tsche-tschenienkrieg umgegangen wird. Das Europäische Parlament ver-fährt dort ganz anders. Als Putin bei uns im Bundestag war, hat ereine fantastische Vorstellung abgeliefert. Er war charmant, hatdeutsch gesprochen, hat sich sozusagen dem Parlament zu Füßengelegt, und dieses reagierte auch entsprechend. Und dann erklär-te er plötzlich den Tschetschenienkrieg als eine Auseinanderset-zung mit dem Terrorismus schlechthin. Hier merkte man, wie er

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sozusagen alle Tschetschenen als Terroristen in ein Boot steckte.Das kann man eben nicht ohne weiteres tolerieren. Wir brauchenstabile Beziehungen zu Russland, das ist wirklich wahr, aber wirmüssen gleichzeitig auch in der Lage sein, klar zu benennen, wasdort an Unrecht passiert. Andererseits werden wir die offeneGesellschaft dort nicht stärken können. Wir helfen ihnen nicht,und wir helfen uns letztlich auf Dauer auch nicht. Denn wenn die-ses Land seine Defizite nicht effektiv bekämpfen kann, dann wer-den wir dafür bezahlen. Und das ist der Zusammenhang, um denes hier geht.

Birke: Deutliche Worte waren das, Stephan Hilsberg, vielen Dank. ViktorTimtschenko, das waren ja klare Worte. Russland muss eine ver-nünftige Aufarbeitung betreiben, um selbst zu den demokrati-schen Werten zu kommen, die wir hochhalten. Sie sind Publizist,Sie sind Ukrainer, haben aber auch eine russische Mutter. Siehaben ein Buch geschrieben: „Putin und das neue Russland“. Istein ehemaliger Geheimdienstler wie Putin überhaupt in der Lage,die Vergangenheitsaufarbeitung so vorzunehmen, dass man dasFernziel erreichen kann?

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Timtschenko: Danke für diese ganz einfache Frage. Ich habe mir natürlich schoneine ganze Seite an Stichworten aufgeschrieben, die ich aufgrei-fen möchte. Ich möchte natürlich auch die Idee von Frau Birthleraufgreifen und sagen, wenn wir uns schon sehr freuen, dass dieehemaligen kommunistischen Länder in die EU aufgenommenworden sind, um die Geschichte besser aufzuarbeiten, dann kön-nen wir gleich die Russen mitnehmen, dann können wir dieGeschichte noch besser aufarbeiten.Außerdem möchte ich sagen, dass die Geschichte mit Putin zwarsehr kompliziert, aber auch sehr einfach ist. Der Tschetschenien-krieg läuft nicht erst seit Putin, sondern schon etwas länger. 1820hat er angefangen und läuft eigentlich, mit kleinen Unterbre-chungen, bis jetzt. Das, was wir jetzt erleben, ist der zweite Tsche-tschenienkrieg. Der erste Tschetschenienkrieg war unter Jelzin.Und unter Jelzin war das eigentlich ein recht unauffälliger Krieg.Jedenfalls haben die westlichen Politiker Jelzin als sehr großenDemokraten und Reformer verstanden. Und dass die Menschen-rechte in Tschetschenien auf der Strecke geblieben sind, hat nie-manden daran gehindert, Jelzin Kredite zu gewähren, ihn zuempfangen. Da müssen wir uns natürlich fragen, wer für dieseHaltung die Verantwortung trägt. Nur die Russen, oder auch dieöffentliche Meinung im Westen?Herr Hilsberg hat gesagt, dass das Europaparlament sich auch mitdem Tschetschenienkrieg beschäftigt hat. Das war die Zeit, als diezweithöchste Strafe vollzogen wurde, Russland wurde nämlich dasStimmrecht entzogen. Natürlich nicht sehr lange, Russland aus-schließen wollte man nicht. Nachdem Tschetschenien weitergequält und der Krieg erweitert wurde, wurde Russland danndoch als Vollmitglied aufgenommen. Es passierte also eigentlichgar nichts. Und dass Putin jetzt gegen Tschetschenien kämpft,hatte mit Terroristen gar nichts zu tun. Das war ein Krieg zwischenRussen und Tschetschenen, aus welchem Grund auch immer. Dannkam plötzlich die Idee auf, und zwar nicht aus Russland, dass Ter-roristen auf der Welt auf dem Vormarsch sind. Da würde natürlichein Staatsmann blöd sein, wenn er das nicht nutzen würde. Aberdie Unterlagen dafür wurden Putin geliefert. Und zwar auf einemSilbertablett.

Birke: Herr Timtschenko, das Problem Tschetschenien ist natürlich sehr

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wichtig. Denn es bedeutet natürlich den Umgang mit Menschen-rechten, es bedeutet all die Vergehen, das Unrecht, über das wirjetzt aus der Vergangenheitsbewältigungsperspektive sprechen, inder Gegenwart noch einmal zu reproduzieren. Heißt das aber,dass das heutige Russland auch gar nicht in der Lage ist, seine Ver-gangenheit vernünftig aufzuarbeiten?

Timtschenko: Das ist natürlich ein Problem und wir müssen auch die Geschichteanschauen. Die Russen haben sich sehr mit dieser Vergangenheitbeschäftigt, und zwar nach Stalins Tod 1953, dann nach derAmnestie. Wir müssen nur an Solschenyzins „Ein Tag im Leben desIwan Denissowitsch“ denken, und an Solomon Ginzburg denken.Chruschtschow hat die Aufarbeitung angefangen, wurde dannaber auch von demokratischen Bewegungen aus dem Volk unter-stützt. Jetzt frage ich mich, warum wir davon jetzt gar nichts mehrspüren. Ich würde sagen, unter Jelzin schon nicht mehr, und unterPutin auch nicht. Hat das etwas mit der beruflichen Vergangen-heit von Putin zu tun? Jelzin war kein Geheimdienstler, aber unterJelzin gab es diese Aufarbeitung auch nicht bzw. nur in Ansätzen.Das, was ich hier gehört habe, ist sicher unter Wissenschaftlern

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bekannt, aber in der Gesellschaft spürt man sehr, sehr wenigdavon.Ich denke, das Problem liegt anderswo. Man muss sich vorstellen,dass für die Russen die Welt zusammengebrochen ist. Sie wurdenvon der Erde auf den Mond gebracht, und jetzt müssen sie soleben, wie die Westdeutschen, Franzosen und Amerikaner schonseit Ewigkeiten gelebt haben. Sie sind nun mit Arbeitslosigkeitkonfrontiert. Manche haben nichts zu essen. Unter Jelzin wurdenja monate- und jahrelang Löhne und Renten nicht ausgezahlt. DieSterberaten steigen, die Kindergeburten sinken. Da gibt es schonwas zu bewältigen. Natürlich muss man sich auch mit Geschichteauseinander setzen. Ich denke, dass Russland bzw. andere Sowjet-republiken erst einmal satt werden müssen, dass die Wirtschafterst einmal vorankommen muss. Ich möchte das, was wir hierbesprechen, jetzt nicht herunterspielen und sagen, das sei zweit-rangig. Nein, dies alles hat seine Bedeutung. Aber stellen Sie sichvor: die Leute bekommen monatlich 30 Euro und müssen davonWasser, Strom, Gas etc. bezahlen. Sie haben jetzt wirklich sehr,sehr viele Probleme, die die Deutschen aus der DDR nicht hatten.Das ist meine Erklärung. Vielleicht liegt es daran.

Birke: Nun haben wir von Klaus-Dieter Müller gehört, dass es durchausFortschritte bei der Aufarbeitung gibt. Wir haben heute morgenauch sehr zynische Bemerkungen gehört, man könne sich ja inMoskau auch mögliche Gerichtsurteile, Rehabilitierungen kaufen,wenn es darauf ankäme. Stehen dann diese praktischen Erfolge ineinem anderen Licht? Ist das jetzt nur der wissenschaftlicheBereich, in dem es überhaupt nur Erfolge gibt?

Müller: Nein, es ist sicherlich nicht nur der wissenschaftliche Bereich.Heute Vormittag sind ja verschiedene Fragen zum Thema Rehabili-tierung gekommen. Das ist der einzige Punkt, an dem ich HerrnBonwetsch doch etwas widersprechen würde. Es gibt Rehabilitie-rungen, und das heißt, Wiederherstellung des guten Namens undder alten Rechte, so weit das eben geht. Für Millionen ehemaligeSowjetbürger gibt es ein Rehabilitierungsgesetz. Allerdings sinddie Kompensationen, die tatsächlich gezahlt werden, sehr, sehrgering. Ich wehre mich aber dagegen zu sagen, das sei nichtrechtsstaatlich. Vom Gesetz her sind die Militärstaatsanwaltschaft

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und die Generalstaatsanwaltschaft zuständig. Es gibt bestimmteRegeln, wie Akten gelesen werden, und wie nach den Akten ent-schieden wird. Wir als Deutsche sind in vielen Fällen, in denen esum Urteile gegen Leute, die Zwangsarbeiter beschäftigten, geht,sehr unzufrieden mit der Praxis. Denn es gibt eine Sache, die unse-rem Rechtsverständnis diametral widerspricht. Eigentlich müsstederjenige, der die Rehabilitierung beantragt, auch Einsicht in diedamalige Gerichtsentscheidung bekommen können, um zu sehen,welche Zeugenaussagen, welche Beweise vorliegen. Das ist leidernicht der Fall, und das ist ein Manko in unserem Sinne. Aber unab-hängig davon, dass die Militärstaatsanwaltschaft einfach nichtmehr machen kann, weil die Gesetze eben so sind, ist es ein Ver-fahren, das im Grundsatz nach bestimmten Regeln abläuft. Natür-lich ist vieles möglich, aber ich wehre mich dagegen zu sagen, dassman dort mit Geld jede beliebige Entscheidung bekommen kann.Das widerspricht meiner Erfahrung. Und wir haben relativ vieleErfahrungen im Rahmen der Rehabilitierung. Man muss unterscheiden zwischen dem Bereich der individuellenAufarbeitung stalinistischer oder kommunistischer Repression, diesich in den Rehabilitierungsverfahren, in Wiedergutmachung etc.niederschlägt, und einer gesellschaftlichen Aufarbeitung, die kri-tisch mit der eigenen Vergangenheit umgeht, und die Wurzelnder kommunistischen oder stalinistischen Repression offen legt.Ich würde die These wagen, dass das, was wir hier im Westen, inder BRD nach 1945 aber auch nach 1990 erreicht haben, unterSonderbedingungen stattfand. Die eine besondere Bedingung ist,dass das Dritte Reich moralisch, wirtschaftlich und von seiner Legi-timation her völlig desavouiert war. Daher ist die Auseinanderset-zung – unter Zuhilfenahme auch der Alliierten – sehr viel durch-greifender gewesen, als in einem Land, das 1990 quasi auf demMars gelandet ist, eine völlig andere Gesellschaftsstruktur bekom-men hat. Für eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung, soähnlich wie es jetzt hier in Deutschland nach 1990 passiert, fehlenVoraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist, dass dieses System nicht mit derselbenVerve desavouiert ist, wie das Dritte Reich zu Recht desavouiertwar. Zweitens gibt es ganz andere, drückende Probleme in Russ-land. Und drittens gibt es natürlich eine gewisse Kontinuität derEliten. So lange diese Kontinuität da ist, ist es – auch psychologisch– schwierig für die Leute, über ihren Schatten zu springen undoffen darüber zu sprechen. In welchem Bereich haben wir, auch

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auf der gesellschaftlichen Ebene, etwas erreicht in Russland oderauch in Weißrussland? Wir beginnen zusammen mit den dortigenKollegen eine kritische Geschichtsschreibung des Zweiten Welt-krieges. Die hat es bis vor kurzem noch nicht gegeben. Dort gab esnur den gloriosen Großen Vaterländischen Krieg ohne allzu großeFehler der Führung, und dann kam der Sieg. Jetzt wird darübergesprochen, welche Fehler Stalin gemacht hat, welche verbreche-rischen Befehle gegeben wurden, als man die eigenen Kriegsge-fangenen als Vaterlandsverräter erklärte, die sowjetischen in deut-scher Hand. In den letzten Jahren sind auch Geheimbefehlebekannt geworden, nach denen die Familien der in Kriegsgefan-genschaft geratenen Rotarmisten systematisch repressiert wurden.Die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und von 1945 beginntjetzt also.

Birke: Vielen Dank, Herr Dr. Müller. Es sind wichtige Stichworte gefallen,Frau Birthler, zum Beispiel auch der Fortbestand gewisser Eliten.Das haben wir auch in anderen osteuropäischen Ländern, ichdenke zum Beispiel an Securitate-Mitarbeiter in Rumänien, dieimmer noch in Schlüsselpositionen sind. Mit diesem Problembeschäftigt sich gerade ihre Behörde intensiv. Das führt doch nocheinmal zu der Frage, was wir eigentlich wollen, wenn wir das inden internationalen Kontext stellen. Wollen wir auf individuellerEbene Rehabilitierung, wollen wir die Versöhnung, wollen wir diemoralische Anerkennung für geschehenes Unrecht?

Birthler: Um zuerst auch auf die Zwischenrufe zu reagieren: Natürlich sindauch bei uns noch viele Wünsche offen geblieben, aber man mussschon sagen, dass im Vergleich zu den anderen ex-kommunisti-schen Ländern bei uns ein sehr viel weiter gehender Elitenwechselstattgefunden hat. Das lag auch an der komfortablen Situation,dass man sich, was bestimmte Fachkompetenz betraf, nicht nurauf ostdeutsche Verwaltungsangestellte beschränken musste, son-dern auch andere zur Wahl hatte. Das will ich jetzt aber gar nichtaufrechnen. Mir ist aufgefallen, dass wir in der bisherigen Diskus-sion zugleich über verschiedene Ebenen des Umgangs mit der Ver-gangenheit sprechen.Regierungen neigen dazu, Themen nicht nur nach ihrem Sachge-halt zu beurteilen, sondern nach der Frage, was es ihnen bringen

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könnte. Russland ist in einer Situation, die alles andere als stabilist, das Land befindet sich in einer Krise. Und damit ist die Verfüh-rung nahe, Geschichte als reine Verwertungsressource zu betrach-ten. In einer solchen Situation ist eine Fehlerdebatte unerwünscht,die Frage, welche Schuld von Seiten der Sowjetunion mit Blick aufEuropa zu diskutieren wäre, gilt als destabilisierend. Mit dem 60.Jahrestag steht uns im nächsten Jahr eine große Feier des Vater-ländischen Krieges bevor, bei der die Gefahr besteht, dass Teile derGeschichte ausgeblendet werden. Der Verlust des Selbstwertge-fühls als Weltmacht erzeugt das Bedürfnis nach Selbstvergewisse-rung und nach Heldengeschichten. Die Befreiungsbewegungenvon 1990/91 in den mittel- und osteuropäischen Ländern und diedemokratischen Revolutionen werden ja in Russland keineswegsdurchgängig als eine positive Entwicklung gesehen. Zum Beispielträgt ein Buch von Kusmin zum Thema Deutsche Wiedervereini-gung einen Titel, der ins Deutsche übertragen so viel heißt wie“Niederlage” oder die absolute Katastrophe. Das andere ist die Ebene der gesellschaftlichen Aufarbeitung. Ichmöchte auf ein kleines Buch aufmerksam machen, das michberührt hat wie lange kein anderes, herausgegeben von IrinaScherbakowa (Memorial Russland). Sie hat in Zusammenarbeit mitder deutschen Körber-Stiftung in Russland einen Geschichtswett-bewerb initiiert und ein paar ausgewählte Arbeiten von russischenSchülerinnen und Schülern veröffentlicht, die vor Ort nachgefragtund geforscht haben. Ein Mädchen hat das Kriegstagebuch ihresOnkels analysiert. Plötzlich fragen Jugendliche, 16-, 17jährige, inihrem Dorf das erste Mal nach den Säuberungen Ende der dreißi-ger Jahre. Bisher war das ein absolutes Tabuthema. Wenn ichHoffnung habe, dann darauf, dass diese junge Generation andereFragen stellen wird als ihre Eltern und Großeltern, dass sie nach-schaut, was dort, wo sie lebt, passiert ist. Dafür bestehen heutedas erste Mal überhaupt Chancen. Da braucht es auch ein bisschenGeduld, wie immer im Umgang mit der Vergangenheit, denkenSie an 1945. Bis Deutschland wirklich angefangen hat, nach demNationalsozialismus zu fragen, verging mehr als eine Generation.Die Vergangenheitsaufarbeiter brauchen keine Eigenschaft sosehr wie Geduld. Und das liegt uns allen nicht. Aber Gras wächstnicht schneller, wenn man daran zieht! Manche Dinge brauchenihre Zeit, und brauchen vielleicht auch immer mal das Drängenvon außen, und auch unsere Fragen. Wenn die Körber-Stiftungdieses Projekt nicht angeschoben und finanziert hätte, wäre die-

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ser Geschichtswettbewerb nicht in Gang gekommen. Hier sehe ichauch eine Verantwortung gegenüber den NGOs, Memorial undsolche Geschichtswettbewerbe zu unterstützen. Die Sache mitdem Institut, die ich vorhin erwähnt habe, ist vielleicht eine schö-ne Idee, aber die gesellschaftliche Aufarbeitung ist wahrscheinlichnoch wichtiger: die schwachen, kleinen Strukturen, die sich diesenThemen stellen, solidarisch zu unterstützen.

Hilsberg:Aufarbeitung ist sehr viel mehr als Entschädigung, aber Entschädi-gung gehört dazu und letztlich ist die Entschädigung und Rehabi-litation im weiteren Sinne ein Prüfstein, wie ernst man Aufarbei-tung wirklich nimmt. Ich will an dieser Stelle mit dem Positivenbeginnen. Mein Eindruck ist nicht, dass dies alles zu Ende und allesvergeblich ist. In der Tat gibt es eine Stagnation in der weiterenEntwicklung. Auf der einen Seite sind es vergebliche Versuche beider CDU, eine Opferrente durchzusetzen. Ob die CDU das durch-setzen kann und noch will, wenn sie eventuell einmal die Mehr-heiten dafür hat, kann ich nicht vorhersagen. Ich weiß aber, dasses hier nicht materielle Probleme gibt, es geht gar nicht nur umsGeld, sondern um juristische Fragen der Abgrenzung und derDefinition. Ich weiß nicht, ob ich einigen von Ihnen zumuten soll,dass Sie eine zusätzlich Opferrente kriegen, vielleicht fünf Jahre,und danach nicht mehr. Wie soll ich das begründen? Die einenkriegen dann etwas, und die anderen kriegen weniger. Man mussda Geduld haben, man darf nicht die Flinte ins Korn werfen. Meine Haltung dazu ist die Folgende: Es gibt Defizite bei der Auf-arbeitung, nicht nur bei der Entschädigung, aber bei der Entschä-digung gibt es sie auch. Diese Defizite gibt es insbesondere nach-dem das Bundesverfassungsgericht das entsprechende Urteilgefällt hat. Seitdem wird darüber gestritten. Es gibt Defizite beider Behandlung der gesundheitlichen Haftfolgen. Das ist einSkandal! Da gibt es viele Punkte, wo man ansetzen kann undmuss. Dies darf keine Frage des Geldes sein. Wir arbeiten geradean einer Initiative, insbesondere um die Frage der gesundheitli-chen Haftfolgenentschädigung zu lösen. Das ist für mich nicht derletzte Punkt. Es muss sehr viel mehr gemacht werden. Ich war nieder Meinung, dass man irgendwann einmal sagen kann, mit Ent-schädigung ist jetzt Schluss, wir haben jetzt alles gemacht. Dieswiderspricht allen Erfahrungen und menschlichen Erkenntnissen.Es gibt bestimmte Dinge, die sind überhaupt noch nicht richtig in

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den Blick genommen worden. Ich weiß, dass Sie jetzt sofort ant-worten und sagen, aber ich lebe doch nicht mehr lange, und ichwill auch für mich selbst noch etwas haben. Das kann ich verste-hen, aber ich kann Ihnen die Mehrheiten dafür nicht organisieren.Zumindest nicht sofort. Ich weiß, dass es da Defizite gibt. Lassen Sie mich trotzdem noch einen Punkt anführen, selbst wennich dabei Unwillen ernte: Ich finde eine Aufrechnung, oder eineAuseinandersetzung mit dem, was Deutschland jüdischen Opfergegenüber tut, nicht hilfreich. Dies nützt Ihnen auch nichts. Simo-ne Weill, die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments warbei uns im Bundestag und hat zum Tag des Holocaust gesprochen.Sie hat dabei sehr wichtig Dinge gesagt, die sich zum Beispiel aufdie Holocaust-Gedenkstätte unweit des Brandenburger Tors bezie-hen. Simone Weill sagte, dass Deutschland eines der wenigen Län-der ist, das die Aufarbeitung des Antisemitismus wirklich undernsthaft betrieben hat. Dass die Gefahr besteht, dies kaputt zumachen, indem alles übertrieben wird. Sie hat es nicht mit meinenWorten gesagt, sie hat es viel intelligenter ausgedrückt. Und siehat es so ausgesprochen, dass ihr niemand widersprochen hat.Dies ist die Gefahr, in der wir stehen. Aber, liebe Freunde, dafür können doch die Juden nichts! Das istunser Problem. Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich durch dieOranienburger Straße gehe und sehe, dass es nötig ist, die Straßeeinzugrenzen, um diese ehemalige Synagoge, die schon einmal

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abgebrannt wurde, noch vor weiteren Anschlägen zu schützen.Das ist doch die Realität in unserem Land. Wenn wir zum Beispielüber Russland reden, ist doch eines der Probleme, dass über Anti-semitismus, der dort existiert, überhaupt nicht geredet wird.Wenn Sie selbst Opfer sind, dann ist es Ihre Schuld und Schuldig-keit, an der Seite derer zu stehen, die selber Opfer waren. Und dagehören die Juden mit dazu. Deshalb hat es überhaupt keinenSinn, an dieser Stelle etwas zu relativieren. Man muss vielmehrverlangen, dass das, was für die Einen Recht ist, auch den Anderenzusteht. Darüber müssen wir diskutieren – nach vorne diskutieren.Es ist ja ein schwieriges Feld. Sie haben wirklich mit Verdrängungzu tun. Und wer heute mit der PDS koalieren will, hat natürlichkein Interesse an Vergangenheitsaufarbeitung. Aber so zu tun, alsob das nur eine Partei betrifft und nicht die gesamte Gesellschaft,das ist natürlich auch wieder ein Irrtum. Die Auseinandersetzung,die Sie zu führen haben, ist wirklich sehr schwer. Wir müssen ver-suchen, in dieser Situation zusammen zu stehen. Und wir müssenauch Geduld haben. Wissen Sie, ich gönne jedem jeden Euro, dener bekommt, aber es ist schon ganz schön, dass wir in Freiheitleben können, dass wir unser Land aufbauen können, dass wirüberhaupt in dieser Art und Weise reden können. Das sind Erfol-ge, die wir angesichts der Defizite, die wir haben, nicht kleinreden dürfen.

Birthler:Es geht darum, dafür um Verständnis zu werben, dass die Opferder kommunistischen Gewaltherrschaft auch ihre Stimme haben.Denken Sie noch einmal ein paar Jahrzehnte zurück, wie lange esgedauert hat, von 1945 bis Ende der sechziger, Anfang der siebzi-ger Jahre, bis es in dieser Gesellschaft einen Konsens über dieFrage gab, was mit den Juden geschehen ist. Es gab viele Leute,die 1945 schon 60 oder 70 Jahre alt waren, die es nicht mehrerlebt haben, dass in Deutschland endlich die nationalsozialisti-sche Vergangenheit gründlich aufgearbeitet wurde. Diese Men-schen sind bitter gestorben, weil sie das nicht mehr miterlebthaben. Es hat viele, viele Kämpfe gekostet. Man konnte 1960 nochdie Gedenkstätten für die nationalsozialistischen Verbrechen aneiner Hand abzählen, die es in Deutschland gegeben hat. Es hateine Generation gedauert, bis sich dies verändert hat. Dass jetzt Menschen, die diesen Kampf gekämpft haben, sagen,wir lassen uns das nicht infrage stellen, und wir lassen nicht relati-

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vieren, worum wir uns eine Generation lang bemüht haben, dafürhabe ich allertiefstes Verständnis. Anstatt aufzurechnen, solltenMenschen, die unter der kommunistischen Gewaltherrschaft gelit-ten haben, Respekt vor diesem Kampf auch öffentlich äußern. Ichmöchte mich auch nicht für solche Konkurrenzen in Anspruch neh-men lassen.

Birke:Wie können wir im europäischen Kontext auch mit unseren Nach-barn die problematische Vergangenheit gemeinsam aufarbeiten.Marianne Birthler, wie kann man sich das konkret vorstellen,wenn Sie sagen, Sie wollen mit den europäischen Partnern in denLändern wie Tschechien oder Polen einen Datenaustauschmachen? Haben Sie vor, eine riesige Datenbank anzulegen, aufdem Bildungssektor zusammenzuarbeiten? Wie kann man sich dasvorstellen?

Birthler:Ich kann nur über einen ganz bestimmten Sektor der Aufarbei-tung sprechen. Wir sind eine Institution, die die Hinterlassenschaftder früheren Geheimdienste verwaltet. Das ist aber wichtig, mandarf dies nicht für das Ganze halten. Die Zugangs- und Überliefe-rungslage in Osteuropa ist aber sehr unterschiedlich. Z. T. sind dieBestände noch in den Händen der jetzt neu gegründeten Geheim-dienste. Hier gibt es in der Tat, nicht nur in Rumänien, sondernauch in anderen Ländern gewisse Kontinuitäten. Das Ministeriumfür Staatssicherheit war ja der einzige Geheimdienst, der wirklichersatzlos aufgelöst worden ist.Weil es sich bei unseren Gesprächspartnern in der Regel um Insti-tutionen handelt, die relativ gut ausgestattet sind, haben wir aucheine besondere Verantwortung, uns öffentlich bemerkbar zumachen. Mindestens genauso wichtig finde ich es aber, dass zivil-gesellschaftliche Initiativen auf diesem Gebiet unterstützt werden.Es gibt in den verschiedenen Ländern kleine und größere Vereine,die sich vernetzen müssen. Ein gutes Transportmittel sind immerbestimmte Projekte, die man sich gemeinsam vornimmt. Dies sindkleine Schritte, bei denen man sich auch gegenseitig wahrnimmt,und die langfristig auch eine politische Wirkung haben.Viel wird davon abhängen, ob die neuen Kommissare aus den Bei-trittsländern und deren Verwaltung offen für das Thema sind. Fürmich steht dahinter noch ein großes Fragezeichen. Die EU hat bei-

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spielsweise die Regel, dass dort nur Verwaltungsfachleute einge-stellt werden, die über zwölf Jahre Praxis im öffentlichen Dienstoder in der Verwaltung verfügen. In den osteuropäischen Ländernbedeutet dies eine gewisse Auswahl, die bestimmte Leute aus-grenzt, obwohl die Regel an sich begründet ist.Ich würde es sehr schön finden, wenn es eine Stiftung gäbe, die inden ex-kommunistischen Ländern finanzielle Unterstützung fürVideo-Interviews der Opfer der Gewaltherrschaft gewährt, damitwir dies unseren Enkeln zeigen können. Hier gibt es Anfänge, undwir brauchen noch mehr davon. Die Politik ist das eine, aber indem, was von Initiativen und Verbänden ausgeht, sehe ich diegrößere Chance.

Birke:Herr Hilsberg, gibt es denn angesichts der extrem knappen Kassenüberhaupt Möglichkeiten einen solchen Austausch zu fördern?

Hilsberg:Ich bin immer der Meinung, dass, wenn es für eine Sache guteArgumente gibt, auch in schwierigen finanziellen SituationenDinge durchgesetzt werden können. Das Finanzielle ist in derRegel ein vorgeschobenes Argument. Dahinter verstecken sichmeist andere Probleme, die nicht richtig geklärt sind.Es gibt bei der gesamten Gedenkstättenkultur eine Tendenz, dieGestaltung in Richtung Ästhetisierung zu treiben. Statt einesDenkmals entsteht ein Kunstwerk. Das hat manchmal etwas Schö-nes an sich, aber ich finde, dass manchmal übertrieben wird. InBerlin habe ich immer als gelungen empfunden, dass ein Streifenfür den ehemaligen Verlauf der Mauer steht. Inzwischen habe ichein Bedürfnis danach, ein Stückchen der alten Mauer zu sehen, sowie sie einmal war. Dies würde auch politische Bildung erleichtern.

Birke:Russland ist wiederholt angesprochen worden. Wie wird über eineBehörde, wie sie Frau Birthler leitet, berichtet? Gilt das als exem-plarisch wie die Aufarbeitung im Osten Deutschlands vorgenom-men wird?

Timtschenko:Ich lese vielleicht zu wenig, aber ich habe noch nie viel von derBehörde auf Russisch gelesen. Deshalb denke ich nicht, dass die

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Arbeit der BSTU in russischen Schulbüchern steht und dort eifriggelehrt wird. Die Leute, die sich mit dem Thema Aufarbeitungbeschäftigen, werden gut Bescheid wissen, was die Behördemacht, aber es ist manchmal nicht einfach, einen Überblick überdie deutschen Behörden zu bewahren.

Müller:Was tun wir nach dem 17. Juni? Ganz konkret: Wir machen unteranderem eine Erhebung mit der UOKG zu Haftfolgeschäden undzur Anerkennung von Haftfolgeschäden, respektive zur mangel-haften Anerkennung von Haftfolgeschäden. Warum machen wirdas? Einmal machen wir es, um bessere Informationen über dieWirklichkeit des DDR-Strafvollzugs zu bekommen, und auf dieserBasis dann auch Ableitungen und Forderungen empirisch besseruntermauern zu können. Zum zweiten tun wir es, um zum erstenMal einigermaßen repräsentativ wissen zu können, wie groß dasProblem eigentlich ist. Ein allgemeines Murren, irgendwie gibt eszu wenig, was ja richtig ist, ist nicht untersetzt. Und das könnenwir mithilfe dieses Projekts und der Auswertung machen. Eshaben dankenswerterweise mittlerweile über 900 Personen einensolchen Fragebogen ausgefüllt und teilweise auch sehr vieleDokumente mitgeschickt. Was lernt man von der Birthler-Behörde im Osten? Wir hatten eininteressantes Erlebnis, wir waren nämlich 2001 in dieser Behörde,in der Außenstelle Dresden, und haben dort den Chef aller russi-schen FSB-Archive durchgeführt. Er hat gestaunt, wie man hier mitAkten umgeht. Er hat erstaunt zur Kenntnis genommen, dass eseben nicht Mord und Totschlag gibt, und dass man auch so aufar-beiten kann. Ob sich das langfristig in etwas anderen Zugangs-möglichkeiten auch für die innerrussische Gesellschaft nieder-schlägt, vermag ich nicht zu sagen. Aber er hat es zumindest mitgroßem Interesse registriert und hat es sicherlich in Moskauberichtet. Das ist die Pflicht eines jeden staatlich angestellten Bür-gers, einen Bericht zu schreiben über seine Reisen.

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Andreas Hilger

Sowjetische Militärtribunale in der SBZ/DDR. Ideologie und Recht

Ich möchte mit zwei Zitaten aus der sowjetischen Vorkriegszeitbeginnen. Das erste stammt aus dem Jahre 1918 und ist einemhohem Mitarbeiter des sowjetischen Volkskommissariats für Justizzuzuschreiben. Das zweite Zitat ist einem Schreiben Lenins vom 17. Mai 1922 anden Justizkommissar Kurskij entnommen.

„Wir haben die Tribunale“, heißt es 1918, „immer als Gericht derKlassendiktatur betrachtet, als ein Gericht des politischen Kampfesund nicht als Gericht im eigentlichen Sinn des Wortes. Das Prinzipder Unterdrückung hatte Vorrang gegenüber dem der Gerechtig-keit.“

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„Das Gericht“, so Lenin 1922, „soll den Terror nicht ausschalten –dies zu versprechen wäre Selbstbetrug oder Betrug –, sondern ihnbegründen und legalisieren, prinzipiell, klar, ohne Fälschung undBeschönigung. Die Formulierungen sollen möglichst breit gehal-ten werden, denn nur das revolutionäre Rechtsbewusstsein unddas revolutionäre Gewissen werden die Bedingungen der mehroder weniger breiten Anwendung der Gesetze schaffen.“

Die Zitate sollen hier nicht dazu dienen, die alte Diskussion umKontinuitäten und Brüche zwischen Lenin und Stalin aufzuwär-men. Sie illustrieren aber hervorragend einen durchgängigenGrundzug sowjetischer Justizpraxis: Die im Vortragstitel angespro-chene Spannung zwischen Ideologie und Recht wurde in der Sow-jetunion 1918 wie 1945 zugunsten der Ideologie aufgelöst,d. h.: Die Justiz wurde für politische Zwecke instrumentalisiert.Dieser Befund galt in unterschiedlicher Ausprägung letztlich biszum Ende der UdSSR. Er kommt natürlich auch dann zum Tragen,wenn man das Wirken sowjetischer Tribunale und Richter außerLandes betrachtet. Das Deutschland von 1945, genauer: SBZ undDDR von 1945 bis 1955 stellen hier neben Polen, Ungarn, Öster-reich oder auch Korea zunächst einmal nur ein Beispiel von meh-reren dar. In Deutschland kam es indes eindeutig zur intensivstenTätigkeit. Dabei verweist die hohe Zahl sowjetischer Gerichtsurtei-le gegen Deutsche – hier geht die Forschung mittlerweile von rd.35 000 aus – auf den besonderen Stellenwert Deutschlands für diesowjetische Nachkriegspolitik. Auf diese Weise eröffnet einegenauere Analyse der Rechtsprechung sowjetischer Militärtribu-nale bzw. der ihrer administrativen Parallelinstanzen, der sogenannten Fernjustiz oder OSO, zugleich die Möglichkeit, Prioritä-ten, Ziele und Methoden sowjetischer Deutschlandpolitik zuergründen.Die Sowjetunion selbst hat ihre Besatzungspolitik immer in denRahmen gesamtalliierter Abkommen gestellt. Das heißt, dass sichnach offizieller sowjetischer Ansicht die UdSSR – im Grunde nurdie UdSSR – allein von den alliierten Beschlüssen, die in Jalta undPotsdam gefasst worden waren, leiten ließ. Demnach, so die sow-jetische Argumentation weiter, folgte die Sowjetunion bei Demili-tarisierung, Denazifizierung oder bei der Verfolgung nationalso-zialistischer Kriegs- und Gewaltverbrechen den gemeinsamen Vor-stellungen der Sieger. Folgerichtig verteidigte die UdSSR auch ihrejustiziellen, ihre gesamten repressiven Maßnahmen gegenüber

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Deutschen als integralen Bestandteil alliierter Besatzungspolitik.Die gerichtliche Verfolgung Deutscher stellt sich in dieser Lesartals Umsetzung entsprechender Kontrollratsbeschlüsse und -geset-ze dar. Darunter fallen etwa das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30.Oktober 1945, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember1945, der Befehl Nr. 3 vom 17. Januar 1946 oder das Kontrollrats-gesetz Nr. 43 vom 20. Dezember 1946. Diese vier Normen spiegelnhier Schwerpunkte alliierter Deutschlandpolitik wieder: DasGesetz Nr. 4 stellte neben nationalsozialistischen Angriffen auf dieBesatzer etwa „Versuche zur Wiederherstellung des Naziregimes“oder zur „Wiederaufnahme der Tätigkeit der Naziorganisationen“unter Strafe. Gesetz Nr. 10 bezog sich auf die Verfolgung vonKriegs- und Gewaltverbrechen, von Verbrechen gegen den Frie-den bzw. auf die Zugehörigkeit zu verbrecherischen Organisatio-nen. Gesetz Nr. 43 verbot u. a. Herstellung und Lagerung vonKriegsmaterial. Der Befehl Nr. 3 von Januar 1946, der die Registrie-rung der arbeitsfähigen Bevölkerung vorsah, steht hier schließlichfür alliierte Versuche, die Grundversorgung der Bevölkerung – undder Besatzungstruppen – sicherzustellen und das Wirtschaftslebenin Gang zu setzen; den Hintergrund dieser Maßnahmen bildetenatürlich auch das Bestreben, die deutsche Fähigkeit zur Reparati-onszahlung zu erhöhen. Diese und andere Vorschriften ähnlichen Inhalts beauftragtenMilitärgerichte der Besatzungsmächte mit der Ahndung allerGesetzesbrüche und sahen Strafen bis hin zu Zwangsarbeit,lebenslanger Haft oder gar bis hin zur Todesstrafe vor.Die sowjetische Umsetzung derartiger Vorgaben weist indes, ent-gegen der offiziellen alten sowjetischen – und mitunter auchaktuellen russischen – Interpretation eine Reihe von Besonderhei-ten auf. Diese legen es nahe, die Tätigkeit sowjetischer Militärtri-bunale in Deutschland weniger als Implementierung gesamtalliier-ter Beschlüsse zu sehen, sondern als Ausfluss sowjetischer Justiz-theorie sowie vor allem als Ausdruck autonomer sowjetischerPolitik und Interessen in und gegenüber Deutschland. Der Voll-ständigkeit halber sei hier ergänzt, dass wir über die Rechtspre-chung westlicher Militärtribunale gegenüber Deutschen jenseitsder Verfolgung von Kriegsverbrechen bislang nur äußerst bruch-stückhaft informiert sind. Unter den erwähnten Auffälligkeiten der sowjetischen Gerichts-praxis ist an erster Stelle die bevorzugte Verwendung sowjetischerStrafnormen zu nennen. Erst kürzlich wurde darauf aufmerksam

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gemacht, dass für die Anwendung sowjetischer Gesetze auf deut-sche Zivilisten in Deutschland jegliche juristische Grundlage fehlte.Ausländer fielen nur dann unter die Bestimmungen des sowjetrus-sischen Strafgesetzbuchs, wenn sie ihre Taten auf sowjetischemGebiet begangen hatten. Dies traf bei den hier interessierendenVerfahren nur in einer kleinen Minderheit der Fälle zu, in der esum Kriegsverbrechen auf sowjetischem Boden ging. Die über-wiegende Mehrheit der deutschen Zivilisten wurde indes fürHandlungen, die sie während der sowjetischen Besatzung inDeutschland begangen hatten, verurteilt: Mehrheitlich wegen sogenannter Staats- oder Verwaltungsverbrechen, d. h. politischerVerbrechen, ein gewisser Teil auch wegen Diebstahls, wegenSchlägereien oder beispielsweise Autounfällen: Einige wenigeZahlen können diese Schwerpunktsetzung verdeutlichen: Von denderzeit gut 25 000 dokumentierten sowjetischen Urteilen galtenallein 7 074 angeblichen Spionen, fast 4 000 vermeintlichen Sabo-teuren, 3 000 „Agitatoren“ und rund 1 100 Dieben. Unter den ins-gesamt ca. 4 500 deutschen Zivilisten, die als Kriegs- und Gewalt-verbrecher angesehen wurden, war zudem eine ganze Reihewegen Verbrechen an Ostarbeitern/Kriegsgefangenen in Deutsch-land angeklagt.Damit war die Anwendung sowjetischer Strafvorschriften in derüberwiegenden Mehrheit der Verurteilungen deutscher Zivilistenin der SBZ/DDR durch sowjetische Militärtribunale schlicht „nichtzulässig“. Sie war aber das einzige Mittel, stalinistisches Ideengutin der Rechtsprechung auch in Deutschland zur Geltung zu brin-gen. Dabei war das Bedürfnis, auch nur potentielle Gefahren weit-räumig abzuwehren, das paranoide Ausmalen aller möglichenBedrohungsszenarien sowie die strikte Frontstellung gegenüberdem Feindbild „Kapitalismus“ nicht nur in der sowjetischen Füh-rung, sondern auch in deren Justizfunktionären so tief verankert,dass der unzulässige Export sowjetischer Normen nach Deutsch-land von Beginn an allseits automatisch praktiziert und nie hinter-fragt wurde. Die Verteidigungslinie des ersten sozialistischenStaats der Welt wurde quasi nach Westen vorverlegt: Die Urteilelassen in ihren Begründungen daher kaum das reale Leben ineinem Besatzungsgebiet erkennen, sondern lesen sich als Frontbe-richt der Vaterlandsverteidigung. Nur aus dieser inneren Logikheraus konnten politische Normen, die „jede Handlung, die aufden Sturz, die Unterhöhlung oder die Schwächung“ der sowjeti-schen Regierung oder „auf die Unterhöhlung oder die Schwä-

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chung der äußeren Sicherheit der“ UdSSR und ihrer „grundlegen-den wirtschaftlichen, politischen und nationalen Errungenschaf-ten“ „gerichtet ist“, unter Strafe stellten, extensiv auf Deutsche inDeutschland angewendet werden. In der Rechtsprechung war dasBesatzungsgebiet schon 1945 in das sowjetische Lager integriert. Damit wurden tatsächliche und angenommene Widerstände inDeutschland gegen die Besatzungsmacht oder ihre ostdeutschenStützen schon frühzeitig in die als unvermeidlich vorausgesetzteAuseinandersetzung zwischen der UdSSR und den kapitalistischenMächten eingebettet. Nach sowjetischer Überzeugung führten„konterrevolutionäre“ Deutsche den nationalsozialistischenKampf gegen die UdSSR nur in neuem Gewande fort und wurdendabei – wieder einmal – vom kapitalistischen Ausland unterstützt:Das fast schon klassisch zu nennende Bündnis von innerem undäußerem Feind, das Stalin schon seit langem heimgesucht hatte,entfaltete nach Auffassung Moskaus auch in den besetzten Gebie-ten seine Wirksamkeit. Entsprechend meldeten sowjetische Sicher-heitsdienste „eine Intensivierung der Aktivitäten von Spionage-und Gegenspionageagenturen der Verbündeten [!], vor allem derbritischen und amerikanischen Aufklärungsdienste“ oder glaub-ten generell, einen „wachsenden Einfluss [...] der angloamerikani-schen Aufklärungsdienste“ beobachten zu können. Ein Vergleichderartiger Meldungen mit sowjetischen Feindbildern der dreißigerJahre zeigt die direkte Übertragung ideologisch-paranoider Vor-stellungen Moskaus auf Ostdeutschland. So hatte 1937 der Che-fankläger des Stalin-Staats, Vysinskij, die damalige Gefahrenlagewie folgt beschrieben: „Solange die kapitalistische Einkreisungexistiert, müssen auch Spione, Diversanten, Schädlinge und Terro-risten existieren, die sich auf jede nur mögliche Art und Weise inunser Hinterland einschleichen und hier von unseren Feindengefördert werden.“Der Gesamtbefund hoch ideologisierter Richtersprüche soll imÜbrigen weder die Existenz krimineller Banden in der Besatzungs-zone, noch nationalsozialistisch oder antikommunistisch motivier-te Attacken auf die Besatzungsmacht, noch westliche Geheim-dienstaktivitäten negieren. Die sowjetischen Maßnahmen standenaber sowohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch in derFrühphase der DDR in keinem Verhältnis zur realen, konkretenGefährdung. Die Rechtsprechung belegt vielmehr, dass man sich inder gesamten Periode weniger von konkreten Analysen oder Ver-dachtsmomenten, sondern in hohem Maße von ideologisch

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geprägten Erwartungshaltungen und Interpretationsmustern lei-ten ließ. Die sowjetischen Repressionen lassen sich so kaum alsReaktion auf einen Anfangsverdacht oder auf genaue Lageein-schätzungen verstehen. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die Grün-dung der Deutschen Demokratischen Republik im Oktober 1949keine wesentliche Veränderung in der Tätigkeit der sowjetischenMilitärjustiz in Ostdeutschland mit sich brachte. So wurde mit 5615 Personen über ein Fünftel der erfassten verurteilten Deut-schen in den Jahren 1950 bis 1952 abgeurteilt. 1950 stellte neben1948/49 zugleich das Spitzenjahr für Verurteilungen Deutscher alsSpione dar (688 von 4 151 Fälle mit Spionage als alleinigemUrteilsgrund). Das korrespondiert mit einer hohen Zahl vonDeportationen verurteilter Deutscher nach 1949 in die Sowjet-union sowie mit der relativ häufigen Verhängung der Todesstrafe1950 bis 1954 (mindestens 943 vollstreckte Todesurteile in diesemZeitraum, davon 461 1951; andere Erhebungen gehen von 1 180vollstreckten Todesurteilen aus). Erst in den letzten Lebensmonaten Stalins reduzierte sich die Zahlder Verurteilungen merklich. Vieles spricht dafür, dass die Repres-sionsorgane in Deutschland vom sich neu abzeichnenden Terror inder UdSSR gelähmt wurden. Der Tod Stalins und die Ablehnungseiner Gewaltexzesse gegen Freund und Feind durch die neuenMoskauer Machthaber sowie die neuen deutschlandpolitischenKonstellationen brachten die sowjetische Rechtsprechung gegenDeutsche schließlich ganz zum Erliegen. Das letzte Urteil ergingim Oktober 1955.In der konkreten Praxis bedeutete dieser hier skizzierte Justizex-port, dass sowjetische Gerichte beispielsweise bei der Bestrafungvon Kriegsverbrechen – ein höchst legitimes Anliegen, das aller-dings mit völlig unzureichenden Mitteln verfolgt wurde – häufigeben nicht das bereits erwähnte Kontrollratsgesetz Nr. 10, son-dern die spezifisch stalinistischen Normen des Ukas des Präsidiumsdes Obersten Sowjets vom 19. April 1943 oder Artikel 58,2 des rus-sischen Strafgesetzbuchs anwandten. Auf diese Weise wurde aufder einen Seite deutschen Verbrechen gegen sowjetische Bürgerund Rotarmisten eine Art Exklusivität zuteil; auf der anderen Seitewurde der sowjetische Staat, nicht aber seine Bürger, zum wirklichschützenswerten Objekt. Zugleich verbreiterte sich auf der Grund-lage der weiten Begrifflichkeit des Strafgesetzbuchs das Spektrumverfolgter Taten – so konnte beispielsweise der Angriff auf die

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UdSSR als solcher zum strafwürdigen, individuellen Verbrecheneinzelner Deutscher umgedeutet werden. Diese Neubestimmung von Tatbeständen ging häufig Hand inHand mit einer wesentlichen Strafverschärfung. Bestes Beispielhierfür ist der Komplex der Wirtschaftsverbrechen. FehlerhafteReparationslieferungen oder einfacher Diebstahl konnten von dersowjetischen Justiz ebenfalls politisiert werden. Sie galten dannals gegen das sozialistische Eigentum oder als gegen den StaatUdSSR gerichtet und somit als konterrevolutionär. Diese Sichtwei-se erhöhte das Strafmaß beträchtlich, so dass im Extremfall aufden Diebstahl von Lebensmitteln aus sowjetischen Lagern 20jähri-ge Haftstrafen, auf die nicht fristgemäße Ablieferung von Repara-tionsgütern – gedeutet als Sabotage am Wiederaufbau der UdSSR– die Todesstrafe stand. Letztlich war die gesamte sowjetische Rechtspflege, das gesamteJustizwesen, durch politische Verzerrungen verformt. Das giltschon für die eigentliche Gerichtsorganisation. Hier war nebenden Militärtribunalen verschiedener Ordnungen (von der Divisionaufwärts bis zur Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen inDeutschland und der SMAD selbst) von Beginn an die so genannteSonderkonferenz des Volkskommissariats für Inneres bzw. desStaatssicherheitsministeriums, die OSO für Verurteilungen Deut-scher zuständig. Die OSO behielt sich Fälle vor, in denen eigeneAgenten enttarnt werden konnten oder in denen die Beweislageschlicht unzureichend war. Sie diente so als direktes Ausführungs-organ der Sicherheitsapparate. Deren generell dominierende Stellung in allen Verfahren gegenDeutsche war ebenso ein Wesensmerkmal sowjetischer Justiz. Eswaren die operativen Organe von NKWD und MGB, die auf derGrundlage von Moskauer Befehlen die Schwerpunkte sowjetischerVerfolgungen in Deutschland festsetzten. Im jeweiligen Einzelfallnahmen sie die Verhaftungen vor und führten – mit allen Mitteln,einschließlich brutaler Folterungen – die Untersuchungen. DieOperativen Organe waren es auch, die die Anklageschriftenerstellten; die Bestätigung durch die Militärstaatsanwälte warreine Formsache. Die Militärtribunale hatten in der endgültigenEntscheidung zwar offenkundig einige Freiräume, die sich in – sel-tenen – Freisprüchen oder der Anordnung weiterer Untersuchun-gen äußerten. In der Masse der Fälle übernahmen die Richter aber– wohl aus Überzeugung – die operativen Ergebnisse. Die Organesaßen zudem am längeren Hebel: Selbst nach Freisprüchen konn-

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ten Deutsche nur mit ihrer Einwilligung auch wirklich aus Gefäng-nis oder Lager entlassen werden; dieses Zugeständnis erfolgte kei-neswegs automatisch. Im Extremfall zog die OSO-Verwaltungsjus-tiz Verfahren, in denen Militärtribunale nicht spurten, einfach ansich.Die OSO tagte grundsätzlich im Geheimen und ohne Anhörungder Angeklagten. Doch auch die Militärtribunale verweigertenden Angeschuldigten fundamentale Rechte. Die Angeklagtenmussten in der Regel auf einen Verteidiger verzichten; sie erhiel-ten die Anklageschrift erst kurz vor Prozessbeginn und musstenVerhöre wie Verfahren oftmals ohne adäquate Übersetzung übersich ergehen lassen. Die Prozesse waren in aller Regel Geheimpro-zesse (Ausnahme Sachsenhausen als Schauprozess). Sie endetenhäufig, wie bereits erwähnt, mit extrem hohen Haftstrafen. Diesewaren grundsätzlich in so genannten Besserungsarbeitslagern desGulag zu verbüßen. Der entsprechende Strafvollzug orientiertesich aber weniger an den Urteilssprüchen, sondern an pragmati-schen Erwägungen. Bis 1947 wurden die Verurteilten nur zum Teilzur Zwangsarbeit in die UdSSR deportiert. Angesichts des klägli-chen Gesundheitszustands der Kontingente verzichtete Moskauschließlich ganz auf diese Deportationen und beließ die Verurteil-ten in deutschen Speziallagern und Gefängnissen. Ab 1948 schlug

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sich dann eine Verschärfung der sowjetischen Strafpolitik auf dendeutschen Strafvollzug nieder: Nun waren vermeintlich „beson-ders gefährliche Staatsverbrecher“ unter den Deutschen in dieSowjetunion zu verbringen. Insgesamt gehen wir heute für dieJahre 1945 bis 1955 von rd. 7 000 verurteilten Deutschen aus, diein den Gulag deportiert wurden. Davon sind die Fälle zu unter-scheiden, in denen Deutsche zur Vollstreckung der Todesstrafenach Brest oder Moskau verbracht wurden. Deren Zahl ist bisheute unbekannt: Derzeit lassen sich insgesamt 1 963 verhängteTodesurteile nachweisen, von denen mindestens 1 201 vollstrecktwurden.Von den Deportierten sind nach unseren Schätzungen etwa 800Menschen in der Haft verstorben. Die Übrigen kamen mehrheit-lich 1953/54 und 1955/56 nach Deutschland zurück. In der eigen-tümlichen Entlassungspraxis der UdSSR kamen die ehemals als„besonders gefährlich“ eingestuften Deportierten nun vor ihrenMitverurteilten, die ihre Strafen in Deutschland verbüßen muss-ten, nach Hause. Dabei waren Entlassungen in großem Umfangerst nach dem Tode Stalins möglich. Ihre deutliche Abhängigkeitvon neuen Prioritäten der post-stalin’schen Machthaber in derInnen- und Außenpolitik weisen sie als letzten, wichtigen Belegpolitischer Instrumentalisierung sowjetischer Justiz aus: Sobald esder politischen Führung opportun und angemessen erschien, wur-den mehrere Tausend Verurteilte trotz hoher Strafen wie es heißt:vorzeitig entlassen und repatriiert. Die Rücktransporte aus derUdSSR erreichten demgemäß mit dem Adenauer-Besuch in Mos-kau im September 1955 ihren Höhepunkt; im Übrigen ohne dassdie westdeutsche Politik im Vorfeld entscheidenden Einfluss aufsowjetische Entlassungspläne hätte ausüben können.Angesichts der geschilderten Grundzüge sowjetischer Rechtspre-chung haben sowjetische Gerichte die Grenzen einer bloßen„Sicherung“ der Besatzungstruppen eindeutig gesprengt. Dassel-be gilt für die anderen, eingangs genannten alliierten Vorhaben.Durch Einsatz und Anwendung bolschewistisch generierter unddisponierter Organe, Normen und Methoden erfuhren die alliiertfestgeschriebenen Pläne eine radikale Uminterpretation: Sie ver-formte zugrunde liegende politische Erwägungen des Westens biszur Unkenntlichkeit und stufte gesamtalliierte Proklamationen zuhohlen Phrasen offizieller sowjetischer Besatzungsrhetorik herab.Vor diesem Hintergrund erscheint, dies als Ausblick bzw. Ergän-zung zur gestrigen Diskussion, die heutige Rehabilitierungspolitik

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Russlands als halbherzig. Zunächst einmal kann die generelle Ein-schränkung auf Verurteilungen aufgrund „politischer“ Paragra-phen dazu führen, dass politisch motivierte Strafverschärfungenund Kriminalisierungen abweichenden Verhaltens außer Achtgelassen werden (wie beispielsweise bei der Verfolgung von Dieb-stahl). Ganz allgemein geht, indem individuelle Fälle auf derGrundlage der alten sowjetischen Ermittlungs- und Strafaktengeprüft werden, in heutigen Rehabilitierungsverfahren mitunterder Blick auf die durchgängige Instrumentalisierung der Justiz fürpolitische Zwecke verloren. Darüber hinaus bleiben offene Verlet-zungen rechtsstaatlicher Grundsätze in allen Verfahren – wie Fol-ter oder die Verweigerung von Verteidigern und angemessenerÜbersetzung – in den heutigen Entscheidungen häufig unberück-sichtigt. Die ambivalente Rehabilitierungspraxis entspricht dabeiLücken in anderen Feldern der Vergangenheitspolitik; zu denkenist hier – auch und gerade mit Blick auf die russischen Opfer – aninsgesamt mangelhafte Kompensationen, das Fehlen jeden ange-messenen öffentlichen Gedenkens, an versäumte Personalwechselim Staatsapparat und an die Weigerung, frühere Täter zu verfol-gen.Damit steht die aktuelle russische Rehabilitierungspolitik für dasambivalente Verhältnis Russlands zu seiner gebrochenen Geschich-te von Weltkrieg und Stalinismus, zu russischer Opferrolle undTäterschaft in und nach dem Zweiten Weltkrieg: Umfragen ausAnlass des 50. Jahrestags des Todes Stalins im März 2003 ergaben,dass immerhin 36 Prozent der Meinung waren, dass ihm das Landmehr Gutes als Schlechtes verdanke. Der wenig respektvolleUmgang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen ist ein konstitutiverTeil des verhängnisvollen Vermächtnisses des Diktators. Er belastetdie Aufarbeitung der Vergangenheit ebenso wie die Gestaltungder Gegenwart.

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Sowjetische Militärtribunale in der SBZ/DDR 1945–1950. Deutsche vor Gericht

Nachdem sich mein Kollege Andreas Hilger soeben ausführlich mitRecht und Ideologie der sowjetischen Justizpraxis beschäftigt hat,ist es nun meine Aufgabe darzustellen, in welchem qualitativenund quantitativen Rahmen sich die Verurteilungen vor Sowjeti-schen Militär-Tribunalen (SMT) bewegten. In unserem gemeinsa-men Werk über die Verurteilung deutscher Zivilisten in derSBZ/DDR gehen wir davon aus, das mit etwa 35 000 Fällen gerech-net werden muss. Davon konnten wir über 25 000 oder rund 72Prozent ausweisen. Wenn ich im Folgenden Zahlen und Beispielenenne, dann beziehen sie sich auf das von uns herausgegebeneWerk. In ihrer Urteilspraxis bezeichneten die sowjetischen Richter dievon ihnen behandelten Fälle in der Regel als so genannte Staats-,

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Kriegs- und Alltagsverbrechen. Was kann, was muss man untereiner derart schwammigen Formel verstehen? Als sowjetische Truppen die Grenzen des Reiches überschrittenund 1945 ihren Teil Deutschlands besetzten, stand das legitimeAnliegen, NS- und Kriegsverbrecher juristisch zu verfolgen, weitoben auf der Kriegszielagenda Moskaus und der Alliierten. Hinzutrat gleichzeitig die Absicherung der Besatzungspolitik, die auchmit dem Mittel der Verhaftung, der Internierung und der Verurtei-lung erfolgte. Dabei ließ sich von Anfang an ein Maß an Willkürerkennen. Zum dritten richteten sich die Verurteilungen ab 1946,vor allem aber seit 1948, gegen politische Widersacher der deut-schen Kommunisten, die als KPD/SED ihre Diktatur auf teildeut-schem Boden durchsetzen wollte – und dies nur mit sowjetischerUnterstützung realisieren konnte. Die Ausschaltung oppositionel-ler Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberaldemokraten,aber auch von Teilen der studentischen Jugend, ebnete den deut-schen Kommunisten den Weg zur totalen Herrschaft. Im Folgenden sollen die soeben genannten Kategorien etwas aus-führlicher dargestellt und untersucht werden. Dabei möchte ichIhnen anhand von vereinzelten Zahlen und im Besonderenanhand einiger Beispiele die Dimensionen, aber auch die oftmalsbitteren Schicksale zeigen. Auf den Gesamtumfang der Verurtei-lungen einzugehen, hieße allerdings, mein vom Veranstalter vor-gegebenes Zeitkontingent gewaltig zu überziehen. Aus diesemGrund werde ich nur Aspekte und Überblicke bieten können. Wersich ausführlicher informieren möchte, kann dies anhand unsereszweiten Bandes über die Sowjetischen Militärtribunale in derSBZ/DDR gern tun. Beginnen möchte ich mit der juristischen Ahn-dung von NS- und Kriegsverbrechen, fortsetzen mit der z. T. rechtwillkürlichen Absicherung der sowjetischen Besatzungspolitik undschließen mit der politischen Strafjustiz gegen politische Gegner.

Verfolgung von NS- und KriegsverbrechenIch hatte bereits eingangs darauf hingewiesen, dass von gesamtal-liierter Seite das legitime Anliegen bestand, NS- und Kriegsverbre-chen, die von Deutschen auf eigenem oder besetzten Territoriumbegangen worden waren, strafrechtlich zu ahnden. Dazu wurdennoch während des Krieges entsprechende Rechtsgrundlagen erlas-sen – wie der Ukas 43 auf sowjetischer Seite – oder aber kurz nachKriegsende im Alliierten Kontrollrat vereinbart –so das Kontroll-ratsgesetz Nr. 10. Sichtbarer Ausdruck des alliierten Bestrebens

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war die Durchführung des Nürnberger Tribunals, das bis Herbst1946 die Hauptkriegsverbrecher anklagte und ein Großteil vonihnen verurteilte. Einige der Täter wurden zum Tode verurteiltund hingerichtet, so z. B. der frühere Reichsinnenminister WilhelmFrick und der Chefredakteur des antisemitischen Hetzblatts „DerStürmer“, Julius Streicher. Der Prozess selbst orientierte sich anrechtsstaatlichen Grundsätzen: Die deutschen Angeklagten ver-fügten über Verteidiger, konnten Zeugen und Beweismittel bei-bringen und durch Übersetzer auch sprachlich jederzeit folgen.Unterhalb der Hauptkriegsverbrecherebene lieferten die AlliiertenFunktionsträger des „Dritten Reiches“ in so genannte Internie-rungslager ein, die ausdrücklich zu diesem Zweck entstanden. Inallen Besatzungszonen gerieten so hunderttausende von Deut-schen in alliiertes Gewahrsam, viele oftmals nur aufgrund ihrerFunktion im NS-System, nicht aber wegen bestimmter Verbre-chensdelikte. Eine große Zahl der Verhafteten war Durchkäm-mungsaktionen der Alliierten zum Opfer gefallen, die sich mitBlick auf NS-Funktionäre vom Prinzip des „automatischen Arrest“leiten ließen. In den jeweiligen Besatzungszonen nahmen gleich-falls 1945 sowjetische, amerikanische, britische und französischeMilitärtribunale die Arbeit auf, um u. a. einen kleineren Teil derEingelieferten als NS- und Kriegsverbrecher abzuurteilen. Die westlichen Alliierten gingen dabei – entgegen weit verbreite-ten Ansichten – in den folgenden Jahren gegen mehr als 5 000 NS-und Kriegsverbrecher vor; über 800 von ihnen wurden zum Todeverurteilt und knapp 500 davon auch hingerichtet. Die sowjeti-schen Sieger stellten bis zu 4 500 NS- und Kriegsverbrecher vorMilitärtribunale, wobei mehr als 450 Todesurteile zu verzeichnenwaren. Sowjetischerseits wurden sowohl alliierte Rechtsgrundla-gen (vor allem Kontrollratsgesetz 10) als auch eigene Rechtsbe-stimmungen (Ukas 43, Artikel 58–2 StGB der RSFSR) herangezo-gen, aber im Gegensatz zum Nürnberger Verfahren Kernelementeder Rechtsstaatlichkeit ausgespart. In der Regel standen denAngeklagten weder ein Verteidiger noch entlastende Zeugen oderandere Beweismittel zur Verfügung. Diese Praxis traf im Übrigenauf fast alle Verfahren gegen angeklagte deutsche Zivilisten zu.Gegen die als NS- und Kriegsverbrecher angeklagten Personengingen SMT auch häufig ohne konkrete Beweisführung vor. Oftreichte es völlig aus, dass der Angeklagte Mitglied der NSDAPgewesen war, um dem Betroffenen zu unterstellen, er habe dasParteiprogramm gekannt und sei deshalb „aktiver Nazi“ gewesen.

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Welche Gruppen und Einzeltäter wurden nun vor sowjetische Tri-bunale gestellt und verurteilt? Nimmt man zuerst bestimmteGruppen in den Blick, fallen zwei Massenprozesse aus dem Jahre1947 auf. Da fand zum einen der Prozess gegen Mitglieder desPolizei-Reserve-Bataillons Nr. 9 im Sommer 1947 statt, die sichnach dem Überfall auf die Sowjetunion zuerst an der Absperrungvon Hinrichtungsstätten und später auch an Massenexekutionenvon Zivilisten beteiligt hatten. Ein wesentlicher Teil der Angehöri-gen war von der britischen Besatzungsmacht an die sowjetischeSeite ausgeliefert worden. Das SMT der Garnison Berlin verurteiltedarauf über 200 Angehörige des Bataillons nach Ukas 43 meist zu25 Jahren Lagerhaft. Die „Milde“ des Urteils lag in der Aussetzungder Todesstrafe in der UdSSR zwischen Mai 1947 und Januar 1950begründet. Bei der kollektiven Strafbemessung hatte die Frageder persönlichen Verantwortung kaum eine Rolle gespielt; über-dies waren Verteidiger auch in diesem Fall nicht zugelassen wor-den. Der andere Massenprozess, der in der zweiten Oktoberhälfte 1947stattfand, richtete sich gegen Teile der früheren Wachmannschaftdes KZ Sachsenhausen. Das SMT der Gruppe der SowjetischenBesatzungstruppen in Deutschland führte in diesem Fall den einzigen öffentlich inszenierten Prozess, um die eigene Seite alskonsequente Straftäterverfolger erscheinen zu lassen. In diesesBild passte auch die Tatsache, dass für die Aburteilung nicht dersowjetische Ukas 43, sondern alliierte Rechtsgrundlagen (Kontroll-ratsgesetz 10) herangezogen wurden. Die 16 Angeklagten, darun-ter der langjährige Kommandant und der Chefarzt des Lagers,wurden zu ähnlich milden Strafen wie im vorangegangenen Pro-zess verurteilt: Die Strafbemessung lag in 14 Fällen bei lebensläng-lich und in zwei Fällen bei 15 Jahren Lagerhaft. Im Vorfeld undwährend des Prozesses hatten die sowjetischen Organe Wert da-rauf gelegt, dass die Angeklagten mit „Geständnissen“ an dieÖffentlichkeit traten. Diese „volkspädagogische“ Note verfehltefreilich ihren Zweck, erschienen doch einstudierte Aussagen desfrüheren Lagerkommandanten Anton Kaindl über die „schwereSchuld der Groß-Konzerne“ wenig glaubhaft. Die problematischejuristische Aufarbeitung kam auch dadurch zum Ausdruck, dassschon Ende 1946 mehrere Angehörige des Wachpersonals, darun-ter einer von Kaindls Stellvertreter, nicht-öffentlich zum Tode ver-urteilt und hingerichtet worden waren. Bei der Verurteilung von Einzelpersonen spielten solche merkwür-

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digen „Begleiterscheinungen“ ohnehin keine Rolle. Das zeigtenicht zuletzt das Verfahren gegen einen der ranghöchsten Vertre-ter der NS-Hierarchie, den sächsischen Gauleiter Martin Mut-schmann, der als einer der treuesten Paladine Adolf Hitlers galt.Mutschmann, seit 1933 Reichsstatthalter und ab 1935 sächsischerMinisterpräsident, war bereits im Mai 1945 gefasst und an diesowjetischen Organe ausgeliefert worden. Das Militärkollegiumdes Obersten Gerichts der UdSSR in Moskau – die höchste militär-gerichtliche Instanz des Landes – verurteilte den NS-Verbrecher,der u. a. für die Einrichtung der frühen sächsischen Konzentrati-onslager, die Deportation deutscher Juden und die entwürdigen-de Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener –z. B. in Zeithain –Mitverantwortung trug, am 30. Januar 1947 auf der Grundlagedes Ukas 43 zum Tode. Nach Ablehnung seines Gnadengesucheswurde Mutschmann hingerichtet.Etwas anders lag da der Fall des brandenburgischen Euthanasie-arztes Dr. Hans Heinze. Der noch 1943 zum außerordentlichen Pro-fessor an die Universität Berlin berufene Mediziner konnte alseine der Schlüsselfiguren im Programm der Kinder-Euthanasie gel-ten. Schon früh hatte das NSDAP-Mitglied Karriere gemacht: 1933war Heinze zum Leiter der Hauptstelle für Erb- und Rassenpflegeim Rassenpolitischen Amt der NSDAP des Gaues Kurmark avan-ciert; ein Jahr später war er bereits Direktor einer der großenbrandenburgischen Nervenheilanstalten und ab 1938 Chef derLandesanstalt Brandenburg-Görden. Der Mediziner, der u. a. dieReichskanzlei über die Euthanasie-Aktion beriet, selbst als Gutach-ter arbeitete und sich als Spezialist für „Hirnforschung“ betätigte,war zumindest mittelbar an der Tötung Behinderter beteiligt.Nach seiner Festnahme durch das NKWD im Oktober 1945 wurdeHeinze im März 1946 von einem SMT zu sieben Jahren Lagerhaftverurteilt – und zwar nach Artikel 58-2 STGB der RSFSR („Einfallbewaffneter Banden“). Dieser merkwürdige Umstand und das milde Urteil veranlassten1997 das Hannah-Arendt-Institut in Dresden, eine Aktenüberprü-fung im Rahmen eines Rehabilitierungsverfahrens zu beantragen.Nur über ein derartiges Verfahren ließ sich damals und lässt sichnoch heute genauere Auskunft über die wirklichen Hintergründeder Verurteilung erlangen. Die Prüfung ergab, dass Heinze tat-sächlich wegen NS-Verbrechen zu einer, wenn auch milden Strafeverurteilt wurde. Es stellte sich weiter heraus, dass der Angeklagtealle Vorwürfe abgestritten hatte und die sowjetischen Organe

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keine wirklich stichhaltigen Beweise für Heinzes Schuld präsentie-ren konnten, wobei sich letztere jedoch nicht nachhaltig genugum bereits greifbare Belege bemühten. Da die sowjetischen Rich-ter damals auch gegen die eigene Strafprozessordnung verstoßenhatten, erging von den heutigen russischen Behörden eine – nichterwartete und inhaltlich nicht gerechtfertigte – RehabilitierungHeinzes.Die besondere Perfidie des Systems der NS-Verfolgung zeigtzuletzt der von Tragik überschattete Fall der jüdischen „Greiferin“Stella Kübler-Isaakson (geb. Goldschlag). Um der Deportationihrer Familie aus Berlin zu entgehen, hatte sich die junge Frau imJahre 1943 bereit erklärt, für den Berliner „Fahndungsdienst“ derGestapo zu arbeiten. Bis 1945 verriet sie mehrere Hundert Judenan die Geheimpolizei des „Dritten Reiches“ und avanciertedadurch zur gefürchtetsten „Greiferin“ der Reichshauptstadt.Trotz ihres Versuchs, nach Kriegsende unterzutauchen, wurde sieEnde 1945 von den deutschen Behörden gestellt und dann densowjetischen Organen übergeben. Im Juni 1946 verurteilte sie einSMT ebenfalls nach Artikel 58-2 StGB der RSFSR wegen des Verratsund der Auslieferung von Juden an die Gestapo zu zehn JahrenLagerhaft. Nachdem sie ihre Strafe in den Lagern Torgau undSachsenhausen sowie im Frauengefängnis Hoheneck abgesessenhatte, wurde sie im Jahre 1957 ein zweites Mal verurteilt – undzwar von einem Westberliner Gericht wegen „Beihilfe zum Mordsowie Freiheitsberaubung mit Todesfolge“. Die vorangegangenenHaftjahre waren von den Richtern angerechnet worden.

„Sicherheit“ durch WillkürDie größte Gruppe der verurteilten Deutschen bildete allerdingsnicht die der NS- und Kriegsverbrecher, die mit ca. 4 500 Verurtei-lungen nur einen Anteil von etwa 18 Prozent der von uns doku-mentierten 25 000 Fälle verzeichnete. Die weitaus meisten Opfer,nämlich über 18 000 oder 72 Prozent, gingen auf das Konto poli-tisch-ideologischer Prägungen der Besatzungsmacht und ihrenübertriebenen Sicherheitsbedürfnissen. Sie alle wurden nach Arti-kel 58 StGB der RSFSR als „Konterrevolutionäre“ oder „Staatsver-brecher“ abgeurteilt. Dieses massive Vorgehen zielte zum einenauf die hermetische Abriegelung der sowjetischen Besatzungszo-ne und zum anderen auf die Sicherung der sowjetischen Truppen,Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmungen (SAG) vor Über-griffen oder Sabotageakten. Dabei stützte sich die Besatzungs-

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macht auf bolschewistische, stalinistisch überhöhte Feindbilder,die mit dem berüchtigten Staatsschutzparagraphen 58 in Geset-zesform gegossen waren. Welche „Delikte“ die sowjetische Besatzungsmacht als „feindlich“betrachtete, kommt u. a. in einem Bericht des SMT-Vorsitzendender SMA Sachsen-Anhalts aus dem Jahre 1949 zum Ausdruck. DerOberst der Justiz listete als „Formen feindlicher Agitation“ z. B.den „Druck und die Verbreitung von Flugblättern“, die „Einfuhrreaktionärer Zeitungen und faschistischer Literatur“, die „Koope-ration mit der westlichen Presse“, das „Halten reaktionärerReden“, das „Singen antisowjetischer Lieder und Erzählen eben-solcher Witze“ oder auch „antisowjetische Gespräche in kleinerenGruppen der Bevölkerung“ auf. Als feindlich wurden aber auch„das Loben der angloamerikanischen Besatzungsmächte“ sowie„Schmähungen von Maßnahmen der SMAD“, der Außenpolitikder UdSSR und ihrer „Leitfiguren“ angesehen. Urteile ergingenaber auch wegen der „Propagierung eines neuen Krieges undeiner Niederlage der UDSSR in einem Krieg mit Amerika“. Wieman sieht, fühlte sich die Besatzungsmacht von vielen Seitenumstellt und bedroht.Die Sicherung der Truppen und ihres Operationsgebietes wareines der zentralen frühen Anliegen sowjetischer Besatzungspoli-

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tik. Eine flächendeckende und willkürliche Verhaftung verdächti-ger Personen richtete sich aus diesem Grund vor allem 1945/46gegen so genannte „Werwölfe“, die nach den Vorstellungen derNS-Führung Sabotageakte im Hinterland des Feindes verüben soll-ten. Bis auf einzelne Ausnahmen blieb die nationalsozialistischeAufforderung mehr Fiktion denn Realität, was Amerikaner undBriten sehr schnell registrierten. Die sowjetische Besatzungsmachthatte aber vermutlich gar kein Interesse an einer solch realisti-schen Analyse. Ihr ging es lediglich um die Bestätigung verbreite-ter Propagandabilder. Nur so lassen sich die Verhaftungen tausen-der Jugendlicher, ihre Verurteilung als „Diversanten“ und „Terro-risten“ und insbesondere die „Werwolf-Hysterie“ erklären. BeiDurchkämmungsaktionen in Städten und Gemeinden wurden vonden verschiedenen sowjetischen Diensten oftmals Dutzende vonJugendlichen abgeholt. Neben solchen „planmäßigen“ Aktionengab es immer wieder auch Denunziationen, denen ebenfallsganze Gruppen angeblicher „Werwölfe“ zum Opfer fielen. Eines der bekanntesten Beispiele ist sicherlich das der 39 „Greuße-ner Jungs“, die im Winter 1945/46 vom NKWD verhaftet und imSommer 1946 von einem SMT zu Todes- und langjährigen Haft-strafen verurteilt wurden. In den vorangegangenen Verhören hatten sowjetische Offiziere nicht wenige von ihnen brutal miss-handelt. Auslöser der Verhaftungsaktion war ein Greußener kom-munistischer Hilfspolizist gewesen, der mit seinen wissentlich fal-schen Anschuldigungen seine Zurücksetzung gegenüber anderenKPD-Genossen kompensieren wollte. Trotz Eingaben der örtlichenParteien und der Bevölkerung kamen die überlebenden „Greuße-ner Jungs“ erst 1950 frei. Den Denunzianten verurteilte übrigensdas Landgericht Weimar 1949 nach Kontrollratsgesetz 10 wegenVerbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Freiheits-beraubung und Körperverletzung im Amt zu fünf Jahren Zucht-haus. In anderen Fällen reichten Kinder- bzw. Jugendstreiche, umBetroffene als „Werwölfe“ zu verurteilen. Ein derartiges Schicksalereilte beispielsweise die damals 14jähige Erika Grabe (verheirate-te Riemann), die heute ihre in Buchform veröffentlichten Erinne-rungen vorstellen wird. Sie hatte in der Schule ihrer Heimatstadt,dem thüringischen Mühlhausen, auf einem Foto Stalins Bart miteiner Schleife „verziert“. Ein Lippenstift bildete dabei ihr „Tat-werkzeug“. Für das SMT der 18. mechanisierten Division erfülltedas bereits den Tatbestand der „antisowjetischen Propaganda“.

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Das Gericht verurteilte sie dafür Anfang April 1946 zu zehn JahrenLagerhaft, die sie bis 1954 in verschiedenen Anstalten absitzenmusste. Für die anfangs 14jährige bedeutete dieser Urteilsspruch,dass sie fast ihre gesamte Jugend unter entwürdigenden Bedin-gungen verbringen musste und gesundheitliche Schäden davon-trug. Hart griff die Besatzungsmacht auch gegen tatsächliche oder ver-meintliche Spione, Doppelagenten, Grenzgänger und Reparati-onssaboteure durch. Amerikanische, britische oder französischeBemühungen, die militärische Dislozierung des bisherigen Verbün-deten auszuspähen, versuchte die sowjetische Besatzungsmachtmit allen Mitteln zu unterbinden. Der Einsatz früherer Wehr-machtoffiziere aus der Organisation Gehlen – früher: FremdeHeere Ost der militärischen Abwehr – bestätigte dabei sowjetischeFeindbilder einer groß angelegten „kapitalistisch-faschistischen“Verschwörung. Berechtigte Angst vor einer Ausspähung militäri-scher Geheimnisse und übertriebene Sicherheitsphobien spornteMoskau im Falle der SAG Wismut zur besonderen „Wachsamkeit“an. Zur Absicherung des hier betriebenen Uranabbaus und damitdes Atomprogramms wurden offenbar Mitte 1949 eine eigeneMilitärstaatsanwaltschaft und ein eigenes Militärtribunal einge-richtet. Als Ausdruck sowjetischer „Wachsamkeit“ kann auch ihr Vorge-hen gegen den ersten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Ber-lins, Erich Nelhans, gelten, dem die Besatzungsmacht vor allemaktive Fluchthilfe im Falle jüdischer Rotarmisten vorwarf. DerÜberlebende des Nazi-Regimes wurde im März 1947 verhaftet undim August 1948 vom SMT der SMAD wegen „antisowjetischer Pro-paganda“ und „ungesetzlichem Überschreiten der staatlichenGrenzen“ zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Konkret warfen ihmdie sowjetischen Richter vor, „aus feindlicher Gesinnung gegen dieSowjetunion heraus Ende 1945 auf eigene Initiative in Berlin eine‚Jüdische Gemeinde’ gegründet“ zu haben. Sowjetische Sicher-heitsphobien kamen in dem Vorwurf zum Ausdruck, Nelhans habe„unter dem Vorwand, der jüdischen Gemeinde Berlins materielleUnterstützung zu erweisen, im Auftrag der Amerikaner unter inDeutschland befindlichen, in moralischer und ideologischer Hin-sicht labilen sowjetischen Bürgern feindliche Tätigkeit betrieben[...] mit dem Ziel, letztere zum Landesverrat zu bewegen“. Außer-dem habe er über 2 000 jüdische Flüchtlinge aus sowjetischenLagern Berlins in den amerikanischen Sektor der Stadt geschleust.

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Kurz nach seiner Deportation starb Nelhans Anfang 1950 in derUdSSR. Harte Strafen zogen in der Regel auch vermeintliche oder tatsäch-liche Sabotagehandlungen deutscher Verwaltungsangestellternach sich. Dabei schreckten sowjetische Richter auch nicht voreiner Verurteilung prominenter Vertreter ihrer deutschen Auf-tragsverwaltung zurück, wie dies die Fälle des Rostocker Oberbür-germeisters Albert Schulz (SPD/SED) und des Auerbacher Landra-tes Hans Sammler (SPD/SED) zeigen. Schulz war im Mai 1947 vomSMT der Provinz Mecklenburg-Vorpommern wegen Sabotage zuzehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Als Vorwurf standenangeblich geheime städtische Finanztransaktionen nach Hamburgim Raum. Da jedoch kurz nach seiner Verhaftung die innerparteili-che Basis der SED zu rebellieren begann, wurde Schulz nach Ver-mittlung des SED-Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck drei Monatespäter wieder freigelassen und das Urteil von der Militärstaatsan-waltschaft der SMAD kassiert. Nach seiner Wiedereinsetzung insAmt – ein Novum in der Geschichte der SBZ – konnte Schulz alsRostocker Oberbürgermeister weiter amtieren. Kurz vor seinerzweiten Verhaftung flüchtete er im Jahre 1949 in den Westen.Weniger Glück hatte hingegen der Auerbacher Landrat HansSammler, der ebenfalls wegen Sabotage im Herbst 1946 zum Todeverurteilt und hingerichtet wurde. Dem von den Amerikanern inSüdwestsachsen eingesetzten SPD-Politiker warf die sowjetischeBesatzungsmacht u. a. die Verheimlichung alter Wehrmachtsbe-stände und seiner wahren Identität vor. Sammler, der schon vor1933 Mitglied der SPD in Ostpreußen gewesen war, hatte bei sei-ner Berufung im Mai 1945 die Tatsache verschwiegen, dass erwährend des „Dritten Reiches“ freiwillig und auf persönlichemWunsch Mitglied der NSDAP geworden war. Im Frühsommer 1945hatte er wiederum zu den Gründungsmitgliedern der SPD gezähltund Parteigenossen, die an seiner Vergangenheit zweifelten, mitpersönlichen Konsequenzen gedroht. Die sowjetische Besatzungs-macht nahm diese Hintergründe zum Anlass, den selbstbewusstenund von der KPD bekämpften Amtsträger auch physisch aus demWeg zu räumen.

Diktaturdurchsetzung und TerrorjustizDass die Urteilspraxis der Sowjetischen Militärtribunale in derSBZ/DDR nicht nur mit einem gerüttelt Maß an Willkür in Verbin-dung stand, zeigen nicht zuletzt mehrere Tausend Fälle, die eben-

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falls auf dem Staatsschutzparagraphen 58 basieren. Diese Urteilebelegen nämlich eine eindeutig politische Tendenz und sinduntrennbar mit der Durchsetzung einer neuen kommunistischenDiktatur verbunden. In den ersten Jahren nach 1945 verfolgte dieBesatzungsmacht beinahe ausschließlich durch ihre Militärge-richtsbarkeit Opponenten ihrer gesellschaftspolitischen Umwäl-zungen. Dabei rückten vor allem Gegner aus den Reihen der SPD,der CDU, der LDP, vereinzelt auch kommunistische Abweichler undProtagonisten der studentischen Jugend ins Visier der sowjeti-schen Sicherheitsorgane. Ab 1950 waren es dann Mitglieder der„Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) und des „Untersu-chungsausschusses freiheitlicher Juristen“ (UfJ), die mit ihren teilsaktivistischen Widerstand gegen die Diktatur zu den häufigerenOpfern zählten. Unseren Berechnungen zufolge stammen weitüber 3 000 Verurteilte aus den Reihen der bereits erwähnten Par-teien, davon etwa 2 500 aus der SED, bei denen es sich zum größe-ren Teil um ehemalige Sozialdemokraten handelt.Als Terrorinstrument gegen politische Widersacher des neuen Sys-tems wurden Militärtribunale ab Anfang 1946 gegen jene Sozial-demokraten eingesetzt, die sich einer Zwangsvereinigung ihrerPartei mit der KPD widersetzten. Insbesondere in Berlin, wo dieAuseinandersetzungen um die Einheitspartei eskalierten, verur-teilten SMT einige Dutzend SPD-Mitglieder. Betroffen warenneben Jugendlichen, die Plakate klebten, auch führende Politikerder Landespartei, die sich – wie etwa Julius Scherff – offen gegendie organisatorische Verschmelzung stellten. Einer besonderenGefährdung unterlagen dabei Mitglieder aus dem Ostsektor derStadt. Der damals nicht einmal 20jährige Hans Corbat musste z. B.seine politische Überzeugung mit 20 Jahren „Arbeitsbesserungsla-ger“ büßen. Auch außerhalb Berlins gingen die Sowjets gegenrenitente Sozialdemokraten vor. Zu denen, die nicht nur vorüber-gehend oder für einen längeren Zeitraum inhaftiert, sondern auchverurteilt wurden, zählte u. a. der stellvertretende SPD-Landesvor-sitzende Mecklenburg-Vorpommerns, Willy Jesse, den die Besat-zungsmacht in die Sowjetunion deportierte.In der Folge richteten sich Verhaftungen und Verurteilungengegen jene ehemaligen SPD-Mitglieder in der SED, die Sozialde-mokraten bleiben wollten und deshalb auch Kontakte zu den bei-den Ost-Büros der West-SPD nach Hannover und West-Berlin auf-nahmen. Die Zahl derer, die diese konspirativen Wege suchten,nahmen in dem Maße zu, wie Altkommunisten und Besatzungs-

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macht daran gingen, die Sozialdemokratie als geistigen und orga-nisatorischen Faktor in der SED zu liquidieren. Sozialdemokratenwie Benno von Heynitz, Fritz Geye oder Erich Schmidt musstenschon Ende 1947 bzw. Anfang 1948 mit Strafen von 25 JahrenArbeitslager einen hohen Preis für ihre unbeugsame Haltung zah-len. Sie wurden zumeist von sowjetischen Richtern als „Spione“und „antisowjetische Agitatoren“ verurteilt.Ähnliches passierte Mitgliedern und Politikern von CDU und LDP,die die schleichende Gleichschaltung ihrer Parteien und verschie-dener „Massenorganisationen“ durch SED und SMAD nicht längermitragen wollten. Im Zentrum der Verfolgung standen insbeson-dere 1947 führende Mitglieder der „Junge Union“, die am über-parteilichen Anspruch der FDJ festhalten wollten. Sowohl im Märzals auch im September 1947 wurden mehrere bekannte Vertreterder „Jungen Union“ verhaftet und vor sowjetische Gerichtegestellt. Dabei traf es u. a. den Landesjugendreferenten der CDUSachsen-Anhalts, Ewald Ernst, der durch sein Landtagsmandateigentlich Immunität genoss, das Zentralratsmitglied der FDJ,Manfred Klein (CDU), und den Verbindungsmann der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens zur FDJ-Landesleitung, WernerIhmels (CDU), der kurz nach dem Urteil in der Haft verstarb.Nach dem Scheitern der deutschlandpolitischen Verhandlungender Alliierten Ende 1947 und dem auch damit verbundenen Ent-schluss Stalins, die sowjetische Zone langfristig in den eigenenHerrschaftsbereich einzugliedern, nahmen Umfang und Qualitätder Verfolgungen sprunghaft zu. Sichtbares Zeichen der diktatori-schen Entwicklung war die endgültige Entwicklung der SED zurkommunistischen „Partei neuen Typus“, die im innerparteilichenGefüge den sozialdemokratischen Faktor flächendeckend auszu-schalten versuchte und sich in der Gesellschaft als „führende“ undallumfassende Kraft zu etablieren begann. Die völlige Unterord-nung und Unterwerfung der bürgerlichen Parteien (CDU und LDP)und der ohnehin schon abhängigen „Massenorganisationen“ wardie unausweichliche Folge. Ab Mitte 1948 gerieten so Hunderte Demokraten, egal ob Sozial-,Christ- oder Liberaldemokraten, in die Fänge der sowjetischenSicherheitsdienste und ihres deutschen Hilfsinstruments K 5. Nunwurde auch keine Rücksicht mehr genommen auf hochrangigeLandespolitiker wie etwa den thüringischen LDP-Fraktionsvorsit-zenden, Hermann Becker, oder den CDU-Bürgermeister von Pots-dam, Erwin Köhler. Während Becker zu einer langjährigen Frei-

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heitsstrafe verurteilt wurde, vollzog das SMT Potsdam an ErwinKöhler und seiner Frau Charlotte, die sich gleichfalls in der CDUpolitisch engagiert hatte, einen Justizmord. Beide CDU-Politikerwurden im Februar 1951 im Moskauer Butyrka Gefängnis erschos-sen. Einen besonderen Aderlass mussten ab 1948 junge Liberale hin-nehmen, die als kritisches Gewissen ihrer eigenen Partei und derSBZ-Gesellschaft galten. Ohne Rücksicht auf seine Wahlfunktionals Studentenratsvorsitzender der Universität Leipzig wurde so z. B. im Herbst 1948 Wolfgang Natonek verhaftet und zu 25 Jah-ren Lagerhaft verurteilt. Der charismatische Nachwuchspolitikerhatte sich öffentlich und innerhalb der LDP gegen das System derPlanwirtschaft und für politischen Pluralismus ausgesprochen. ImFalle des Studentenführers und Landesjugendreferenten der LDPMecklenburg-Vorpommerns, Arno Esch, ging die Militärgerichts-barkeit noch einen Schritt weiter: Esch wurde 1950 zusammen mitjungen politischen Freunden zum Tode verurteilt und erschossen.Als Rechtsgrundlage fungierte in der Mehrzahl der Fälle die Arti-kelkombinationen 58-6 („Spionage“), 58-10 („antisowjetische Pro-paganda“) und 58-11 („antisowjetische Organisation“). Mit denselben sowjetischen „Rechtsgrundlagen“ wurden im Rah-men der großen Verfolgungswelle auch jene früheren SPD-Mit-glieder konfrontiert, die der Umwandlung der SED in eine kom-munistische „Partei neuen Typus“ – d. h. der Rückverwandlung derSED in die KPD – im Wege standen. Auch in diesen Fällen nahmenAltkommunisten und Besatzungsmacht keinerlei Rücksicht mehrauf Bekanntheitsgrad oder Alter der Betroffenen – und auch nichtauf bereits erfolgte Haft in der Nazi-Zeit. Verhaftet und verurteiltwurden nun z. B. die Oberbürgermeister von Rudolstadt, GustavHartmann, von Aue, Alfred Franz, und von Werdau, GerhardWeck. Sie alle hatten ebenso wie die Landratsangestellten vonSaalfeld und Gardelegen, Hermann Kreutzer und Dieter Rieke,Kontakte zu den Ostbüros der SPD unterhalten und sich gegen dieBolschewisierung der SED gewandt. Gleiches galt für die ehemali-ge Führung der Dresdner SPD, die fast geschlossen verhaftet undverurteilt wurde. Unter den Verfolgten zählten hier der früheresächsische SPD-Generalsekretär, Arno Haufe, und der DresdnerSPD-Vorsitzende Arno Wend.Nicht wenige der Repressierten hatten schon einmal – nämlichwährend der Zeit des „Dritten Reiches“ – politische Strafjustiz undHaft erleiden müssen. Arno Wend gehörte beispielsweise 1933 zu

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den ersten Insassen des von der SA bewachten „Schutzhaftlagers“Hohnstein in der Sächsischen Schweiz, das sich in der „Umerzie-hung“ der Häftlinge durch besondere Grausamkeiten „auszeich-nete“. Das frühe schlesische KZ Dürrgoy und die brutalen Miss-handlungen durch die SA hatte der ehemalige Breslauer Gewerk-schaftsführer Hermann Meise nur mit Mühe überlebt. Dienochmalige Verhaftung und Verurteilung durch ein SMT im Jahre1949 überlebte der Hochbetagte nur um wenige Jahre. Meisestarb noch während der Haft im Zuchthaus Bautzen. Meise hattees gewagt, den kommunistischen Gleichschaltungsdruck im FDGBzu kritisieren und mit politischen Weggefährten aus Breslau, wiedem früheren Reichstagspräsidenten, Paul Löbe, weiter in Kontaktzu bleiben.

ResümeeZweifellos ist der Fall des früheren Gewerkschaftsführers HermannMeise ein exemplarisches Beispiel dafür, dass es gerade couragier-te Demokraten waren, die den totalitären Staatsparteien bei ihrerHerrschaftsetablierung im Wege standen. Sie haben in nicht weni-gen Fällen die Hölle der Lagerwelt gleich zweimal erlebt und wur-den dabei Opfer sowohl des braunen als auch des roten Terrors.Wenn wir heute zu Recht der Opfer der sowjetischen Militärge-richtsbarkeit und der sowjetischen Lager erinnern, dann gehörengerade diejenigen, die zweimal Freiheit und Leben für Demokra-tie und Rechtsstaat wagten, in die erste Reihe der Erinnerungs-würdigen.

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Jörg Rudolph

Totenbuch deutscher Opfer des stalinistischen Terrors auf demMoskauer Friedhof Donskoje

Sehr geehrte Damen und Herren,

einen herzlichen Dank an den Veranstalter, dass wir an dieser Stel-le unser internationales Forschungsprojekt für ein „Totenbuchdeutscher Opfer des stalinistischen Terrors auf dem MoskauerFriedhof Donskoje“ vor dem heutigen Publikum vorstellen dürfen.Seit Anfang diesen Jahres arbeiten die Moskauer Menschenrechts-organisation Memorial und das Historische Forschungsinstitut Ber-lin – Facts & Files – gemeinsam an einem biographischen Verzeich-nis deutscher Staatsbürger, welche von Sowjetischen Militärtribu-nalen zur Höchststrafe – dem Tod – verurteilt, nach Moskauverschleppt und im dortigen Durchgangsgefängnis Butyrkaerschossen worden sind. Die Forschungs- und Archivarbeiten wer-den im Rahmen eines Projektes durch die Stiftung zur Aufarbei-tung der SED-Diktatur Berlin für das Jahre 2004 gefördert.

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Der Geheimdienst ließ seine Opfer aus allen Teilen des Sowjetim-periums im ehemaligen Krematorium auf dem Gelände des ent-eigneten Klosters Donskoje im Südwesten Moskaus einäschern.Ihre Asche wurde auf dem hinteren Teil des gleichnamigen Fried-hofs ausgestreut. Die Menschenrechtsorganisation Memorialschätzt die Zahl der auf jenem Friedhof verscharrten Opfer vor-sichtig auf 7 000 Personen; etwa 5 000 von Ihnen sind heutenamentlich bekannt. Etwa 1 000 Deutsche aus der DDR und der BRD wurden in den Jah-ren 1950 bis 1953 verhaftet, vor Sowjetischen Militärtribunalen(SMT) zum Tode verurteilt und in Moskau exekutiert. Die Höchst-strafe – gegen jedes geltende internationale und nationale Rechtvon sowjetischen Militärrichtern verhängt – traf vermeintliche„Terroristen“, „Staatsfeinde“ und Angehörige „bewaffneter anti-sowjetischer Banden“. Hierzu bedienten sich die Militärrichter ausdem Kanon des § 58 im Sowjetischen Strafgesetzbuch.Jugendlicher Widerstand, nachrichtendienstliche Arbeit sowieoffene oder verdeckte politische Arbeit gegen die Besatzungs-macht, wie die Verteilung von Flugblättern der „KgU“ in der DDR,führten zumeist zu jenem völlig überzogenen und unmenschli-chen Strafmaß. Lassen Sie mich an dieser Stelle über 50 Jahrezurückgehen und hier kurz ein Schicksal vorstellen, welches auftraurige Art mit der Haftstätte Bautzen verknüpft ist. Kurt Kieckbusch, Jahrgang 1927, geboren in Anklam, von BerufGlaser und seit 1946 aktiv in der LDP Mecklenburgs tätig, wurdeim Herbst 1949 von der deutschen Polizei verhaftet und am 6. November des gleichen Jahres vor einem SMT in Schwerinwegen „Spionage, illegaler Organisation“ und „antisowjetischerPropaganda“ zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. In jenem Jahrwurden keine Todesurteile gefällt. Sein „Verbrechen“: er wirkteim Kreise von Arno Esch aktiv für ein demokratisches Deutschland.Am 2. September 1950 übernahm die Deutsche Volkspolizei KurtKieckbusch im Strafvollzug Bautzen aus der Hand der „Freunde“,um ihn dann am 28. Oktober 1950 erneut der Sowjetischen Kon-trollkommission (SKK) in Berlin-Lichtenberg zu übergeben. Erst imJuni 1960 archivierte die Strafvollzugsverwaltung laut SMT-Karteider Deutschen Volkspolizei – heute im Bundesarchiv Berlin greif-bar – in der Anstalt Bautzen die Häftlingsakte. Weder aus diesernoch aus anderen Quellen geht sein weiteres Schicksal hervor. Kurt Kieckbusch wurde gemeinsam mit seinem Parteifreund Rein-hold Posnansky am 23. November 1950 vom Militärtribunal des

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Stützpunktes Nr. 48240 erneut verurteilt, diesmal zum Tode. SeinGnadengesuch lehnte der Oberste Sowjet am 24. März 1951 ab;fünf Tage später vollstreckte der Henker in Moskau das Urteil imKeller der Butyrka. Reinhold Posnansky wurde am gleichen Tageam gleichen Ort erschossen. Jahre später teilte das russische RoteKreuz, nach heftigem Drängen der DDR-Innenverwaltung ein inder Lubjanka um zwei Jahre verfälschtes Todesdatum mit: den 29. Mai 1953. Erst mit einem Artikel der Moskauer Abendzeitungvom April 1998 konnte sein Schicksal gemeinsam mit dem von 26anderen Deutschen geklärt werden. Im Rahmen des hier vorge-stellten Forschungsprojektes konnten 2004 die versplitterten In-formationen zusammengeführt werden.Nach dem bisherigen Stand unserer Forschung zählen Kieckbuschund Posnansky zu den ca. 600 Deutschen, welche sicher auf demFriedhof Donskoje ihre letzte Ruhe fanden. Für diese und weitere400 Personen, welche nach bisher vorliegenden Informationen dasgleiche Schicksal erlitten haben und mit hoher Wahrscheinlichkeitebenfalls in Moskau bestattet sind, benötigen wir Ihre Hilfe. ImEinzelnen sind dies: Verzeichnisse, Haftlisten sowie weitere Erinnerungen an möglicheOpfer,Kopien amtlicher Dokumente aus deutschen und russischen Archi-ven (z. B. Rehabilitations-Urkunden),Lebensläufe und andere biographische Daten zu den Toten,Porträtaufnahmen oder andere Fotos einschließlich persönlicherDokumente,Hinweise auf und Kontaktdaten zu den Angehörigen und For-schern,Angaben zur Verfolgungsgeschichte der gesuchten Personen (Ver-haftungsort und -grund, Daten zur Verurteilung wie Gerichtsna-me, Urteil und Ort, Daten der Hinrichtung und Rehabilitation),Hinweise auf Publikationen, Forschungsprojekte, Ausstellungenund biographische Quellen aller Art.Im Gegenzug bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit bei derKlärung von Schicksalen an, sofern die Betroffenen in den obenbeschriebenen Kreis der Opfer gehören könnten. Das Projekt istebenfalls im der jüngsten Nummer vom „Stacheldraht“ (3/2004)vorgestellt, auch dort finden Sie alle wichtigen Daten für eineKontaktaufnahme.Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, im Anschlussstehe ich Ihnen für Rückfragen zu Verfügung.

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Podiumsgespräch

Haftschicksale und Hafterfahrungen

Jan von Flocken, Lothar Otter, Erika Riemann, Horst SchülerModeration: Silke Klewin

Klewin: „Haftschicksale und Hafterfahrungen“ ist der Titel unseres Podi-umsgespräches. Es ist mir eine besondere Ehre, Ihnen die Teilneh-mer des Podiums vorzustellen, die uns ihre persönlichen Erfahrun-gen mit dem Repressionsapparat, der Ihnen heute Vormittag vonDr. Hilger und Dr. Schmeitzner vorgestellt wurde, zu berichten.Erika Riemann, geboren 1930 in Thüringen. Frau Riemann beginntnach dem Krieg, mit 14, eine Friseurlehre, wird Ende 1945 kurzzei-tig durch das NKWD verhaftet. Im Januar 1946 wird sie erneutfestgenommen, und von einem SMT wegen „antisowjetischer Pro-paganda“ zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihre Haftstatio-nen sind Torgau, Bautzen, Sachsenhausen, Hohenschönhausenund Hoheneck. Im Januar 1954 wird sie zu ihren Angehörigennach Hamburg entlassen, arbeitet dann im Anschluss in den ver-

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schiedensten Bereichen: Als Verkäuferin, als Gymnastiklehrerin, alsBardame und Krankenpflegerin. Frau Riemann war zweimal ver-heiratet, hat drei Kinder und fünf Enkel. Im Jahre 2002 veröffent-lichte sie ihre Hafterinnerungen unter dem Titel „Die Schleife anStalins Bart“.Horst Schüler, 1924 in Potsdam-Babelsberg geboren. Sein Vater,SPD-Mitglied, starb 1942 im KZ Sachsenhausen. Herr Schüler war1941 bei der Luftwaffe, geriet kurzzeitig in sowjetische Kriegsge-fangenschaft, und begann nach seiner Heimkehr in Potsdam einVolontariat bei einer Zeitung. 1951 wurde er vom NKWD verhaf-tet, von einem SMT wegen „Spionage“ zu 25 Jahren Zwangsarbeitverurteilt und in das Zwangsarbeitslager Workuta transportiert.1955 wurde er entlassen. Herr Schüler ging in den Westen, wo erin Kassel und Eschwege journalistisch, und schließlich von 1964 bis1989 für das Hamburger Abendblatt als Redakteur tätig war. Seit1995 ist Herr Schüler der Sprecher der Lagergemeinschaft Workutaund der Vorsitzende der Union der Opferverbände kommunisti-scher Gewaltherrschaft (UOKG). Horst Schüler ist Träger des Bun-desverdienstkreuzes am Bande und des Bundesverdienstkreuzeserster Klasse.Als nächstes darf ich Ihnen Lothar Otter vorstellen. Herr Otter ist1931 in Berlin geboren, wohnte nach dem Krieg im sowjetischenSektor Berlins, und war Mitglied der SPD-Jugendorganisation „DieFalken“. 1949 wurde er durch das NKWD verhaftet und im Juli1949 wegen „antisowjetischer Propaganda und illegaler Gruppen-bildung“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er wurde nachBautzen eingewiesen, erlebte hier auch die Übergabe des Lagersan die Deutsche Volkspolizei 1950 und die Häftlingsaufstände am13. und 31. März 1950. Ostern 1955 wurde er entlassen und floh indie BRD. Er war dann bei einer Standortverwaltung der Bundes-wehr tätig. 20 Jahre, bis zu seinem Ruhestand 1991, arbeitete erschließlich im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, wo erzum Schluss die Position eines Regierungsdirektors innehatte.Lothar Otter ist zweiter Vorsitzender des Arbeitskreises ehemali-ger politischer Häftlinge der SBZ/DDR.Ergänzt wird die Runde durch Jan von Flocken. Herr von Flockenist 1954 in Borna bei Leipzig geboren und begann nach dem Abi-tur zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften, wurde hieraber wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“ exmatrikuliert undist zur „Bewährung“ in die sozialistische Produktion gekommen.Er arbeitete dann bei der Zeitung der LDPD „Der Morgen“ als

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Journalist und absolvierte ein Fernstudium als Historiker an derHumboldt-Universität in Berlin. Nach 1990 war Herr von Flockenzunächst bei der Morgenpost, und heute ist er Redakteur beimNachrichtenmagazin FOCUS. Viele von Ihnen kennen Herrn vonFlocken in der Namenskombination Klonowsky/von Flocken. Das Buch ist ja relativ bekannt. Herr von Flocken ist Autor des1991 veröffentlichten Werkes „Stalins Lager in Deutschland 1945–1950.“Ich möchte jetzt die Zeitzeugen des Podiums in einer ersten Rundebitten, uns zu berichten, welche reale Grundlage die Urteile bzw.diese Tatvorwürfe hatten. Zunächst möchte ich Frau Riemann bit-ten, uns zu erzählen, was der Grund ihrer Verhaftung war und wiees zu der Festnahme durch das NKWD kam.

Riemann: Zu der Festnahme kam es, wie ich vermute, durch einen Verratoder ein Anschwärzen. Ich habe in der Schule eine Schleife an Sta-lins Bart auf einem Bild gemalt. Wir waren acht Schülerinnen, diewaren um mich herum. Natürlich haben die das zuhause auch wei-ter erzählt, und irgendein Vater oder eine Mutter hatte wohl mitdem NKWD zusammengearbeitet. So ist das ans Licht gekommenund ich wurde verhaftet. Es ist nur eine Vermutung, ich weiß esnoch nicht genau. Am 22. Juni habe ich Akteneinsicht bei derBirthler-Behörde in Chemnitz, dann werde ich etwas schlauer sein.

Klewin: Ich möchte im Anschluss auch Herrn Otter bitten, uns zu erzählen,wie es zu seiner Verhaftung kam.

Otter: Ich wohnte im Ostsektor von Berlin und gehörte der Jugendorga-nisation „Die Falken“ an, dort war ich Gruppenleiter. Ich persön-lich habe mich sehr erregt über die Blockade von Berlin, über dieSpaltung der Verwaltung, die mich auch betroffen hat. Ich wurdeals Mitglied der Jugendorganisation der SPD sofort rausgeworfen.Ich hatte im Bezirksamt Lichtenberg eine Verwaltungslehrebegonnen. Zum Glück durfte ich meine Lehre in West-Berlin fort-setzen, wohnte aber weiterhin bei meinen Eltern in Ost-Berlin.Anfang Dezember, als die Wahlen in West-Berlin stattfanden,wurde im Ostsektor die Wahl untersagt, weil die SED befürchtete,dass sie nur ganz geringe Stimmenzahlen bekommen würde.

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Während einige von unseren Gruppenmitgliedern Plakate für dieSPD klebten, auf denen aber nichts gegen die Sowjetunion, nichtsgegen die SED stand, sondern nur „Leben wollen wir. Arbeitenwollen wir. Freie Menschen wollen wir sein.“ Dieses Plakat warvon der Alliierten-Kommandantur genehmigt worden, und trotz-dem wurden diese Mitglieder von der Polizei in Ostberlin festge-nommen und später den Russen übergeben. Wenn die erst jemanden in den Klauen hatten, kam man nichtmehr weg. Es wurden dann Hausdurchsuchungen gemacht, undirgendetwas fand man immer. Wir wussten ja nicht, dass unsereMitglieder festgenommen waren, sie waren einfach verschwun-den. Weder die Polizei noch die russische Kommandantur gabirgendeine Auskunft. Daraufhin kamen wir auf die Idee, Flugblät-ter zu verfassen zum 30jährigen Todestag von Rosa Luxemburgmit Zitaten von ihr. Wir dachten, die Sowjetunion schätzt RosaLuxemburg, also kann uns da gar nichts passieren. Und zum 30.Todestag haben wir die Flugblätter in Berlin aus den S-Bahn-Zügen flattern lassen. Wir haben sie in allen möglichen Zügen ver-teilt. Wie es später dazu gekommen ist, dass einer der Beteiligtenfestgenommen wurde, kann ich nicht sagen. Nach mehrerenMonaten in Hohenschönhausen im Keller und mit Schlafentzug

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hat derjenige meinen und auch einige andere Namen genannt. Sokam man dann also auf mich. Ich wurde dann von der Volkspolizei im eigenen Haus festgenom-men, und zwar vom Hausobmann, der bei der Polizei tätig war,und einem weiteren Mann. Unter Androhung von Waffengewaltwurde ich zur Polizei zur „Feststellung von Sachverhalten“gebracht. In der Nacht kamen dann die Russen und von da ausging es dann nach Hohenschönhausen. Dort wurde ich mehrereMonate lang vernommen, kam später nach Lichtenberg zum sow-jetischen Militärtribunal. In einem Geheimprozess wurden wir allezusammen verurteilt, obwohl wir uns untereinander teilweise garnicht kannten. Aber es war eine illegale Gruppe. Zwei alleinekonnte man nicht verurteilen, also brauchte man mehrere. Vondort aus sind wir dann per Gefangenentransportwagen vom Ost-Berliner Bahnhof nach Bautzen gekommen.

Klewin: Frau Riemann, wie verlief denn ihre Gerichtsverhandlung, wo ihrVergehen doch einzig und allein darin bestand, eine Schleife aufdas Bild Stalins gemalt zu haben?

Riemann: Die Gerichtsverhandlung war vor einem Militärtribunal und dieAnklage lautete „Beleidigung der Roten Armee“. Man hatte wäh-rend der Verhöre versucht, mir eine Werwolf-Tätigkeit anzuhän-gen. Ich wusste gar nicht, was der Werwolf war, das habe ich dannerst später im Lager von meinen Mithäftlingen erfahren. Aber ichhabe nie ein Protokoll unterschrieben. Ich wurde dann nach § 58,Abs. 2 zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Davonhabe ich acht Jahre und sechzehn Tage abgesessen. Aber in Sibi-rien bin ich nicht gewesen.

Klewin: Horst Schüler, würden Sie uns bitte über Ihr Schicksal berichten?

Schüler: Ich war junger Journalist in Potsdam. Als ich aus sowjetischerKriegsgefangenschaft heimkehrte, war ich wirklich ehrlichen Wil-lens gewesen, als Angehöriger einer verratenen Generation mit-zuhelfen, ein neues, ein besseres Deutschland aufzubauen. AlsJournalist hat man dann sehr schnell gemerkt, dass wir nur von

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einer Diktatur in die andere geraten waren, dass die braunen Her-ren nur die Farbe gewechselt hatten, aber mit den gleichenMethoden arbeiteten. Mein anfänglicher Wille, an diesem neuenDeutschland mitzuarbeiten, wurde also sehr schnell zu einer Geg-nerschaft zu dem kommunistischen System. Als ich schließlich auf-gefordert wurde, meine spätere Frau und auch Kollegen zubespitzeln, entschloss ich mich, aus der passiven Gegnerschaft zumaktiven Widerstand zu wechseln. Besser wäre es gewesen, ausdem nahen Potsdam zwei S-Bahn-Stationen weiter zu fahren undsofort in West-Berlin ansässig zu werden. Aber da ich durch dasSchicksal meiner Familie Opfer des Faschismus geworden war, warich des naiven Glaubens, man würde mir so leicht nichts tun. Ich hatte im Zuge dieses Widerstandes Kontakt zu West-BerlinerStellen, KGU, Ostbüro, habe für West-Berliner Zeitungen geschrie-ben. Als einer der West-Berliner Leute, mit denen ich Kontakthatte, 1951 aus West-Berlin entführt wurde, war es nicht allzuschwer, aus ihm die Namen der Leute herauszupressen, mit denener zusammen gearbeitet hat.

Klewin: Ich würde gerne zunächst Frau Riemann bitten, uns über die Sta-tionen ihrer Haft zu berichten. Die Stationen waren ja sehr zahl-reich. Sie waren zunächst in Torgau.

Riemann: Ja, manchmal weiß ich selbst die Reihenfolge nicht mehr genauund muss nachdenken oder bei meinen Kameradinnen nachfra-gen. Die erste Station war Ludwigslust, die zweite war Schwerin,und dann kam Torgau. Danach Bautzen, dann Sachsenhausen, undvon Sachsenhausen ging es nach Hoheneck.

Klewin: Mich würden die Haftbedingungen interessieren. Was waren dieeindringlichsten Erfahrungen, die Sie machen mussten? Gab esUnterschiede in diesen verschiedenen Häusern?

Riemann: Es gab Unterschiede. Aber in allen Häusern waren der Schmutzund das Ungeziefer gleich. Auch der Hunger war überall gleich, jenachdem, wie man sich zurechtgefunden hat oder wie man sichseine Welt gezimmert hat. Schlimm waren sie alle.

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Klewin: Unterschieden sich die Haftbedingungen für Frauen von den Haft-bedingungen für Männer?

Riemann: Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich war nur mit Frauenzusammen. Was ich von den Haftbedingungen der Männer weiß,das habe ich nur gehört. Aber es ist wohl genauso schlimm gewe-sen wie bei uns Frauen, da hat man keine Rücksicht genommen.

Klewin: Herr Otter, als Sie nach Bautzen kamen, was fanden Sie vor? Wiewar der Tagesablauf, wie war die Unterbringung?

Otter: In Bautzen wurden wir beim Ankommen erst mal aller Kleidungentledigt, und vom Scheitel bis zur Sohle wurden alle Haare ent-fernt mit der Begründung, das sei aus hygienischen Gründen. Dashatte eine gewisse Berechtigung, denn in allen Institutionen die-ser Art – außer Hohenschönhausen, da war es zu nass in den Kel-lern – war Ungeziefer an der Tagesordnung. Die Verpflegung warnatürlich miserabel. Es gab ja auch draußen noch längere ZeitLebensmittelkarten, und für Gefangene hatte man eben nichtallzu früh übrig. Ich habe in Bautzen das erste Mal etwas Positiveserlebt, und zwar einen Strohsack. Während wir in Hohenschön-hausen monatelang nur auf blanken Holzbrettern liegen mussten,ohne Decken, ohne eine Möglichkeit sich zuzudecken, bekamenwir in Bautzen eine Decke und konnten auf einem Strohsack lie-gen. Ich habe gestern Abend mit Herrn Timtschenko zusammen geses-sen und er fragte mich, was mich belastet hat. Als ich sagte, dasswir jahrelang kein Toilettenpapier hatten, meinte er, das sei nichtso schlimm, in Russland hätten sie auch immer Zeitungspapiergenommen. Ich musste ihm also erklären, dass ich mit Toilettenpa-pier jede Möglichkeit des Benutzens irgendeines Artikels meinte.Wir haben von unseren Hemden immer ein Stück abgerissen, umuns zu säubern, und am Schluss hatte man nur noch ein Leibchenan, und das Hemd war so gut wie aufgebraucht. Wir hatten Hoffnung, als wir im Januar 1950 davon erfuhren, dassdie Volkspolizei käme und wir von den Russen übernommen wer-den würden. Aber es wurde nicht besser, im Gegenteil. Die Ver-

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pflegung verschlechterte sich zunehmend, was dann zu den Hun-geraufständen im März führte. Alle Versprechungen nach demersten Streik, es würde sich bessern, haben nichts gefruchtet, imGegenteil, die Verpflegung wurde immer schlechter. Die Voposbegründeten das damit, dass das Gelbe Elend für 1 200 Häftlingegebaut sei, und wir waren zwischen 7 000 und 8 000 dort. Dem-entsprechend musste die Verpflegung heran geschafft werden.Die Russen hatten sogar die Kartoffelmieten, die innerhalb dereinzelnen Höfe waren, abgefahren. Es war also nichts mehr da.Zur Unterbringung: in jeder so genannten Ein-Mann-Zelle warenvier Leute untergebracht. Es gab ein Klappbett und ein dreistöcki-ges Holzregal, in dem wir dann lagen. So haben die Nazis ihreGegner umgebracht, und – wie Herbert Wehner sagte – die rotla-ckierten Nazis haben sich da etwas anderes ausgedacht.

Klewin: Herr Schüler, Sie waren viele Jahre in Workuta. Erklären Sie uns,was sich hinter dem Wort Workuta versteckt!

Schüler: Workuta als Stadt oder Ort gab es in den dreißiger Jahren nochnicht. Da gab es nur einen Fluss namens Workuta. Als in dieserGegend sehr reiche Kohlevorkommen entdeckt wurden, hatteman beschlossen, diese Energie für die Industriemacht der Sowjet-union zu nutzen. Man hat keine Freiwilligen dorthin bringen kön-nen, Workuta liegt nämlich nördlich des Polarkreises. Dort sindacht bis neun Monate Winter mit Spitzengraden bis zu 60 Gradminus. Es gibt Schneestürme, deren Gewalt man sich in unserenBreiten nicht vorstellen kann. So konnten wir uns im Lager nur anSeilen entlang bewegen. Workuta hat allein schon aus klimati-schen Gründen bei den Russen den Namen „Die Heimat des Teufels“. Da man aber die dort vorhandenen Kohlevorkommenausbeuten wollte, haben Stalin und seine Schergen auf daszurückgegriffen, was sie in der Sowjetunion als einziges im Über-fluss hatten, nämlich Gefangene. In den dreißiger Jahren wurden also die ersten Gefangenen nachWorkuta geschickt, sie hausten noch in Erdlöchern, wärmten sichnachts einer an dem anderen. Das war ein Dasein, das man nichtmehr als Leben bezeichnen kann. Sie hungerten, sie froren, siewurden geschunden, geschlagen. Sie bauten eine Eisenbahnlinie,unter der – wie es heute heißt – unter jeder Schwelle ein bis zwei

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Tote liegen. Sie bauten anfangs einige Baracken für ihre Bewacherund die Bergwerksingenieure. Aus diesen wenigen Baracken ent-stand dann eine kleine Ansiedlung, entstanden die Lager. Worku-ta bekam 1941 erst Stadtrechte. In der „Blütezeit“ gab es in Wor-kuta etwa 40 Lager mit weit über 100 000 Häftlingen. Die meistenvon ihnen waren politische Häftlinge gewesen, aber es gab auchKriminelle, Blatnois, die die eigentlichen Herrscher in den Lagernwaren. Kein Wachtposten wagte es, sich mit einem von ihnenanzulegen. Sie lebten nach ihren eigenen Gesetzen. Diese Gesetzeverboten ihnen unter anderem, jede Arbeit zu leisten. Es gab eini-ge von diesen Blatnois, die ihrer Organisation abtrünnig wurden,die nannte man die Sukis. Die nahmen irgendwelche leichte, ein-trägliche Posten in den Lagern an. Diese beiden Gruppen, dieSukis und die Blatnois, trugen untereinander Kämpfe aus, die anGrausamkeit kaum noch zu überbieten waren. Wenn man Ihnenerzählt, dass man hin und wieder den abgeschlagenen Kopf einesMenschen in einem Kochkessel wieder fand, ist das keine Horror-geschichte, sondern die Wahrheit. Wir selbst arbeiteten in den Bergwerken. Je nach Arbeitskatego-rie, in die man bei der Einweisung im Lager eingeteilt war. Es gabfünf Kategorien: die Kategorien 1 und 2 waren für Arbeit unterTage, Kategorie 3 war für Arbeit in den Bergwerken über Tage,

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Kategorie 4 für leichte Arbeit in den Lagern, Kategorie 5 warpraktisch tot.

Klewin: Sie sind alle drei zu Zwangsarbeit verurteilt gewesen. Deshalbjetzt noch einmal die Frage an Frau Riemann und Herr Otter: wiewar das bei Ihnen mit der Arbeit in den Lagern?

Otter: In Bautzen gab es wegen der Überfüllung keine Arbeit. Die frühe-ren Arbeitssäle sind mit Häftlingen belegt gewesen. Dies ändertesich, als nach einigen Jahren ein Teil der Häftlinge verlegt wurde,zum großen Teil nach Torgau. Dann hat man Arbeitssäle einge-richtet. Ich habe in den letzten zwei Jahren meiner Haft in derSchneiderei gearbeitet. Erst als so genannter Handnäher – alsoKnöpfe annähen oder das Innenfutter in Jacken und Mänteln fest-nähen. Dann kam die Entlassung 1954, es sind etliche TausendLeute entlassen worden, und von da an musste ich in das sogenannte Band als Maschinennäher. Ich habe ein paar Stoffstrei-fen bekommen, um an der Maschine nähen zu lernen. Wir arbei-teten drei Schichten. Von Ruhe während der schichtfreien Zeit warkaum zu reden, denn es lagen meist zwei Schichten, oder Teiledavon, auf einem Saal, es war ein ständiges Kommen und Gehen,so dass man nie vernünftig Ruhe hatte. Es passierte auch, dass ichmit einem Daumen beim Steppen des Stoffes unter die Nadel kam,und mich dann selbst festgenäht habe.Wir arbeiteten in der letzten Zeit für VEB Kleidermacher Dresden.Es wurden immer wieder Zettel in das Futter eingebaut, dass dieseKleidung von Tbc-Kranken hergestellt worden sei. Wir haben auchfür das russische Militär Regenmäntel gearbeitet, die dann aberdie Schneiderei mit kleinen Löchern verlassen haben, in der Hoff-nung, dass das denen nicht zu warm wird in den Mänteln.Nach zwei Jahren Arbeit – die Volkspolizei hat ja die Verpflegung,die Überwachung und die Unterkunft abgerechnet – habe ich beimeiner Entlassung eine Fahrkarte nach Berlin bekommen und 50DDR-Mark. Dazu zwei trockene Brötchen und ein Stück harteWurst.

Klewin: Frau Riemann, wie war das mit der Arbeit im Bautzener Lager undin den anderen Gefängnissen?

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Riemann: Arbeit war so gut wie keine da. Wir hatten auch eine Schneidereioder ein Malerkommando oder eine Küche. Ich persönlich hattedas Glück, im Lagertheater Sachsenhausen zu arbeiten. Das war zuder damaligen Zeit eine große Erleichterung. Dann wurde ich inHoheneck von einer Russin im Schnellkurs als Gymnastiklehrerinausgebildet. Hoheneck war total überfüllt. Es war für 600 einge-richtet, und wir sind mit 1 200 oder 1 300 Frauen angekommen.Wir haben dort auf engstem Raum zusammengelebt, keineArbeit, keine Bewegung. Es wurden sehr viele krank und schwach.Obwohl wir der Volkspolizei übergeben worden waren, hattenweiter die russischen Behörden das Sagen. Eine Kommission stelltefest, dass unser Gesundheitszustand miserabel war, und deshalbwurde diese Gymnastik angeordnet. Und so mussten alle Frauenbeim Freigang immer rundherum im Hof spazieren gehen und ichmusste ein paar Übungen mit ihnen machen. Das ging so den gan-zen Tag, bis alle Frauen durch waren. Die ersten Tage ist mir dassehr schlecht bekommen, denn ich hatte auch ganz schönen Hun-ger. Den ganzen Tag an der freien Luft zu sein, war auch nicht soeinfach. Dann hatte ich noch ein schönes Erlebnis: wir hatten jakeine Unterwäsche, sondern die grauen Häftlingsanzüge mit grü-nen Streifen und lose Jacken. Ich hatte mich in der Zeit auch einbisschen entwickelt und bekam Busen, trotz der schlechten Ernäh-rung. Und bei einer Gymnastikübung rutschte mir die Jacke überden Kopf und ich stand fast mit entblößtem Oberkörper da. DieVolkspolizisten waren dann doch sehr ärgerlich darüber, und ichdurfte mir einen Zug in die Jacke machen lassen, dass ich daszubinden konnte. Das war dann meine erste Garderobe, abereinen Büstenhalter hatte ich zu der Zeit auch noch nicht.

Klewin: Herr von Flocken, 1991 haben Sie ein Buch herausgebracht miteinem Titel, der wahrscheinlich viele überrascht hat. Das Themawar damals auch noch gar nicht besonders bekannt. Können Sieuns erzählen, wie Sie auf die Idee gekommen sind, dieses Buch zuschreiben?

von Flocken: Es fing ganz unspektakulär an, mit einem Brief, der mich Ende1989 erreichte, von einem Mann aus einem kleinen Dorf in Bran-denburg. Man erinnert sich vielleicht noch, das war die Zeit, in der

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DDR-Journalisten die große Freiheit hatten. Man durfte über allesschreiben, was man wollte. Ich habe das auch fleißig getan, wasgerade die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte anging. Dieser Mann fragte mich in dem Brief, warum ich nicht einmaletwas über die Lager nach 1945 schreibe. In Sachsenhausen undBuchenwald sei er gewesen. Dann fielen mir völlig unbekannteNamen wie Jamlitz und Ketschendorf. Ich habe mich gefragt, waser mit Buchenwald und Sachsenhausen wollte. Ich war doch Histo-riker und wusste, dass 1945 die Befreiung war. Ich habe ihn ange-rufen und gefragt, ob er sich da sicher sei, was er bejahte. Ichhabe ihn dann gefragt, ob er sich Aufzeichnungen gemacht habe,und er sagte: Ja, 150 Seiten. Unmittelbar nach seiner Haftentlas-sung habe er das geschrieben, und es noch nie jemandem gezeigt.Wenn ich wolle, könne ich gerne Einsicht nehmen. Das habe ichgetan, fast in einem Zuge. Als ich fertig war, dachte ich, entwederist hier ein dichterisches Genie am Werke, das eine blühende Fan-tasie hat, oder aber das stimmt, und dann ist es so grausig, dasswir der Sache nachgehen müssen. Es fing damit an, dass man nachgeguckt hat, ob es tatsächlich sowar, ob es die Lager wirklich gegeben hat. Das war gar nicht soeinfach, denn es gab wenig Literatur. In der DDR überhaupt nicht,aber auch im Westen schien mir das Thema eher in den fünfzigerJahren kurz angedacht worden zu sein, und dann nicht mehr. Wirsind dann noch einmal zu dem Mann gefahren, er hat uns einpaar Namen von anderen, die mit ihm zusammen dort waren,gegeben. Dann habe ich gesagt, jetzt bringen wir das. Auf dieGefahr hin, dass der Mann ganz besonderes Pech hatte und voneinem Inferno in das andere gestolpert ist, und das kein repräsen-tatives Einzelschicksal ist. Wir haben das also veröffentlicht. Damit war dann der Damm gebrochen. Man darf nicht vergessen,dass wir eine relativ kleine Tageszeitung waren mit kaum 50 000Auflage. Einen Tag, nachdem wir das veröffentlicht hatten, kamenjeden Tag Briefe. Fünf, sechs, manchmal ein Dutzend. Alle mitdem Tenor: ich war auch Häftling, ich habe auch solche Sachenerlebt, oder ganz andere, oder noch viel schlimmere. Nicht nur ausder DDR, sondern auch aus der Bundesrepublik kamen Briefe,auch von Angehörigen. Für mich war schnell klar, dass jahrzehnte-lang ein staatlich verordnetes oder durch ein gesellschaftlichesTabu erzwungenes Schweigen geherrscht hatte. Jetzt wollten dieLeute sich das endlich von der Seele reden und schreiben. Es istimmer schwer, eine Auswahl zu treffen. Wir haben noch eine Fort-

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setzungsserie nachgeschoben, sehr zum Ärger einiger führenderHerren, die damals in den Strukturen noch was zu sagen hatten.Das Echo wurde dadurch noch größer, es potenzierte sich. Dannhaben wir uns entschlossen, so schnell wie möglich ein Buch darü-ber zu machen, damit die Leute endlich zu Wort kommen. Wirversuchten, die historischen Hintergründe drum herum aufzuklä-ren, was nicht so einfach war, weil wir damals auf einem Feldgeackert haben, auf dem vor uns so gut wie keiner war, außerGerhard Finn und Karl-Wilhelm Fricke. Wir haben versucht, es soseriös wie möglich zu machen. Dass der Forschungsstand heutewesentlich weiter ist und wir nicht den Anspruch erheben können,die Problematik erschöpfend darzustellen, ist klar. Aber mein Co-Autor und ich waren die ersten, die dieses Thema angegangensind. Es hat sich dann auch insofern gelohnt, als das Buch eine sehrweite Verbreitung gefunden hat, und gelegentlich noch heutezitiert wird.

Klewin: Sind Sie denn auch auf Widerstände gestoßen bei dem Projekt?Wie haben sich Verlage verhalten?

von Flocken: Als dann diese Lawine los getreten war, gab es Irritationen. Leute,die schon jahrzehntelang bei uns Journalismus machten, sagten,nun fangt nicht an, durchzudrehen und Vergleiche zu ziehen undvon den roten KZs zu sprechen. Schüttet nicht das Kind mit demBade aus: Nicht vergleichen, nicht aufrechnen! Ich habe danngesagt, Leute, das ist der Fluch der bösen Tat. Wenn man sie jahr-zehntelang verschweigt, dann muss man sich nicht wundern,wenn hinterher die Reaktion und das Interesse so groß sind.Gleichwohl hat man dann in einer größeren Konferenz Anfang1990 gesagt, wir würden mit unserem richtungslosen Journalismusalle Leute irritieren. Und da war ich etwas verärgert, nicht weil ichmich persönlich getroffen fühlte, sondern weil ich mich an dieRegierungserklärung von Egon Krenz erinnerte. Er hat dort am 18.Oktober 1989 gesagt, „unsere Presse kann nicht Tribüne einesrichtungslosen anarchistischen Geredes werden.“ Dann habe ichgesagt: „Leute, wenn Ihr hier bei den Liberaldemokraten schonHerrn Krenz zitieren müsst um uns mundtot zu machen, dannfinde ich das zum Kotzen!“Da diese Kräfte der Beharrung damals ziemlich in der Defensive

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waren, passierte auch nicht viel, aber ich fand es immerhinerstaunlich, dass man doch noch versuchte, uns ein paar Knüppelzwischen die Beine zu werfen. Ich habe auch gesagt, lest bittediese Sachen durch, da kann man Historiker sein wie man will, eskommt auch der Augenblick wo man sagt, da ist Leuten das Lebenkaputt gemacht worden. Hier ist man mit Menschen umgegangenworden wie mit Vieh. Und das kann einen dann irgendwann auchnicht mehr gleichgültig lassen.

Klewin:Horst Schüler, Sie haben Ihre Hafterfahrungen und Erinnerungenauch in einem Buch veröffentlicht: „Workuta, Erinnerung ohneAngst“. Was hat Sie veranlasst, dieses Buch zu schreiben und wiewaren Ihre Erfahrungen mit Verlagen und Reaktionen auf dasBuch?

Schüler:Ich bin 1992 der erste deutsche Journalist gewesen, der die damalsnoch gesperrte Stadt und Region Workuta besuchen durfte. Ichhatte eine Sondergenehmigung der damals noch sowjetischenRegierung bekommen und bin dort drei Wochen gewesen. Ichhabe noch die Reste der Lagerwelt gesehen, bin von den Men-schen aufgenommen worden wie der beste Freund. Diese ganzeSache hat mich so beeindruckt, weil ich ja auch über das Schicksalder Workutaner genug wusste. Ich wusste, dass sie damals nachder Haftzeit nicht wieder in ihre Heimatorte zurückkehren durf-ten, dass sie also in Workuta bleiben mussten. Erst im Laufe derEndzeit der Sowjetunion hat sich das ein bisschen gebessert. Als ich nach Deutschland zurückgekommen bin, habe ich also die-ses Buch geschrieben. Ich habe mit meinem Chefredakteur inHamburg vereinbart, dass wir eine Sammlung für Volksdeutsche,die damals noch in einer Größenordnung von etwa 2 000 Män-nern und Frauen in Workuta lebten, machen. Wir haben etwasüber 70 000 Mark zusammenbekommen. Nun stand ich da mitdem Geld und hatte mir vorher gar nicht überlegt, wie ich das zuden Leuten hinbekommen sollte. Also habe ich mit der Lufthansavereinbart, dass zwei Freiflüge für zwei Workutaner gesponsertwurden. Es kamen eine junge Deutschlehrerin und der Vorsitzen-de der dortigen volksdeutschen Gruppe nach Hamburg. Ich wollteihnen die 70 000 Mark in die Hand drücken und sie damit nach 14Tagen Aufenthalt in Hamburg nach Hause schicken. Aber sie

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haben mir gesagt, dass sie das nicht machen könnten, denn wennnur irgendjemand ahnen würde, dass sie so viel Geld in der Taschehätten, kämen sie ohne Kopf nach Workuta. Sie haben sich diesesGeld also nicht geben lassen. Ich habe dann mit dem Staatssekre-tär Wagenlehner, der sehr oft die Volksdeutschen in der ehemali-gen Sowjetunion besuchte, vereinbart, dass ich bei einer seinerFahrten mitgenommen würde. Von Moskau aus haben die Worku-taner es dann gewagt, das Geld mitzunehmen.

Klewin: Welches ist der persönliche Antrieb für Ihr Engagement, das siejetzt schon so viele Jahre auf den Vereinsvorsitz in der UOKG ver-wenden?

Schüler: Heute sitzen viele junge Leute unter uns, und unser aller Anliegenist es wohl, diese Erinnerung vor allem an junge Leute weiter zugeben. Denn junge Leute wachsen heute in einer demokratischenRechtsordnung auf, sie haben nie erlebt, was Unfreiheit ist. Ichdenke – und das denken wahrscheinlich alle meine Kameradinnenund Kameraden auch –, dass sie erfahren müssen, dass diese Frei-heiten, die sie heute genießen, nicht selbstverständlich sind, son-dern dass es sehr schnell gehen kann, dass man wieder in einemZwangsstaat landet, und dass dann die freie Meinung mit derGefahr einer Gefängnishaft oder sogar mit dem Leben bezahltwerden muss. Deshalb ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, die-sen jungen Leuten zu sagen, dass es wichtig ist, diesen Staat, beiall seinen Fehlern und Schwächen, zu verteidigen. Das ist also dieMotivation, die uns alle bewegt. Nicht die Opferrente; die ist zwarwichtig für viele, aber wenn wir darüber reden darf nicht der Ein-druck entstehen, dass das unser hauptsächliches Anliegen ist.Unser Anliegen ist es, die Erfahrung, die wir gemacht haben, wei-ter zu geben an die heutige Generation.

Klewin:Herr Otter, auch an Sie die Frage, was sind die Motive und Zielefür Ihr langjähriges Engagement?

Otter:Wenn man als Jugendlicher die Kriegs- und Nachkriegszeit mitge-macht hat, und weiß, wie schlecht es den Menschen gegangen ist,

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und wie schnell man vom Leben zum Tode befördert werdenkann, bin ich der Auffassung, dass es schon eine Pflicht ist, aufklä-rend zu wirken. Als ich entlassen wurde, wurde ich von einem VP-Offizier befragt, der vermutlich zur Stasi gehörte, ob ich michdenn schuldig bekenne. Ich habe das bei der Übernahme von denRussen zur Volkspolizei verneint, ich habe mich nicht schuldiggefühlt. Aber kurz vorher traf ich einen meiner Freunde, mitdenen ich zusammen verurteilt war. Der sagte mir, vor einem Jahrim Januar stand ich auch schon mal hier, und man hat michgefragt, ob ich mitarbeiten wollte für den demokratischen StaatDDR. Er hat verneint, und daraufhin ist er zurück geschickt wor-den, und nach ein einviertel Jahren stand er wieder vor dieser Tür.Ich habe ihm klar gemacht, dass wir kleine Lichter seien, nicht wieKurt Schumacher, der im KZ saß und gesagt hat, mit mir nicht. Ichhabe gesagt, was die von uns verlangen, werden wir machen, undwir sehen uns in West-Berlin wieder. Das haben wir dann gemacht.Ich habe eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, dass ichnichts darüber, was wir erlebt und gesehen haben, erzählenwürde. Soviel wie die Stasi auch wusste, sie haben nicht mitgekriegt, dassich nach meinem Rauswurf von Ost-Berlin in West-Berlin gearbei-tet habe. Immer wenn die gefragt haben, wo ich gearbeitet habe,

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habe ich gesagt, ich hätte mich beim Magistrat von Berlin bewor-ben. Dementsprechend war für mich klar, es gibt nur ein „Rüber“.Ich war also eine Nacht in der Wohnung meiner Eltern und bin amnächsten Tag bis Friedrichstraße mit der S-Bahn gefahren. DieVopos waren alle müde, es war Ostersamstag. Ich bin dann biszum Zoo durchgefahren. Es dauerte nur wenige Tage, bis ichAnrufe bekam – ich wohnte in einem Jugendheim der Falken –vom damaligen Landesvorsitzenden der SPD Franz Neumann.Dann bekam ich einen Anruf vom SFB. Es gab es eine größere Ver-anstaltung im Bundeshaus in Berlin mit Franz Neumann und derinternationalen Presse. Da sind wir zu dritt aufgetreten, was einerhebliches Echo in der Presse ausgelöst hat. Ich habe damals nichtgewusst, wie schnell man aus West-Berlin entführt werden konn-te, ich habe mich relativ sicher gefühlt. Vielleicht wäre ich etwasvorsichtiger gewesen. Die Arbeiterwohlfahrt, genauso wie andereVereinigungen auch, hat den ehemaligen Häftlingen einen Kur-aufenthalt angeboten. Ich hatte das Glück oder das Pech, in einerpsychotherapeutischen Anstalt in der Lüneburger Heide zu lan-den. Wir wurden also sacht wieder in die Normalität zurückge-führt.

Klewin:Frau Riemann, Sie haben vor zwei Jahren ein Buch geschrieben,das eine sehr große Beachtung erfahren hat. Erzählen Sie uns, wasder Anlass war, dieses Buch zu schreiben?

Riemann:Der Anlass war eigentlich, dass man nicht über die Haft gespro-chen hat, auch nicht mit Angehörigen. Und da ich nicht auf derSonnenseite des Lebens gestanden habe, war es für mich sehrschwierig. Ich hatte einen Mann gepflegt, der 19 Jahre krank war,davon 16 Jahre im Rollstuhl saß. Und das wissen vielleicht vielevon Ihnen, wenn man einen behinderten Menschen hat, wird manins Abseits gedrängt. Sehr oft durch Unwissenheit, manchmalauch, weil man keine Behinderten um sich herum haben will. Dahabe ich auch ein bisschen den Kontakt zu meinen Kindern verlo-ren, denn mein Mann war nicht der Vater meiner Kinder. So binich immer wieder ein bisschen ins Abseits gekommen, ein bisschenabgestumpft. Am kulturellen Leben konnte ich auch nicht mehrteilnehmen, weil mein Mann rund um die Uhr Pflege brauchte,und ich ihn in kein Heim gesteckt habe. Dann verstarb er und ich

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bin in ein ganz tiefes Loch gefallen. Ich war vollkommen alleinund wusste weder ein noch aus. Ich habe gemerkt, dass ich meineKinder brauche. Ich musste versuchen, mit meinen Kindern Kon-takt zu bekommen, damit sie mich und meine Eskapaden verste-hen. Ich sage dann immer, ich habe eine „Knastmauke“. Das waralso meine Entschuldigung für Dinge, mit denen ich nicht klargekommen bin.„Schreib doch mal deine Geschichte auf!“ – das war wie eine The-rapie für mich selbst. Ich habe es also aufgeschrieben und wolltees nur für meine Kinder machen. Das ist mir dann aus der Handgeglitten, daraus ist ein Buch geworden. Und dass das jetzt so eineLawine los getreten hat, das war nicht meine Absicht. Das konnteich auch nicht wissen. Aber inzwischen freue ich mich und binauch in die Aufgabe hineingewachsen, dass ich etwas rüberbrin-gen kann, und zwar nicht nur für mich, sondern für alle, die wieich so ein fürchterliches Schicksal erlebt haben. Ich kann über diestalinistische Zeit reden, besonders in den Schulen. Auch ich habeimmer geglaubt, dass unsere Jugend oberflächlich, faul und frechist, nur Handys, tolle Musik, Graffitis, Hasch und so weiter im Kopfhat. Aber ich muss mich korrigieren. Die Generation, die jetztheranwächst, will viel über die Vergangenheit wissen. Sie will auf-geklärt werden. Ich habe jetzt das Glück, dazu beitragen zu kön-nen. Ich habe viel gelernt und kann jetzt gut mit den Jugendli-chen umgehen, auch mit meinen Kindern.

Klewin: Es ist wirklich erstaunlich. Das Buch ist in einer Auflage von über100 000 Stück erschienen, wird demnächst auch als Hörbuchherauskommen. Meine Frage an Herrn von Flocken: Können Siesich erklären, was die Publicity dieses Werkes und auch schon IhresBuches bewirkt? Wo liegen die Ursachen? Hängt das auch mit demOstalgie-Boom zusammen?

von Flocken: Das glaube ich eher nicht. Bei meinem Buch ist es relativ einfachzu erklären: wir waren halt die Ersten und es bestand ein unge-heuerer Erklärungs- und Mitteilungsbedarf. Bei dem Buch vonFrau Riemann kann ich nur sagen – damit ich hier nicht als ihr Lite-raturagent missverstanden werde –, dass es durchweg ausgezeich-nete Kritiken in den Medien bekommen hat, und so etwas hatnatürlich eine Auswirkung, dann wird das Buch gekauft.

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Da ich aber gerade das Wort habe, will ich das benutzen, um nochzwei Dinge zu sagen, die mir wichtig sind, was das Schreiben einesBuches angeht, wo man Erinnerungen letztlich fremder Menschenverarbeitet. Da muss man zwei Dinge beachten: erstens, einenmöglichst objektiven Zugang zu dem Thema zu finden. Und zwei-tens muss man aufpassen, dass man keinem Scharlatan aufsitzt.Denn das, was man neudeutsch „Oral-history“ nennt, ist proble-matisch. Weil der Mensch fehlbar ist, weil die Erinnerung nachlässtund weil man nicht mehr genau weiß, was man vor 50 Jahrenwirklich erlebt hat, bedarf es da gewisser Einschränkungen, dieman sich selber auferlegen muss. Ich will das einmal an zwei Beispielen deutlich machen: ich hattezu dem Thema zuerst einen sehr objektiven, fast schon unterkühl-ten Zugang, weil ich mir dachte, erst mal gucken, was da erzähltwird. Es waren dann zum Teil so schlimme Sachen, dass man sichauch gar nicht unbedingt emotional damit auseinander setzenwollte. Das ging bis zu dem Zeitpunkt, wo mir aufgegangen ist,worauf ich mich da eingelassen hatte. Und es war ganz harmlos.Ich sprach mit einem Mann, der als Fünfzehnjähriger im Dezember1945 verhaftet wurde, in den NKWD-Keller kam, später dann inSachsenhausen war. Der sagte so beiläufig: „Na Gott sei Dankhaben sie mich im Winter verhaftet.“ Ich habe gefragt, was daranso günstig gewesen sei. Er antwortete, dass er Wintersachenanhatte, und die haben ihm über den nächsten Winter im Lagerhinweg geholfen. Die armen Teufel, die sie im Sommer verhaftethaben mit ihren dünnen Klamotten, die sind elend erfroren. Undda habe ich gemerkt, worauf ich mich da eingelassen habe. Dashätte ich wirklich nicht für möglich gehalten. Da war mir klar, wasdas für ein Thema ist, was da passiert ist.Die zweite Geschichte ist nicht ganz so rühmlich, aber ich will siedennoch erzählen: Eines Tages, da hatten wir das Buch schon fer-tig, meldete sich ein Mann bei mir und sagte, dass er jahrelang inWorkuta gewesen sei. Er war der Erste, der mir etwas über Worku-ta sagen konnte. Dieser Mann erschien mir auch durchaus glaub-würdig und hat mir die tollsten Sachen erzählt. Ich habe also seinSchicksal bei uns in der Zeitung geschildert. Ein bis zwei Wochenspäter traf ich mich mit Opferverbänden und da sagte mir einer,wissen Sie, wem sie da aufgesessen sind. Ich fragte, ob der Manndenn gar nicht in Workuta war. Die Antwort war, dass er schon inWorkuta gewesen ist, dort aber das größte Spitzelschwein warund hat viele Kameraden an die Russen verraten hat. Das hatte

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der mir natürlich nicht erzählt. Für mich war wichtig, dass er sogenau die Details wusste. Man muss halt vorsichtig sein, undmanchmal schafft man es doch nicht.

Klewin:Herr Schüler, was haben Sie erlebt, nachdem Sie das Buch ge-schrieben haben?

Schüler:Die Resonanz war mittelmäßig. Dieses Buch ist in einer Auflagevon etwa 12 00 erschienen, aber ich kann nicht sagen, dass diedeutschen – es waren damals ja vor allem westdeutsche – Verlagesehr begeistert ein solches Thema aufgegriffen haben. Sie tun esauch heute noch nicht. Das Buch von Frau Riemann ist also in die-ser Beziehung in dieser hohen Auflage eine Ausnahme. Ein Got-tesgeschenk für uns, wenn man unser Themas unter eine großeLeserschaft verbreiten will. Bei meinem Buch war die Aufmerk-samkeit bei weitem nicht so groß. Ich bin also froh darüber gewe-sen, dass mich hin und wieder einige Schulen angefordert haben,um darüber zu sprechen. Ich werde das auch in Zukunft immerwieder gerne tun. Denn es gibt ja doch so viele Dinge, die mandabei vergisst. Auch wenn man hier oben auf dem Podium sitzt,fallen einem Dinge ein, die man noch an den Mann hätte bringenmüssen. Zum Beispiel die Tatsache, dass wir als Gulag-Häftlinge nicht nachHause schreiben durften. Wir waren also von dem Augenblick an,in dem wir verhaftet wurden, für unsere Angehörigen spurlos ver-schwunden. Erst lange Monate nach dem Tode Stalins bekamenwir die Genehmigung, eine Doppelpostkarte mit einer Antwort-karte an unsere Angehörigen zu schreiben. Meine Frau bekamalso Anfang 1954 das erste Lebenszeichen von mir. Dass Angehöri-ge nach vielen Jahren überhaupt nicht der Aufforderung der Stasi,sich von diesem Staatsfeind scheiden zu lassen, nachkamen, daskann man wahrscheinlich gar nicht hoch genug einschätzen. EinKamerad von mir war acht Jahre in Workuta gefangen gehalten,und sein einziger Lebensfunke war die Erinnerung an seine Frau.Er ist dann nach Hause gekommen, und seine Frau war, da sie ihnfür tot gehalten hatte, eine andere Beziehung eingegangen. Erhat sich drei Tage nach seiner Heimkehr aus dem Fenster gestürzt.So ist das mit den Dingen, die uns im Lager am Leben gehaltenhaben, und die dann entweder in eine tiefe Enttäuschung oder in

130 Podiumsgespräch

einer Beziehung endeten, die nie kaputt gehen kann.

Klewin: Frau Riemann, Sie erzählten, das Buch ist vorrangig für Ihre Kinderentstanden. Wie ist es in die Hände von Verlegern gekommen?War sofort große Begeisterung da, oder mussten Sie sich auch erstmühen?

Riemann: Das war ein langer Weg. Es hat ungefähr drei Jahre gedauert, biswir jemanden gefunden haben. Ich persönlich habe immer sogeschrieben, wie ich Lust hatte. Ich habe alles mit der Handgeschrieben, und habe es dann in einen Kasten hinein geschmis-sen, Hauptsache ich war es erst mal los. Ich habe vieles wieder weggeworfen, wieder geschrieben. Dann wollte ich aber doch, dassmeine Kinder das lesen, und habe eine Person gesucht, dieSchreibmaschine schreiben kann. Da meldete sich Frau Hoffmann,die auch mit erwähnt wird. Sie war seinerzeit Krankenschwester.Wir lernten uns kennen und ich habe gesagt, dass ich die Absichthabe, meinen Kindern jeweils so ein Manuskript zu geben. Ichmusste aber erst wissen, was ich bezahlen muss, denn ich hattewenig Geld. Sie hat zu mir gesagt, dass sie erst wissen muss, wassie schreiben muss. Ich habe dann den Kasten mit meinen Auf-zeichnungen geholt und habe ihr das gezeigt. Sie können mirglauben, diesen Anblick vergesse ich mein ganzes Leben nichtmehr. Sie guckte da rein und fragte, ob sie das mit nach Hausenehmen könne. Da habe ich einer wildfremden Frau meine gan-zen Aufzeichnungen gegeben. Nach drei Tagen kam sie wieder und hat mir gesagt, dass sie fürmich umsonst schreibt, unter einer Bedingung: „Das darf nicht nurfür Ihre Kinder sein. Sie müssen als Zeitzeugin fungieren und dasmuss ein Buch werden!“ Wir waren beide Laien. Ich habe ja allesdurcheinander geschrieben, und Frau Hoffmann hat alles erst ein-mal chronologisch geordnet. Wir haben uns darüber unterhalten,haben Tonbandprotokolle mitgemacht. Dann habe ich Kamera-dinnen von mir angerufen. Wie wir an einen Verlag kommen sollten, haben wir auch nichtgewusst. Also haben wir uns die Gelben Seiten angeguckt, habenVerlage herausgesucht. Wir hatten aber beide kein Geld. Wirhaben etwa zehn oder zwölf Verlage angeschrieben. Das Manu-skript wurde mit einem Brief zurück geschickt – ich weiß heute,

Haftschicksale 131

dass das nicht die normale Absage an Schriftsteller war –, der auchHoffnung machte, man solle weiter machen, der Verlag sei zuklein oder ähnliches. Der erste Verlag, der Interesse zeigte, warder Forum-Verlag aus Leipzig. Er schrieb uns aber, dass wir 8 000Mark Druckkostenzuschuss zahlen sollten. Woher sollten wir dasGeld nehmen? Ich bin dann auf Bettelreise bei Freunden undBekannten gegangen. 3 000 Mark hatte ich zusammen, aber derRest fehlte. Dann haben wir an die Friedrich-Ebert-Stiftunggeschrieben, und die hat uns zugesagt, dass sie uns einen Zuschussgibt. Dann schickte ich noch einmal an Hoffmann & Campe inHamburg ein Manuskript. Ich hatte aber nicht genug Portogeldum das ganze Manuskript zu schicken, und sendete ihnen dahernur die Hälfte. Ich bekam einen Anruf vom Verlag, dass das einunangefordertes Manuskript sei und ich in drei bis vier MonatenBescheid bekommen würde. Daraufhin haben wir die Möglichkeiteiner Veröffentlichung abgeschrieben. Ich wollte dann einfachmeinen Kindern zu Weihnachten dieses Manuskript schenken.Ich bin an die Ostsee gefahren und habe dort als Fischbrötchen-Verkäuferin gearbeitet. Dann kam ein Anruf von Hoffmann &Campe, dass sie das Manuskript nicht gebrauchen könnten. Dahabe ich so ganz lapidar gesagt, dass ich mir das schon gedachthabe, und sie deshalb auch nur die Hälfte gekriegt haben. An dem

132 Podiumsgespräch

Tag war ich gerade zu Hause in Hamburg, weil ich mein Treppen-haus putzen musste. Der Lektor fragte mich, ob ich nicht in denVerlag kommen könne, um ihm die andere Hälfte des Manuskriptszu bringen. Ich habe gesagt, dass ich keine Zeit hätte. Er hatgefragt, ob er zu mir kommen könnte. Er ist dann gekommen. Ichmusste ihm erst einmal meinen Entlassungsschein zeigen, dieRehabilitation, alle Unterlagen, die ich hatte. Er saß da und hatimmer nur den Kopf geschüttelt und gesagt, also Frau Riemann,ich muss sagen, ich habe mir immer gedacht, was saugt sich dieFrau da aus den Fingern, so etwas hat es doch gar nicht gegeben.

von Flocken:Ich gestatte mir abschließend eine kritische Bemerkung. Es ist hierzu Recht moniert worden, dass die Opfer keine Lobby in der Poli-tik haben. Es wundert mich nicht, dass dem so ist. Denn ich alsAußenstehender muss den Eindruck gewinnen – und ich glaube,der ist nicht ganz falsch –, dass sich die zahllosen Verbände, diesich als Opferverbände verstehen, untereinander gelegentlichnicht besonders gut absprechen, oder, um es ganz deutlich zusagen, sich gelegentlich spinnefeind sind. Es ist schon für einenJournalisten nicht ganz einfach, in diesem Dickicht durchzusehenund zu wissen, welchen Fettnapf man als nächstes betritt und wenman dann wieder verärgert hat. Wie soll das dann für jemandenfunktionieren, der eine politische Lobby-Arbeit macht. So langediese Verbände nicht mit einer Stimme sprechen – wenn der Zugnicht schon abgefahren ist –, dann wird auch keines dieser Zieleerreicht werden.

Haftschicksale 133

Ausstellungseröffnung „Geschichte des Speziallagers Bautzen.1945–1956“ in der Gedenkstätte Bautzen

Joachim Stern

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe einstige Leidens-gefährten,

„Der Mann denkt, die Leute sind gefährlich“ – Shakespeare „Juli-us Caesar“.

Das ist sozusagen der Grundtenor für alle jene, die inhaftiert wor-den und in das Speziallager Bautzen verbracht wurden, wie mandamals so schön sagte. Vierzig Jahre nun nach dem Ende des Spe-ziallagers Bautzen – dem „Gelben Elend“ – findet mit der heuti-gen Eröffnung der Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen dieWürdigung über jene Jahre des Martyriums statt, auf die wirschon lange gewartet hatten. Denn erinnern wir uns: es hat langeZeit gedauert, bis auch dem „Gelben Elend“ eine gewisse Auf-

134 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

merksamkeit geschenkt wurde, nicht nur nach der Wende, wo wirin Schlagzeilen zunächst sehr viel Aufmerksamkeit gewonnen hat-ten, aber dann auch bald wieder in ein Nichts versunken sind.Nach einem grausamen Jahr der U- Haft in Potsdam Lindenstraßegelangte ich Anfang Oktober 1948 nach Bautzen, eine 25jährigeHaftstrafe auf dem Buckel, wie die meisten meiner Mithäftlinge,und man sah einer äußerst ungewissen Zukunft entgegen. Hierentwickelte sich ein Schmelztiegel menschlicher Größe undErniedrigung. Es war verbunden mit einer kameradschaftlichenVerbundenheit und auch mit einer gewissen Niedertracht, manch-mal von, Gott sei Dank, nicht allzu vielen Denunzianten. Was aberam Meisten wie ein Damoklesschwert über jedem Einzelnenschwebte, war die Geißel des Lagers, das waren aufgrund desHungerns nichts anderes als Epidemien wie Dystrophie und vorallen Dingen Tbc. Viele kamen dann in den Komplex des GelbenElends, in Haus zwei oder Haus drei oder in die Innenbaracken,und viele endeten dann auf dem Karnickelberg.Es gab noch ein Ereignis, das mich als damaligen jungen Menschensehr beeindruckt hatte: wir hatten ja vor vier Jahren die 50jährigeWiederkehr begangen, die sich auf den Aufschrei der Polithäftlin-ge am 13. und 31. März 1950 bezog. Es war die Reaktion auf Ver-zweiflung, Enttäuschung, Resignation und die Bereitschaft, sogardas Leben einzusetzen, um dieser unmenschlichen Tortur zu ent-rinnen, die wir zunächst erlebt hatten durch die Bewacher derSowjets und später dann durch die Bewacher der DDR. Was sich im Bewusstsein der Öffentlichkeitsarbeit aller Institutio-nen, Regierungsstellen, der Medien und Opferverbänden in denletzten Jahren beim Kampf gegen das Vergessen abgespielt hat,war und ist ein Kampf eben um den Erhalt der so wichtigen Erin-nerungskultur, denn es setzte vor allen in den Medien inzwischeneine DDR-Nostalgie ein, in der die Opfer der kommunistischenGewaltherrschaft in Deutschland nicht mehr vorkommen. Sie hat-ten nicht nur ausgedient, sie waren auch zu Stör-Elementengeworden. Wenn sich dabei besonders die Intellektuellen in Westund Ost bei dieser Thematik – ich will mich mal gelinde ausdrü-cken – semantisch befleißigten, was eigentlich unverständlich ist,so sollte aber gerade doch das Wort von Günter Grass von der„kommoden Diktatur der SED“ sehr zu denken geben. Eine Dikta-tur wie die DDR zu relativieren ist unredlich, unwahrhaftig undunhistorisch, denn der Bequemlichkeit des Mitläufertums samtaller Beschönigungen folgt die Bequemlichkeit des schnellen Ver-

Joachim Stern 135

gessens. Ein Volk jedoch, das sich nicht mit seiner Vergangenheit,seiner Geschichte insgesamt befassen will, verliert nicht nur seineIdentität, es verliert auch seine Würde.Dem entgegenzuwirken, gelten nun Tage wie der heutige hier inBautzen II. Dass diese Ausstellung nach beharrlicher Vorarbeit zumZiele führen konnte, dass die Realisierung möglich wurde, verdan-ken wir neben all den verantwortlichen und beteiligten Institutio-nen wohl auch in erster Linie Frau Silke Klewin, der wissenschaftli-chen Leiterin der Gedenkstätte Bautzen. Hier in dieser Gedenk-stätte soll sich ein Ort der historischen Erinnerungskulturmanifestieren. Was mir im Übrigen auch noch auffällt, ist – dass istjetzt ein kleines Lob an den Freistaat Sachsen – dass hier nicht nurmit Hilfe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten sehr viel Vorarbeitgeleistet worden ist, deren Ergebnisse wir jetzt hier ja finden, undwenn ich mir den Vergleich erlauben darf auch mit anderenneuen Bundesländern, so dürfte der Freistaat Sachsen, mit alle-dem was mit den Opfern kommunistischer Gewaltherrschaftzusammenhängt, eine Vorreiterrolle gehabt haben. Hier wurde erkannt, dass nur die Zusammenarbeit der zuständi-gen staatlichen Einrichtungen und Institutionen mit den Opferver-bänden, die Präsentation einer solchen Ausstellung wie der heuti-gen in Bautzen für die Besucher ermöglicht und da möchte ichauch im Namen des Bautzen-Komitees meinen besonderen Dankaussprechen. Ich wünsche allen Verantwortlichen und Beteiligten, die sich mitder Forschung und Aufarbeitung der kommunistischen Gewalt-herrschaft hier befassen, vor allem eine glückliche Hand bei derweiteren inhaltlichen Ausgestaltung dieser Bautzener Gedenkstät-te.

Ich danke Ihnen.

136 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

Das Gelbe Haus von Dieter Hübener, Bautzen 1953

Kennst du das Haus, das auf dem Felsen steht?Dort, wo die Freiheit hinter Gittern gehtund Liebe schweigt, vom Hass besiegt?Kennst du das Haus, das dort im Schatten liegt?

Wo jeder Morgen freudlos tagtund nachts die Eule nach den Toten fragtund um die Mauern heulend fährt der Wind, wo zwanzigtausend schon gestorben sind?

Wo jede Stunde nur vom Leide trinktund klirrend wie Kristall die Nacht zerspringtim ersten Morgenstrahl – und dann der Tagzur Ruhe geht mit dumpfen Glockenschlag?

Gedichte und Texte 137

Das Grausen grinsend seine Feste hältund Hunger in die leeren Schlüsseln kellt,wo von dem Tod die Luft vergiftet istund jeder Atemzug am Leben frisst?

Kennst du das Haus? Ein Kreuz darüber thront.Dort haben Zwanzigtausend einst gewohnt, die nun der Tod in seinem Arm vereint.gar manche Mutter ihren Sohn beweint.

Kennst du das Haus?

Saallied aus dem Speziallager BautzenAnonym, Bautzen 1948

Fasse Tritt, Kamerad, und verlier nicht den MutDenn wir haben im Rucksack ein Stückchen Brotund im Herzen, im Herzen die Liebe.Oh, Bautzen, ich kann Dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist.Wer dich verlässt, der kann erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist.Wir jammern nicht und stöhnen nicht und klagen,wie schwer auch unser Schicksal sei.Wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag,da sind wir frei, ja frei.

Vergessen Von Jochen Stern, Bautzen 1948

Die Wellen sind zerschlagen, der Sturm hat sich gelegt – und dennoch dringen Klagenaus jenen Wasser so bewegt.

138 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

Nur Träume könnten rettender Tränen Wehgesang, ein tiefer Grund mag betten,was einst das wilde Meer verschlang.

Gedanken in der Nacht Von Wolfgang Natonek, Bautzen 1954

Allein!Unter vielen –dennoch allein.Ruhende Menschen,die keine Ruhe kennen.

Menschen?Arbeitssklaven!Dennoch Menschen!die erschöpft schlafenum weiterzukämpfen!

Kämpfen?Ja, mit allem, aber auch um alles!Um Leben und Liebe, und mit dem Hass, der sie würgt.

Hass?Wann bricht er los?Er ist grausam – aber wir sind durchdrungen...wir müssen – es ist unser Los!

Freiheit!Wir haben sie nicht – aber wir fühlen sie, und darum tun wir recht, und werden als letztes noch nach ihr greifen!

Gedichte und Texte 139

Ausschnitte aus Walter Kempowskis autobiografischem Haftroman „Ein Kapitel für sich.“

„Später mal draußen, wenn alles vorbei ist – so träumten die Sti-cker – müsste man eine Ausstellung veranstalten. Motto: „Siehängten nicht die Waffen in die Weiden.“ Alle Wände voll mit Sti-ckereien, indirekt beachtet, nach Motiven geordnet. Und vorn ineiner extra Vitrine das Werkzeug: die selbstgemachten Nadeln,links die primitiven, aus Holz oder aus Draht, und rechts die aller-besten, von gekauften nicht zu unterscheiden – und das ausge-zupfte Garn. Das würde dann künden von andern Werten, die erstaufbrechen, wenn man ganz auf sich alleingestellt ist.“

Mein Bruder ging in der Zelle umher und erklärte: „Hier liegt Fer-dinand, da Karl, da Fritz, der alte Übelmann. Und hier liegt meineWenigkeit.“Der Kübel sei hervorragend, das könnte er wohl sagen – „stimmtsoder hab ich Recht?! Einen neuen Lappen, den müsse man aller-dings mal wieder besorgen.Dann zeigte er mir seine verschiedenen Beutel, die er mit Auf-schriften versehen hatte: „Salz“, „Zucker“, „Kümmel“. Sie hingenam Bettpfosten, der Größe nach geordnet.„Diese Beutel, mein Walter, die kommen später samt und sondersin das Haftmuseum. Eines Tages. Und die zeigen wir dann allenLeuten und sagen: So haben wir gelebt. Stell dir mal vor, wie diedann kucken werden! Die werden sagen: Das kann gar nichtangehn.“Sein Holzmesser komme auch ins Haftmuseum.„Hättest du gedacht, dass wir mal in einem Zuchthaus sitzen unduns Beutel nähen?“ Eine Vitrine damit ausstatten, von innen zubeleuchten. – Vielleicht könne man auch einen geschickten Zeich-ner gewinnen, der all die Ungeheuerlichkeiten, denen man hierausgesetzt sei, mit dem Stifte festhalte: Das Suppenausgeben ausdem Holzbottich oder den „Elfenreigen“, das Baden, unten imKeller, mit all den verbumfeiten Figuren. – Da könnten die Leutedann mal sehen, zu was der Russe fähig war.

140 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

Silke Klewin

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

sie hörten zwei Gedichte, die im Speziallager Bautzen entstandensind: „Das gelbe Haus“ von Dieter Hübener und „Das Saallied“, dessenVerfasser uns unbekannt ist. Rezitiert wurden die Texte vonJochen Stern, der selbst von 1948 bis 1954 in Bautzen inhaftiertwar. Die Gedichte vermitteln – wie ich finde – sehr eindringlich,was das „Schicksal Bautzen“, was das „Gelbe Haus“ für Tausende

Silke Klewin 141

Häftlinge bedeutete. Sie stellen den Auftakt unserer heutigenAusstellungseröffnung dar, zu der ich Sie – Sehr geehrte Damenund Herren, und vor allem Sie, Sehr geehrte ehemalige Häftlingedes Speziallagers Bautzen herzlich willkommen heiße. Besonders herzlich begrüße ich Herrn Dr. Frank Schmidt und HerrnJochen Stern und danke Ihnen, dass sie Grußworte zu uns spre-chen werden. Herr Staatssekretär Schmidt vertritt heute freundli-cherweise den Sächsischen Staatsminister für Wissenschaft undKunst. Jochen Stern spricht als Vertreter des Bautzen-Komitees –der Vereinigung ehemaliger Häftlinge der Bautzener Gefängnisse.Herr Stern, heute Schauspieler und Autor, war aus politischenGründen sechs Jahre im „Gelben Elend“ inhaftiert. Über sein Haft-schicksal können Sie sich nachher in der Ausstellung noch genauerinformieren.Die Vision eines Haftmuseums, die Walter Kempowski 1975 formu-lierte, nimmt heute reale Gestalt an. Die Ausstellung, die wir derÖffentlichkeit übergeben, zeigt die Beutel, in denen die Häftlingeihre kargen Brot- und Salzrationen aufbewahrten, die selbstgemachten primitiven Nadeln und das ausgezupfte Garn. Sie kün-det von den „anderen Werten“, die damals im Lager herrschten.Im Jahr 2000 hat die Gedenkstätte rund 100 ehemalige Spezialla-gerhäftlinge zu ihren Erwartungen an die zukünftige Ausstellung

142 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

befragt. Fast ausnahmslos maßen die Betroffenen der Darstellungpersönlicher Schicksale und der Präsentation von besonders aussa-gekräftigen Erinnerungsstücken eine große Bedeutung bei.Einige ehemalige Häftlinge formulierten aber auch die Grenzendes in einer Ausstellung darstellbaren. Beispielhaft möchte ichJohannes Liebsch zitieren: „Wie aber soll ein junger Mensch, derin einem Rechtsstaat aufgewachsen ist und täglich erlebt, welcheRechte selbst Schwerverbrecher besitzen, begreifen, dass es nichtdie Größe der Zelle, die Form und Farbe des Napfes, ja selbst nichtdas Fressen selbst ist, sondern die unendliche Hilflosigkeit, dasungeheure Alleingelassen sein, das bedingungslose Ausgeliefert-sein, die völlige Isolation, die unbeschreibliche Sorge um Frau undKinder, welche die eigentliche Schwere der Haft ausgemachthaben.“Ich denke, wir sind mit unserem Ausstellungskonzept einen gutenWeg gegangen, ein Weg, der sich mit den Vorstellungen der ehe-maligen Häftlinge deckt. Wir stellen das vor, was zu dokumentie-ren, zu erklären, zu zeigen ist und gleichzeitig respektieren wirdie Grenzen des Darstellbaren.Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu den Ideen und zumGrundaufbau der Ausstellung machen: Die Ausstellung titelt sach-lich: „Die Geschichte des Speziallagers Bautzen. 1945 bis 1956“.Sie dokumentiert die Geschichte des Lagers und seiner Gefange-nen bis 1956. Diese Periodisierung orientiert sich am konkretenHaftverlauf der Mehrzahl der Gefangenen und nicht an der ver-waltungsmäßigen Zuordnung des Speziallagers Bautzen. Wir wis-sen sehr wohl, dass das Lager im Januar 1950 aufgelöst wurde. Eshandelt sich bei der Jahresangabe 1956 im Ausstellungstitel alsokeineswegs um einen Druckfehler, wie mancher nach Erhalt derEinladung vermutete. Für die meisten der Bautzener Häftlinge,die von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt wordenwaren, brachte die nominelle Auflösung des Lagers nämlich kei-neswegs die Entlassung mit sich. Mehr als 5 900 SMT-Verurteiltewurden den deutschen Behörden übergeben und blieben vielfachnoch bis 1956 im „Gelben Elend“ inhaftiert. Präsentiert wird die Exposition in einem neutralen Ausstellungs-raum in der ersten Etage des „Stasi-Gefängnisses“. Neutral meint:Der Raum ist sachlich gestaltet, um den Besuchern zu verdeutli-chen, dass sie den historischen Ort Bautzen II verlassen und einenOrt der Dokumentation betreten. Ein Torbogen soll diesen Orts-wechsel noch unterstützen. In der Mitte des Raumes steht ein

Silke Klewin 143

zweiseitig nutzbares Regalsystem, das als eine Art „Archivregal“dient und das Raster für die Erzählung der Geschichte des Lagersund seiner Gefangenen bildet. Im Zentrum der Ausstellung steht ein historisch exakt recherchier-tes und mit Hilfe vieler Zeitzeugenaussagen geschaffenes, maß-stabsgetreues Modell des Speziallagers, dass auf den historischenOrt „Bautzen I“ verweist und eine Vorstellung von der räumlichenAusbreitung des Lagers vermittelt. Ausgehend von diesem Modellgliedert sich die Darstellung in 14 thematische Abschnitte. Sie fol-gen der historischen Chronologie und bieten sowohl eine Über-sicht über die Geschichte des Speziallagers als auch vertiefendeEinblicke in spezielle Themenbereiche. Die Ausstellung erzählt die komplexe Geschichte des Lagersanhand individueller Häftlingsbiographien. Insgesamt 42 Haft-schicksale aus dem Zeitraum von 1945 bis 1956 – von der Einrich-tung des Lagers bis zur Entlassung der letzten Tribunalverurteilten– lassen das Speziallager, den Haftalltag und seine Bedeutung fürdas Individuum anschaulich und konkret werden. Die Schicksalezeigen, welche Umstände die Menschen ins Bautzener Lager führ-ten, wie die Festnahmen durch den sowjetischen Geheimdienstund die Verurteilungen durch sowjetische Tribunale abliefen, wiedas Leben im Lager aussah, was die Übernahme der Häftlingedurch die Deutsche Volkspolizei bedeutete und wie die Spezialla-gerhäftlinge ihre Erlebnisse im späteren Leben verarbeiteten.Jedes einzelne der dargestellten Schicksale ist eine Art Mosaik-stein. Stein für Stein entsteht ein Gesamtbild des Lagers, das weitüber den rein institutionellen und administrativen Rahmenhinausreicht. Die Biographien sind individuell und zugleich auch exemplarisch.Jedes Einzelschicksal steht gleichsam auch stellvertretend für dasTausender anderer. Die Verurteilung Jochen Sterns nach Artikel 58des russischen Strafgesetzbuches steht auch für Tausende ver-gleichbarer Urteile, ebenso die Irrfahrten durch das sowjetischeLagersystem, die Benno Prieß erleben musste und der Einsatz vonBenno von Heynitz nach 1990, die Geschichte des Lagers aufzuar-beiten.Ein Medienraum und ein Zellennachbau ergänzen die Ausstellung.Der Medienraum bietet Besuchern Möglichkeiten, sich vertiefendüber das Speziallager zu informieren. Computerarbeitsplätze zei-gen neueste Forschungsergebnisse, wie Statistiken über das Lager,ein Zeitzeugenvideo schildert die Geschichte des Lagers aus der

144 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

Sicht ehemaliger Häftlinge. Der Zellennachbau in originalenAbmessungen vermittelt eindringlich die im Lager vorherrschendeEnge und macht die damaligen kargen Lebensumstände für heuti-ge Besucher erfahrbar. Meine Damen und Herren, zu meiner großen Freude kann ichIhnen im Rahmen unserer heutigen Ausstellungseröffnung dreineue Publikationen vorstellen. Zuerst sei das Gedenkbuch zuEhren der Toten des Speziallagers Bautzen genannt. Wir habenalle verfügbaren Quellen noch einmal kritisch durchgesehen.Neben den Akten aus dem russischen Staatsarchiv, die bereits derSuchdienst des Deutschen Roten Kreuzes erfasst hat, haben wirauch die Unterlagen der Friedhofsverwaltungen in Görlitz, Zittauund Dresden einbezogen. In würdiger Form dokumentiert diesesBuch nun alle zu ermittelnden Namen und Sterbedaten der Totendes Bautzener Speziallagers aus der Zeit von 1945 bis 1956. DasTotenbuch liegt in der Ausstellung aus. Es ist sowohl über denBuchhandel als auch in der Gedenkstätte für 10 Euro zu erwerben. Als zweites stelle ich Ihnen heute ein neues Heft in unserer ReiheLebenszeugnisse – Leidenswege vor. Es trägt den Titel: „Kassiberaus Bautzen. Heimliche Briefe aus dem sowjetischen Speziallager“.Meine Kollegen Cornelia Liebold, Jörg Morré und Gerhard Sälterhaben ein bisher unbeachtetes Kapitel der Lagergeschichte

Silke Klewin 145

beschrieben. Herzlichen Dank an die drei Autoren und vor alleman Frau Andrae und an die Familien Silbermann und Täuber, diedurch ihre Mitarbeit das Heft überhaupt erst ermöglicht haben. Last but not least kann ich Ihnen ein Heft über das Haftschicksalvon Hans Corbat vorstellen, den sicher viele von Ihnen als langjäh-rigen Vorsitzenden des Bautzen-Komitees kennen. Das Heft trägtden Titel „Unserer Entwicklung steht er feindselig gegenüber.“ Eswurde von meinen Kollegen Bert Pampel und Wolfgang Oleschin-ski redaktionell betreut. Da Herr Corbat heute anwesend ist, wirder Ihnen sein neues Werk sicher gern auch signieren. Sie könnenübrigens beide Hefte heute hier am Büchertisch für 5,50 Euroerwerben.Viele hatten ihren Anteil daran, dass wir die Ausstellung heuteeröffnen können. Ihnen allen gilt mein herzlichster Dank! An erster Stelle möchte ich den ehemaligen Häftlingen und denAngehörigen danken, die uns durch die Bereitstellung von Fotos,Dokumenten und Erinnerungsstücken unterstützt haben. Dank andie Mitarbeiter der Gedenkstätte für ihren engagierten Einsatz.Insbesondere in den letzten Wochen und vor allem in den letztenTagen wuchsen – die gemeinsam mit mir inhaltlich verantwortlichzeichnenden Kollegen – Cornelia Liebold, Susanne Hattig und Dr.Jörg Morré über sich hinaus. Meinen herzlichsten Dank euch drei-en.Für die Gestaltung der Ausstellung zeichnet die Firma gewerk ver-antwortlich, für die Medientechnik die Schiel Projektgesellschaft.Die ausgefeilte Technik der Zelleninszenierung verdanken wir derFirma Creative Lighting, das hervorragende Modell des Spezialla-gers Yvonne Kavermann. Die praktische Umsetzung der Ausstel-lung lag in Händen von Tischlermeister Carsten Gräubig, Graphik-malermeister Gerd Graumüller und der Firma cp Werbung Wobst.Allen drein Firmen sei ganz herzlich gedankt für ihre kompetenteUnterstützung. Mein letzter Dank geht an den Architekten Mar-kus Woschni, der uns tatkräftig bei der Koordination der zahlrei-chen Gewerke unterstützt hat.

Nun bleibt mir nur noch zu sagen, dass ich der Ausstellung vieleBesucher wünsche und sie hiermit für eröffnet erkläre.

146 Ausstellungseröffnung in der Gedenkstätte Bautzen

Norbert Haase

Die Eröffnung der Dauerausstellung zur Geschichte des Spezialla-gers Bautzen gibt mir heute Gelegenheit, eine persönliche Genug-tuung zum Ausdruck bringen, da mir in den vielen Jahren, indenen ich das Bautzen-Forum besuche, die Begegnungen mit ehe-maligen politischen Gefangenen des „Gelben Elends“ vor allemeines deutlich gemacht haben: Die Erinnerung an das Leid, das ins-besondere in den späten vierziger, fünfziger Jahren unter sowjeti-scher Besatzung und der frühen DDR Menschen in Bautzen wider-

Norbert Haase 147

fuhr, braucht in der Gedenkstätte Bautzen einen festen Platz. JedeOpfergruppe bedarf in der Dokumentation einer Gedenkstätteeiner angemessenen Darstellung. Mit dem heutigen Tag ist dieseLücke geschlossen.Wir hätten diese Ausstellung gern eher eröffnet. Dies war ange-sichts der vielfältigen Aufgaben, vor denen wir standen, leidernicht möglich. Diese Ausstellung ist in den vergangenen Jahrenum so besser vorbereitet worden: Forschung in russischen Archi-ven, Zeitzeugenbüro, Zeitzeugenvideos, ständige thematischeArbeitskreise mit Speziallagergefangenen und SMT-Verurteilten,Veranstaltungen und Publikationen. Schülerprojekte und Lehrer-fortbildungen zu diesem Thema.Dass die Fertigstellung dieses Meilensteins in der Entwicklung derGedenkstätte Bautzen möglich wurde, dafür ist vielen zu danken,Opfern und ihren Angehörigen für die Leihgaben und ihr Vertrau-en, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte für ihrEngagement, dem Bautzen-Komitee und seinem Vorstand, denbeauftragten Firmen, der Stadt Bautzen. Ohne die finanzielleUnterstützung der Freistaates Sachsen und die Gedenkstättenför-derung des Bundes würde es diese Einrichtung nicht geben. Des-halb ein großer Dank an unsere Zuwendungsgeber.Dass die Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Bautzen-Forum denRahmen eines Nachdenkens über das Gedenken im interkulturel-len Zusammenhang mit den unabhängigen Nachfolgestaaten derSowjetunion zur Verfügung stellt, ist ein Glücksfall. Denn die Aus-einandersetzung mit der Geschichte kommunistischen Unrechts inOstdeutschland muss wie schon bisher im Prozess einer nachhalti-gen Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas stattfinden. Siegehört nicht in einen Aufrechnungsdiskurs von Vernichtungskriegund Besatzungsherrschaft. Vor dem Hintergrund der Diskussionüber eine europäische Erinnerungskultur muss festgehalten wer-den: Die Grundorientierung der Stiftung Sächsische Gedenkstät-ten und ihrer Gedenkstättenarbeit ist der universelle Respekt vorden verschiedenen individuellen Leidenserfahrungen in den ver-schiedenen Verfolgungsperioden des 20. Jahrhunderts und ihreverschiedenen Ursachen. Dies bringt auch die Ausstellung zumsowjetischen Speziallager Bautzen zum Ausdruck, die wir heuteeröffnen.

148 Teilnehmer und Autoren

Teilnehmer und Autoren des XV. Bautzen-Forums

Burkhard BirkeDeutschlandfunk, Abteilungsleiter Aktuelles

Marianne BirthlerBundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes derehemaligen DDR

Prof. Dr. Bernd BonwetschRuhr-Universität Bochum; Gründungsdirektor des Deutschen HistorischenInstituts Moskau

Jan von FlockenFOCUS-Korrespondent, Berlin

Matthias EiselLeiter des Leipziger Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung

Dr. Norbert HaaseGeschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Michael HarigLandrat des Landkreises Bautzen

Dr. Andreas HilgerHistoriker, Hamburg

Stephan HilsbergMitglied des Deutschen Bundestags, SPD-Fraktion

Sabine KaspereitVorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung

Thomas JurkVorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag

Silke KlewinLeiterin der Gedenkstätte Bautzen

Teilnehmer und Autoren 149

Harald MöllerVorsitzender des Bautzen-Komitees, Ostheim

Dr. Klaus-Dieter MüllerLeiter der Dokumentationsstelle Widerstands- und Repressionsgeschichtein der NS-Zeit und der SBZ/DDR in der Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Lothar OtterRegierungsdirektor a. D., Bad Harzburg

Erika Riemann Autorin der Autobiografie „Die Schleife an Stalins Bart. Ein Mädchen-streich, acht Jahre Haft und die Zeit danach“, Hamburg

Jörg RudolphGeschäftsführer von Facts & Files – Historisches Forschungsinstitut Berlin

Marko SchiemannMitglied des Sächsischen Landtages, CDU-Fraktion

Dr. Mike Schmeitznerwissenschaftlicher Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V.,TU Dresden

Horst SchülerJournalist; Vorsitzender der Union der Opferverbände kommunistischerGewaltherrschaft (UOKG), Hamburg

Joachim SternSchauspieler; Autor der Autobiografie „Von Mimen und anderen Men-schen“ und der Dokumentation „Und der Westen schweigt“, Bonn

Viktor TimtschenkoJournalist bei der Deutschen Welle, Markleeberg

150 Teilnehmer und Autoren

„Bautzen-Foren“ im Überblick

Nr. 1 Stalinismus. Analyse und persönliche Betroffenheit. Leipzig 1990 (vergriffen)

Nr. 2Gerechtigkeit den Opfern der kommunistischen Diktatur. Leipzig 1991(vergriffen)

Nr. 3Die kriminelle Herrschaftssicherung des kommunistischen Regimes derDeutschen Demokratischen Republik. Probleme der strafrechtlichen Verfolgung der Täter. Konsequenzen für den inneren Frieden des deutschen Volkes. Leipzig 1992 (vergriffen)

Nr. 4 Der 17. Juni 1953. Der Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums.Deutsche Teil-Vergangenheiten, Aufarbeitung West: Die innerdeutschenBeziehungen und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der DDR. Leipzig 1993 (vergriffen)

Nr. 5 Die Akten der kommunistischen Gewaltherrschaft. Schluss-Strich oderAufarbeitung? Leipzig 1994 (vergriffen)

Nr. 6Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung. Menschliches Verhalten unterGewaltherrschaft. Leipzig 1995 (vergriffen)

Nr. 7Erinnern, Aufarbeitung, Gedenken. 1946–1996. 50 Jahre kommunistischeMachtergreifung in Ostdeutschland. Widerstand und Verfolgung. Mahnung gegen das Vergessen. Leipzig 1996

Nr. 8 Zivilcourage und Demokratie. Vergangenheitsbewältigung ist Zukunfts-gestaltung. Leipzig 1997

Bautzen-Foren im Überblick 151

Nr. 9 Freiheits- und Widerstandsbewegungen in der deutschen Geschichte.Leipzig 1998

Nr. 10Eine Zwischenbilanz der Aufarbeitung der SBZ/DDR-Diktatur 1989–1999.Leipzig 1999

Nr. 11Erinnern für die Zukunft. Formen des Gedenkens, Prozess der Aufarbeitung. Leipzig 2000

Nr. 12Jugend und Diktatur. Verfolgung und Widerstand in der SBZ/DDR. Leipzig 2001

Nr. 13Recht und Gerechtigkeit. Politische Häftlinge der SBZ/DDR im geteiltenund vereinten Deutschland. Leipzig 2002

Nr. 14Der 17. Juni 1953. Widerstand als Vermächtnis. Leipzig 2003

Friedrich-Ebert-StiftungBüro LeipzigBurgstraße 2504109 Leipzig

Redaktion Michael Parak, Matthias Eisel, LeipzigGestaltung Thomas Glöß, LeipzigFotos Rainer Justen-Behling, LeipzigDruck Jütte-Messedruck Leipzig GmbH

ISBN 3-89892-296-0

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