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Vittorio Hösle: Mein Onkel, der Latinist und Weltrevolutionär

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DESCRIPTION

Mario Geymonat (1941–2012) war zu seinen Lebzeiten ein bedeutender italienischer Philologe. Zu seinen größten Leistungen als Latinist zählt die kritische Edition der Werke Vergils, dem unter allen antiken Dichtern stets seine größte Liebe galt. Einfühlsam, bisweilen nachdenklich, aber auch humor- und vor allen Dingen liebevoll schildert Vittorio Hösle das Leben seines Onkels. Und er gewährt dabei auch tiefe und persönliche Einblicke in seine eigene Entwicklung hin zu einem der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart.

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Vittorio Hösle

Mein Onkel, der Latinist und Weltrevolutionär

Ein Nachruf auf Mario Geymonat

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:www.allitera.de

April 2013Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH, München© 2013 Buch&media GmbH, München

Umschlagmotiv: Mario Geymonat in Pienza, privatGesetzt aus der Sabon

Printed in Germany · isbn 978-3-86906-505-2

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Inhalt

Danksagung

1. Im falschen Jahrhundert geboren?

2. Name und Ursprung: Noblesse oblige

3. Leib

4. Nahrungsaufnahme

5. Marios Ehe

6. Mario als Vater

7. Mario als Schwiegersohn

8. Mario als Onkel

9. Mario als Gelehrter

10. Mario als Weltrevolutionär

11. Mario als Witwer und Brautwerber

12. Tod und Bestattung

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Danksagung

Philosophen sind nur in einem sehr eingeschränkten Sinne des Wortes Schriftsteller; und wenn sie sich aus ihrem Kompetenz-bereich herausbewegen, geraten sie leicht aufs Glatteis. Wenn ich weniger häufig, als sonst der Fall wäre, ausgeglitten bin, so nur weil dieser Text durch die gründliche Lektüre meiner Schwestern Clara Hösle und Adriana Borra sowie meines Freundes Carsten Dutt viel gewonnen hat. Besonders danke ich Ludwig Steinherr, der mir Mut zur öffentlichen Errichtung dieses Wegkreuzes machte und sie aufs liebenswürdigste ver-mittelte.

Die literarische Transfiguration meines Onkels erhebt nicht Anspruch darauf, detailgetreu zu sein; es handelt sich nicht um einen historischen Bericht, sondern um das Erfassen von Wesens-zügen eines der faszinierendsten Menschen, die ich je kennen-gelernt habe. Auch über seine Fehler zu berichten schien mir Pflicht, weil sie seine Tugenden noch auffälliger werden lassen und weil das Anerkennen eines Menschen in seinem Sosein das wahre Siegel von Freundschaft und Zuneigung ist. Idealisierungen hat nur das Mittelmaß nötig.

Notre Dame (USA), Januar 2013

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Ergo age, care pater, cervici imponere nostrae;ipse subibo umeris nec me labor iste gravabit;

quo res cumque cadent, unum et commune periclum,una salus ambobus erit.

Vergil, Aeneis II

1. Im falschen Jahrhundert geboren?

Hätte der Schöpfer Himmels und Erden die Monade Mario Gey-monats schon im 17. Jahrhundert in diese Welt entlassen, wäre ihr eine Laufbahn in den höchsten Würden der alleinseligmachenden Kirche sicher gewesen. Zumindest Erzbischof, wahrscheinlich Kardinal, ja vielleicht sogar Nachfolger des Apostelfürsten, ober-ster Priester der Weltkirche und Diener der Diener Gottes wäre er geworden. Denn wer hätte zu konkurrieren gewagt mit seiner majestätischen Erscheinung, seiner sonoren Stimme, seinem ele-ganten und wohllautenden Latein sowie seiner trotz der Zelebrie-rung seiner Autorität ununterdrückbaren Fähigkeit, den einzel-nen, dem er sich jeweils zuwandte, inniglich fühlen zu lassen, er habe gerade dessen Heil im Sinn? Zwar würde man im Konklave vorhergesehen haben, daß wegen seiner enormen Leibesfülle die üblichen zwölf Palafrenieri nicht ausreichen würden, die den hei-ligen Vater auf der sedia gestatoria, deren Stangen ihren Schul-tern aufliegen, der begeisterten Menge zuführen; aber man hätte die Zahl der Träger eben um vier vermehrt und damit nur die enorme Wirkung vergrößert, die von den zwischen den weißen Fächern ausgestreckten riesigen segnenden Händen ausgegangen wäre – und zwar um so eindrucksvoller, wenn sich gelegentlich einer seiner beiden Arme ein wenig nach unten geneigt hätte, weil die Palafrenieri auf der einen Seite etwas unter ihrer erhabenen Last eingeknickt wären. Denn liegt es nicht nahe, die Kraft des Segens am Umfang der Handballen zu bemessen? Mag es Zeit-alter gegeben haben und noch geben, denen hagere und bleiche, von blauen Venen gleichsam durchleuchtete Hände wegen ihrer Geistigkeit imponiert hätten, war doch die Ära des Barocks, wie

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uns Peter Paul Rubens zeigt, durchaus eine, die Frömmigkeit mit Lebensbejahung und Leibesumfang zu versöhnen wußte. Nach diesem Kriterium aber wäre keiner Gott näher gewesen als Papst Vergil. Denn diesen Namen hätte er sich, als einziger unter den Päpsten, gleich nach der Wahl zugelegt, um dann schleunig zur Seligsprechung des größten aller Dichter zu schreiten, der in der vierten Ekloge nicht ohne göttliche Inspiration das Kommen Christi vorhergesagt habe.

Mag auch der Wechsel des Jahrhunderts manch neue Eigen-schaft mit sich führen, die Liebe zu Vergil ist ein so wesentliches Merkmal Mario Geymonats gewesen, daß es in keiner seiner möglichen Inkarnationen hätte fehlen können. Und ebensowe-nig wäre ihm sein Familiensinn abgegangen, auch wenn es weder legitime Kinder noch Neffen seiner Frau, sondern nur Nepoten und natürliche Nachkommen hätten sein können, die er um sich versammelt und mit ehrenvollen Kirchenämtern betraut hätte. Sie hätten nicht so unterwürfig und heuchlerisch vor ihm sich verbeugt beziehungsweise mit der Hand auf der Lehne seines Thrones auf seine Nachfolge Anspruch erhoben wie in Tizians berühmtem Gemälde von Papst Paul III. die beiden Nepoten, die in Wahrheit seine natürlichen Enkel waren, sondern sie hätten mit aufrichtiger Bewunderung diesen phänomenalen Menschen zu erfreuen versucht und teils Armenpflege, teils festliche Gelage für ihn organisiert. Denn er hätte sicherlich Indulgenzen für die Fastenzeit erlassen – man hätte auch in den vierzig Tagen vor Ostern soviel essen dürfen, wie man wolle, sofern man nur Arme an seinen Tisch eingeladen hätte. Il papa buono, den guten Papst, hätten ihn seine Verehrer, il papa golosone, den Schlem-merpapst, seine Kritiker genannt.

Gott freilich, der Farben, Komplexität, vielleicht auch Wider-sprüche liebt, gefiel es, Mario erst im 20. Jahrhundert in die Welt zu entlassen, und so wurde er nicht Stellvertreter Jesu Chri-sti, sondern der führende Maoist Italiens. Vergil vermochte er nicht heiligzusprechen, aber er legte die beste kritische Edition seiner Werke vor. Er hatte eigene Kinder und, da er verheira-tet war, auch von der Seite seiner Frau Neffen und Nichten, die er mit seiner unerschöpflich fließenden Zuneigung viel wertvol-ler beschenkte, als es mit Pfründen möglich gewesen wäre. Ein

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solcher Neffe, der Sohn der Schwester von Marios Frau, ist es, der dem Gedächtnis seines Onkels diese Erinnerungen schul-dig ist. Es handelt sich um subjektive Erinnerungen, keineswe-ges um eine Biographie nach Art Plutarchs, wie Mario sie liebte und für sich selbst vorgezogen hätte. Aber eine solche kann nur der schreiben, der viel mehr über ihn weiß, als ich selbst her-ausgefunden habe, so oft ich auch meinem Onkel begegnet bin und so oft ich auch über diesen letztlich rätselhaften Menschen nachgedacht habe. Es ist nur die Perspektive eines einzelnen auf Mario Geymonat, die hier geboten wird, und zwar vermengt mit Reflexionen über die eigene Entwicklung, bei der mein Onkel Mario eine zentrale Rolle gespielt hat. Die Sicht anderer wird verschieden sein, um von derjenigen der göttlichen Zentralmo-nade zu schweigen. Aber auch sie wird, dessen bin ich mir sicher, in letzter Instanz liebevoll sein.

Vielleicht ist die Beziehung eines Neffen zu seinem Onkel, und zwar gerade zu einem angeheirateten Onkel, unter allen mensch-lichen Verhältnissen privilegiert. Den Eltern verdankt man viel mehr, aber sie können auch mehr Fehler, besonders Unterlas-sungssünden, begehen, und man ist sosehr von ihnen abhängig, daß die Beziehung zu ihnen selten frei ist. Ja, sie darf es letzt-lich auch nicht sein, wenn die Erziehung gelingen soll. Groß-eltern tragen nicht die gleiche Verantwortung wie Eltern, und daher können sie den Enkeln Freiräume gestatten, die die Eltern beschneiden müssen. Aber auch wenn sie weiser sein können als die Eltern, ist doch ihre Lebenswelt noch fremder als die der Eltern; mit konkreten Orientierungen können sie, zumindest in einer Ära rasanten geschichtlichen Wandels, noch weniger helfen als die Eltern, deren Ratschläge als untauglich zurückzuweisen zudem die erste Reaktion des Heranwachsenden ist. Ein Onkel hingegen hat den Altersvorsprung, der jene Autorität verschafft, die der Jugendliche zwar herausfordern will, aber doch zähne-knirschend oder -fletschend anerkennt, weil er im Grunde genau weiß, daß gewisse Dinge nur durch Lebenserfahrung zu lernen sind. Und da der Onkel selten in die Lage kommt, Verbote aus-zusprechen, Befehle zu erteilen und Sanktionen zu verhängen, ist sein Einfluß am leichtesten zu akzeptieren. Leichter anzuneh-men ist er als derjenige älterer Geschwister, die Konkurrenten

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um die elterliche Zuneigung und Aufmerksamkeit und daher für die eigene Identität bedrohlich sind. An dem Unterschied zwi-schen Onkel und Geschwister ändert sich auch dann nichts, wenn der Onkel altersmäßig ein älterer Bruder sein könnte oder zumindest wesentlich jünger ist als die Eltern – Onkel Mario war zwölf Jahre jünger als meine Eltern und neunzehn Jahre älter als ich, also der Elterngeneration näher als meiner, und doch gleichsam in einem Mezzanin der Generationen befindlich. Ja, da er die jüngste von fünf Schwestern geheiratet hatte, die zudem zwei Jahre älter war als er, war seine älteste Schwägerin Anna zwanzig Jahre älter, also fast eine Mutter, und deren erste Tochter Vittoria, meine älteste Cousine, nur zehn Jahre jünger als er. Das erklärt, warum er zwischen der Generation der Cou-sins und derjenigen der Onkel und Tanten gleichsam eine Mittel-stellung einnahm. Er war der Benjamin unter den Onkeln, und sein Verhalten suggerierte, daß er lieber der älteste der Cousins gewesen wäre.

Jungen brauchen männliche Rollenvorbilder, und daher sind ihnen Onkel oft wichtiger als Tanten. Aber was ist der Vorteil eines angeheirateten Onkels? Was die Innigkeit der Beziehung von Blutsverwandten begründet, macht sie auch zur Last – man erkennt in ihnen viel, oft zuviel von sich selbst. Ihre Fehler irri-tieren um so mehr, weil einen der Verdacht quält, man sei selbst durch sie gekennzeichnet. Die Fehler, selbst die Laster eines angeheirateten Verwandten gehen dagegen nicht auf gemein-same Gene zurück; daher kann man sie gelassen, ja, sogar mit Heiterkeit betrachten. Der angeheiratete Onkel wohnt an der Grenze zwischen Familie und Freunden; und im Glücksfall ver-bindet er die Wärme der ersteren mit der erregenden Neuigkeit andersartiger Freunde. Ich bin nicht sicher, daß es für mich ein Segen gewesen wäre, als Marios Sohn geboren zu sein – einen großartigeren Onkel aber hätte ich mir nicht wünschen können. Als ich erstmals Jacques Tatis zauberhaften Film »Mon oncle« sah, war ich enttäuscht, denn ich fand, daß mein Onkel interes-santer sei als derjenige des kleinen Gérard. Was ist ein Monsieur Hulot gegen einen Mario Geymonat?