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XXIX. (Aus DER CHIRURGISCHEN PRIVATKLINIK DES DR. I-tARTMANNZU KASSEL.) Vollst ndige Luxation beider Vorderarmknochen nach aussen. Von Dr. Otto Hartmann. Mit 1 hbbildung im Text. Die seitlichen Luxationen des Vorderarmes sind naeh Ho ffa sehr seltene Verletzungen and sind in der Weise, dass die Luxation rein nach aussen oder naeh innen stattgefunden hat, nur in ~usserst seltenen F~llen beobachtet. Es handeIt sich in diesen F~lIen fast stets um unvoltst~indige Luxationen, die meist nach aussen, sehr selten naeh innen effolgt sind. Es liegt der Grund darin, dass der auf der Innenseite tiefer reichende Rand der Trochlea der Verschiebung der Unterarmknoehen einen grSsseren Widerstand entgegensetzt als die glatte Eminentia capitata. Es ist daher gewiss nieht uninteressant, wenn ieh einen yon mir be- obachteten Fall yon vollstgndiger Luxation des Ellenbogengelenkes naeh aussen, allerdings unter pathologisehen Verh~ltnissen entstanden, der ()ffentlichkeit iibergebe. Heinrich E. Anamnese: Patient gibt an, bis zu seiner Dienstzeit vollkommen gesund gewesen zu sein. In seinem zweiten Dienstjahre (1884)wollte er auf dem hsphalttrottoir im Laufe scharf um eine Ecke biegen, als er umstiirzte und auf seinen reehten Arm fiel. Er wurde yon einem Milit~rarzte behandelt, der die Diagnose auf einfaehe Verenkung des Ellenbogengelenkes stellte, den Arm mit Jod einpinseln und in einer Binde tragen liess. Naeh Verlauf yon vier Woehen wurde er aus dem Reviere entlassen, nahm seinen Dienst wieder auf, bemerkte jedoch, dass der Arm schief stand und der Ellenbogen nach innen scharf vorsprang. Die Beweglichkeit war indes eine gute, aueh die Kraft vol]st~indig erhalten, so dass er zur rechten Zeit avaneierte und noch 8 Jahre bei der Truppe weiter dienen konnte. Am 23. September 1908 trat er aus dem Fenster auf einen auf der Erde stehendeu, kleinen, dreibeinigen Bock, der umkippte, so dass er nochmals

Vollständige Luxation beider Vorderarmknochen nach

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Page 1: Vollständige Luxation beider Vorderarmknochen nach

XXIX.

(Aus DER CHIRURGISCHEN PRIVATKLINIK DES DR. I-tARTMANN ZU KASSEL.)

Vollst ndige Luxation beider Vorderarmknochen nach aussen.

Von

Dr. Otto Hartmann.

Mit 1 hbbildung im Text.

Die seitlichen Luxationen des Vorderarmes sind naeh Ho f f a sehr seltene Verletzungen and sind in der Weise, dass die Luxation rein nach aussen oder naeh innen stattgefunden hat, nur in ~usserst seltenen F~llen beobachtet. Es handeIt sich in diesen F~lIen fast stets um unvoltst~indige Luxationen, die meist nach aussen, sehr selten naeh innen effolgt sind. Es liegt der Grund darin, dass der auf der Innenseite tiefer reichende Rand der Trochlea der Verschiebung der Unterarmknoehen einen grSsseren Widerstand entgegensetzt als die glatte Eminentia capitata.

Es ist daher gewiss nieht uninteressant, wenn ieh einen yon mir be- obachteten Fall yon vollstgndiger Luxation des Ellenbogengelenkes naeh aussen, allerdings unter pathologisehen Verh~ltnissen entstanden, der ()ffentlichkeit iibergebe.

Heinrich E. Anamnese: Patient gibt an, bis zu seiner Dienstzeit vollkommen gesund

gewesen zu sein. In seinem zweiten Dienstjahre (1884)wollte er auf dem hsphalttrottoir im Laufe scharf um eine Ecke biegen, als er umstiirzte und auf seinen reehten Arm fiel. Er wurde yon einem Milit~rarzte behandelt, der die Diagnose auf einfaehe Verenkung des Ellenbogengelenkes stellte, den Arm mit Jod einpinseln und in einer Binde tragen liess. Naeh Verlauf yon vier Woehen wurde er aus dem Reviere entlassen, nahm seinen Dienst wieder auf, bemerkte jedoch, dass der Arm schief stand und d e r E l l e n b o g e n n a c h i n n e n s c h a r f v o r s p r a n g . Die Beweglichkeit war indes eine gute, aueh die Kraft vol]st~indig erhalten, so dass er zur rechten Zeit avaneierte und noch 8 Jahre bei der Truppe weiter dienen konnte.

Am 23. September 1908 trat er aus dem Fenster auf einen auf der Erde stehendeu, kleinen, dreibeinigen Bock, der umkippte, so dass er nochmals

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riickw/irts auf den recl~ten Arm fiel, der gerade in horizontaler Richtung ge- halten wurde. Ob er mit dem Ellenbogen auf einen Stein oder ein Stiiek Holz aufgeschlagen ist, weiss er infolge des Schreckens nicht anzugeben: Er empfand einen intensiven Schmerz im Ellenbogengelenke, konnte den Arm nicht be- wegen und begab sich sogleich in die Behandlung des Herrn Dr. K r u s e , der Patienten mir iiberwies.

Status 23. September 1908: Korpulenter, sehr nervSser Mann, tier den reehten Arm iingstlich in der linken Hand triigt. Rechtes Ellenbogengelenk und die benachbarten Teile des Ober- und Unterarmes sind ausserordentlieh ge- schwollen, so class die einzelnen Knochen nicht abgetastet werden kSnnen und keine typische Verletzung zu erkennen ist. Die Bewegungen des Vorderames waren ausserordentlich schmerzhaft und daher nur in geringem Grade aus-

Fig. 1.

zuffihren. Es wurde die Diagnose auf Luxation (.9) gestel]t, und der Arm solite sogleich in Narkose eingerenkt werdem Aber in :Narkose, die /~usserst schwierig war, konnte der Arm zwar leichter bewegt werden, abet" beim Ver- suche, ihn etwas zu beugen und zu strecken, hatte ich das Geffihl, als ob der distale Tell sich in schr~ger Richtung an einer rauhen Fl~che vorbei- bewegte. Da beim Nachlassen des Zuges der Knochen in seine alte, deforme Stellung zuriickschnurrte und das Krepitieren aueh h5rbar war, diagnostizierte ieh einen Sehriigbruch des Oberarmknochens in der Ns oder im Gelenke and legte am folgenden Tage (24. IX. 08) auf des Patienten Wunseh in seiner Wohnung einen Extensionsverband an, in dem naeh einigen Tagen sogar eine messbare Verl~ngerung des Armes um 2--3 em nachgewiesen werden konnte. Ein st~rkeres Vorspringen des inneren Kondylus wurde yore Patienten stets auf den ersten Fall zuriiekgefiihrt.

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Als am 23. Oktober der Verband abgenommen wurde und eine R5ntgenphotographie aufgenommen wurde, war ich fiber das Ergebnis hSchst iiberrascht: Die distale Epiphyse des Humerus ist bis zur vollkommenen Un- kenntlichkeit entstellt. Anstatt der dreiseitigen regelmiissigen Epiphyse des Humerus pr~sentiert sieh ein unregelm~issig gewulstetes Knochenende, dem eine kleine Kappe aufsitzt. An der Innenseite springt ein geschwungener, biiffelhorn~hnlicher Fortsatz in die Augen, der mit kr~ftiger Basis in die Aussenkante des Humerus iibergeht und am Ende eine bohnenfSrmige Auf- treibung tr~gt.

An der Aussenseite des Humerus liegen die im grossen und ganzen un- ver~inderten Vorderarmknoehen, und zwar hart am Humerus die Ulna, der wiederum der Radius anliegt. Alle drei Knochen liegen jedoeh im Gelenke nicht in einer Ebene, sondern bilden.unter sich einen naeh hinten offenen stumpfen Winkel.

Entsprechend dieser beschriebenen ~usseren Ver~nderungen der unteren Humerusepiphyse zeigt aueh die Innenstruktur des Knochens ein anderes Bild. W~hrend die Knochenb~lkchen (Lamellen) in der norma]en Epiphyse fiieher- fSrmig in beide Kondylen hinein auseinanderweichen, laufen dieselben in unserem entstellten Humerusende in die Spitze zusammen.

Selbstverst~ndlich kSnnen diese schweren Ver~nderungen an der unteren Humerusepiphyse nicht durch den letzten Sturz vom 23. September 1908 her- vorgerufen sein. Denn unmSglich kann sich innerhalb vier Wochen ein Knochen in so grober Weise umformen, wie w i r e s in unserem Pr~parate finden. Es hat sich vielmehr bei dem Falle w~hrend tier Dienstzeit, der nunmehr 14 Jahre zuriiekliegt, nicht um eine landl~ufige einfache Verrenkung des Ellenbogengelenkes, sondern um eine schwere Fraktur der unteren Humerus- epiphyse gehandelt.

Da das Skiagramm eine so wunderliche Form der Epiphyse zeigt, die mit den gewShnliehen Frakturtypen recht wenig in Einklang zu bringen ist, sind wir gezwungen anzunehmen, dass bier nicht eine blosse Umformung durch die Fraktur bedingt vorliegt, sondern class auch noch sekund~ire Ver- ~nderungen im Laufe der Zeit der u gefolgt sind, die wiederum eine notwendige Konsequenz des natiirliehen Anpassungsgesetzes sind. Durch die Alteration der Epiphyse war das Gleichgewicht gestSrt und, um dasselbe wieder herzustellen, waren Knochenver~nderungen notwendig.

Es ist gewiss nieht ganz leicht, sich ein klares Bild yon tier prim~ren Verletzung zu maehen. Betrachten wir den bfiffelhorn~hnlichen Fortsatz, wie er namentlich mit einer gewissen M~chtigkeit in die mediale Humeruskante fibergeht, so ist es doch mehr als wahrscheinlieh, dass wi res eben umgekehrt mit der Fortsetzung dieser Kante, dem medialen Kondylus zu tun haben, der sehon normal aussergewShnlich vorspringt und Traumen infolge dieser ex- ponierten Lage sehr leicht ausgesetzt ist.

Man findet weiter beim sorgf~ltigen Studium des Skiagrammes zwischen Spitze und biiffelhornartigem Fortsatze eine glatte Knoehenfl~che, deren Struktur im Vergleich zu der weiteren Umgebung eine ~iusserst feine ist und auch

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durch eine leicht markierte Abgrenzungslinie die Konturen der Trochlea zu besitzen scheint.

Es were demnaeh diese wunderliche Entstellung der unteren Humerus- epiphyse auf eine Absprengung des medialen Epikondylus und auf ein schr~ges Hineintreiben der Trochlea in die Epiphyse, namentlich auf der medialen Seite, zuriickzufiihren. Mit anderen Worten: Es hat sich bei unserem Patienten bei dem ersten Sturze in seiner Dienstzeit um eine Kompressionsfraktur der unteren Humerusepiphyse gehandelt. Durch das Vordringen der h~rteren Trochlea in die weichere Epiphyse ist dieselbe nach beiden Seiten hin ausein- andergedr~ngt und an der medialen Seite gespalten, wobei sich der Spalt eine Strecke weit in den Schaft fortgesetzt hat. Jedoch ist die Trochlea durch die Gewalteinwirkung nicht gleiehm~ssig vorgedr~ngt, vielmehr ist die laterale Pars um ein gehSriges zuriickgeblieben, woraus jetzt die spitz zulaufende Form der Epiphyse zu erkl~ren ist.

Die Artikulation geschah bisher in der Weise, dass das RadiuskSpfchen mit der Humerusspitze, die Ellenzange zum Teil mit dem genannten medialen Fortsatze in Verbindung stand und fiir den Hakenfortsatz des Olekranon sich eine beseheidene Grube neben der Basis des biiffelhornKhnlichen Fort- satzes des Humerus gebildet hatte. SelbstverstKndlich musste ein solches un- natiirliches Gelenk der normalen Festigkeit entbehren, und es nimmt uns nicht Wunder, wenn bei dem zweiten Sturze auf die innere Partie des Ellenbogen- gelenkes beide Vorderarmknochen nach aussen abweichen, so dass die sehr seltene vollstEndige Luxation beider Vorderarmknoehen entsteht.