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III. Sprachliche Verständigung in Spätantike und Frühmittelalter III. 1 Der Einsatz von Dolmetschern Die Übergänge von der Spätantike zum Mittelalter sind in vieler Hinsicht flie- ßend, manche Kontinuitätsstränge reichen weit über die Umbruchszeit hinaus. Die großen ethnischen Bewegungen jedoch, die man seit langem mit gewisser Berechtigung als Völkerwanderung bezeichnet, unterstreichen den Charakter des Niedergangs der antik-römischen Welt. Daher mag es angebracht sein, die Untersuchung mittelalterlicher Dolmetschertätigkeit mit Zeugnissen aus dem Zeitalter der großen Wanderungen und Reichsbildungen durch Barbaren zu beginnen. Zunächst wäre eine griechische Quelle zu berücksichtigen, mit der die Dar- stellung einsetzen kann. Der aus rakien stammende Priskos berichtet in sei- nem um 472 geschriebenen Geschichtswerk wiederholt von Dolmetschern. Als ein solcher nahm er selbst im Jahre 449 an einer byzantinischen Gesandtschaft an den Hof Attilas teil, wußte also Bescheid über Dolmetscher und ihre Tätig- keit. 128 Priskos berichtet, daß der Kaiser einst einen Brief Attilas empfangen und gelesen hatte und daß ein Dolmetscher des hunnischen Boten die mündlichen Aufträge wörtlich verdolmetschte. Später leistete der Dolmetscher auch Hilfe, als ein hochgestellter Eunuch und der hunnische Gesandte sich „mit Hand- schlag zum Schweigen verpflichteten und schworen“. 129 Aus weiteren Schilde- rungen des Priskos geht dann hervor, daß Dolmetscherangelegenheiten am by- zantinischen Hof einen ähnlichen Bedeutungsrang hatten wie der Umgang mit Gesandtschaften und Fragen der kaiserlichen Leibwache. 130 In gleichem Zusam- menhang ist vom Dolmetscheramt die Rede und erkennbar, daß Dolmetscher in der Hofhierarchie zwar nicht sehr hoch rangierten, aber doch durchaus ange- sehen waren. Gleichzeitig berichtet Priskos von einem offenbar angesehenen Rustikios, „der die Barbarensprache beherrschte“ und sich gewinnen ließ, sozu- sagen als Dolmetscher ad hoc zu fungieren. 131 Demnach wären aus den Berich- ten des Priskos Dolmetscher qua Amt und solche ad hoc belegbar. Am hunnischen Hof Attilas konnte sich der byzantinische Gesandte mit ei- nem Barbaren, „der Latein konnte“, verständigen – er selbst sprach offenbar auch Latein. Unter Attilas „Sekretären befand sich auch ein gewisser Rusticius, ein Kriegsgefangener aus dem oberen Mysien, der wegen seiner Sprachkennt- nisse den Barbaren bei der Abfassung diplomatischer Schreiben diente“. 132 Zum Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Vom Dolmetschen im Mittelalter (Sprachliche Vermittlung in weltlichen und kirchlichen Zusammenhängen) || III. Sprachliche Verständigung in Spätantike und Frühmittel alter

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III. Sprachliche Verständigung in Spätantike

und Frühmittel alter

III. 1 Der Einsatz von Dolmetschern

Die Übergänge von der Spätantike zum Mittelalter sind in vieler Hinsicht fl ie-

ßend, manche Kontinuitätsstränge reichen weit über die Umbruchszeit hinaus.

Die großen ethnischen Bewegungen jedoch, die man seit langem mit gewisser

Berechtigung als Völkerwanderung bezeichnet, unterstreichen den Charakter

des Niedergangs der antik-römischen Welt. Daher mag es angebracht sein, die

Untersuchung mittelalterlicher Dolmetschertätigkeit mit Zeugnissen aus dem

Zeitalter der großen Wanderungen und Reichsbildungen durch Barbaren zu

beginnen.

Zunächst wäre eine griechische Quelle zu berücksichtigen, mit der die Dar-

stellung einsetzen kann. Der aus Th rakien stammende Priskos berichtet in sei-

nem um 472 geschriebenen Geschichtswerk wiederholt von Dolmetschern. Als

ein solcher nahm er selbst im Jahre 449 an einer byzantinischen Gesandtschaft

an den Hof Attilas teil, wußte also Bescheid über Dolmetscher und ihre Tätig-

keit.128 Priskos berichtet, daß der Kaiser einst einen Brief Attilas empfangen und

gelesen hatte und daß ein Dolmetscher des hunnischen Boten die mündlichen

Aufträge wörtlich verdolmetschte. Später leistete der Dolmetscher auch Hilfe,

als ein hochgestellter Eunuch und der hunnische Gesandte sich „mit Hand-

schlag zum Schweigen verpfl ichteten und schworen“.129 Aus weiteren Schilde-

rungen des Priskos geht dann hervor, daß Dolmetscherangelegenheiten am by-

zantinischen Hof einen ähnlichen Bedeutungsrang hatten wie der Umgang mit

Gesandtschaften und Fragen der kaiserlichen Leibwache.130 In gleichem Zusam-

menhang ist vom Dolmetscheramt die Rede und erkennbar, daß Dolmetscher

in der Hofhierarchie zwar nicht sehr hoch rangierten, aber doch durchaus ange-

sehen waren. Gleichzeitig berichtet Priskos von einem off enbar angesehenen

Rustikios, „der die Barbarensprache beherrschte“ und sich gewinnen ließ, sozu-

sagen als Dolmetscher ad hoc zu fungieren.131 Demnach wären aus den Berich-

ten des Priskos Dolmetscher qua Amt und solche ad hoc belegbar.

Am hunnischen Hof Attilas konnte sich der byzantinische Gesandte mit ei-

nem Barbaren, „der Latein konnte“, verständigen – er selbst sprach off enbar

auch Latein. Unter Attilas „Sekretären befand sich auch ein gewisser Rusticius,

ein Kriegsgefangener aus dem oberen Mysien, der wegen seiner Sprachkennt-

nisse den Barbaren bei der Abfassung diplomatischer Schreiben diente“.132 Zum

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42 Sprachliche Verständigung in Spätantike und Frühmittel alter

gleichen Zweck hatte auch Aetius einen Mann namens Konstantios als lateini-

schen Sekretär geschickt. In diesen knappen Angaben spiegelt sich eine gewisse

Verwaltungskompetenz des hunnischen Herrscherhofes, der seinerseits durch

eine große Sprachvielfalt gekennzeichnet war, wenngleich ein ausgeprägtes

„Kauderwelsch aus Latein, Hunnisch und Gotisch“ auch „unauslöschliches Ge-

lächter“ hervorrufen konnte.133

Im Alltag dürfte der Sprachvermittlung, also der Tätigkeit vornehmlich qua-

lifi zierter Dolmetscher eine große Bedeutung zugekommen sein. Diese An-

nahme wird gestützt durch Hinweise von Menander Protector, der aus Konstan-

tinopel stammte und seit 582 im kaiserlichen Umkreis Zeitgeschichte schrieb.134

Er gilt als recht zuverlässig. Als es 560 n. Chr. zu Friedensverhandlungen zwi-

schen Ostrom und den Persern kam, trugen die Gesandten beider Seiten ihre

Positionen in langer Rede vor, ohne sich zunächst im Wortsinn zu verstehen.

Erst anschließend kam es zum Dolmetschen, denn „die Dolmetscher beider

Gesandten setzten nun die gegenseitigen Reden auseinander und verdeutlichten

ihren Sinn, wobei sie sich noch in vielen und weitschweifi gen Worten ergin-

gen“.135 Diese Angabe irritiert etwas, obwohl mit relativ freier Paraphrase der

Dolmetscher zu rechnen ist. Ganz unklar ist dann aber Menanders zusätzliche

Angabe, die sich off enkundig noch auf die Weitschweifi gkeit der Dolmetscher

bezieht. Sie hätten es getan, „teils um ihres Vorteils willen, teils um an ihrer

Friedensbereitschaft keinen Zweifel aufkommen zu lassen“.136 Immerhin wird

deutlich, daß weder von einem Simultandolmetschen die Rede sein kann, noch

von einem engen instrumentellen Sinn ihrer Tätigkeit. Sie scheinen selbst an

den Verhandlungen teilgenommen zu haben, dann aber gewiß nur mit be-

schränkter Vollmacht. Immerhin waren die strapaziösen Friedensverhandlun-

gen endlich erfolgreich, und es „wurden die Bedingungen des auf fünfzig Jahre

befristeten Friedensvertrages in griechischer und persischer Sprache schriftlich

niedergelegt und darauf der griechische Text ins Persische, der persische ins

Griechische übersetzt. Bei der Abfassung und dem Abschluß des Vertrages“ wa-

ren die Gesandten beider Seiten zugegen, und „nachdem die Vertragstexte von

beiden Seiten abgefaßt waren, verglich man sie Wort für Wort und Satz für Satz

auf ihren Inhalt“.137 Insbesondere für die Geschichte frühmittelalterlicher Ver-

tragsschließungsformen ist dann die weitere Angabe von Interesse. Von den in

beiden Sprachen ausgestellten Vertragsurkunden wurden nämlich zunächst Ab-

schriften gefertigt. „Dann wurden auch die Texte des Hauptvertrags sorgfältig

zusammengerollt, nach persischer Sitte mit Wachssiegeln und anderen Maß-

nahmen sowie den Abdrücken der Siegelringe der Gesandten sowie der zwölf

Dolmetscher, der sechs rhomäischen und der sechs persischen gesichert.“138

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Der Einsatz von Dolmetschern 43

Besonders zu beachten ist die Nachricht, daß Dolmetscher in großer Zahl

herangezogen wurden, und zwar sechs auf jeder Seite und insgesamt zwölf. Dies

spricht für eine besondere Sorgfalt und ein ausgesprochenes Paritätsdenken, es

läßt aber auch Dolmetscher mit unterschiedlichen Spezialkenntnissen vermu-

ten. Da die Dolmetscher wie die Gesandten Siegelringe besaßen und verwende-

ten, ist der Schluß naheliegend, daß es sich hier nicht um sog. Dolmetscher ad

hoc, sondern um kaiserliche Amtsträger handelte, die regelmäßig oder minde-

stens relativ regelmäßig als Dolmetscher verwendet wurden. Der überlieferte

Bericht ist detailliert: „So überreichten sie einander die Vertragsurkunden: der

Zich Petros die persische, Petros dem Zich die griechische. Außerdem erhielt der

Zich von Petros ein zweites Exemplar, dem griechischen gleichlautend, aber per-

sisch geschrieben und ohne Siegel, das als Gedächtnisprotokoll gedacht war,

und umgekehrt Petros (ein griechisches)“! 139

Im selben Zusammenhang der Vertragserfüllung verlautet, daß auch die

„persischen Finanzbeamten mit Dolmetschern und Wägepersonal“ gekommen

waren, um die fälligen Tributzahlungen zu kassieren: Die Notwendigkeit des

Dolmetschens ist demnach auf vielen Tätigkeitsfeldern gegeben, die Verwen-

dung mehrerer Dolmetscher nicht zu übersehen, ebensowenig die Selbstver-

ständlichkeit ihrer Verfügbarkeit und ihres gezielten Einsatzes.

Menander erwähnt schließlich auch, daß eine Gesandtschaft der Awaren 565

bei Kaiser Justinus II. ihr Anliegen durch einen Dolmetscher vorbrachte.140 Ein

weiterer Bericht läßt dann erkennen, daß immer durchaus mit der Möglichkeit

zu rechnen war, daß selbst am Kaiserhof Dolmetscher falsch übersetzten, wenn-

gleich Justinus II. im Jahre 567 eine für den persischen Gesandten peinliche

Situation mit dem kalkulierten Einwand zu überbrücken suchte, der Dolmet-

scher habe seine Worte wohl falsch übertragen.141

Zu den Merkmalen eines herausgehobenen Tätigkeitsfeldes der byzantini-

schen Dolmetscher gehört üblicherweise ihr Status von Gesandten, wie aber-

mals Menander erkennen läßt, wenngleich er berichtet, daß der Awarenkhagan

568 zwei Dolmetscher in Fesseln legen ließ, die als kaiserliche Unterhändler zu

ihm gekommen waren: „Er aber ließ sie dem allgemein anerkannten Gesandten-

recht zuwider in Ketten legen.“142 Ähnlichen Status, mindestens der Th eorie

nach, müssen umgekehrt auch des Khagans Dolmetscher gehabt haben, die ih-

rerseits zu Kaiser Justin II. geschickt wurden, um ihm die awarischen Forderun-

gen zu übermitteln. Nur so ist auch erklärbar, daß sie vom byzantinischen Hi-

storiker sogar namentlich genannt werden. Sprachgewandt und rhetorisch

perfekt waren sie ohnehin,143 was im allgemeinen anerkannt und gerühmt

wurde. Nur der türkische Herrscher Turxanthos hatte in dieser Hinsicht starke

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44 Sprachliche Verständigung in Spätantike und Frühmittel alter

Vorbehalte, wenn er die byzantinischen Gesandten heftig anfuhr: „Ihr seid doch

nicht etwa jene Rhomäer, die in zehn Sprachen reden, aber nur eines sinnen

können, nämlich Lug und Trug?“ Er hatte kaum ausgesprochen, da steckte er

alle zehn Finger in den Mund und fuhr fort: „Wenn ich jetzt alle zehn Finger in

den Mund stecke, so bedient ihr Rhomäer euch vieler verschiedener Sprachen,

mit denen ihr bald mich, bald meine Sklaven, die Varchoniten, betrübt.“144

Es gehört zur Abrundung unserer Skizzierung, auch hunnische Dolmetscher

zu erwähnen, die 580 vor Sirmium „mit lauter Stimme die Bedingungen des

Waff enstillstandes“ verkündeten.145 Hier traten sie zusätzlich fast als Herolde

auf, ein Aspekt, den man für das Spätmittelalter wird besonders beachten müs-

sen.

Von den Barbaren seien hier die Westgoten erwähnt, deren Könige Latein

und Gotisch sprachen. Der Sonderfall Eurichs, der für Verhandlungen mit ei-

nem Bischof einen Dolmetscher beizog, erklärt sich vermutlich aus Prestige-

gründen. Der König bestand auf seiner gotischen Sprache, der große Gesetzge-

ber konnte aber mit Sicherheit Latein.146

III. 2 Fremdsprachenkenntnisse bei fränkischen Königen

Ein systematischer Einsatz von Dolmetschern ist bei den Franken schwer zu

belegen. Dies ist erstaunlich, weil sich die politische Organisationsform der

Franken bereits unter den Merowingerkönigen zum Großreich geweitet und

dann als die dauerhafteste germanische Reichsbildung erwiesen hatte. In zeitli-

cher wie auch in räumlicher Hinsicht müßte demnach der Überlieferungsfun-

dus beträchtlich sein. Die Gründe für die schwierige Überlieferungslage im Fall

des Dolmetschens mögen vorrangig in der Zufälligkeit des Tradierten liegen.

Beachtenswert ist aber auch Erich Zöllners Annahme, (mindestens) die Mero-

wingerkönige des 6. Jahrhunderts hätten „mehr oder weniger das Latein und

auch die romanische Volkssprache“ beherrscht, worauf ihr „vertrauter Umgang

mit Gallorömern (namentlich geistlichen Standes)“ schließen lasse: „Nie hören

wir von der Vermittlung durch Dolmetscher.“147 Zöllners kaum zu erschüt-

ternde Annahme berücksichtigt unausgesprochen die Tatsache, daß frühmittel-

alterliche Überlieferungsreste fast ausschließlich herrschaftsorientiert sind, ins-

besondere Könige und dynastische Zusammenhänge erkennen lassen, kaum je

aber für alle Gruppen der jeweiligen Bevölkerung Aussagen ermöglichen. Inso-

fern wäre ein methodischer Vorbehalt zu machen; zu ihm gehört ein zweiter:

Vermutete oder auch nachgewiesene Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit von Herr-

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Fremdsprachenkenntnisse bei fränkischen Königen 45

schern unterstellt zumeist, daß weder diese noch andere Personen oder Gruppen

ihres Herrschaftsbereiches auf Dolmetscher angewiesen waren, entsprechende

Belege demnach auch gar nicht vorauszusetzen wären. Dies würde den Einwand

einer Zufälligkeit in der Überlieferung erheblich schwächen. Derartige Annah-

men und Vorbehalte wird man immer beachten müssen, aber durchgängig

dürfte mit Ausnahmen, auch mit gänzlich anders gearteten Verhältnissen zu

rechnen sein. So ergibt sich zwangsläufi g eine relativ off ene Situation für unsere

Untersuchung, die auf einschlägige Befunde unterschiedlicher Art zu reagieren

hat, freilich durchweg mit kritischer Distanz vorgehen sollte.

Anknüpfen kann man zunächst an Attila, der mindestens auf seinem Rückzug

aus Gallien einen Dolmetscher (interpres) benötigte und auch fand. Dessen in

der vor 731 verfaßten Vita des Bischofs Lupus von Troyes genannter Name

Hunigasius läßt an einen sprachgewandten „Hunnen“ denken148 oder eher noch

an einen aus Gallien stammenden Mann, der schon längere Zeit sich am hunni-

schen Hof befand. Auch langobardische Krieger, die 581 nach Nizza kamen und

den heiligen Hospitius angekettet in seinem Klausner-Turm fanden, konnten

sich mit diesem nicht verständigen. Sie riefen daher einen Dolmetscher (voca-tumque interpraetem), um zu erfahren, welche Schandtat wohl Ursache für eine

so harte Bestrafung sei. Gewährsmann für diese Nachricht ist Gregor von

Tours149; sein Bericht wird teilweise wörtlich übernommen von Paulus Diaco-

nus in seiner Historia Langobardorum, der den Eindruck erweckt, als sei für ihn

die Heranziehung von Dolmetschern ein recht vertrautes Verfahren, so daß er

über Dolmetscher nichts berichtet.150

Ein Nebeneinander von zwei und mehr Sprachen war in Gallien allerdings

verbreitet und dürfte Vermittlung benötigt haben. Zu verweisen ist beispiels-

weise auf Gregors Bericht über den Einzug König Gunthrams am 4. Juli 558 in

Orléans: „Und es zog eine unermeßliche Menge Volkes mit Abzeichen und Fah-

nen (signa und vexilla) und sang laudes, Lobgesänge.“151 Diese seien in lateini-

scher Sprache, d. h. wohl von Romanen und Franken, die derartige liturgische

Gesänge kannten, gesungen worden und auch in der Sprache der Syrer und der

Juden, also von Angehörigen der syrischen Kirchengemeinde wie der jüdischen

Glaubensgemeinschaft.152

Im Orléans des späten 6. Jahrhunderts gab es zumindest die Volksgruppen

der Galloromanen, Franken, Syrer und Juden, die auch sprachlich unterscheid-

bar waren. Bei dieser ethnischen Vielfalt handelte es sich um keine Ausnahme,

denn das fränkische Großreich war ein Vielvölkerstaat, in dem das fränkische

Staatsvolk eine zahlenmäßige Minderheit darstellte, die gallorömische bzw. gal-

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46 Sprachliche Verständigung in Spätantike und Frühmittel alter

loromanische Bevölkerung eindeutig die Mehrheit bildete, immer aber durch-

setzt von einer großen Zahl von Angehörigen anderer gentes, gentiler oder eth-

nischer Einheiten, Splittergruppen bzw. Teilstämme. Wie sie alle sich mitein-

ander verständigten, läßt die Überlieferung nicht erkennen, wenngleich mit

Zwei- und Mehrsprachigkeit vieler Einzelpersonen, auch mit Dolmetschern

und Übersetzern, sofern es um das Verständlichmachen schriftlicher Texte ging,

jeweils zu rechnen ist.

Als Feldherr war Attila auf Dolmetschen angewiesen, und es läßt sich den-

ken, daß Heerführer auch sonst in fremdem und feindlichem Land auf sprach-

und ortskundige Führer, zusätzlich auf sprachliche Vermittler zurückgreifen

mußten. Zum Jahre 642 etwa berichtet Paulus Diaconus von einem bemerkens-

werten Fall. Der langobardische Dukat von Benevent in Süditalien war von

Sclavi überfallen worden, die zu Schiff übers Meer gekommen waren. In äußerst

bedrängter Lage sprach (oder verhandelte) ein langobardischer Führer namens

Raduald mit den Slaven: eisdem Sclavis propria illorum lingua locutus est. Er-

staunlicherweise dämpfte der Langobarde damit den Elan der Invasoren und

gewann so bei einem plötzlichen Gegenangriff auf die Slaven einen entscheiden-

den Vorteil.153 Lehrt schon dieses Beispiel, daß die Beherrschung der Sprache

des Feindes diesem weiteren Erfolg suggeriert, ihm paradoxerweise auch vorgau-

kelt, er habe den Kampf schon fast gewonnen? Darüber ließe sich diskutieren,

wenn es mehrere Belege ähnlicher Art gäbe. Nur dann könnte man darüber

urteilen, ob Sprachbeherrschung im Frühmittelalter als Kriegslist taugte und zur

Verschleierung wahrer Absichten dienen konnte.

Die Frage nach relevanter Fremdsprachenkenntnis ist in Teilen abhängig von

der grundsätzlicheren Fragestellung, wer denn im Mittelalter lesen und schrei-

ben konnte. Da Alfred Wendehorst das einschlägige Material gesammelt und

gedeutet hat, überdies in älteren Studien vor allem von Herbert Grundmann,

Laetitia Boehm und Detlev Illmer der allgemeine Bildungsstand im Mittelalter

gründlich erörtert wurde,154 soll im folgenden das Augenmerk vornehmlich den

Sprachkenntnissen mittelalterlicher Herrscher und ggf. ihrem Rückgriff auf dol-

metschende Dienste gelten. In diesem leicht eingeschränkten Sinne mag aber-

mals die Feststellung Erich Zöllners als Ausgangspunkt dienen: Daß nämlich

„die Merowingerkönige im 6. Jahrhundert mehr oder weniger das Latein und

auch die romanische Volkssprache beherrschten, wird man im Hinblick auf den

vertrauten Umgang mit Gallorömern (namentlich geistlichen Standes) anneh-

men dürfen. Nie hören wir von der Vermittlung durch Dolmetscher.“155 Dies

triff t für König Chilperich I. (561–584) off enbar zu, doch sind Chilperichs viel-

seitige Sprachkenntnisse vielleicht nicht ganz typisch. Venantius Fortunatus

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Fremdsprachenkenntnisse bei fränkischen Königen 47

rühmt diesem König nämlich nach, er habe verschiedene Stimmen (Sprachen)

auch ohne Dolmetscher verstanden: Discernens varias sub nullo interprete vo-ces.156 Bei dem Dichter könnte die Überzeugung mitschwingen, als seien Dol-

metscherdienste sonst durchaus üblich gewesen. Diese Nachricht betriff t die

mündliche Kommunikation. Mit Chilperich I. kann auch der Reigen literarisch

tätiger Könige eröff net werden. Gregor von Tours berichtet, daß Chilperich ei-

nen indicolus über die heilige Trinität geschrieben habe, zusätzlich sei er Verfas-

ser einiger Bücher in Versen und Hymnen gewesen. Gregor notiert ferner, daß

König Chilperich sich bei der Abfassung einiger Bücher in Versen Sedulius zum

Vorbild nahm, aber seine Verse hätten sich durchaus nicht den Regeln des Vers-

baus fügen wollen. Höchst bemerkenswert ist die zusätzliche Angabe: Chilpe-

rich „fügte auch unserem Alphabet einige Buchstaben hinzu, nämlich ω, wie es

die Griechen haben, ae, the, wi, wofür die Schriftzeichen folgende sind: ω ae the

wi und sandte Schreiben in alle Städte seines Reichs, daß die Knaben so unter-

richtet und die alten Bücher mit Bimsstein radiert und umgeschrieben werden

sollten“.157 Chilperichs vermeintlicher Stiefbruder, der Prätendent auf den frän-

kischen Königsthron der Jahre 582 und 584/5 namens Gundowald, war sorgfäl-

tig erzogen und in den Wissenschaften unterwiesen worden. Ganz gewiß war

dies in seinem byzantinischen Exil geschehen.158

Chlothars I. Gemahlin Radegunde war litteris erudita bzw. patrum operum studiosissima, wie Venantius Fortunatus bezeugt.159 In der fränkischen Nachbar-

schaft galt Th eoderich der Große (493–526) teils als gebildet, teils aber auch als

rex inlitteratus (illiteratus)160. Der byzantinische Historiker Prokop rühmt ihm

nach, daß er „sich zum Herrn und König eines so großen Landes aufgeschwun-

gen habe und im Besitz einer unerhörten Macht gestorben sei, ohne nur jemals

von Grammatik gehört zu haben“.161 Der mit Th eoderich verwandte Th eoda-

had, der von 534–536 König der Ostgoten war, verfügte über „eine gewisse

philosophische Bildung“, beherrschte außer Gotisch und Latein wohl auch

Griechisch.162 Auch Th eoderichs Tochter Amalasuntha, von 526–535 Königin,

sprach Latein und Griechisch. Sie sorgte zunächst für eine römisch-traditionelle

Ausbildung ihres Sohnes Athalarich, mußte sie jedoch auf Druck ihrer goti-

schen Landsleute abbrechen.163

Der Westgotenkönig Sisebut (612–621) gilt unumstritten als Dichter, wenn-

gleich seine Heiligenbiographie des Bischofs Desiderius von Valence in etwas

gekünsteltem Latein geschrieben ist.164

Die Beleglücke für die Folgezeit mag mit einem Seitenblick auf literarische

Bildung von Päpsten gefüllt werden: Der Sizilianer Leo II. (682–683) galt als

greca latinaque lingua eruditus, die zitierte Formulierung der sog. Papstge-

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48 Sprachliche Verständigung in Spätantike und Frühmittel alter

schichte legt auch die Annahme nahe, als sei solche Mehrsprachigkeit sehr un-

üblich gewesen.165 Von dem Syrer Gregor III. (731–774) liegt die entsprechende

Nachricht in nahezu wörtlicher Übereinstimmung vor. Auch Papst Zacharias

(741–752) soll Graeca Latinaque lingua peritus gewesen sein, er ließ Gregors des

Großen viele Bücherdialoge „aus dem Lateinischen in das Griechische überset-

zen“ und vielen, die Latein nicht lesen konnten, eröff nete er dadurch die Lek-

türe der Geschichte Gregors des Großen.166

Von Papst Paul I. (757–767) wird überliefert, daß er König Pippin Bücher

geschickt habe, „soviel er habe fi nden können“, allerdings in griechischer Spra-

che.167 Nicht erkennbar ist, ob der Papst Griechisch lesen, noch ob Pippin selbst

mit den Büchern etwas anfangen konnte. Eventuell waren einige Gebildete sei-

nes Hofes dazu in der Lage.

Berühmt sind die von Einhard über Karl den Großen gegebenen Auskünfte:

„Reich und überströmend fl oß ihm die Rede vom Munde, und was er wollte,

konnte er leicht und klar ausdrücken. Es genügte ihm jedoch nicht an seiner

Muttersprache, sondern er widmete sich auch der Erlernung fremder Sprachen:

darunter brachte er es im Lateinischen so weit, daß er es wie seine Mutterspra-

che redete, das Griechische aber konnte er besser verstehen, als selber sprechen.

Er war so beredt, daß er sogar geschwätzig erscheinen konnte“ usw.168 Einhard

fügt weitere Nachrichten über Karls Bildungsbefl issenheit hinzu, die in man-

chem freilich überstilisiert sind. Schließlich schreibt er: „Auch zu schreiben ver-

suchte [Karl der Große] und pfl egte deswegen Tafel und Büchlein im Bett unter

dem Kopfkissen bei sich zu führen, um in müßigen Stunden seine Hand an das

Nachmachen von Buchstaben zu gewöhnen. Doch hatte er mit seinem verkehr-

ten und zu spät angefangenen Bemühen wenig Erfolg.“169 Selbstverständlich hat

man im Verlauf der Jahrhunderte eine Fülle wissenschaftlicher Traktate über

philosophische, theologische und chronologische Fragen Karl zuschreiben wol-

len, er hatte sie jedoch von seinen Hofgelehrten ausarbeiten und sogar in seinem

Namen stilisierte Briefe von Alkuin verfassen lassen. Ist dies an sich prinzipiell

verständlich, wohl auch üblich, so ist doch merkwürdiger, daß Karl der Große

es zuließ, wenn lateinische Gedichte in seinem eigenen Namen verfaßt wur-

den.170

Was Einhard über Karl den Großen schrieb und so schwer in seinem Reali-

tätsgehalt zu beurteilen ist, suchte Th egan in der Biographie Ludwigs des From-

men zu übertreff en: Ludwig habe das Lateinische wie seine Muttersprache, das

Griechische jedoch noch besser verstanden als gesprochen.171 Lediglich Ludwigs

des Frommen Verhältnis zur eigenen Muttersprache, die er zweifelsfrei minde-

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Fremdsprachenkenntnisse bei fränkischen Königen 49

stens in seiner Jugend beherrscht hatte, wird in der Biographie Th egans über-

gangen.

Karl der Kahle könnte lesen und schreiben gelernt haben, wenn man gewillt

ist, der Widmung Heirichs von Auxerre in seiner poetischen Vita S. Germani

Glauben zu schenken, die Karl den Kahlen als philosophierenden König an-

sprach.172 Karl III. soll nach Angaben Ekkehards IV. von St. Gallen Dichter von

Off erenda gewesen sein.173 Damit ist unsere Belegkette für frühmittelalterliche

Könige nahezu erschöpft.

Mit der Aufl ösung des Karlsreiches und der Formierung Europas im Verlauf

des 9. Jahrhunderts ergeben sich auch für die spezielle Fragestellung bedeutsame

Zäsuren. Diese könnten auch dominant durch eine veränderte Überlieferungs-

lage verursacht sein, weshalb man das quellenarme 10. Jahrhundert auch als

„dunkles Jahrhundert“ oder saeculum obscurum angesprochen hat. Unabhängig

von solchen teils berechtigten, teils mißverständlichen Beurteilungen soll im

folgenden der Blick wiederum auf Sprachkenntnisse und ggf. belegte Dolmet-

scherdienste gerichtet werden.174

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