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AGUS-Schriftenreihe: Hilfen in der Trauer nach Suizid Vergebung nach einem Suizid – ein schwieriger, aber heilsamer Weg! Die spirituell-therapeutische Vergebungs- und Versöhnungsarbeit als Hilfe für Angehörige nach einem Suizid. 17-09_Broschüre_Vergebung_RZ2.indd 1 06.10.17 13:22

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AGUS-Schriftenreihe: Hilfen in der Trauer nach Suizid

Vergebung nach einem Suizid – ein schwieriger, aber heilsamer Weg!Die spirituell-therapeutische Vergebungs- und Versöhnungsarbeit als Hilfe für Angehörige nach einem Suizid.

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InhaltsverzeichnisWorum es geht 4Persönliche Annäherungen 5Schuld und Vergebung 6Was eigentlich bedeutet „Vergeben“? 10Vergebungsforschung nach Dr. Konrad Stauss 11Ein Perspektiv-Wechsel für Theologie und Kirchen 12Vergebung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes 16Vorsicht beim Vergeben! 19Wie heilen Beziehungsverletzungen? – Sieben biblische und therapeutische Aufgaben 21Die sieben Schritte der Vergebung 26Vergebung nach einem Suizid 29Danke! 34

Herausgeber: AGUS e.V. Bundesgeschäftsstelle Cottenbacher Straße 4 · 95445 Bayreuth Autor: Jörg Dittmar 1. Auflage 10/2017

Diese Broschüre wird im Rahmen der Selbsthilfeförderung nach § 20 h Sozialgesetzbuch V finanziert durch die BARMER. Gewährleistungs- oder Leistungsansprüche gegenüber der Krankenkasse können daraus nicht erwachsen. Für die Inhalte und Gestaltung ist AGUS e.V. verantwortlich. Herzlichen Dank für die Unterstützung.

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VorwortDie Gefühlswelt von Menschen, die einen nahestehenden Angehörigen durch Suizid verloren haben, ist vollkommen durcheinandergeraten: Schuldvorwürfe an die eigene Person wechseln sich ab mit Wut auf denjenigen oder diejeni-ge, der bzw. die sich das Leben genommen hat. „Wieso habe ich das nicht erkannt?“ und „Wie konntest du uns das nur antun!“ sind wohl zwei Aussagen oder Gedanken, die diese Gefühlswelten ausdrücken.

Die, die zurückbleiben, fühlen sich oftmals zutiefst verletzt: die Partnerin/der Partner, die Mutter/der Vater, die Tochter/der Sohn, die Schwester/der Bruder. Sie sehen sich als Opfer einer Handlung, der sie hilflos gegenüberstanden. Wer denkt in solch einem Moment an Vergebung?

Und doch scheint es gerade für den Trauerprozess nach einem Suizid wichtig, sich über die Beziehung zum Verstorbenen – auch über den Tod hinaus – Gedanken zu machen. „Welchen Platz soll sie bzw. er in meinem weiteren Leben haben?“

Jörg Dittmar hat im Alter von 28 Jahren seinen Vater durch Suizid verloren. Sein Vater war Pfarrer, er ist es auch. Das Wort Vergebung hat daher für ihn eine ganz besondere Bedeutung: zum einen aus seiner eigenen Biografie und zum anderen aus der Sicht des Theologen. Beide Perspektiven bringt er in dieser Broschüre zusammen, die aus spezifisch christlicher Sicht konkrete Schritte aufzeigt, wie Vergebung nach einem Suizid geschehen kann.

Jörg SchmidtAGUS-Bundesgeschäftsstelle

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Worum es gehtNiemand kommt ohne Verletzungen durch‘s Leben. Wo aber Menschen nicht nur körperlich, sondern auch im Innersten, in der Seele gekränkt, getroffen und verletzt werden, da wirkt dieser Schmerz weiter und kann langfristig großes Leid und dauerhaften Schaden anrichten. Seelische Verletzungen heilen letztlich nur durch Vergebung. Vergeben und Verzeihen ist ein Weg, für den man sich ent-scheiden muss, und den zu gehen Mühe und Ausdauer kostet. Man mag das mit einem alten Weg über einen Gebirgspass vergleichen. Wohl überlegt und nur mit guter Ausrüstung sollten man ihn wagen. Dann aber bringt dieser Weg gut über den Berg und zu neuen Ausblicken. Wer sich auf diesen Weg gemacht hat, der wird die Erfahrung machen, dass der Weg selbst ein Geschenk ist.

Das erlebt auch der Mensch, der Vergebung versucht und wagt: Da werden Kräfte spürbar, die tragen und heben und helfen. Insofern ist Vergebung ein spiritueller Weg. Er ist kommt letztlich nur mit der Hilfe „von oben“ und mit „himmlischem“ Beistand ins Ziel.

Vergebung ist nach einem Suizid sicher nicht das erste, was in den Blick kommt und kommen muss. Wo Angehörige mit dem Suizid eines geliebten Menschen konfrontiert werden, da sind sie vielen Gefühlen ausgeliefert: Entsetzen, Ohn-macht, Trauer, Wut, Schuldgefühlen, Abwehr und Verzweiflung. Mit der Zeit aber wird die Frage unmerklich ins Zentrum rücken, ob man dem Menschen, der da von eigener Hand sterben wollte, seine „Tat“ vergeben kann: Die Tat, die mir genommen hat, was mir so lieb war. Die Tat, die eine Beziehung abgebrochen hat und ein eisiges Schweigen ans Ende gesetzt hat. Die Tat, die Angehörige in den ersten Tagen danach wie noch Jahre später mit so großen Mühen der Bewältigung beschwert und immer wieder in Erklärungsnöte bringt.

Wie auch immer ein Suizid erklärt und gedeutet wird: Die Angehörigen sind durch ihn zu Opfern geworden. Und sie werden nur durch Vergebung wie-der frei sein. Wie das gehen kann, was dafür zu wissen gut ist und welche Schritte es bedeutet, auch welche Gefahren damit verbunden sind – dafür ist diese Broschüre entstanden. Eine wesentliche Grundlage dafür ist mir der Schatz der christlichen Religion und der biblischen Überlieferung. Dies wird man einem Pfarrer und Theologen wohl kaum übelnehmen. Aber wie jede Religion ihre besonderen Schönheiten, Schwerpunkte und Themen hat, so wird man im Folgenden auch entdecken können, dass das Christentum in Sachen

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„Vergebung“ eine herausragende Tiefe und Kompetenz entwickelt hat – allein deshalb, weil seine innerste Mitte ein Verwundeter und Verletzter ist, der zum Opfer wurde und vergeben konnte.

Persönliche AnnäherungenAusgangspunkt dieses Textes ist ein Vortrag, den ich für die AGUS-Jahres- tagung 2014 in Bad Berneck vorbereitet hatte. Dort wurde ich auch als Betroffener angekündigt. Das war und ist richtig und ich denke, es ist gut, allen folgenden Überlegungen die eigene Geschichte voranzustellen. Sie mag ver-mitteln, dass ich weiß, wovon ich spreche. Zugleich mag sie aber auch zeigen, dass Einsichten, die aus dem eigenen Erleben erwachsen sind, natürlich auch darin ihre Bedingtheit und Grenzen haben.

Es war ein schwüler Juni-Tag des Jahres 1997. Ich hatte meine Eltern in Bay-reuth besucht und kam an jenem Sonntag-Nachmittag in meiner Studenten- bude in München an. Ich hatte den Koffer noch nicht abgestellt, als das Telefon klingelte und ich Mutters Stimme hörte – wie gebrochen und sehr leise: „Wir haben Vater gefunden – er hat sich umgebracht. Er ist in einem Steinbruch von einer Felskante gesprungen.“

Sofort fuhr ich wieder zum Hauptbahnhof zurück und mit dem nächsten Zug nach Hause. Völlig unwirklich erschien mir alles um mich her: die Menschen am Bahnsteig, das Getriebe und Geschiebe der Wochenend-Pendler, das Rattern der Räder. Unwirklich auch, wie ich selbst funktionierte, mir eine Fahrkarte kauf-te und heimfuhr. Nur, ein Buch zu lesen - das gelang nicht. Starr schaute ich aus dem Fenster auf eine Welt, die an mir haltlos vorbeiraste.

Ich stand damals am Ende meines Theologiestudiums. Vater war auch Pfarrer und seit einigen Jahren im Ruhestand. Er litt unter Depressionen – schon län-ger. Es war schwer für ihn und auch oft schwer mit ihm, seine schwarze Sicht der Dinge und seine Antriebslosigkeit zu ertragen. Unsäglich mühsam war es, ihn irgendwie zu etwas zu motivieren. Immerhin war dieser Sonntag eigentlich schön gewesen: Wir waren miteinander im Gottesdienst. Wir hatten im Garten gegessen, und er hatte von seiner Examenszeit erzählt. Ich hatte dann Klavier gespielt – eher traurige Stücke und ein paar Auszüge aus der Matthäuspassion.

Persönliche Annäherungen

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Und jetzt endet dieser Tag so: Ich komme in Bayreuth an. Meine Mutter und mein ältester Bruder holen mich ab. Kurz zuvor war noch die Polizei im Haus gewesen und hatte getrennte Befragungen durchgeführt. Am Schluss – so hat mir meine Mutter berichtet – sagte der Beamte: „Wenn sich ein Pfarrer umbringt – dann haben wir eine Hoffnung weniger.“ Dieser Satz blieb im Raum.

Heute trage ich als Pfarrer und Dekan Vaters Talar. Ich habe mich gleichsam selbst in die Frage hineingesteckt, ob Glaube wirklich Licht in eine Seele – auch und gerade in eine verdunkelte Seele bringen kann. Und zugleich mahnt mich die Geschichte meines Vaters zur Nüchternheit und zur Treue zum zentralen Glaubensinhalt des Christentums: Nicht das äußere Glück des scheinbar ge- lingenden Lebens ist Beweis göttlichen Wohlwollens. Der Gott, der den gekreu-zigten Christus auferweckt, entpuppt sich als der, der denen zur Seite tritt, die im Schatten sind – im Schatten des Todes, der Schuld oder bitterer Schmerzen. Dort ist er Kraft.

Schuld und VergebungWer ist schuld? Wo immer etwas Schreckliches passiert, kommt diese Frage auf. Ob nach einem Terror-Anschlag die Verantwortung der Behörden durchleuchtet wird oder ob sich ein Krebspatient nach der niederschmetternden Diagnose fragt „Womit habe ich das verdient?“ – immer schwingt die Vermutung mit, dass eine „Schuldfrage“ geklärt werden kann und dann eine Art Ruhe einkehrt. Eine geklärte Schuldfrage verheißt Ruhe – zumindest eine trügerische und vorläu-fige. Wo eine klare Ursache benannt werden kann, da wird eine komplizierte Welt erklärbarer. Wo die Schuld einem Verursacher zugeschoben werden kann, da können sich andere selbst freisprechen und wieder in die Zuschauerposition zurückkehren.

Nach einem Suizid gelingt das nicht. Nach einem Suizid bricht für die nächsten Angehörigen die Schuldfrage los wie ein Wirbelsturm. Zwischen den Angehö-rigen kann der Kampf toben, wer im Auge des Orkans verharren muss und wer sich vielleicht wieder an den Rand schleichen kann. Aber der Mensch, der gegangen ist, hinterlässt die unselige Energie der Schuldfrage mit ihrer Unaus-weichlichkeit und Wucht.

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Im Sturm der Schuldfrage ist die erste und wichtigste Hilfe, nicht alles durch- einander wirbeln zu lassen und einiges fest zu zurren. Unterscheiden hilft!

a) Habe ich Schuld? Es sind drückende Fragen, die da an mich heranschleichen. Beinahe jeder Suizid drängt sie den Nächsten und Nahen auf wie eine Anklage, ja wie ein schon gefälltes Urteil: „Du bist schuld!“. Instinktiv erwacht sofort der Gegen-impuls, all das vom Tisch zu wischen. Aber das wird dauerhaft nicht gelingen, denn ein Leben lang wird es unsinnig Kraft kosten, sich jeder Frage eigener Verantwortung zu verschließen. Also gilt es, irgendwann behutsam Fragen zu-zulassen, die noch keine Urteile sind: „Was habe ich versäumt, vom dem, was mir als Hilfe möglich gewesen wäre? Hätte ich etwas unternehmen müssen? Was wäre gewesen, wenn …?“

Wie niemand ohne Verletzung durchs Leben kommt, so wird auch niemand durchs Leben kommen, ohne andere verletzt zu haben – mit andern Worten: Ohne Schuld kommt niemand durchs Leben. Wer es aushalten kann, in den Ab-grund eigener Schuld und in beißende Scham hinunterzuschauen, der beginnt barmherziger zu werden und macht erste Schritte und Fortschritte auf dem Weg der Vergebung.

Das Antreten eigener Schuld bedarf aber immer auch eines Maßes. Und dieses Maß liegt im Respekt vor dem anderen – speziell vor dem, der gegangen ist. Es geht um den Respekt, ihn nicht nachträglich zu entmündigen oder zur Marionette von Krankheitsschüben oder eigenen „Bedienungsfehlern“ zu machen. Einem überbordenden Schuldgefühl ist entgegenzuhalten, dass die Würde eines Menschen darin besteht, für seine Taten Verantwortung zu über-nehmen und sei es für seinen Suizid.

b) Hast Du Schuld?Auch das kommt unabweisbar: Hat vielleicht jemand anderes etwas unterlas-sen, getan, gesagt, verschuldet, was zum Suizid geführt hat? Wer war dem oder der Verstorbenen nahe? Wer hat ihm oder ihr die meisten Sorgen gemacht? Wer hätte helfen können? Warum war die oder der im entscheidenden Moment nicht da? Und selbst, wenn es in einer Familie den seltenen und glücklichen Fall gibt, dass gegenseitige Vorwürfe ausbleiben. Allein, wie unterschiedlich Men-schen trauern, ist nicht leicht zu verkraften. Es gibt den vergleichenden Blick darauf, wer wie deutlich und sichtbar trauert. Keiner aber weiß wirklich, wie

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tief das Innen und Außen eines Menschen auseinanderklaffen. Keiner weiß, warum Trost manchmal plötzlich greift und aufrichtet und wenig später wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzt. Doch der Blick auf den anderen ist zutiefst gefährlich, wenn er misst und abschätzt und vergleicht. Daran können Ehen und Familien zerbrechen.

Aber es kann natürlich wirklich so sein, dass im Umfeld eines Suizides ein Mensch neben mir in besonderer Weise schuldig geworden ist. Dann aber gilt es, sich selbst zu fragen: Wozu gibt mir diese Beobachtung das Recht? Ist die-ser Mensch wirklich „mehr“ schuld ist als ich? Klar ist: Gegen das tödliche Gift der Schuldzuweisung wird nur helfen, solidarisch zu bleiben im Wissen um den Ernst eigener Schuld. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!1

c) Welche Schuld hat der, der sich das Leben genommen hat? Schon das Wort „Suizid“ legt juristisch nahe, dass es einen Täter gibt und ein Opfer und beide identisch sind. Gibt es also sonst keine Opfer? Falsch, denn die Angehörigen sind Opfer dieser Tat geworden. Sie verlieren, wen sie geliebt haben, ihre Zukunft wird durchkreuzt, sie geraten in schwierigste Situationen und sind dem Toben von Scham und Schuld ausgeliefert.

Es gibt die Neigung und oft auch gute Gründe dafür, die „Schuldfähigkeit“ des-sen, der aus dem Leben scheiden wollte, in Frage zu stellen: Verzweiflung, Krankheit, wahnhafte Vorstellungen, vielleicht auch Drogen oder Alkohol spielen ja manchmal bei Suiziden eine Rolle. „Hat er überhaupt gewusst, was er tut und was er uns antut?“ heißt dann die Frage. Aus Liebe werden viele sagen und behaupten wollen: Nein! Tatsächlich nehme ich in den meisten Fällen an, dass die, die gehen wollen, keine wirkliche Einschätzung über den Schmerz derer haben, die zurückbleiben.

Aber im Trauerprozess erscheint es mir hilfreich und notwendig, dem Täter die Tat „wieder zurück“ zu geben. Es scheint mir hilfreich und auch angemessen, ihn nicht als bloßes Objekt anderer Kräfte anzusehen, als unfreie Murmel, die nur umhergestoßen wurde. Ein Mensch ist immer mehr als nur die Summe äußerer Faktoren und Zwänge. Dann aber muss ich eine Freiheit und eine Tat annehmen, die mich als Hinterbliebenen zum Opfer gemacht hat. Das ein-zusehen ist so wichtig, weil nur das Opfer das Recht hat und die Möglichkeit hat, zu vergeben. Das Opfer hat auch ein Anrecht, Schmerz und Kränkung zu empfinden und auch Klage darüber zu führen: „Mir ist hier Unrecht wider-

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fahren, bitteres Unrecht!“ – Nur so ist Vergebung überhaupt eine Option und eine Chance.

Zur Liturgie einer christlichen Beerdigung nach evangelischem Ritus gehört im-mer ein „Abschiedswort“2 – hunderte Male habe ich das als Pfarrer gesprochen. Und immer ist es mir als Verheißung und Aufgabe ins Blut gefahren, was ich da mit den immer gleichen Worten gesagt habe – auch bei den Beerdigungen von Menschen, die sich das Leben genommen haben:

Und dann eine Pause – eine große Pause. In diesem Moment kann man spüren, dass Vergebung etwas Großartiges und Gewaltiges ist – sicher nicht der Ent-schluss weniger Sekunden, sondern eher wie ein alter Steig über Gebirgspässe auf Wegen, die zum Glück andere von uns schon erprobt und gesichert haben. Und so setzt das liturgische Abschiedswort den Aufruf zur Vergebung fort mit der Begründung „…wie Gott uns vergibt, wenn wir ihn darum bitten. So nehmen wir Abschied mit Dank und im Frieden!“

Ein paar Worte, die im Augenblick der Beerdigung sind wie der Blick eines Vogels im Flug auf das Gebirge, das wir noch Schritt für Schritt zu überwinden haben.

Schuld und Vergebung

„Wer sie/ihn geliebt und geachtet hat,

trage diese Liebe und Achtung weiter.

Wen sie/ihn geliebt hat, danke ihr/ihm

alle Liebe.

Wer ihr/ihm etwas schuldig geblieben

ist an Liebe in Worten und Taten,

bitte Gott um Vergebung.

Und wem sie/er weh getan haben

sollte, verzeihe ihr/ihm das jetzt ...“

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Was eigentlich bedeutet „Vergeben“?Wovon reden wir, wenn wir von Vergebung reden? Vergeben ist, „wenn Ärger, Groll und Hass auf einen Menschen, der einen verletzt oder verraten hat, ver- ringert werden.“3 Das heißt aber eben nicht, „dass man den Täter von den Konsequenzen seiner Tat entbindet, diese entschuldigt, toleriert oder vergisst.“4

Damit klingt schon an, dass der Prozess des Vergebens in erster Linie „dem Opfer“ zugutekommt und sich bei ihm auswirkt. Allein schon weniger Ärger, Groll oder Hass im eigenen Herzen beherbergen und dauerhaft nähren zu müssen, ist eine große Entlastung.

Aber es geht noch um mehr: Das „Opfer“ macht sich wieder unabhängig vom Täter. Die schicksalhafte und schuldhafte Aneinander-Kettung kann wieder gelöst werden. Schließlich: Die erlittene Verletzung kann mit einem Sinn in die eigene Lebensgeschichte integriert werden – so z. B., dass das Opfer einen Wachstums- und Reifungsprozess wahrnimmt, der ohne die erlittene Ver- letzung und deren Vergebung nicht möglich gewesen wäre.

Und was heißt das für den Täter? Erst einmal gar nichts. Das ist ganz ent-scheidend! Denn Vergeben und Versöhnen sind zwei sehr unterschiedliche Vor- gänge und müssen gut auseinandergehalten werden: a) Versöhnung Versöhnung ist ein Prozess, bei dem Opfer und Täter (ggf. durch einen Media-tor) wechselseitig ein Verstehen, Reue, die Bereitschaft zur Wiedergutmachung entwickeln und auch die Möglichkeit der Vergebung in den Blick nehmen. So wird Stück für Stück eine Basis bereitet, auf der z.B. eine Begegnung und erste Schritte eines wechselseitigen Vertrauens wieder möglich werden.

b) Vergebung Vergebung ist ein Prozess, zu dem der Täter nichts beitragen kann. Vergebung geschieht im Opfer, durch das Opfer und aus dessen spirituellen Kraftquellen. Dieser Prozess bearbeitet die inner-seelischen Folgen einer Bindungs- und Beziehungsverletzung – so, dass sich das Opfer vom Täter löst und in eine neue Zukunft ohne oder mit möglichst wenig Nachwirkungen des Erlittenen auf- brechen kann.

Was eigentlich bedeutet „Vergeben“?

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Vergebungsforschung nach Dr. Konrad Stauss„Vergebung“ ist nicht nur ein Thema, das Einzelpersonen betrifft. Kollektive und gesellschaftliche Vergebungsprozesse haben in politischen Entwicklungen z. B. des 20. Jahrhunderts eine enorme Rolle gespielt: Man denke an den europä-ischen Einigungsprozess als Überwindung zweier Weltkriege und ihrer Gräuel und Unrechtstaten. Wer den Euro in die Hand nimmt, der fühlt ein Symbol der Vergebung und des Vertrauens ehemaliger Erb- und Todfeinde.

Vergebungs-Fragen spielten eine enorme Rolle in der Aufarbeitung und Über-windung der Apartheid in Südafrika. Mit der „Wahrheits- und Versöhnungskom-mission“ gelang in Südafrika die Untersuchung von politisch motivierten Verbre-chen während der Zeit der Apartheid. Sie wurde im Januar 1996 durch Präsident Nelson Mandela eingesetzt. Ziel war, Täter und Opfer miteinander in Dialog zu bringen und ein öffentliches Forum zu schaffen, in dem die Perspektive der Opfer einen großen Raum einnehmen durfte. Vorsitzender war Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. Mit seiner Tochter Mpho Tutu gab er 2014 „Das Buch des Vergebens“ als Ertrag dieser Arbeit heraus.

Erste Forschungsarbeiten zur Bedeutung und zu Möglichkeiten der Vergebung in den USA wurden schon vorher und unmittelbar auf der Basis der Erfahrungen in Südafrika auf den Weg gebracht. Die dort gesammelten Erkenntnisse wirkten sich auch auf die Aufarbeitung des DDR-Regimes und seiner Unrechts-Willkür aus. Der Umgang mit den Stasi-Akten und die Arbeitsweise der ursprünglichen sogenannten „Gauck-Behörde“ basierten im Kern auf Überlegungen der Ver-gebungsforschung: Die Tat wird aufgearbeitet und das Unrecht klar benannt. Anders als in Südafrika wurde die juristische Aufarbeitung der Unrechtstaten aber nicht ausgeklammert.

Dr. Konrad Stauss ist mit seinem Vergebungs-Buch („Die heilende Kraft der Vergebung“, 2010) im deutschsprachigen Raum einer der wichtigsten Vertreter der Vergebungsforschung geworden. Persönlich durfte ich ihn 2009 bei einem Vortrag kennenlernen. Als Arzt für Neurologie, Psychiatrie und psychosoma-tische Medizin war er von 1979-2000 ärztlicher Direktor der Klinik für psycho- somatische Medizin in Bad Grönenbach. Wir waren persönlich befreundet und in regem Austausch. Trotz der Tatsache, dass ich „nur“ Seelsorger und Theologe bin, durfte ich bei ihm die für Ärzte und Therapeuten konzipierte Ausbildung zum „Vergebungsberater“ machen und bin dabei, das Thema der Vergebungsarbeit

Vergebungsforschung nach Dr. Konrad Stauss

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vor allem in meiner Kirche zu platzieren und zu vertiefen. Im Sommer 2016 starb „Konni“ Stauss, wie er im Freundes- und Schülerkreis gerne genannt wurde.

Stauss hat aus seiner langjährigen Praxis beschrieben, wie heilsam sich Pro-zesse des Vergebens als therapeutische Interventionen bei Patienten auswirken und hat diese Effekte auch umfangreich evaluiert. Sein Ansatz dabei war, dass er seelische Störungen und psychische Krankheiten auf Bindungs- und Be- ziehungsverletzungen zurückführte, die Menschen erlitten haben: Menschen sind Opfer geworden und ihnen sind Wunden zugefügt worden. Diese seelischen Wunden aber können heilen, wenn Menschen denen vergeben können, die ihnen diese Wunden zugefügt haben. Bei der Frage, wie das geht, greift Stauss explizit auf das christliche Menschenbild und biblische Überlieferungen zurück. Immer wieder verweist er darauf, dass die christliche Religion das Thema „Ver-gebung“ wie keine andere ausgearbeitet und durchgearbeitet und in zeitlose Bilder und Erzählungen gefügt hat.

Insofern ist eindrucksvoll, zu welchem Schluss Stauss als Arzt und Therapeut für sich gekommen ist: Er könne ohne Rückbezug auf das christliche Men-schenbild seine Arbeit als Therapeut gar nicht tun. Wo religiöse Konzepte wie das der Vergebung säkularisiert werden, da beraube man sie ihres Kerns. Psychotherapie mutiere dann zu einer reinen „Technik“ oder zu einer „Strategie“. So plädiert er dafür, „das Wasser der Vergebung“ nicht flussabwärts, sondern „an der Quelle“ zu schöpfen.5

Ein Perspektiv-Wechsel für Theologie und KirchenDieser der christlichen Überlieferung gegenüber sehr wertschätzende Ansatz von Stauss bedeutet für die Theologie und die Kirchen, dass sie ihren eigenen Umgang mit dem Thema „Vergebung“ dringend überdenken müssen. Da sind gewaltige Missverständnisse am Werk:Denen, die vielleicht gelegentlich mal Gottesdienste besuchen, ist sicher die Rede vom „sündigen Menschen“ vertraut, der auf die Vergebung Gottes und seine Barmherzigkeit angewiesen ist. Gott also wird als der große Vergebende ver-kündigt. Der Mensch dagegen wird als passiver Empfänger dieser Vergebung hingestellt. Damit dem Menschen aber diese Gabe überhaupt „interessant“ und wünschenswert erscheint, versuchen immer wieder Prediger, weitreichende

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Schuldgefühle und Gewissensnöte bei ihren Hörern hervorzurufen. Alles, womit sich ein Schuldgefühl oder eine Ich-Verunsicherung erzeugen lässt, ist dann gut genug, den „Vergebungsbedarf“ eines Menschen neu zu entflammen. Letztlich steckt dahinter das waghalsige Unterfangen des Predigers, die Relevanz eines strafenden und vergebenden Gottes neu begründen zu wollen. Ob Gott das nötig hat?

Gefährlicher erscheint mir aber noch, dass in einem solchen Hervorlocken von Schuldgefühlen zumeist durcheinander gewürfelt wird, wo und in welcher Weise es dabei um Beziehungsverletzungen geht – und vor allem in welchen Bezie-hungen diese Verletzungen erlitten wurden. Wo ich meinen Nächsten verletzt habe, wird die Bitte um Vergebung nicht zuerst an Gott zu richten sein, son-dern an den, der verletzt wurde. Das hat Jesus Christus in seiner Bergpredigt unmissverständlich klar gemacht.6

So ist in einem sicherlich heilsamen Beicht-Prozess, der mich zu einer kritischen Reflexion meiner selbst und meiner Taten führt, vor allem zu fragen: „Wer wurde zum Opfer? Wer hat den Schaden erlitten? Wo habe ich mich an einem Mitmen-schen versündigt? Wo habe ich mich wirklich an Gott versündigt? Oder bin ich in erster Linie an mir selbst schuldig geworden?“ Unterscheiden hilft und klärt den nächsten Schritt.

Jedenfalls gilt: Vergebung ist keine „warme Dusche“ aus einer himmlischen Gießkanne, die alles „Schmutzige“ wegspült. Vergebung hat es mit der Mühe zu tun, Verletzungen ernst zu nehmen und zu verstehen und sie in konkreten Beziehungen Schritt für Schritt aufzuarbeiten.

Der dringend nötige Perspektivwechsel besteht nun darin, den Blick weg vom passiven „Vergebungs-Empfang“ auf den aktiven Prozess des Vergebens selbst zu richten. Die Frage heißt also: Was befähigt den Menschen, zu vergeben? Oder: Wie werde ich ein Mensch, der vergeben kann?

Wie sehr diese Frage im Zentrum der neutestamentlichen Botschaft steht, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. Hier eine kleine Auswahl: • Man denke an das Gleichnis vom Barmherzigen Vater (bekannter als „Gleichnis vom Verlorenen Sohn“ - Lukas 15,11ff), bei dem die unver- brüchliche und unwandelbare Liebe des Vaters sichtbar wird und den Hörer anrühren muss.

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• Oder man denke an das Gleichnis vom „Schalksknecht“ (Matthäus 18,21ff): Einem Menschen wird von einem König eine unvorstellbar große Summe an Schulden erlassen, was ihm und seiner Familie das Leben rettet. Der aber trifft einen, der ihm eine lächerlich kleine Summe schuldet. Dem gegenüber kennt dann der gerade Gerettete kein Erbarmen. Er lässt seinen Schuldner in den Turm werfen. Als das der König erfährt, macht er seinen Gnadenakt rückgängig und lässt auch den Unbarmherzigen in den Schuldturm werfen.

• An vielleicht prominentester Stelle steht der Auftrag, aktiv Vergebung zu üben, sicher im Vaterunser. Dort ist die Bitte um Vergebung gekoppelt mit dem Zusatz „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.7 Ob die eigene Vergebungsbereitschaft dabei als unbedingte Voraussetzung für die göttliche Vergebung (siehe Schalksknechts-Gleichnis) gedacht werden muss oder eher als „natürlicher Effekt“ göttlicher Güte, kann hier noch offen bleiben. Ein Auflösen der Kopplung von Vergebungs- bereitschaft und Vergebungsbedürftigkeit lässt das Vaterunser jedenfalls nicht zu. Wie sehr die Vergebungsbereitschaft der Jünger und Jünger- innen Einfluss hat auf das, was Gott zu vergeben bereit ist, zeigt schließ- lich die großartige Zusage Jesu an seine Jünger und Jüngerinnen: „Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das soll auch im Himmel gebunden sein, alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das soll auch im Himmel gelöst sein!“8

• So käme also in der Nachfolge Jesu Christi alles darauf an, nicht nur Empfänger der Vergebung, sondern vor allem „Täter der Vergebung“9 zu sein.

Wenn wir damit einen Schwerpunkt der Verkündigung Jesu somit neu fassen können, dann ist es von dort aus auch möglich, die gesamte biblische Überliefe-rung neu zu lesen. Stellen wir uns das doch mal so vor: Die ganze Bibel erzählt vor allem die Entwicklungsgeschichte, wie Gott das Vergeben lernt. Ausgangspunkt ist dann tatsächlich eine Verletzungs-Geschichte, die ihren Ort im Paradies hat. Ursprünglich stehen Gott und Mensch in einer vertrauensvollen Ur-Bindung. Die Regeln des Paradieses waren Schutzmauern einer Beziehung, wie sie jede Beziehung braucht. Dann aber wird dieses Vertrauensverhältnis zerstört durch Neugier, Misstrauen und Eifersucht. Grenzen werden überschrit-ten. Es folgt die Vertreibung aus dem Paradies und folgerichtig der erste Mord

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aus Neid – der Brudermord Kains an Abel. Schließlich wird das Unrecht, das der Mensch sich und anderen antut, für Gott zu einem solchen Schmerz, dass er sein Schöpfungswerk sogar bereut10. In der vernichtenden Sintflut brechen seine Wut und sein Schmerz heraus. Zur ganzen Grausamkeit der Geschichte gehört dabei auch der Anteil von Selbstbestrafung und Selbstvernichtung, wenn Gott sein Werk der Schöpfung dem Untergang preisgibt – jenes Schöpfungs-werk, das er anfangs so „gut“ fand.

Gottes Vertrauen zum Menschen regeneriert sich nur langsam wieder über gelingende Beziehungen zu Einzelnen (Abraham, Isaak und Jakob) und orga-nisiert sich in vertraglichen Regelungen, die Schmerzgrenzen offenlegen (10 Gebote) und Zusagen verbriefen. Gottes Weg, so „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Güte und Treue“11 zu werden, dass er Zornausbrüche, Rachezwänge und Strafprozeduren hinter sich lassen kann, gelingt im Alten Testament nicht ohne Rückschläge. Die Versuche, Barmherzigkeit zu lernen und auf Rache zu verzichten, führen schließlich zum Kreuz. Jesus Christus wird die Gottes-Wunde und Gottes-Verletzung als Person. Für Gott (und für die Menschen, die mit Gott fühlen können) wird das Kreuz Jesu zum Bild eines Schmerzes, der für Gott selbst unausweichlich geworden ist, und der nicht mehr verharmlost oder übergangen werden kann.

Was in der Vergebungsforschung klargeworden ist (dass niemand vergeben kann, der seine Wunden verstecken muss oder sie klein geredet bekommt), das wird symbolisch dadurch zugespitzt zum Ausdruck gebracht, dass der christ-liche Erlösungsweg nicht am Kreuz vorbei, sondern nur durch das Kreuz hin-durchführen kann. Wenn der sterbende Jesus am Kreuz sagt „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“12, wird er damit zum Urbild des vergebenden Menschen. Dass diese Vergebung zur Erlösung führt und zu einem Leben im Licht von Freiheit und Liebe, das ist dann Inhalt der Ostergeschichten. Die Auf- erweckung Jesu durch Gott gibt dem Vergebungsprozess das Zukunftsver- sprechen mit. Gott hat gelernt, zu vergeben und er ist lebendig und lebens-spendend für die, die selbst anderen vergeben. In Jesus Christus wird Gott selbst neu und neu geboren. Eine lange und große und aufregende Geschichte – manchmal wie ein steiler Bergpass mit steinigen Stecken. Und das alles für eine Botschaft: Vergeben zu können, ist ein Geschenk Gottes und eine mensch-liche Möglichkeit!

Ein Perspektiv-Wechsel für Theologie und Kirchen

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An dieser – zugegeben – gewagten Deutung der biblischen Heilsgeschichte ist noch ein Aspekt besonders wichtig. Vergebung ist eine freie Tat des Opfers, zu der der Täter nichts beitragen kann! Sie erinnern sich! In der biblischen Heils- geschichte ist dieser Aspekt durch Paulus und später durch die lutherische Rechtfertigungslehre wieder neu entdeckt und bestätigt worden. Vergebung „funktioniert“ eben nicht, wenn das Opfer Bedingungen an den Täter stellt, da-mit aber weiterhin von ihm jämmerlich abhängig bleibt. Vergebung „funktioniert“ nicht, wenn das Opfer Opfer bleibt und zum Abwarten verdammt ist, egal ob der Täter reuig ist, ob er sich schämt, entschuldigt, Schuldeinsicht zeigt, Wiedergutmachung anbietet oder Sühneleistungen bringt. Solange das Opfer abwarten oder abwägen muss, welches „gute Werk“ der Täter anbietet und wie er versucht, ungeschehen zu machen, was nicht ungeschehen gemacht werden kann – solange bleibt das Opfer passiv und ist wieder dem Täter ausgeliefert. Das Opfer bleibt an den Täter gekettet. Wirkliche und heilende Vergebung löst diese Kette. Und so muss der „Vergebungsprozess Gottes“ sich völlig lösen von dem, was Menschen dafür tun könnten.

Das ist der Kern der lutherischen Rechtfertigungslehre: Gott vergibt frei und „allein aus Gnade“. Echte Vergebung – auch zwischen Menschen – kann nur „sola gratia“, also „gratis“ und ohne Bedingungen geschehen. So wird die Be-ziehung von Mensch und Gott neu und heil.

Vergebung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes„Im Anfang ist die Beziehung“ und „Der Mensch wird am Du zum Ich“. Diese beiden Sätze und Grundsätze verdanken wir dem jüdischen Philosophen Martin Buber13. Er bringt damit treffend zum Ausdruck, was Überzeugung der biblischen und auch der christlichen Überlieferung ist: Der Mensch ist Be- ziehung und in der Beziehung ist er er selbst und wird er er selbst. Als Wesen, das gleichsam „aus Beziehungen“ gewoben ist, bestimmt die Bibel den Menschen im Wesentlichen auf drei Pole hin.

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Genauer betrachtet, stellen sich die drei Beziehungspole so dar:

• Ich und der/die Andere: Schon in der Schöpfungsgeschichte berichtet die Bibel davon, dass der Mensch nicht für das Alleinsein geschaffen war. So oft dem Schöpfungswerk das Prädikat „es war sehr gut!“ gegeben wird, umso mehr sticht das „es ist nicht gut“ heraus, als es um das Alleinsein des Menschen geht14. Eine „Hilfe, die ihm entspricht“ wird erschaffen und damit die wechselseitige Urbeziehung in einer wechselseitig gleichberechtigten Partnerschaft.

• Ich und Gott: Dass jeder Mensch seinem Wesen nach auf eine Beziehung zu Gott hin angelegt ist, ist beinahe für jeden biblischen Text grund- legend. Ob der Urmensch des Paradieses, Abraham oder Mose oder die, die Psalmen beten und verfassen, – sie alle sind mit ihrem Schöpfer und Bewahrer auf Du und Du. Und auch für Gott ist der Mensch nicht nur eine Nummer oder ein Herdentier. Sein Zugewandt-Sein ist indivi- duell und persönlich – so wie es bei Jesaia 42,1 zugesagt wird: „Siehe, ich habe dich bei Deinem Namen gerufen, du bist mein!“.

• Ich und Ich: Schließlich hat der Mensch noch eine „Selbst-Beziehung“. Der Selbstbezug und Rückbezug auf sich selbst (Reflexion) machen den Menschen aus. Selbst-Liebe, Selbst-Hass, Selbst-Kritik – das alles bekommt in vielen biblischen Geschichten Farbe und Tiefe. Vielleicht den tiefsten Einblick in die Abgründe eines in Selbstverurteilungen rotierenden Selbstbezuges bringt uns Paulus mit seinem Bekenntnis in

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Römerbrief, wenn er verzweifelt schreibt: „Ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse tue ich“15. Die Not eines zerbrochenen Selbst- bezugs beklagt er dann mit dem Ausruf: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen…?“.

Faszinierender Weise findet sich zur Bestimmung des Menschen als „Dreifach-Beziehungs-Wesen“ eine Entsprechung in der christlichen Gottes-Definition. Die christliche Glaubenslehre versteht Gott ja als „Trinität“, was nichts anderes bedeutet, als dass er selbst seinem Wesen nach „Beziehung“ ist. In der Trinität bezieht sich Gott-Vater auf den Geist und den Sohn. Auf diese drei Weisen wird Gottes Nähe und Gegenwart in der Bibel und von Menschen erlebt – in der Schöpfung, in Jesus Christus und im Geist der Gemeinschaft und Ekstase. Dies sind aber nicht nur drei „Masken“, sondern nach der altkirchlichen Trinitätslehre drei „Personen“, die zueinander in einem Verhältnis stehen: In Liebe, die Ver-bundenheit und Unterscheidung zulässt.

So könnte man sagen: Gott ist trinitarisch und der Mensch aber auf seine Weise auch. Entsprechend gilt ihm das „Doppelgebot der Liebe“ ja eigentlich als „Drei-fach-Gebot der Liebe“. Wenn Jesus zur Gottesliebe aufruft und dazu, seinen „Nächsten zu lieben wie dich selbst“16, dann geht es um das Ineinander und das Verschränkt-Sein von Selbst-Liebe, Nächsten-Liebe und Gottes-Liebe. So sind – das habe ich insbesondere von Konrad Stauss gelernt – diese Bezüge und Beziehungswelten nie strikt getrennt und isoliert voneinander. Störungen an einer Stelle wirken sich auf alle anderen Bereiche aus.

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Grafik: Jörg Dittmar

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Wie die Grafik zu zeigen versucht, kommt ein „Blitz“ also nie allein. Das dramatische Scheitern einer Paarbeziehung führt zu Selbstzweifeln und kann das Vertrauen in einen guten Grund des Lebens massiv, manchmal nach-haltig erschüttern.

Oder: Wo Kinder Gewalt erleiden mussten, ist ihr Urvertrauen oft genauso ver-letzt wie ihr Selbstvertrauen. Was so deformiert und destabilisiert wurde, kommt leider späteren Partnern oder eigenen Kindern gegenüber wieder zutage. Er- littene Gewalt wird überdurchschnittlich oft weitergegeben. So werden ehema-lige Opfer zu Tätern und der unselige Reigen und Teufelskreis geht in die näch-ste Runde.

Das Bewusstmachen der Verletzung und das Wagnis der Vergebung könnten diesen Zwang unterbrechen. Und dabei gibt es auch eine „trinitarische“ Verhei-ßung: Wie sich eine Störung auf alle Beziehungs-Pole auswirkt, so tut es eine Heilung auch. Wo Menschen eine „gepflegte“ und tragfähige Gottes-Beziehung haben, ist sie eine Ressource, Paar-Krisen zu überwinden. Wo es in therapeu-tischer Arbeit gelingt, dass sich ein Mensch neu mit sich selbst aussöhnen kann und sich selbst liebevoll annehmen kann, wird er neu beziehungsfähig. Ja, dann kann es plötzlich sein, dass seine spirituellen Möglichkeiten neu entfaltet wer-den. Wenn man so will: Wo eine Tür zu neuem Leben durch Vergebung aufgeht, da gehen andere, bisher verschlossene Türen plötzlich auch auf.

Vorsicht beim Vergeben!Vergebung? Her damit und los geht´s! Nach allem, was bisher gesagt wurde, könnte man Vergebung für ein Wundermittel ohne Nebenwirkungen und Ge-genanzeigen halten. Doch hier gilt: Halt! Vorsicht! Wer sich aufmacht, einem anderen vergeben zu wollen, kann gewaltig in die Irre gehen.

• Vergebung geht schief, wenn sie als herablassender Gnadenakt eines scheinbar unverletzlichen Menschen versucht wird. Es ist verlockend, aus der Position des scheinbar Souveränen auf den Täter herab zu blicken und ihm mit dem Verzeihen zugleich Verachtung teil werden zu lassen. In der Spirale des Konflikts kann das eine Strategie sein, die ihn freilich nicht lösen wird und mit Vergebung nichts zu tun hat.

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Vorsicht beim Vergeben!

• Vergebung ist in einer akuten Konfliktphase nicht möglich und auch nicht angebracht. Solange ein Angriff andauert, ist nicht daran zu denken, den innerseelischen Schutzpanzer zu öffnen und sich somit noch verletzlicher zu machen. Dies gilt meines Erachtens auch für Menschen, die trauma- tisiert sind. Der Vergebungsprozess erfordert ein gerütteltes Maß an Stabilität und emotionaler Differenzierungs- und Kontrollfähigkeit. Wenn der Vergebungsprozess an den Kern der Verletzung und – symbolisch gesprochen – „durchs Kreuz“ muss, ist die Re-Traumatisierung eine reale Gefahr.

• Vergebung kann niemals gefordert oder moralisch erpresst werden. Hier gilt es gerade in christlichen Milieus höchst vorsichtig zu sein, bei denen „einander zu vergeben“ „zum guten Ton“ gehört. Eine rein äußer- liche oder erzwungene Vergebung überdeckt den Konflikt und löst ihn nicht. Spätfolgen können bitter sein.

• Vergebung darf nicht an eine Bedingung geknüpft sein. Wo das Ver- geben abhängig gemacht wird z.B. von einem erwarteten Wohlverhalten des Täters, da wird es vergebens sein und in sich zusammenbrechen. Denn Vergebung entwickelt ihre Kraft nur „sola gratia“ in einer radikalen Emanzipation vom Täter.

• Überhaupt: Wer vergeben möchte, um sich dem Schmerz und dem Konflikt zu entziehen, dem wird das nicht gelingen. Der Weg der Vergebung verhindert nicht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schmerz, sondern erfordert genau diese Wiederbegegnung mit dem Erlittenen.

Gerade aus der letzten Mahnung zur Vorsicht ergibt sich, wieviel Bedacht und Vorsicht nötig ist, einen Anfang des Vergebens zu machen. In großartiger Ein-fühlsamkeit fasst das „Gebet vor dem Gebet“ von Desmond und Mpho Tutu dies in Worte:

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Wie heilen Beziehungsverletzungen? – Sieben biblische und therapeutische Aufgaben

Wie heilen Beziehungsverletzungen? – Sieben biblische und therapeutische AufgabenWie ganz konkret ein Vergebungsprozess aussehen kann, wird erst im näch-sten Kapitel Thema sein in der Beschreibung von sieben Schritten, die auf- einander folgen. Grundlegend für das Gelingen von Vergebung sind zuvor sieben Themenfelder und Aufgabenstellungen, durch die jeder Vergebungsweg führt, ohne dass damit eine Reihenfolge zwingend und unabdingbar wäre. Im Modell nach Stauss entwickelt er diese sieben Aufgaben aus therapeutischen und aus biblischen Bezügen. Ich will sie im Folgenden kurz skizzieren:

1. Aufgabe: Den Unschuldswahn überwinden!„Adam, wo bist du?“ ruft Gott am Abend den schuldig gewordenen Menschen, der sich vor ihm versteckt18. So verbinden sich Scham und Schuld im ersten Er-tappt-Werden der Menschheitsgeschichte. Und dann schiebt Adam die Schuld auf Eva. Und Eva schiebt die Schuld auf die Schlange. Und die Schlange hatte ja längst vorher schon Gott die Schuld gegeben, weil sie seine Regeln in Frage stellte und letztlich für obsolet erklärte.

Ich möchte bereit sein, zu vergeben,

aber ich wage nicht, darum zu beten,

dass mir diese Bereitschaft geschenkt wird,

damit du sie mir nicht schenkst,

bevor ich bereit bin.

Und ich bin noch nicht bereit.

Ich bin noch nicht bereit dafür, mein Herz zu erweichen,

ich bin noch nicht bereit dafür, wieder verletzlich zu sein […]

Schenke mir den Wunsch, vergeben zu wollen.

Schenke ihn mir noch nicht, aber bald.17

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Schuld haben und Schuld antreten möchte kein Mensch. Ungeheure Abwehr-kräfte können sich dagegen aufbäumen, die eigene Schuld einzusehen. Es kann ein sehr harter Weg sein, bis Menschen zu einer Schuldeinsicht kom-men und vielleicht immerhin ein „sorry“ über die Lippen bringen. Die wahrhaft wahnhafte Vorstellung dabei ist, dass wir schuldlos durchs Leben kommen könnten und dass es zumindest die Chance geben wird, sich hinter jemandem zu verstecken, der noch viel mehr „Dreck am Stecken“ hat als ich selbst. Nichts fürchten wir mehr, als ein Bloßgestellt-Werden. Und doch ist das letztlich die biblische Idee eines „Jüngsten Gerichts“, bei dem wir vor Gott stehen werden wie Gott uns schuf. Wie schrecklich das für mich wird, hängt allein daran, ob der vorgeschützte Panzer vermeintlicher Makellosigkeit zu meiner zweiten Haut geworden ist, oder ob ich schon lernen konnte, mich und andere mit gütigen und vergebenden Augen zu sehen. Kaum einer entkommt dem Unschuldswahn freiwillig und aus eigenem Entschluss.

Aber wo ein Mensch beginnt, Verantwortung zu übernehmen für sich und seine Taten wird er aus der Phalanx der Blender fallen in eine kleine, unscheinbar freundliche Gemeinschaft derer, die anderen nichts mehr vormachen müssen und aufgehört haben, andere zu verurteilen. Das wäre übrigens das Idealbild einer christlichen Gemeinde, die eine Gemeinschaft von Sündern ist und nicht eine Gemeinschaft von Gerechten.

2. Aufgabe: Den Wiederholungszwang durchbrechen!Ein beliebter Witz unter Psychotherapeuten zeigt das Problem: Da schaut ein Mann auf seine Frau voller Verachtung und sagt dann: „Ich verstehe nicht, wie du es mit einem Ekel wie mir überhaupt aushalten kannst!“

Die massive und notorische Selbstabwertung führt zur Abwertung des anderen. Wer will es der Partnerin verdenken, wenn sie ihrem Mann irgendwann tatsäch-lich diese Prophezeiung glaubt und ihn verlässt. Und „das Ekel“ erhält dadurch natürlich erneut die Bestätigung, wie richtig er in seiner Selbsteinschätzung lag.

Wie verbreitet Selbstabwertungen sind, ist mir als Seelsorger erschreckend oft deutlich geworden. Viele Menschen werden von „inneren Richtern“ gepeinigt, die sie klein und hässlich reden, verurteilen und abwerten. Was aber muss alles einem Menschen passiert sein, bis die innere Stimme mir nicht mehr Mut macht oder Trost zuspricht, sondern mich erniedrigt und beschimpft? Tiefe Verletzungen gehen dem voraus – oft schon an einer Kinderseele. Und mehr

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noch: Am schrecklichsten ist, wenn diese Verletzungen so in die Seele hinein-genommen wurden, als seien sie verdient und zurecht erlitten. Das sind die – im wahrsten Wortsinn – diabolischen und dämonischen Energien von Bindungs- und Beziehungsverletzungen. Nicht nur, dass ein Mensch zum Opfer gewor-den ist, sondern dass er irgendwann anfängt, zu glauben, er hätte das auch verdient und selbst verschuldet. Dadurch hinterlässt der Täter in der Seele des Opfers ein Abbild seiner selbst, das weiter schädigt und zerstört. So vollführt nach Innen dieses Täter-Abbild („Täter-Introjekt“) unablässig weiter sein Zerstö-rungswerk. Nach außen bewirkt (zumeist völlig unbewusst) erlittene Gewalt oft zur Anwendung von Gewalt gegen andere. Was die Psychologen „Täter-Opfer-Täter-Reigen“ nennen, ist somit der Motor einer Gewaltspirale und die stete Erneuerung von Beziehungsleid. Vergebung macht diesen Teufelskreis sichtbar und durchbricht in. Bis hinein zu den gesundheitlichen Auswirkungen haben die Vergebungsforschung und die psychosomatische Medizin die positiven Effekte der Vergebung evaluiert.

3. Aufgabe: Mir Gott zum Vorbild nehmen! Wenn Gott über die gesamte biblische Erzählspanne hinweg mühsam gelernt hat, wie Vergebung „funktioniert“, dann ist das spannender Lese- und Lernstoff für alle, die auch Vergebung üben wollen. Im Lukasevangelium bringt Jesus diese „Lern-Idee“ auf den Punkt: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“19

Gott, der sich in seiner Güte und Großzügigkeit unabhängig gemacht hat vom Gut- oder Böse-Sein der Menschen – diesen Gott empfiehlt Jesus in der Berg-predigt zum Vorbild und vergleicht ihn mit der Sonne, die allen scheint bzw. mit einem ersehnten, fruchtbaren Regen, der allen Erfrischung und Wachs-tum gönnt20. Nur so kann Jesus zur „Feindesliebe“ auffordern, die eben die Unterbrechung eines Täter-Opfer-Täter-Reigens ist und den Abbruch eines Reaktions- und Vergeltungszwangs bedeutet.

Sein Ausblick, „damit ihr Kinder seid eures Vaters“, übersteigt aber noch die Idee, sich an Gottes Barmherzigkeit zu orientieren und sie zu kopieren. Es gilt diese Barmherzigkeit und Großzügigkeit Gottes im eigenen Leben und über dem eigenen Leben neu zu erfahren und ihr neu vertrauen zu lernen wie ein Kind liebevollen Eltern vertraut. Auf dem steilen Weg der Vergebung wird der Blick auf den gütigen Vater eine ungeahnte Kraftquelle. Wo dann zaghaft eine

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neue Beziehung gewagt werden kann, ist das Gebet – gleich welcher Art – dafür Lebensatem und Herzschlag.

Und auch das wirkt sich aus auf die Möglichkeit, zu vergeben, wie Desmond Tutu es beschreibt: „Wenn ich merke, dass ich auf jemand wütend bin oder Groll gegen diese Person hege, bete ich für ihr Wohlergehen. Das […] hat oft schon die Tür zur Vergebung geöffnet“.21

4. Aufgabe: Ein Anfang für das Himmelreich! Manchmal mag es einem erscheinen, als habe die Menschheit eine große Epi-demie erfasst, als raffe uns über die Jahrhunderte und Jahrtausende eine hoch-ansteckende Krankheit dahin, die von Schuld zu Schuld führt, aus Opfern Täter werden lässt, die wieder andere zu Opfern machen und so endlos Beziehungs-leid aus Beziehungsleid entstehen lässt. Was uns täglich an Kriegen, Hass und Gewalttaten vor Augen geführt wird mit all dem, was das bei Opfern an Hass, Zorn und Rache sät, – muss das nicht alles zu einer Spirale der Selbstvernich-tung führen? Warum leben wir noch? Werden wir unmerklich bewahrt vor uns selbst? Geschieht in jedem Augenblick vielleicht viel mehr Gutes – Heilung, Ver-gebung, liebevolle Zuwendung, Schutz der Schwachen – mehr als uns jemals bewusst werden könnte und als jemals der Zerstörung anheimfallen könnte? Spekulativ sind solche Fragen. Ja. Aber wer sich anschickt, einem anderen zu vergeben, darf wissen, woher der Wind bläst und wohin die Reise geht. Das heißt nicht, dass es keine Widerstände geben wird. Das heißt aber, dass Jesus Christus mit einer festen Zuversicht das „Himmelreich“ in uns schon sieht und sein Wachsen und Werden in der Welt.22

Kern seiner Botschaft ist der Ruf „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“ – die Idee gelingender und heilender Beziehungen für alle und in allen Dimen- sionen. Jeder Vergebungsprozess bringt uns alle diesem Ziel einen Schritt näher. Und wenn die Welt wie eine große chaotische Baustelle ist, so legt jeder vergebende Mensch einen Stein dorthin, wo er am Ende gebraucht werden wird und das Ganze mittragen wird. Manchmal ist es wichtig zu wissen, dass ein einsamer Weg die ganze Welt zu einem besseren Ort macht und sie aufatmen lässt.

5. Aufgabe: Die Wunde und das Geheimnis der Kraft!Vergebungsarbeit führt zum Schmerz und zur Wunde. Sie geht nur „durchs Kreuz“. Wer will und wer es wagt, kann dazu auch tatsächlich das Kreuz Jesu

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Christi meditieren und betrachten. Das Neue Testament schildert uns am Bei-spiel Jesu, wie ein Mensch ein Äußerstes an Traumatisierung und Gewalt er-lebt, ohne dass seine drei Grundbeziehungen zerbrechen: Er ist nicht bestimmt vom Hass auf Menschen, er verfällt nicht einem Selbstzweifel und er verflucht nicht seine Gottesbeziehung. Aber die Passion Christi ist noch mehr als ein Vorbild für alle Passionen, die Menschen je erleiden müssen. Sie ist ein Bild, in dem ich all meine eigenen Verletzungen und Gebrochenheiten wiedererkennen kann. Sie ist ein Bild, in das ich gleichsam hineinschlüpfen und mich hinein- retten und bergen kann. Denn Gott selbst wird diesen Christus durch das Ster-ben hindurch zu neuem Leben tragen. Wer mit ihm stirbt wird mit ihm leben – so ist sich Paulus sicher23. Er ist der Gewährsmann jener spirituellen Paradoxie und Verwandlung, die im Eingestehen der Schwäche und im Zugeben der Ver-wundung zu Kraft und neuem Leben führt. Mit den Worten des Paulus heißt das dann so: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig!“24

6. Aufgabe: Mit reinem Herzen!Dass man mit dem Herzen „sehen“ kann, ist nicht erst eine poetische Erfindung von Antoine de Saint-Exupéry. Schon Jesus Christus verweist auf das Herz als Sinnesorgan einer ganz besonderen „Schau“: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“25 Wo im Herzen eines Menschen, der Opfer von Gewalt, Willkür oder Bosheit wurde, Hass, Rache oder Groll vaga-bundieren, wird „Reinheit“ schmerzlich vermisst. Aber wie wird das Herz wie-der „rein“? Natürlich nicht durch Verdrängung, Versteckspiele oder das Über- tünchen der Oberfläche. Das Herz macht rein, worauf es schaut und wohl auch wie es schaut.

Gott schauen – im Bezug auf mich selbst hieße: den Blick des glücklichen Schöpfers auf mir selbst empfinden können, der stolz ist und voller Wohlge-fallen. Einen Blick, der in mir – trotz aller Entstellungen, Verkrümmungen und Wunden – auf ewig sein geliebtes Kind sieht.

Gott schauen – in Bezug auf den, der an mir schuldig wurde: Auch dieser Mensch wird mir irgendwann wieder als Gottes Schöpfung vor Augen sein können. Auch dieser Mensch ist und bleibt in allen Entstellungen Gottes Kind. Diese besondere Schau auf Menschen und gerade auf die, denen wir besser nie begegnet wären, eröffnet die Möglichkeit der Einfühlung und den Beginn des Verstehens. Wichtig: Es geht nicht darum, den Täter zu entschuldigen und ihn psychologisierend von seiner Schuld frei zu sprechen. Aber die Schau des

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„reinen Herzens“ kehrt zur Menschlichkeit zurück und öffnet für Barmherzigkeit und „Warm“-Herzigkeit. Vergebung beginnt mit diesem Perspektiv-Wechsel: Was hat den Täter angetrieben? Worin war er selbst Opfer geworden? Was hat die Tat ihm selbst angetan und genommen?

7. Aufgabe: Werden, was ich bin!Selbstverwirklichung ist ein Modewort, das die Bibel nicht kennt. Aber sie meint genau dasselbe mit einem anderen Wort: „Umkehr“. In jeden Menschen ist der Same gelegt, in Frieden und Liebe mit sich selbst, mit Gott und mit seinem Nächsten zu leben. Vergebung bzw. Um-Kehr führt auf diesen Kern zurück und damit zu meiner eigentlichen Lebensaufgabe. „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“26 sagt Jesus und stellt uns damit in den denkbar größten Rahmen. Jeder barmherzige Gedanke über einen andren, jede Unterbrechung eines Vergeltungswunsches und jeder kleine Schritt der Vergebung macht uns Gott ähnlicher und lässt aufscheinen, dass wir zu seinem Ebenbild erschaffen sind. Das Bild, in das wir schauen, ist freilich kein Spiegel. Es ist Gott in seinen Armen, Notleidenden und schuldig Gewordenen.Hier der Überblick über die Aufgaben, die in einem Vergebungsprozess zu bewältigen sind:

Die sieben Schritte der Vergebung

Die sieben Schritte der Vergebung

Und dennoch gibt es über das Gebirge fremder und auch eigener Schuld nicht nur einen Weg. Vergebung kann gut ge-lingen als therapeutischer Pro-zess oder in seelsorgerlicher Begleitung. Vergebung kann auch gelingen in der Arbeit einer Gruppe. Aus der Arbeit von Dr. Stauss sind vielfältige Angebote dieser Art entwickelt

Nun müsste es losgehen. Im Bild der Alpenüberquerung auf alten Pass-Wegen könnte man sagen: Genug der Vorrede! Der Rucksack ist gepackt, das Schuh-werk stimmt, der Proviant ist besorgt und die Risiken sind abgewogen.

Grafik: Jörg Dittmar

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worden. Ich möchte aber auch glauben, dass Menschen ganz ohne fremde Hilfe zu echter und heilender Vergebung durchdringen können, ja dass sogar im letzten Atemzug Raum dafür sein kann.So belasse ich es hier nun bei einer groben Skizze des Weges, wie ich ihn selbst gelernt und erprobt habe:

1. Schritt: VorbereitungIch überlege mir gut, schreibe es vielleicht sogar auf und kläre für mich die Fragen: Will ich es wirklich? Wem will ich vergeben? Habe ich Zeit und Raum für diesen Weg jetzt in meinem Leben? Wovor muss ich kapitulieren, wenn ich vergeben will? Was müsste ich loslassen, was könnte mir zufallen, wenn ich vergebe? Ich halte inne und ich bete. Ich werde spüren, wenn die Zeit gekommen ist.

2. Schritt: Die traumatische Schlüssel-SzeneAuf der Spur von Groll, Vorwürfen und dem Schmerz, wie er jetzt noch spürbar ist, gehe ich zurück: Was ist passiert? Was ist mir passiert? Ich will durch den Nebel der Ereignisse zu einem konkreten Bild kommen und zu einer Szene, die greifbar macht, was tatsächlich vorgefallen ist. Was war am Schlimmsten? Diese Frage stellt mich neu vor den Täter oder die Täterin. Worum ging es? Welches Unrecht ist mir geschehen? Wie bin ich verletzt worden? Was war die schlimmste Situation? Was habe ich gefühlt? Was wirkt noch weiter? Dieses Zurückkehren zum Ort der Tat und zum Moment des Verletzt-Werdens kann sich manchmal als vorläufige Etappe erweisen. Manchmal verletzen uns Menschen, wo wir schon Narben haben und ältere, nicht ausgeheilte Wunden klaffen. Dann kann es nötig sein, noch weiter zurück zu gehen und mich zu fragen: Warum tat mir das so weh? Gibt es eine noch ältere Wunde? Gibt es eine Geschichte vor der Geschichte?

3. Schritt: Wut und Schmerz haben Recht und RaumJetzt ist Selbstmitleid erlaubt – freilich nicht als wehleidiges Bedauern. Wohl aber als Mitgefühl mit mir selbst und als Selbstverteidigung: Ich habe nicht verdient, was mir geschehen ist! Es war und bleibt Unrecht. Ich erzähle meine Geschichte – mir, Gott, einem vertrauten Menschen, irgendwann vielleicht sogar dem Täter. Wut und Schmerz brauchen jetzt Worte und Bilder. Ich beschimpfe nicht, ich beschreibe und ich sage, was mir angetan wurde, was ich gefühlt habe, was mir nachhängt bis heute. Ich sage klar, was mir genommen wurde und was eigentlich mein Recht, mein Wunsch und mein Bedürfnis gewesen wären.

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4. Schritt: Der Weg des TätersIch wage, nach den Beweggründen des Täters zu fragen. Was weiß ich über ihn? Weiß ich etwas über seine Geschichte? Weiß ich etwas von seinen Verwun-dungen, ungestillten Bedürfnissen oder erlittenen Demütigungen? Wo gelingt mir Mitgefühl? Wo bleibt er mir fremd? Das Fremde gebe ich zurück und ich ach-te, dass er seine Verantwortung zu tragen hat. Ich spüre, wie ich stärker werde.

5. Schritt: Gottes Hilfe!Noch einmal richte ich meinen Blick auf den Täter: Könnte ich auf ihn barmherzig blicken? Ich will es versuchen. Wie der Vater auf seinen verlorenen und heimge-kehrten Sohn blickt, wie eine Mutter, für die ihr Kind immer ihr Kind bleiben wird – egal was es getan hat: so schaut Gott auf den Täter. Kann ich so auch auf ihn schauen – mit Gott schauen? Ich will versuchen, aufkeimende Wünsche nach Rache und Vergeltung fallen zu lassen – immer wieder. Ich will nicht zurück-schlagen. Ich will begreifen, welchen Schaden die Tat dem Täter selbst zugefügt hat. Ich bete um Hilfe und um Kraft. In dieser Phase schlägt Konrad Stauss vor, Briefe zu schreiben, die das Mitfühlen einüben und zugleich vertiefen und klären. Wohlgemerkt: Die Briefe sind jeweils Briefe, die ich schreibe!

1. Brief: Aus der Sicht des Täters, der mir von seinen Beweggründen schreibt und mir seine Tat erklären möchte, ohne sie zu entschuldigen. 2. Brief: Wieder aus der Sicht des Täters, der mir versucht zu beschreiben, welche Konsequenzen die Tat für ihn hatte und welchen Schaden er sich damit selbst zugefügt hat.3. Brief: Und wieder aus der Perspektive des Täters, der versucht Mitgefühl und Verstehen für das zu formulieren, was er mir angetan hat und was ihn mit tiefer Reue erfüllt.4. Brief: Und noch einmal aus der Perspektive des Täters, der seine Reue deutlich macht und mich um Vergebung bittet.5. Brief: Endlich stelle ich als der, der jetzt schon viel geschrieben hat, in meinem eigenen Namen ein „Zertifikat“ aus, das meinen Entschluss zur Vergebung be-stätigt und meine Gründe und die daran geknüpften Hoffnungen zusammenfasst.

6. Schritt: Das Vergebungs-RitualIn den therapeutisch begleiteten Vergebungsprozessen wie auch in den Gruppen- Modellen verdichtet ein Abschluss-Ritual die Ergebnisse des bisherigen Weges: Die Entscheidung, vergeben zu wollen, wird noch einmal bestätigt. Die Briefe werden Stück für Stück – vielleicht an unterschiedlichen Stationen – verlesen.

Die sieben Schritte der Vergebung

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Am Schluss kann ein Gebet stehen und die Bitte um Gottes Hilfe. Zweifellos wichtig und heilsam ist die symbolische Zuspitzung und die Markierung eines bewussten Aktes, der gut erinnert werden kann. Natürlich kann ein Kirchenraum dafür Orte und Stationen bieten. Anderen mag ein Spazierweg diesen Dienst tun.

7. Schritt: Das Aufrechterhalten der VergebungDies ist gleichsam der Schlussstein des Vergebungsrituals und das Ende des Vergebungsweges: Weil Vergeben kein Vergessen ist, weil negative Gefühle zu-rückkehren können und weil je nach Gemüts- und Lebenslage alte Schmerzen und Grübeleien wieder Kraft gewinnen können, muss der Schritt des Vergebens gut erinnerbar sein. Die guten, teils überwältigenden Gefühle nach Abschluss einer Vergebungsarbeit helfen zum Ausstieg aus niederdrückenden Gedanken-Spiralen. Das „Zertifikat“ ist ein greifbarer Beweis für den gemeisterten Weg ebenso wie der Abschlussort des Vergebungsrituals, der als heiliger Ort wieder aufgesucht werden kann. Die biblische Tradition würde das Anrennen überwun-dener Düsternisse „Anfechtung“ nennen und weiß, dass wir davor zu Lebzeiten nicht dauerhaft sicher sein können. Sie wird uns immer anraten, beim Stärkeren Zuflucht zu suchen und uns von Gott selbst verteidigen zu lassen.

Vergebung nach einem SuizidDie bisherige Darstellung des Vergebungsweges war nicht rein auf Angehörige nach einem Suizid bezogen. Da der Suizid die so „ganz andere Tat“ ist, ist mir jetzt am Ende wichtig, einige Besonderheiten zu nennen, die in diesem Sinne nur Angehörige nach dem Suizid eines nahestehenden Menschen betreffen. Da Fall-geschichten höchst unterschiedlich sein können, möge man das Folgende freilich nur als Anregung und als meine sehr persönlich begrenzte Sicht verstehen.

a) Wut und Schmerz zulassen und auch den Zorn!Der Suizid ist ein Tabu und noch mehr ist tabu, den Verstorbenen nicht zu bemit-leiden, sondern Zorn auf ihn zu empfinden. Die Hürden für Angehörige sind dabei enorm hoch. Noch immer gibt es Suizide, die als streng gehütete Familien-ge-heimnisse mühsam versteckt werden. Die Last, die sich Angehörige damit auf-bürden, ist auf die lange Strecke um ein Vielfaches schwerer, als sofort zur Rät-selhaftigkeit des Ereignisses zu stehen und die Todesart zu veröffentlichen. Wo dies nicht geschieht, ist der Weg dann noch länger und anstrengender, unlieb- same Gefühle wie Zorn und Wut auf den Verstorbenen zuzulassen. Doch

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selbst wenn alles offengelegt wird, fällt es schwer, den oder die Verstorbene als zurechnungsfähigen Täter zu betrachten, dem – bei aller Trauer und bei allem Mitgefühl – Verantwortung zu geben ist für das, was er den Angehörigen durch seinen Suizid angetan hat. Wie schon auf Seite 8 dargestellt (Welche Schuld hat der, der sich das Leben genommen hat), kann ich nur dann den Verstor-benen nach einem Vergebungsprozess in Frieden ziehen lassen, wenn ich die Verletzung und das Unrecht im Blick habe, das mir zugefügt wurde. Anders gesagt: Man tut seiner eigenen Seele und man tut dem Verstorbenen durchaus etwas Gutes, wenn man ihn nicht nur als Opfer, sondern auch als verantwort-liche und immerhin in Teilen zurechnungsfähige Täter-Person betrachtet.

b) Nebenschauplätze anschauen!Wo immer Angehörige nach einem Suizid ihre Geschichte erzählen, gehören dazu auch Mitmenschen und Zeitgenossen, die sich völlig unsensibel benommen haben und in dieser heiklen Phase der ersten Tage und Wochen schwere Fehler gemacht haben. Das können dumme Bemerkungen von ferneren Angehörigen sein, seltsame Blicke von Nachbarn, grobe und trampelige Vorgehensweisen von Polizei, Behörden, Pfarrern oder Bestattern. Allein das Schweigen und laut-lose Zurückschleichen einiger Freunde und Freundinnen kann selbst eine mas-sive Verletzung darstellen. Der Suizid eines Menschen überfordert alle, die damit zu tun haben. Und der Suizid eines Menschen im näheren Umfeld ist leider so häufig, dass der je neue Fall auch leicht auf alte seelische Wunden oder Vernar-bungen treffen kann. Einen Weg der Vergebung zu beschreiten, kann auch auf diesen „Nebenschauplätzen“ zu enormer Entlastung und Erleichterung führen. Wem es gelingt, aus einer vorwurfsvollen oder abwartenden Haltung gegenüber seinem „Umfeld“ herauszutreten, das sich grober Fehler schuldig gemacht hat, und dann – nach einem Vergebungsweg – neu Beziehungsangebote zu machen oder zumindest den eigenen Groll fahren zu lassen, befreit sich aus der Opfer-rolle und beginn neu, sein Leben aktiv zu gestalten. Vergebung kann freilich nicht einer Gesamtgruppe oder einem unscharfem Kollektiv gegenüber gelingen. Es kann aber sein, dass der bewusste Vergebungsweg im Blick auf eine Person, deren Fehlverhalten besonders schmerzhaft war (z. B. dieser konkrete Polizist oder dieser konkrete Pfarrer), dazu führt, dass eine umfassendere Entlastung eintritt und ein „Geist der Vergebung“ auch für alle anderen spürbar wird, die offensichtlich auch von der Situation überfordert waren. Wohlgemerkt: Der Ver-gebungsweg gegenüber einer konkreten Person vollzieht sich völlig unabhängig und ohne diese Person. Wo der Entschluss zur Vergebung klar gereift ist, kann freilich eine Mitteilung darüber an den Betreffenden überlegt werden. Ob es mög-

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lich ist, dann einen ersten Schritt von der Vergebung in Richtung Versöhnung zu gehen, ist eine Möglichkeit, die wohl überlegt sein soll. Hier den Rat z. B. eines Seelsorgers oder einer Seelsorgerin einzuholen, ist sicher gut und hilfreich.

c) Mitgefühl hat Grenzen!Sowohl die Schuldfrage, die der Suizid auslöst, als auch die manchmal erfol-genden medizinischen oder psychologischen/psychiatrischen Erklärungsver-suche führen leicht zu einer nachträglichen Entmündigung des Suizidenten und zu seiner Entschuldigung im Sinne einer Unzurechnungsfähigkeit. Zugleich wird damit der letzte, unhintergehbare Wille verleugnet, mit dem ein Mensch seinem Leben ein Ende gesetzt hat.

Meiner Überzeugung nach gibt es hier eine Grenze, die nicht zu überschreiten ist: Es ist die Grenze des Mitgefühls. Vergebungsarbeit versucht, Empathie und Einfühlung für den Täter möglich zu machen und „in Fluss“ zu bringen. Welche Wege der Täter gehen musste bis hin zur Tat, was hinter ihm liegt und dass die Tat sicher auch Ausdruck dessen ist, was der Täter selbst schon erlitten hat und durchmachen musste – das mitzudenken und mitzufühlen erfordert der Verge-bungsweg. Aber er rechtfertigt deshalb die Tat nicht und wird nicht das Unrecht der Tat wegwischen und auflösen. Dabei ist die philosophisch-moralische Fra-ge, ob ein Mensch das Recht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht die entscheidende Frage. Wesentlich ist die persönliche Zuspitzung und Klarstel-lung: Nein, ich habe es nicht verdient und mir geschieht Unrecht, dass und wie der geliebte Mensch aus dem Leben geschieden ist.Die Grenze der Einfühlung und der Empathie auf dem Vergebungsweg liegt da-mit dann vor der letzten, unumkehrbaren Entscheidung des Verstorbenen. So mag mir bis in depressive Stimmungen und in die Abgründe tiefer Verzweiflung hinein ein Einfühlen gelingen. Für die allerletzte Entscheidung nehme ich mir das Recht, Mitgefühl zu verweigern. Es ist die Selbstbehauptung meiner Vitalität und meiner Treue zum Lebensgeschenk, mit der ich mich hier einem finsteren Sog verweigere und entgegenstelle. Ich bin dennoch überzeugt: Das tut der Kraft der Vergebung und dem Gelingen des Vergebungsweges keinen Abbruch!

d) Nicht tiefer als in Gottes HandMit „reinem Herzen“ schauen – so wie Gott auf Menschen schaut: Für Ange-hörige nach einem Suizid ist das eine offene Frage und zugleich ein wichtiger Trost. Wird Gott unseren Verstorbenen gnädig und barmherzig aufnehmen und auffangen?

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Oft ist ja ein Suizid nicht nur Ausdruck eines Sich-Entziehens und eines Weg-laufens. Er kann auch angetrieben sein von einer Hoffnung – zumindest auf ein Ende des empfundenen Leids, auf eine Ruhe oder vielleicht sogar noch all das „mehr“, was im Wort „Erlösung“ Platz haben kann. Sind aber solche Hoffnungen nur Irrsinn und wird der Sprung ins Ungewisse zu einem Sprung in die unend- liche Verlängerung der Plagen, denen man gerne entkommen möchte? Die christliche Theologie wird über alle ihre Irrwege, Versuche und Verfehlungen im Umgang mit dem Suizid nie aus folgendem Dilemma herauskommen: Gott ist selbst das Leben und will nicht, dass wir uns selbst zu Herren und Herrschern über Leben und Tod machen. Zugleich aber sind Gottes Güte, Barmherzigkeit und sein Erbarmen ohne Grenzen. Ein Suizid wird Gott in seiner Liebe zu die-sem Menschen und in seiner Liebe zum Leben immer tief verletzten. Aber ein Gott, der gelernt hat, zu vergeben, der wird – ganz ohne Zweifel – den gnädig, tröstend und erlösend auffangen, der auf unserer Seite des Lebens keinen Ausweg mehr sah.

d) Siehe ich mache alles neu!Wer sagt eigentlich, dass man nicht auch mit Gott selbst „eine Rechnung offen“ haben kann? Wie auch immer wir jene höhere Macht nennen, auf die wir die Schickungen des Schicksals zurückführen – da ist auch ein „Täter“, der Lebenswege knüpft, Lebenskräfte lenken und wohl auch versagen kann. Wut und Groll kann auch in dieser Grund-Beziehung unseres Lebens aufkommen, Vertrauen kann verletzt werden und Schaden leiden. Warum sollten nicht auch wir in unserem Leben Grund haben, Gott vorzuwerfen, wo er uns oder andere verlassen hat. Jesus tut das am Kreuz mit Worten eines biblischen Psalms. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“27 ist mehr als eine Klage. Hier tut sich auf, dass ein Mensch vor der Aufgabe stehen kann, seinem Gott zu vergeben.

Ein Suizid stellt uns vor einen Berg, der sich aus verwirktem und ungelebtem Leben unselig auftürmt. Wer versucht, seinem Gott zu vergeben, den setzt er über auf neuen Boden und in die Verheißung „Siehe, ich mache alles neu!“28. Gelebtes und ungelebtes Leben macht Gott neu. Möge es gelingen, dass der Verstorbene seinem Gott verzeihen kann, was ihm an Leben und Glück ver-sagt geblieben ist. Möge es mir selbst gelingen und möge mir Gott entgegen- kommen, wenn ich versuche, ihm neu die Hand entgegenzustrecken und ihn zu hoffen und zu glauben als guten Vater über unserer Welt!

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Danke!… für die Geduld des Lesens. Danke an AGUS für die Möglichkeit, diese Bro-schüre als Vertiefung meines Vortrags bei der Jahrestagung 2014 schreiben zu können. Hierbei möchte ich insbesondere Frau Elisabeth Brockmann danken, die an der Idee dieses Projektes festhielt sowie Herrn Jörg Schmidt, der mit der Drucklegung nicht wenig Mühe hatte. Danke meiner Mutter Hannelise Dittmar, die mich durch ihr langjähriges, ehrenamtliches Engagement im Bundesvor-stand von AGUS immer in Kontakt hielt mit der so wertvollen Arbeit der Selbst-hilfegruppen. Ihr Umgang mit dem Tod unseres Vaters, ihres Ehemanns, war für mich immer prägend, hilfreich und auch für viele andere Menschen ein Trost. Großen Dank schließlich meiner Frau Nadine Dittmar, die in der kritischen und liebevollen Begleitung von Text und Autor eine unverzichtbare Hilfe war. Danke schließlich den Vätern im Himmel.

Danke

1 Vgl. Johannes 8,7.2 Agende für die evangelisch-lutherische

Kirchen und Gemeinden, Band III, Teil 5,

hrg. durch die VELKD, Hannover 1996,

S. 38.3 K. Stauss, Die heilende Kraft der Vergebung

– Die sieben Phasen spirituell-therapeuti-

scher Vergebungs- und Versöhnungs-

arbeit, München 2010, S. 28.4 Ebda., S. 28.5 Ebda., S. 30.6 Matthäus 5,23f.7 Matthäus 6,12.8 Matthäus 18,18.9 In Anlehnung an Jakobus 1,22.10 Zur „Reue Gottes“ siehe 1. Mose

(Genesis) 6,6f.11 2. Mose (Exodus) 34,6f.12 Lukas 23,34.13 M. Buber, Ich und Du, Heidelberg,

8. Auflage 1974, S. 25 + 37.

14 Vgl. 1. Mose (Genesis) 2,18.15 Vgl. Römerbrief 7,15-24.16 Markus 12,29-31 (unter Verweis auf die

alttestamentlichen Quellen in 5. Mose 6,4-5

und 3. Mose 19,18).17 D. und M. Tutu, Das Buch des Vergebens

– Vier Schritte zu mehr Menschlichkeit,

Berlin 2014, S. 17.18 1. Mose (Genesis) 3,8ff.19 Lukas 6,36.20 Matthäus 5,45.21 D. und M. Tutu, Das Buch des Vergebens

– Vier Schritte zu mehr Menschlichkeit,

Berlin 2014, S. 125.22 Lukas 17,21 und z.B. Matthäus 4,17.23 Vgl. 2. Korinther 4,7-12.24 Vgl. 2. Korinther 12,9.25 Matthäus 5,8.26 Matthäus 5,48.27 Markus 15,34 und Psalm 22,2.28 Offenbarung 21,5.

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Autor Jörg Dittmar (Jahrgang 1969) ist aufgewachsen in einem oberfränkischen Pfarrhaus nahe Bayreuth. Nach dem Zivildienst in der Altenpflege studierte er Evangelische Theologie, Philosophie und Kul-turwissenschaften in Tübingen und München als Stipendiat der bayerischen Hochbegabtenförderung. Während seines Studiums war er Mitarbeiter der Münchner Bahnhofsmission und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Systematische Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem absolvierte er Praktika in der Bundeswehr- und Polizeiseelsorge sowie in der Seelsorge beim Bundesgrenzschutz.

Sein Vikariat verbrachte er in Bad Neustadt und wurde 1999 ordiniert. Er arbeitete als Pfarrer an der Johanneskirche in Goldbach und an St. Matthäus in Aschaffenburg sowie als Dekanatsjugendpfarrer im Dekanatsbezirk Aschaf-fenburg. Zusätzlich ließ er sich zum nebenamtlichen Gemeindeberater der Gemeindeakademie Rummelsberg (2003) und zum Vergebungsberater (2010) nach Dr. Konrad Stauss (Bad Grönenbach) ausbilden.

Seit 2008 leitet Jörg Dittmar als Dekan den Dekanatsbezirk Kempten/Allgäu mit seinen ca. 64.000 evangelischen Christen, den 23 Kirchengemeinden, ungefähr 50 Pfarrstellen und all den angeschlossenen Einrichtungen und Werken der Evangelischen Kirche im Allgäu. 2014 gründete er den Fachbeirat für Suizidprävention im Allgäu und begleitet ihn bis heute. Seit 2017 ist er Vor-sitzender der ACK Kempten (Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen) und Mitglied im landesweiten Ökumene-Fachausschuss seiner Kirche. Jörg Dittmar ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Autor

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AGUS e.V. – Selbsthilfe nach SuizidAGUS steht für „Angehörige um Suizid“ und wurde als Verein 1995 in Bayreuth gegründet. Fünf Jahre zuvor fand dort auch die erste Sitzung der bundesweit ersten Selbsthilfegruppe für Angehörige statt. Die Initiatorin war Emmy Meixner-Wülker, die ihren Mann 1963 durch Suizid verloren hat. Be-troffene finden sowohl in der AGUS-Geschäftsstelle als auch in den über 60 Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland Möglichkeiten der Beratung und Betreuung. Im Internetforum der Homepage können sie sich ebenso unter- einander austauschen. Es gibt eine Wanderausstellung zu den Themen Suizid und Suizidtrauer, die schon an vielen Orten in Deutschland zu sehen war. Als Ergänzung zu den Selbsthilfegruppen bietet AGUS Wochenend- seminare für Suizidtrauernde an. Weitere Informationen ermöglicht die Web-site www.agus-selbsthilfe.de.

ThemenbroschürenDie Themenbroschüren greifen Fragestellungen auf, die sich Betroffene immer wieder stellen. Bisher sind folgende Broschüren erschienen und über die AGUS-Geschäftsstelle zu beziehen:1. Trauer nach Suizid – bei Kindern und Jugendlichen (Chris Paul)2. Erklärungsmodelle – die Zeit vor dem Suizid (Prof. Manfred Wolfersdorf)3. Schuld – im Trauerprozess nach Suizid (Chris Paul)4. Trauer nach Suizid – (k)eine Trauer wie jede andere (Elisabeth Brockmann)5. Suizid und Recht (E. Brockmann, L. Höfflin, C. Paul, L. Weiberle)6. Kirche – Umgang mit Suizid (E. Brockmann, G. Lindner, C. Paul, Prof. W. Schoberth)7. AGUS-Selbsthilfegruppen aufbauen und leiten (E. Brockmann, C. Paul)8. Hört das denn nie auf? Trauer nach Suizid und Zeit (Chris Paul)9. AGUS – wie alles begann (Emmy Meixner-Wülker, G. Lindner, E. Brockmann)10. Frauen trauern – Männer arbeiten. Ein Klischee? (Dr. David Althaus)

AGUS e. V.

Spendenkonto: AGUS e.V. Bayreuth Sparkasse Oberpfalz NordIBAN: DE61 7535 0000 0000 0090 50BIC: BYLADEM1WEN

Um die Maßnahmen zum Wohl der Betroffenen umzusetzen, ist AGUS auf Spenden angewiesen.

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Vergebung ist ein Loslassen. Ich lasse meinen Groll los, die angestaute Bitterkeit

und alle Vorwürfe und Forderungen. Ich wage alles zu fühlen,

was mir angetan wurde und Unrecht war. Unrecht bleibt Unrecht.

Aber auch für den Menschen, der uns Unrecht getan hat und Schmerz zugefügt hat,

muss es den Versuch geben, ihn als ein Kind zu sehen,

das sich schrecklich verlaufen hat. So geschieht Vergebung.

Ein Wunder, das nicht ohne unseren Willen geschieht.

Jörg Dittmar

AGUS-Schriftenreihe: Hilfen in der Trauer nach Suizid

IBSN-Nr. 978-3-941059-04-7

Bezug über Bundesgeschäftsstelle AGUS e.V. Cottenbacher Straße 4 · 95445 BayreuthTel.: 0921/1500380 · Fax: 0921/1500879www.agus-selbsthilfe.de

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