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VII. Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher VII. 1 Konsekutivdolmetschen und seine theoretische Rechtfertigung Dolmetschen erfolgt im Regelfall in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Spre- chertext, zwar nachträglich leicht versetzt, aber doch in angestrebter annähern- der Gleichzeitigkeit zum vorgegebenen gesprochenen Text. 520 Dieses Postulat erfordert als Grundbedingungen hohe Sprachkompetenz, schnelle Auffassungs- gabe und ansprechendes intellektuelles Verständnis. Sieht man von dem kaum erreichbaren Idealbild einmal ab, so bleibt als Konstante, daß der Dolmetscher dem gesprochenen Wort folgt. Dann spricht man konsequenterweise von kon- sekutivem Dolmetschen. Allerdings gibt es in der Praxis vielfältige Verfahrens- weisen, aber auch unterschiedliche Bedürfnisse der Adressaten. Gemeint ist etwa die mündliche Wiedergabe in kurzen und sehr kurzen Textabschnitten, fast von Satz zu Satz mit entsprechend häufigen Unterbrechungen im Redetext des Sprechers oder in größeren Textblöcken, deren korrekte Wiedergabe größere intellektuelle Ansprüche stellen konnte. Insofern spielt neben Sprachkompetenz das eigene Verständnis und ggf. die Fähigkeit zu komprimierender, korrekter Wiedergabe eine wichtige Rolle. Sogenanntes Simultandolmetschen im stren- gen und eigentlichen Sinne gibt es erst seit etwa den 20er Jahren des 20. Jahr- hunderts. Zuvor dominierte das konsekutive Verfahren mit seinen vielfältigen Abstufungen. Eine angestrebte Gleichzeitigkeit erreichte allenfalls das soge- nannte Flüsterdolmetschen, für das aber keine Belege aus dem Mittelalter vor- liegen. Das grundsätzliche Problem, ob der Dolmetscher eng an die Sprachvorgabe orientiert dolmetschen soll oder ob er betont sinngemäß vorgehen darf und dabei das gesprochene Wort auch verkürzend, in konzentrierter oder gar ver- ständlicherer Weise wiedergeben darf oder soll, sei noch einmal aufgegriffen. Es läßt sich gewiß ausfächern, doch mag es genügen, die Kernfrage anzuschneiden und mittelalterlichen Belegen zu folgen. In der bisherigen Darstellung ist die Nähe des Dolmetschens zum Übersetzen wiederholt betont worden, so daß es kaum überraschen wird, wenn die fast ausschließlich zum Übersetzungswesen vorliegenden theoretischen Äußerungen hier mindestens partiell auch auf Berei- che der mündlichen Kommunikation bezogen werden können. Am kürzesten läßt sich das Problem umschreiben mit Alternativen wie: Texttreue oder Ele- Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/9/14 3:28 PM

Vom Dolmetschen im Mittelalter (Sprachliche Vermittlung in weltlichen und kirchlichen Zusammenhängen) || VII. Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

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VII. Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

VII. 1 Konsekutivdolmetschen und seine theoretische

Rechtfertigung

Dolmetschen erfolgt im Regelfall in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Spre-

chertext, zwar nachträglich leicht versetzt, aber doch in angestrebter annähern-

der Gleichzeitigkeit zum vorgegebenen gesprochenen Text.520 Dieses Postulat

erfordert als Grundbedingungen hohe Sprachkompetenz, schnelle Auff assungs-

gabe und ansprechendes intellektuelles Verständnis. Sieht man von dem kaum

erreichbaren Idealbild einmal ab, so bleibt als Konstante, daß der Dolmetscher

dem gesprochenen Wort folgt. Dann spricht man konsequenterweise von kon-

sekutivem Dolmetschen. Allerdings gibt es in der Praxis vielfältige Verfahrens-

weisen, aber auch unterschiedliche Bedürfnisse der Adressaten. Gemeint ist

etwa die mündliche Wiedergabe in kurzen und sehr kurzen Textabschnitten,

fast von Satz zu Satz mit entsprechend häufi gen Unterbrechungen im Redetext

des Sprechers oder in größeren Textblöcken, deren korrekte Wiedergabe größere

intellektuelle Ansprüche stellen konnte. Insofern spielt neben Sprachkompetenz

das eigene Verständnis und ggf. die Fähigkeit zu komprimierender, korrekter

Wiedergabe eine wichtige Rolle. Sogenanntes Simultandolmetschen im stren-

gen und eigentlichen Sinne gibt es erst seit etwa den 20er Jahren des 20. Jahr-

hunderts. Zuvor dominierte das konsekutive Verfahren mit seinen vielfältigen

Abstufungen. Eine angestrebte Gleichzeitigkeit erreichte allenfalls das soge-

nannte Flüsterdolmetschen, für das aber keine Belege aus dem Mittelalter vor-

liegen.

Das grundsätzliche Problem, ob der Dolmetscher eng an die Sprachvorgabe

orientiert dolmetschen soll oder ob er betont sinngemäß vorgehen darf und

dabei das gesprochene Wort auch verkürzend, in konzentrierter oder gar ver-

ständlicherer Weise wiedergeben darf oder soll, sei noch einmal aufgegriff en. Es

läßt sich gewiß ausfächern, doch mag es genügen, die Kernfrage anzuschneiden

und mittelalterlichen Belegen zu folgen. In der bisherigen Darstellung ist die

Nähe des Dolmetschens zum Übersetzen wiederholt betont worden, so daß es

kaum überraschen wird, wenn die fast ausschließlich zum Übersetzungswesen

vorliegenden theoretischen Äußerungen hier mindestens partiell auch auf Berei-

che der mündlichen Kommunikation bezogen werden können. Am kürzesten

läßt sich das Problem umschreiben mit Alternativen wie: Texttreue oder Ele-

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ganz? Wiedergabe der Wörter oder Aufgreifen des ideellen Gehalts ? Ad verbum

oder ad sensum?521

Einer der großen Gelehrten des 12. Jahrhunderts, der „weder dem geistlichen

Stande angehörte, noch an einer hohen Schule lehrte, sondern als Richter in

einer italienischen Commune wirkte“, war Burgundio von Pisa.522 Dieser Ge-

lehrte hat biblische Texte, Schriften von Kirchenvätern und sonstige theologi-

sche Traktate, aber auch philosophisch-anthropologische Abhandlungen,

Rechtstexte u. a. m. aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt.523 Seinen

Zeitgenossen galt er „als Autorität für das Griechische“,524 und sein Grabstein

rühmte ihn als optimus interpres. Im Vorwort einiger Übersetzungswerke ver-

focht Burgundio entschieden die Methode einer Wiedergabe de verbo ad ver-bum, also das „Prinzip wörtlichen Übersetzens“.525 Streng nach der Wortfolge

sei zu übersetzen, auch wenn die Grammatik dem mitunter entgegenstehe. Bur-

gundio knüpfte mit dieser Auff assung an ältere Vorbilder an, beachtete auch

Kaiser Justinians entsprechendes Gebot für Übertragungen der Digesten in das

Griechische und umgekehrt griechischer Rechtstexte wie der Novellen in das

Lateinische. In der „Einleitung zu seiner Übersetzung der Homilien über das

Johannes-Evangelium von Johannes Chrysostomus“526 hat Burgundio eine

große Reihe von Autoritäten aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen be-

nannt und seine „Methode wörtlichen Übersetzens ausführlich begründet“.527

Freilich hatte er die schriftliche Übersetzung vor Augen, und es ist hier vorran-

gig zu fragen, ob deren Methodenwahl auch für die mündliche Vermittlung,

speziell das Dolmetschen, Gültigkeit besitzt.

Denkt man an umfangreiche lateinische Urkundentexte, die mitunter aus

einer einzigen großen Satzperiode bestehen und die in der Regel öff entlich ver-

lesen wurden, wobei man sich diesen Vorgang auch als streng konsekutives Dol-

metschen vorstellen kann, ggf. auch als doppeltes lateinisches Lesen und nach-

heriges volkssprachliches Übersetzen, dann leuchtet die Methode des de verbo ad verbum unmittelbar ein. Gegen eine strikte Trennung schriftlicher Überset-

zung von mündlicher Wiedergabe/Dolmetschen, die beide unterschiedlichen

Methoden zu folgen hätten, spricht eine Äußerung Anselms von Havelberg, die

Peter Classen in seiner Abhandlung über Burgundio von Pisa erwähnt. Danach

hätte Anselm in der nachträglichen Aufzeichnung seiner Dialoge, die übrigens

in Burgundios Beisein stattgefunden hatte, seinem „griechischen Partner Nike-

tas eine Übersetzung de verbo ad verbum“ vorgeschlagen, dieses selbst jedoch

abgelehnt: huiusmodi loquendi usum non habeo et preterea suspecta est mihi talis interpretatio, quia capi possum in verbo.528 Anselm meinte, die zu fertigende

Übersetzung solle „die Reden sinngemäß zusammenfassen und deuten“. Dies

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Konsekutivdolmetschen 121

entsprach demnach nicht der Überzeugung des Pisaners, doch ist mit den in

diesem Zusammenhang bezeugten Alternativmethoden die mündliche Vermitt-

lung, der loquendi usus, eben das Dolmetschen unzweifelhaft gemeint. Insofern

ist ein kostbarer Hinweis vorhanden, der durchaus eine Verallgemeinerung für

die im Mittelalter üblichen Übersetzungs- wie auch Dolmetschmethoden zu-

läßt.

Die unterschiedlichen Auff assungen, ob Übersetzen und Dolmetschen Wort

für Wort erfolgen solle oder die sinngemäße Zusammenfassung und Deutung

des geredeten Textes vorzuziehen sei, blieben bestehen, auch ist die angespro-

chene Alternative nicht zu strikt zu nehmen. Denn mancher mag sich gewünscht

haben, daß vorzugsweise sein eigener Dolmetscher beide Methoden beachte,

damit er selbst hinreichend Gehörtes und Erschlossenes vergleichend verstehen

könne.

Das angedeutete Problem anzuwendender Alternativen beim Dolmetschen

hat im beginnenden 16. Jahrhundert auch Willibald Pirckheimer beschäftigt.

Im Widmungstext seiner Übersetzung einer Schrift von Plutarch aus dem Jahre

1519 hat er die Zusammenhänge erläutert und für das Sinngemäße sowie der

eigenen Sprache Angemessene Klarheit, Lauterkeit und Erkennbarkeit von

sprachlichen Zugeständnissen gefordert. Pirckheimers Ausführungen lohnen

die Lektüre, er schreibt:

„Es hat E.G. zum öff ternmal von mir gehöret, daz mein es Bedunckens mög-

lich sey, alle Ding, so in einer Sprach geschriben sein in ein andere verstendli-

cher Weiß zu bringen, unangesehen, daß ihr etlich vermeinen unmöglich zu

sein, das Latein vollkommen in das Teutsch zu verwandeln. Aber nach meinem

Geduncken kompt solcher Irrsal auß derselben Unverstand, oder daß sie dem

lateinischen Buchstaben zu genau anhängig sind, mer jren Fleiß auff zierliche

Wort, dann den rechten Verstand wenden. Auß dem folget off t, daß solche Ver-

deutscher selbst nicht vernemmen das, so sie andern zu verstehen geben sich

unterstehen, unnd so solches beschicht, wöllen sie ihr Ungeschicklichkeit damit

verdecken, als solt sich das Lateinisch mit dem Teutschen gar nicht vergleichen.

Aber dem ist die Wahrheit nicht also, thut aber not einem jeglichen, der eine

Sprach in die ander verkeren will, daß er allein den Sinn, unangesehen der Wort,

in die Sprach, die er vor ihm hat, clar, lauter und der maß verendere, daß ein

jeglicher, derselben Sprach verstendig, das, so verkeret ist, leichtlich verstehen

möge.“529

Mit der Forderung eines Übersetzens de verbo ad verbum als Grundprinzip

oder aber nach dem Sinn sind zugleich Grundprinzipien des Dolmetschens an-

gesprochen, die je für sich individuelle Abweichungen erlaubten. Zwei Pro-

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blembereiche seien zunächst angesprochen, die zwar nachgeordnet, aber nicht

unerheblich sind. Konrad von Megenberg (1309–1374) beispielsweise begnügte

sich für das Übersetzen nicht damit, „einen Text der Universalsprache Latein in

die Partikularsprache des Volkes zu übertragen, sondern Wissen, das in lateini-

scher Sprache vorgeformt ist, in rehter rede auf Deutsch zu sagen“.530 Dies ist

nach Georg Steer „eine Th eorie des Übersetzens, die sich kaum von der Martin

Luthers unterscheidet“.531 Da für solches Übersetzen eine vollkommene Beherr-

schung des Lateinischen wie der Volkssprache bzw. des Deutschen erforderlich

ist, ergibt sich nahezu zwangsläufi g, derartige sprachliche Perfektion bei fast al-

len Dolmetschern bzw. für den Bereich der mündlichen, zeitlich eng bemesse-

nen Kommunikation als nicht gegeben anzusehen. Damit ist indes ein Quali-

tätsrahmen angedeutet, der auch für einen zweiten Aspekt gelten kann.

Ob nämlich der Dolmetscher, und dabei kann nur der gebildete und ausge-

bildete Spezialist gemeint sein, bei seiner Tätigkeit die besonderen geistigen Fä-

higkeiten seines (seiner) Adressaten beachtete und gar berücksichtigte, ist nicht

bekannt. Auch sein Pendant, der Übersetzer oder schriftlicher Kommunikation

Verpfl ichtete, tat dies höchstens im Einzelfall. Bei sozusagen normalem Dol-

metschen trat das Problem wohl stets in den Hintergrund, weil jeder Adressat,

der ja zugleich Auftraggeber war, zufrieden war, wenn ihm Fremdsprachiges

zugänglich gemacht wurde. Dabei dominierte ganz gewiß das Dolmetschen aus

der jeweiligen Situation heraus und der improvisierte Zugriff auf Dolmetscher

ad hoc.

Bislang ist das Problem von mancherlei Unübersetzbarkeit ausgeblendet wor-

den, also die Frage nach zwingenden Hinderungsgründen für diese oder jene

Wiedergabe. Damit ist die Tatsache gemeint, daß unterschiedliche Kulturberei-

che oft über spezielle Ausdrucks- und Sprachprägungen verfügen, die sich in

anderen Sprachen überhaupt nicht oder mindestens nicht adäquat wiedergeben

lassen.

Anastasius Bibliothecarius, zeitweilig Kanzler und Archivar der Römischen

Kirche, hat im 9. Jahrhundert das Problem solcher Unübersetzbarkeit angespro-

chen. Er verfocht die Methode des verbum e verbo, meinte aber, solche Überset-

zung müsse den Ausdrucksmöglichkeiten der lateinischen Sprache angepaßt

werden.532 Auch dabei sah er Schranken, wenn er nämlich ausdrücklich den

Vorbehalt der grundsätzlichen Unübersetzbarkeit machte: „Soweit es die lateini-

sche Sprache erlaubt“ (quantum idioma Latinum permisit).533 Vor Augen hatte

Anastasius Bibliothecarius gewiß manchen Kollegen, der wie beispielsweise Hil-

duin oder Johannes Scotus (Eriugena) wortgetreue Übersetzungen angefertigt

hatte, die bis zur Unverständlichkeit reichten.534 Im Hinblick speziell auf das

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Die Frage der Verläßlichkeit 123

Dolmetschen wird sich das angesprochene Dilemma freilich weniger folgen-

schwer ausgewirkt haben, weil des Dolmetschers Eingriff in einen grundsätzli-

chen Dialog die Korrektur von Mißdeutungen, Mißverständnissen oder Fehlern

leichter und auch unmittelbarer ermöglichte.

Damit dürften die häufi gsten Schwierigkeiten angesprochen worden sein,

doch blieb im Grundsätzlichen das Problem partieller Unübersetzbarkeit. Not-

ker von St. Gallen (840–912) mag als Zeuge dafür gelten. Zwar bezieht sich der

Mönch direkt auf die ihm vorliegende Schriftlichkeit, doch dürfte die ihn be-

schäftigende Problematik sich mit Sicherheit auch bei mündlicher Wiedergabe

ergeben. Notker erzählt in seinen Gesta Karoli, wie Ludwig (der Deutsche) als

Kind seinem Großvater Karl dem Großen vorgestellt wurde. Diesem habe der

Junge so imponiert, daß er eine Weissagung (praesagium) riskierte. Nach Notker

Balbulus „tat [der Kaiser] etwa folgende Äußerung: Wenn dieser Knabe am Le-

ben bleibt, wird er etwas Großes sein. Diese Worte [schreibt Notker] habe ich

dem Ambrosius entnommen, weil man das, was Karl gesagt hat, nicht genau ins

Lateinische übertragen kann“ (quia Karolus quae dixit, non possunt examussim in Latinum converti).535

Nicht diskutiert wurde im Mittelalter off enbar die Frage, ob und vor allem

wieviel Textsubstanz beim Dolmetschen verloren ging.536 Dabei dürfte das

grundsätzliche Problem durchaus bekannt gewesen sein. Die Suche nach quali-

fi zierten Dolmetschern unterstreicht in Teilen eine solche Annahme. In dieser

Frage wird man allerdings stark diff erenzieren müssen: sozusagen objektive Ma-

terialverluste bei großer und erst recht übergroßer Sprechfülle, Erinnerungsver-

luste unterschiedlicher Intensität, sich jäh aufzeigende Übermittlungsdefi zite

wegen mangelnder Sprachkompetenz und zwar aktiver wie passiver Art, Kon-

zentrationsschwächen und manches mehr, gewiß auch das oft gespürte Unver-

mögen, bestimmte Sachverhalte adäquat wiedergeben zu können. Das bereits

angesprochene Problem einer Unübersetzbarkeit oder einer nur eingeschränk-

ten Wiedergabemöglichkeit (quantum idioma Latinum permisit) trat mit Ge-

wißheit hinzu, wurde aber allenfalls andeutungsweise thematisiert. Vermutlich

wurde aber die grundsätzliche Inkongruenz vieler lateinischer und volkssprachi-

ger Begriff e durchaus als solche empfunden.537

VII. 2 Die Frage der Verläßlichkeit und ggf. von Sanktionen

Die Frage der Verläßlichkeit bzw. das Zuverlässigkeitsproblem bei Dolmet-

schern eigens anzusprechen, ist nicht unbedingt nötig. Doch gibt es neben

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124 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

überwiegend guten Erfahrungen auch schlechte. Damit sollen gewiß nicht Fra-

gen einer mitunter unzureichenden Sprachkompetenz angesprochen werden, es

sollen auch nicht „einseitige und durch das Dolmetschen verderbte historische

Überlieferungen“ näher diskutiert werden, die beispielsweise durch einen frem-

den Informator vermittelt wurden.538 Durch Dolmetscher verderbte Texte mag

es relativ oft gegeben haben, aber sie waren nicht die einzigen, denen solches zur

Last zu legen ist, und eigentlich ist bei dieser Spezialfrage schon die Grenze von

mündlich vermittelnder Kommunikation (Dolmetschen) zur schriftlichen Fi-

xierung (Übersetzen) überschritten.

Denkt man an eidliche Verpfl ichtungsformen für Dolmetscher und auch an

Strafandrohungen, so rückt korrektess Verhalten in den Mittelpunkt unserer

Erörterung. Von grundsätzlichem Mißtrauen spricht bereits Kaiser Justinians

Erklärung, „die ganz streng wörtliche, auch die Wortfolge der Vorlage genau

einhaltende Übersetzung κατα πóδα sei die einzige zulässige Art“,539 die Dige-

sten ins Griechische zu übertragen.

Festzuhalten bleibt aber immer, daß Dolmetscher allenthalben eine wichtige

Hilfe zur Bewältigung sprachlicher Kommunikationsprobleme waren. Dies galt

insbesondere für sprachlich hervorragend qualifi zierte Personen, weil dann eine

größere Verläßlichkeit bei der Vermittlung gegeben war. Allerdings förderte

man solche Zuverlässigkeit durch bestimmte Maßnahmen, zu denen der Eid

bzw. die Vereidigung in erster Linie gehörten. Es mag off enbleiben, ob bei der

Mehrzahl schlechter oder falscher Wiedergaben vorgegebener Texte die jeweilige

Unzulänglichkeit des interpres ursächlich war. Als aber Kaiser Konstantinos V.

um das Jahr 765 an den fränkischen König Pippin Briefe übersandte, erhob er

den Vorwurf, „die leute, welche am fränkischen hofe die briefe des K[aisers] zu

übersetzen hätten, seien bestochen und berichteten anderes, als in den briefen

wirklich stehe“, und: „der päpstliche primicerius und consiliarius Christopho-

rus habe an den K. namens des papstes wegen der bilder vorstellungen gerichtet,

zu denen er vom papste nicht ermächtigt gewesen sei, und habe den gesandten

Pippins einen ganz anderen text vorgelesen als den wirklich abgesandten“.540 Ob

die Vorwürfe Konsequenzen zeitigten, ist nicht bekannt. Schwieriger ist die

Schuldfrage zu beurteilen, wenn später Konstantin Porphyrogennetos „einsei-

tige und durch das Dolmetschen verderbte historische Überlieferungen eines

ungarischen Informators vermittelt“.541

Wenig belegt ist das Phänomen der Bestrafung für nicht korrektes Dolmet-

schen durch den eigenen Herrn bzw. Auftraggeber. Hier wären kontrollierende

Personen, die ihrerseits hinreichend sprachkundig waren, ohne jedoch direkt als

Dolmetscher eingesetzt werden zu können, notwendig gewesen oder entspre-

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Die Frage der Verläßlichkeit 125

chende Sprachkenntnisse des Herrn selbst, der Fehler erkannte. Direkte Belege

für all diese Erscheinungsformen fehlen weithin. Eine Ausnahme gibt es 1403

in Reval. Hier behauptete der Kaufmann Johann Wrede vor dem Rat der Stadt,

ein Handelsbrief sei falsch übersetzt worden, woraufhin die sofortige Bestrafung

des Dolmetschers Hans Dürcop erwogen wurde: Unde wer he irst unrecht getol-ket. men zolde den tolke de tunge mit der wortelen afsnyden […].542

Es gibt aber auch Hinweise indirekter Art. Hierzu gehört bereits ein grund-

sätzliches Mißtrauen, von dem der Perser Nizamulmulk (1018–1092) in seinem

berühmten „Buch der Staatskunst“ berichtet: Danach habe ein schwerhöriger

König befürchtet, daß ihm bei der Ausübung seiner eigenen Richterpfl ichten

die beigezogenen Dolmetscher die jeweiligen Beschwerden nicht richtig darleg-

ten. In etwas komplizierter Weise suchte er einen praktikablen Ausweg, bei dem

Dolmetscher nicht beigezogen wurden.543 Nizamulmulks Verhalten erinnert

daran, daß man von Wilhelm dem Eroberer berichtet, er habe Englisch lernen

wollen, damit er „ohne Dolmetscher die Beschwerden des unterworfenen Vol-

kes verstehen könne“ (sine interprete querelam subiectae gentis posset intelligere).544

Auff ällig ist die off ene Angst eines Dolmetschers, der in die Zwickmühle

doppelter Loyalität geriet. In der ungarischen Legenda minor des Hl. Gerhard

wird erzählt, daß nach dem Tode des heiligen Königs Stephan der heilige Diö-

zesanbischof den neuen König Petrus krönen sollte, gegen diesen aber starke

Vorbehalte hatte. So sprach er von der Kanzel „durch einen Dolmetscher den

König furchtlos an“.545 Der Bischof redete off ensichtlich Latein, das nur wenige,

darunter immerhin seine Freunde verstanden. Sie aber waren entsetzt und „be-

deuteten dem Dolmetscher, er solle schweigen; dieser gehorchte aus Furcht. Der

Hirte aber mahnte und drängte den widerwilligen Sprachmittler mit folgenden

Worten: ‚Fürchte Gott, ehre den König, gib die väterlichen Worte bekannt!‘

Endlich überwand sich der Dolmetscher, den Ausspruch des Hirten zu verkün-

den, was dem König große Furcht einjagte.“546 Als die vermutlich noch im 11.

Jahrhundert entstandene Legenda minor im 14. Jahrhundert zur Legenda maior

etwas ausgemalt wurde, trat des Dolmetschers Zwangslage noch deutlicher her-

vor. „Der gute Hirte aber bemerkte“, so heißt es jetzt, „daß der Dolmetscher vor

Angst zitterte und schalt ihn daher laut mit den Worten […].“547 Die laute

Schelte wirkte, sie linderte aber wohl auch des Dolmetschers (vermeintliche)

Verantwortlichkeit.

Im Jahre 1054 kam der Kardinalbischof Humbert von Silva Candida mit Fried-

rich, dem Kanzler der römischen Kirche, und dem Erzbischof Petrus von Amalfi

in heikler Mission nach Konstantinopel. Es ging um den Versuch einer Kirchen-

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126 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

einigung,548 was indes gründlich und schicksalsschwer mißlang. Die römischen

Gesandten hatten nämlich durch die Niederlegung der dem Patriarchen gelten-

den Exkommunikationsurkunde auf dem Hauptaltar der Hagia Sophia den

Bruch entscheidend vertieft. In unserem thematischen Zusammenhang ist er-

wähnenswert, daß der byzantinische Kaiser zuvor schon alle dicta et scripta der

Gesandten, die mit Vorwürfen gegen die Griechen und ihre Kirche gefüllt wa-

ren, ins Griechische hatte übersetzen lassen. Anders hätten diese Aussagen of-

fenbar nicht rezipiert werden können. Interessant ist, daß vom Übertragen

mündlicher und schriftlich verfaßter Vorwürfe die Rede ist, die auch entspre-

chend mündlich gedolmetscht und teils schriftlich übersetzt, anschließend so-

gar archiviert wurden. Ausdrücklich wird von interpretes Latinorum gesprochen,

einem Paulus und seinem Sohn Smaragdus, beide wohl kaum geistlichen Stan-

des. Denn als man sich in Konstantinopel über die Bannbulle empörte, sah sich

der Kaiser genötigt, den Aufruhr des Volkes zu besänftigen. Da er off enbar den

diplomatischen Status der Legaten nicht anzutasten riskierte, ließ er die Dol-

metscher dieser diplomatischen Delegation mißhandeln bzw. prügeln und sche-

ren. Sie ihrerseits galten als Instrumente und genossen keinen diplomatischen

Schutz.549 Eine ‚bewährte‘ Methode war es ohnehin, die Instrumente zu strafen,

wenn man sich an deren Handhabern nicht rächen durfte oder konnte. Das

Bild vom Esel, dessen Sack man schlägt, obwohl man ihn selbst meint, ist uns

vielleicht geläufi ger. Gewiß untypisch ist die Tötung eines Dolmetschers, wie es

im 13. Jahrhundert bei den Mordvinen oder Tataren geschah.550 Dieser war zur

Erkundung des Schicksals eines Mitbruders von Dominikanermönchen ausge-

sandt worden, also eher als Bote bzw. als Erkundender denn als Dolmetscher

fungierend. Diese Nachricht ist in ihrer allgemeinen Bedeutung schwer zu beur-

teilen, denn mancher freiwillige oder gezwungene Führer durch feindliches oder

unbekanntes Land fungierte gleichzeitig als Sprachmittler, mitunter speziell als

Dolmetscher. Bei Mißerfolgen, Verirrungen oder anderen Widrigkeiten mochte

er dann aber zum Verräter werden und sich gar als ein solcher behandelt sehen.

Sein Schicksal wäre dann in den meisten Fällen wohl nur sekundär der Dolmet-

schertätigkeit zuzuschreiben. Insofern ergeben sich Schwierigkeiten in der

Beurteilung bereits der Einzelfälle. Verallgemeinernd läßt sich allerdings ein

grundsätzliches Risiko erkennen. Mitunter bleibt auch off en, ob bei dem Ver-

dolmetschen theologischer Aussagen auftretende Schwierigkeiten bzw. Unge-

nauigkeiten durch Unzulänglichkeit des Interpreten oder absichtlich bedingt

waren, weil der Dolmetscher beispielsweise seinen heidnischen Grundüberzeu-

gungen verhaftet blieb. Bei der Missionisierung der Prußen gibt es solche Beob-

achtungen.551 Es handelt sich dabei um eine leichtere Form der Unzuverlässig-

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Zum Anforderungsprofi l 127

keit, bei der man böse oder konträre Absichten nicht unterstellen muß. Rubruk

hat im Orient allerdings schlechtere Erfahrungen gemacht. So war „sein Drago-

man nur imstande […], ein Gespräch über Dinge des täglichen Lebens und

Verkehrs zu übersetzen. Der Dolmetscher bat selbst Rubruk, sich seiner Mit-

hilfe nicht zu bedienen, wenn er über religiöse Dinge reden wollte.“552 Hier

spielt allerdings nicht die partielle Inkompetenz des Dolmetschers die entschei-

dende Rolle, sondern sein refl ektiertes Verweigern, das ggf. auch Rückwirkun-

gen aus der nichtchristlichen Umwelt fürchtete.

Bisher ist die Frage der Verläßlichkeit strikt auf den Dolmetscher bezogen

worden, was gewiß plausibel und sachgerecht ist. Andererseits wäre es auch in-

teressant zu erfahren, ob Dolmetscher ungeachtet individueller Fehler bei ihrer

Aufgabenbewältigung sich ihrerseits einigermaßen auf ihren Auftraggeber ver-

lassen konnten. Zu einem solchen Vertrauensverhältnis mußte beim Auftragge-

ber die Einsicht gehören, daß sprachliche Vermittlung auch objektiv sehr

schwierig sein konnte, so daß fehlerfreies Dolmetschen immer anzustreben, oft

jedoch schwerlich erreichbar war. Ohnehin dürfte der Fremdsprachenunkun-

dige kaum perfekte Beurteilungsmaßstäbe für die Wertigkeit des Vermittelten

besessen haben.

Über die angeschnittene Frage hinaus gäbe es weitere Probleme, die man aber

als Historiker nur mit Textzeugnissen verknüpft und belegt näher erörtern

sollte. Angedeutet sei indes ein weiter Beurteilungsspielraum, der aus einer fast

anderen Welt überliefert ist. Im Babylonischen Talmud sagt R. Abahu u. a.:

„Zuerst glaubte ich, dass ich demütig sei, als ich aber sah, wie R. Abba aus Âkko

eine Meinung sagte und sein Dolmetsch eine andere Meinung sagte und er es

ihm nicht übel nahm, fand ich, daß ich nicht demütig bin.“553 Gemeint ist hier

ein Dolmetscher, der den Vortrag des Gelehrten dem Publikum mit persönli-

cher Note übermittelte. In mancher Hinsicht wird so ein menschlicher Aspekt

deutlich, der über das bloß Technische der Tätigkeit und den instrumentalen

Bezug erheblich hinausreicht.

VII. 3 Zum Anforderungsprofi l

Die Frage nach dem Anforderungsprofi l für Dolmetscher steht einerseits vor

großen Schwierigkeiten, andererseits ist sie sehr einfach dahingehend zu beant-

worten, daß der Interpres fremdsprachliche und im allgemeinen unverständli-

che Äußerungen Dritter in der eigenen Sprache seines Auftraggebers wiederzu-

geben hatte. Dabei ist ein notdürftiges Stammeln ggf. ebenso wichtig gewesen

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128 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

wie eine gekonnte, fl üssige Wiedergabe. Wichtig war vor allem die Übertragung

des für eine Seite Unverständlichen. Allerdings gab es gewiß eine Fülle von Ab-

stufungen beim Dolmetschen von einer in die andere Sprache, so daß die Frage

nach der Wertigkeit des Übertragenen grundsätzlich müßig ist, weil zu viel dif-

feriert. Konzentriert man sich auf relevantere Lebensbereiche bzw. Kommuni-

kationsebenen, so dominiert der geübte, ggf. auch speziell ausgebildete Dolmet-

scher, der seiner Aufgabe recht regelmäßig nachkommt. Mindestens für solche

Spezialisten ist dann die Frage nach dem Anforderungsprofi l angebracht, die

allerdings eine relative Auswahlmöglichkeit unter mehreren qualifi zierten Leu-

ten impliziert. Wie bei so vielen der uns interessierenden Fragen rund um das

Problem des Dolmetschens und der Dolmetscher ist die Überlieferungslage

schlecht. Auf Grund seltener Einzelangaben verstärkt sich aber der Eindruck,

daß Dolmetscher vor allem „treu“ oder „getreu“ übersetzen sollten. Dies ist mit

Sicherheit das wichtigste Qualifi kationskriterium gewesen. Die Rede ist vom

fi delis interpres, vom fi deliter referre o. ä. Bei Ekkehard IV. von St. Gallen aber

wird König Otto II. als fi dus interpres gerühmt,554 womit der Autor einen Begriff

aufnimmt, den Horaz in seiner Ars poetica sehr prägnant verwendete.555 Der fi -dus interpres ist im Verlauf des Mittelalters zum Topos vom getrüwen tolmetsch geworden, der nicht wort gegen wort, sondern sine gegen aim andern sine verglei-

che. Diese bei Niklas von Wyle (um 1415–1479) vertretene Auff assung bezieht

sich allerdings auf den Bereich schriftlicher Übersetzungstätigkeit,556 und meint

vorrangig Texttreue, Zuverlässigkeit gegenüber dem Text, während bei dem

„treuen Dolmetscher“ auch der Bereich persönlicher Zuverlässigkeit, Ehrlich-

keit und Lauterkeit mitangesprochen ist.

Der allgemeine Eindruck von geforderter Verläßlichkeit und Treue läßt sich

durch einen Einzelbeleg erhärten. Aus einer päpstlichen Instruktion vom

18.12.1278 geht hervor, daß Papst Nikolaus III. einem Legaten, der wegen

wichtiger Verhandlungen ad partes Alamanie entsandt wurde, gestattete, ali-quem vel aliquos religiosos vel seculares fi deles als interpretes heranzuziehen, weil er

selbst die Sprachen in den deutschen Gebieten nicht kenne, für die anstehenden

Verhandlungen deren Kenntnis jedoch notwendig sei (quia diversos tractatus ne-gotia ipsa requirunt et tu idyomata partium earundem ignoras).557 Als Dolmet-

scher kamen für den päpstlichen Legaten wohlgemerkt auch weltliche Personen

in Frage, off enbar gleich welchen Ranges und Standes, so wie bei kirchlichen

Interpretes. Der Legat sollte die Dolmetscher eidlich verpfl ichten, ihm selbst

und seinen Verhandlungspartnern getreulich zu referieren und zu erklären (fi de-liter referant et exponant). Gemeint ist gewiß die getreue Wiedergabe, wobei of-

fen bleibt, in welchen Intervallen gedolmetscht, ob paraphrasiert oder Wort für

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Zum Anforderungsprofi l 129

Wort die jeweiligen Beiträge wiederzugeben wären. Allerdings ist auch mit dem

Übersetzen schriftlicher Traktate zu rechnen, was im vorliegenden Falle für fl ie-

ßende Übergänge bei der Wiedergabe mündlicher wie schriftlicher Kommuni-

kation spricht. Bedeutsam ist bei dem verlangten Verpfl ichtungs- und Ver-

schwiegenheitseid schließlich die Forderung nach strikter Vertraulichkeit und

Verschwiegenheit – quod illa, que secreto tenenda fuerint, per eosdem iuratos aliis nullatenus detegantur.558

Das Vertraulichkeitsgebot dürfte in der Mehrzahl aller Anwendungsfälle ele-

mentar gewesen sein. So sind entsprechende Sprachkompetenz, Übersetzungs-

treue und Vertraulichkeit wie Verschwiegenheit als unabdingbare Elemente des

Anforderungsprofi ls eindeutig zu erkennen.

Recht häufi g belegt ist das Postulat „getreuen“ Dolmetschens. Mit dem At-

tribut klingt zugleich der Spielraum an, der dem Dolmetscher off en steht bei

seiner Tätigkeit. Gemeint sind damit nicht nur die qualitativen sprachlichen

Möglichkeiten einzelner Individuen, sondern vor allem sollen die Interpreta-

tionsspielräume bei der mündlichen Wiedergabe fremdsprachlicher Äußerun-

gen angedeutet werden.

Rainald von Dassel beispielsweise gab den lateinischen Text des Papstbriefes

1157 in Besançon „ziemlich“ bzw. „hinreichend“ getreu wieder ( fi da satis inter-pretatione).559 Im Jahr darauf wurde Friedrich Barbarossa in Augsburg ein Brief

Hadrians IV. von päpstlichen Gesandten überreicht, den der Kaiser an Bischof

Otto von Freising weitergab ad legendum simul et interpretandum. Vielleicht lag

es daran, daß Otto von Freising nach eigenem Bekunden besonders tiefen

Schmerz (singularem dolorem) über den Streit zwischen regnum und sacerdotium

empfand, wenn er den Brief vorlas und „in wohlwollender Weise“ bzw. „in gü-

tiger Übersetzung“ (benigna interpretatione) erläuterte.560 – Selbst bei der Wie-

dergabe von Papstbriefen ergibt sich demnach eine qualitative Diff erenz zwi-

schen benignus und satis fi dus. Auf anderen Feldern dürften manche Unterschiede

gravierender gewesen sein.

Eine interessante Beobachtung sei noch hinzugefügt. Das als „gütig“ über-

setzte Adjektiv benignus verwendet Friedrichs I. Kanzlei in einer Urkunde für

Speyer vom 27. Mai 1182.561 Bezug genommen wird in ihr auf das kaiserliche

Gesetzgebungsrecht und des Kaisers Pfl icht, strittige bzw. zweifelhafte Dinge

benigne zu interpretieren. Übernommen ist diese Vorstellung aus dem Codex

Justinians. So ergibt sich der bemerkenswerte Zusammenhang einer Ausübung

herrscherlicher Pfl icht, wenn von einer benigna interpretatio die Rede ist. Die

Wiedergabe des Papstbriefes in Augsburg durch Bischof Otto von Freising war

„pfl ichtgemäß korrekt“ bzw. sogar „pfl ichtgemäß wohlwollend korrekt“. Umge-

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130 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

kehrt wird damit deutlich, daß Rainalds von Dassel fi da satis interpretatio (ge-

rade noch hinreichend getreu) des Papstbriefes in Besançon von Rahewin erheb-

lich kritischer beurteilt wird, als es der erste Anschein glauben machen will.

Ob zum verläßlichen bzw. sprachlich getreuen Dolmetschen auch sozusagen

fachsprachliche Qualifi kation gefordert wurde oder mindestens verlangt werden

konnte, läßt sich kaum sagen. Beachtenswert sind immerhin formulierte Er-

kenntnisse von Reisenden und Missionaren im Orient, daß ihre Dolmetscher

zur Wiedergabe theologischer Fragen und Aussagen nicht in der Lage waren,

daß sie nahezu versagten.562 Solche Nachrichten lassen sich als Indizien werten,

doch beschränken sie sich auf christliche theologische Th emen und die dazu

gehörige „Fachsprache“.

Zu den Anforderungen an Dolmetscher gehört auch deren Verschwiegen-

heit. Sofern sie nahezu ausschließlich als sprachliche Vermittlungsinstrumente

verstanden wurden, wird das umfassende Schweigegebot als selbstverständlich

gegolten haben. Ob aber Dolmetscher durchgängig schwören mußten, ver-

schwiegen zu sein, wie es bei den seit dem 12. Jahrhundert in Europa belegten

Herolden der Fall war,563 ist nicht erkennbar, wohl aber naheliegend, zumal ge-

wisse Überschneidungen zwischen Dolmetschern und Herolden, die ohnehin

zwei- bzw. mehrsprachig sein sollten,564 nicht zu übersehen sind. Dies soll indes

hier nicht näher betrachtet werden, zumal das Heroldswesen recht eigentlich ein

Phänomen erst des 14. und 15. Jahrhunderts ist.565

Für eidliche Zusicherungen, auch nach beendeter Dolmetschertätigkeit ver-

schwiegen zu bleiben, spricht ebenfalls die bereits erwähnte päpstliche Anwei-

sung aus den Jahren 1278 und 1279, nach der Dolmetscher zusätzlich zur eid-

lichen Verpfl ichtung zu getreulicher Wiedergabe schwören mußten, daß sie

Verhandlungsgeheimnisse auch später nicht aufdecken würden.566

VII. 4 Fragen der Ausbildung

Woher rührten eines Dolmetschers Fähigkeiten? Wo konnte er gelernt haben?

Beide Fragen sind schwer zu beantworten, doch dürfte in aller Regel eine zwei-

oder mehrsprachige Person ggf. als Dolmetscher beigezogen worden sein, ohne

daß sich ermitteln ließe, wie diese zur jeweiligen Sprachkompetenz gekommen

war. Möglich sind freilich Hinweise in der Art, daß es sich vorzugsweise um

Bewohner des Grenzlandes gehandelt habe, die sozusagen von Haus aus zwei-

sprachig waren, oder um solche Leute, die längere oder sehr lange Zeit in einem

fremden Sprachbereich sich aufgehalten hatten, so daß zur Muttersprache eine

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Fragen der Ausbildung 131

zusätzliche Sprache erlernbar und verfügbar wurde. Die Skala solcher und ähn-

licher Möglichkeiten dürfte breit sein, doch kann die Frage nach Sprachschulen

ein größeres Interesse beanspruchen. Vorausgesetzt wird allerdings ein weites

Verständnis von Schulen, was spezialisierte und institutionalisierte Formen

selbstverständlich nicht ausschließt. Sie sollten aber eigens nachweisbar sein.

Erste Hinweise in der Überlieferung bleiben vage, aber der Frage nach Dol-

metscherschulen oder ähnlichen Einrichtungen kann erhöhte Aufmerksamkeit

gelten, weil auch Ausbildungsfragen in diesem Zusammenhang eine zusätzliche

Bedeutung erhalten.

Der Blick darf aber nicht auf Schulen verengt werden, weil Fremdsprachen-

erwerb auch in sozusagen individueller Form erfolgen konnte, selbst wenn Rah-

menregelungen vorlagen wie im Fall des bereits erwähnten Handelsvertrages der

Hanse mit Rußland. In einem anderen Fall, der aus dem Frühmittelalter datiert,

mag off enbleiben, ob individuelle Fremdsprachenaneignung in gewissen Schul-

formen erfolgte oder ob der betreff ende Klosteraufenthalt eher als Ausgangsba-

sis für individuelles Lernen genutzt wurde. Hinzuweisen ist etwa auf einen Brief

des Abtes Lupus von Ferrières aus dem Jahre 844, in dem dieser westfränkische

Abt mitteilt, daß er drei adlige Knaben in das Eifelkloster Prüm schicke, damit

sie dort Kenntnis der Germanica lingua sich aneignen und so ihrem eigenen

Kloster Ferrières künftig Nutzen bringen könnten: propter Germanicae linguae nanciscendam scientiam.567 Abt Lupus fügte in einem weiteren Schreiben an Abt

Marcward 847 hinzu, „daß den heutzutage äußerst notwendigen Gebrauch die-

ser [Sprache] nur ein Schwachkopf ignorieren könne“.568 Wollte der Abt künftig

für sein eigenes Kloster eigene Dolmetscher verfügbar haben oder wollte er von

(speziellen) Dolmetschern unabhängig sein? Bemerkenswert bleibt aber auch,

daß die Klosterschüler in Ferrières nicht mehr das Althochdeutsche lernen

konnten, wohl aber in Prüm.

Abt Lupus von Ferrières schickte nach Prüm drei Minderjährige bzw. besser:

Knaben oder pueroli. Es besteht Grund zur Annahme, daß er um die besondere

Aufnahme- und Lernfähigkeit von Kindern und Jugendlichen wußte, eine

Überzeugung, die im Mittelalter mitunter ausdrücklich fi xiert wird. Denken

wird man dabei vor allem an Karls IV. Regelung in der Goldenen Bulle von

1356, was einer verfassungsrechtlichen Norm entsprach: „Von Ihrem siebenten

Lebensjahr an [sollten die kurfürstlichen Prinzen, deren Muttersprache ohnehin

das Deutsche war] in der lateinischen, der italienischen und der tschechischen

Sprache unterrichtet werden, so daß sie bis zum vierzehnten Lebensjahr, je nach

der ihnen von Gott verliehenen Begabung, damit vertraut seien; denn dies wird

nicht nur für nützlich, sondern aus obgenannten Gründen für höchst notwen-

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132 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

dig erachtet, weil diese Sprachen am meisten für den Gebrauch und Bedarf des

heiligen römischen Reiches angewendet zu werden pfl egen und weil in ihnen

die wichtigsten Reichsgeschäfte verhandelt werden.“569

Denkwürdig ist eine spezielle Nachricht in der Korrespondenz Heinrichs des

Löwen. Dieser dankte in einem vermutlich nach 1176 geschriebenen Brief an

König Ludwig VII. von Frankreich „für die freundliche Aufnahme des Sohnes

eines seiner Vasallen, um dessen Heimsendung er bittet“. Gleichzeitig lädt er

den französischen König ein, Jungen zu schicken, wenn er wolle, daß diese sein

Land und dessen Sprache kennenlernen (et si quos habetis pueros, quos vel terram nostram vel linguam addiscere vultis, nobis transmittatis).570 In heutiger Termino-

logie würde man von einer Art Jugendaustauschprogramm sprechen wollen, das

der Löwe anbot, auch die Kombination von Landeskunde und Spracherwerb

könnte noch immer faszinieren, doch ist unbekannt, ob und welche Resonanz

das Angebot erfuhr.

Die Überwindung von Sprachhürden war im christlichen Missionsbereich

eine nahezu zwingende Notwendigkeit. Der Bremer Domscholaster Adam

(gest. um 1081) notiert in seiner Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche,

sein Erzbischof Adalbert hätte eine großangelegte Legationsreise durch den

Norden beabsichtigt, doch der „kenntnisreiche Dänenkönig“ brachte ihn ge-

schickt davon ab. Er belehrte den Erzbischof, indem er ihm klarmachte, „leich-

ter ließen sich die Barbarenvölker durch Menschen ihrer eigenen Sprache und

ähnlicher Lebensart bekehren, als durch Fremde, die ihre Volksbräuche ablehn-

ten. Er brauche nur durch seine Freigebigkeit und Leutseligkeit die Zuneigung

und Treue der Männer zu erwerben, die zur Verkündigung des Gottesworts un-

ter den Heiden zur Verfügung ständen.“571

Interessant ist die bei Adam von Bremen herausgestellte Verbindung von

Sprachenkenntnis und Wissen um die jeweilige Lebensart, man könnte auch

von Mentalitätseinsichten sprechen, fundamental aber ist vor allem die betonte

Sprachkompetenz bei beabsichtigter Begegnung mit fremden, heidnischen Völ-

kern. Hier liegt eine allgemeingültige Erkenntnis vor. Im Prinzip ist sie auch bei

Ansgar, dem karolingischen Missionar und späteren Erzbischof von Hamburg-

Bremen, zu erkennen. Zwar nicht ganz zwingend, aber doch sehr wahrschein-

lich ist nämlich die Annahme, daß Ansgar in seiner Missionsschule, die er im

fl andrischen Kloster Torhout eingerichtet hatte, von der heimatlichen Sprach-

kompetenz seiner Zöglinge bewußt profi tieren wollte. In der Vita Anskarii, die

sein Schüler und Nachfolger Rimbert zwischen 865 und 870 verfaßt hat, heißt

es, Ansgar hätte „einige junge Nordleute und Slawen gekauft und zur Unterwei-

sung in dieses Kloster geschickt, um sie für den heiligen Streit heranzubilden;

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Fragen der Ausbildung 133

seine ganze Sorge galt ja der Berufung der Heiden, denen er durch seine Lega-

tion helfen wollte“.572 Ungeachtet der Tatsache, daß Ansgars Nachfolger als Abt

von Torhout diese Einrichtung partiell mißbräuchlich in Anspruch nahm, ist

doch die Missionsschule mit sprachkompetenten Jugendlichen gesichert. Im

Falle ihres Missionseinsatzes bei Nordleuten und Slawen waren sie auf Dolmet-

scher nicht angewiesen.

Zu den erschließbaren Fällen gehört die Geschichte Heinrichs von Lettland.

Nach einem Selbstzeugnis war er interpres atque sacerdos des Bischofs von Riga

und hat in seinem baltischen Wirkungsbereich auch vielfach gedolmetscht.573

Da er mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit aus dem Reich stammte und deut-

scher Herkunft war, möglicherweise im Magdeburgischen gebürtig, ist nach

seinem zusätzlichen Spracherwerb zu fragen. Wo lernte er baltische Idiome ken-

nen und sprechen? Im Winter 1205 (November/Dezember) dolmetschte Hein-

rich von Lettland bereits in Riga, dürfte aber mit Bischof Albert erst im Früh-

jahr 1205 angekommen sein. Insofern mag es relativ unwahrscheinlich sein, daß

er in der kurzen Zeit mindestens das Lettische gelernt haben könnte. Seine Ju-

gend läßt den Schluß zu, daß Skepsis berechtigt sei, andererseits kann man in

jungen Jahren mitunter extrem schnell lernen. Insofern sollte und muß diese

Frage off enbleiben.

Da Heinrich höchstwahrscheinlich aus dem Augustinerstift Segeberg in Hol-

stein kam, wo er auf Missionsaufgaben und das Priestertum vorbereitet worden

war, konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit auf Segeberg. Hatte Heinrich

hier Sprachunterricht erhalten? Gab es eventuell sogar eine Dolmetscherschule?

Falls Heinrich von Lettland tatsächlich längere Zeit in Segeberg aufgewach-

sen war,574 besteht Grund zur Annahme, daß er mit jungen Slawen, die aus

Gefangenschaft bzw. Sklaverei freigekauft worden waren und die man in deut-

schen Klöstern für Missionszwecke ausbildete, zusammenkam. Sie behielten

ihre Muttersprache und lernten Deutsch/Niederdeutsch und Latein. Minde-

stens von ihrer Ausbildung könnte Heinrich auch als Nichtslawe profi tiert ha-

ben. In Lettland sprach bzw. dolmetschte Heinrich livisch, lettisch und est-

nisch.575 Er dürfte Deutsch/Niederdeutsch als Muttersprache gesprochen haben,

und sein großes Werk schrieb er in lateinischer Sprache. Woher stammten seine

Kenntnisse?

Eine Erklärungsvariante soll genannt werden. Paul Johansen hat auf 30 Gei-

seln Bischof Alberts hingewiesen, die dieser aus dem Baltikum nach Deutsch-

land mitnahm576 – vermutlich für die Dauer von drei Jahren.577 Wurden die

Geiseln nach Lübeck gebracht und von dort nach Segeberg? Dort hätten die

Geiseln, die durchgängig junge Leute waren, Umgang mit jungen Schülern ha-

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134 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

ben können. Zu ihnen mag Heinrich gehört haben. Johansen meint, Heinrich

habe hier und in dieser Weise auch Lettisch gelernt.

Die erschlossene Segeberger Missionsschule mit besonderer Berücksichti-

gung der benötigten Fremdsprachenkompetenz dürfte nicht singulär gewesen

sein. Zumindest die sprachliche Komponente bei der Heranziehung zu Missi-

onsaufgaben ist schon früh belegt. So hat Papst Gregor der Große (590–604)

einst den Priester Candidus beauftragt, in Südgallien pueros anglos zu kaufen,

weil sie ganz off enbar für die Mission in Britannien benötigt wurden.578 Diese

geplante Britannienmission scheiterte jedoch.

Als Beispiele für Klosterschulen, die spezielle Sprachstudien für Missions-

zwecke pfl egten, sind vor allem St. Emmeram in Regensburg, Monte Cassino

und wohl auch Segeberg zu nennen. Die genannten Schulen können nur exem-

plarische Bedeutung haben, denn in manchen Territorien, in denen Landesspra-

che und Sprache der Herrschenden geschieden waren, brauchte man Dolmet-

scher. Im Land des Deutschen Ordens entspannte sich das Sprachenproblem

erst, als einheimischer Pfarrklerus zum Einsatz kam, also Männer, die von Kind

an die deutsche und die prussische Sprache verstanden und sprachen. Gelöst

waren die Probleme damit aber noch nicht, und bis zur Reformation übersetz-

ten prussische Tolken die Predigten und auch die Einzelbeichte. In größerem

Stil versuchte Heilsberg im Ermland das Problem zu meistern, indem dort eine

Schule für prussische Jungen eingerichtet wurde, und in ähnlicher Weise unter-

hielten die Domherren in Frauenburg eine entsprechende Schule. Bis in die

Mitte des 15. Jahrhunderts hatte diese Domschule Bestand.579

Im europäischen Rahmen ist auch Raymundus Lullus zu erwähnen, der

1275 oder 1276 auf Mallorca ein Kloster insbesondere für Sprach- und Missi-

onsstudien errichtete.580 Berühmt sind schließlich die detaillierten Pläne des

Franzosen Pierre Dubois, der in seinem Hauptwerk „De recuperatione Terrae

Sanctae“ (um 1306), einer geheimen Denkschrift für den französischen König,

ein umfassendes politisches Programm skizzierte. Dabei forderte er auch eine

hohe Schule für Dolmetscher, an der vorzugsweise orientalische Sprachen er-

lernt werden sollten. So könne man die Eroberung des Orients entscheidend

fördern.581

In eher summarischer Form sollte noch einmal herausgestellt werden, daß in

manchen Klöstern, in denen sich für solche Tätigkeitsbereiche bereits Traditio-

nen herausgebildet hatten, Klosterangehörige wie wohl auch Laien sprachlich

unterrichtet wurden und zwar nicht nur in Latein. Vieles spricht auch dafür,

daß im 14. Jahrhundert an einigen Universitäten mit Lehrstühlen für fremde

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Fragen der Ausbildung 135

Sprachen auch Dolmetscher ausgebildet wurden, also nicht nur Spezialisten für

Übersetzungstätigkeiten.

Fast nichts weiß man von Möglichkeiten, sich sozusagen im Selbststudium

mit Hife geeigneter Unterrichtsmaterialien die Voraussetzungen zum Dolmet-

schen zu erarbeiten bzw. wohl eher, auf bereits vorhandener Sprachgrundlage

notwendige fachsprachliche Kenntnisse zu erwerben. Mit dem ältesten italie-

nisch-deutschen Sprachbuch von 1424 liegt ein solcher Fall vor.582 Dieses

Sprachdenkmal aus der Feder des Georg von Nürnberg, „der an einer veneziani-

schen Schule“ als Sprachmeister tätig war, scheint vorrangig für italienische Be-

nutzer gedacht gewesen zu sein, die Deutschkenntnisse erwerben wollten. Den-

ken muß man vor allem an venezianische Makler, auf die jeder fremde Händler

strikt verwiesen wurde. So mußten autorisierte Makler zugleich als Dolmetscher

tätig sein. In der Urkundensprache sei denn auch vereinzelt messeta mit tholoma-gius gleichgesetzt worden.583 Freilich lehrt das Beispiel Venedigs auch, daß mit

der rigorosen Abschirmung von Händlern aus dem Norden in der „ghettoarti-

gen Institution“ des Deutschen Hauses oder Fondaco dei Tedeschi allgemeine

Sprachkontakte nahezu unmöglich gemacht wurden und die Zuständigkeit von

Maklern/Dolmetschern dann zwangsläufi g kaum mehr als ein Notbehelf gegen

die verordnete Sprachlosigkeit war.

Erwähnt werden soll auch das erste deutsch-katalanische Wörterbuch, das

der deutsche Drucker Hans Rosenbach in Perpignan 1502 herausbrachte. Seine

Vorlage war ein älteres italienisch-deutsches Wörterbuch, das ins Katalanische

übertragen und wohl vorzugsweise von deutschen Kaufl euten, zumal solchen in

Barcelona benutzt wurde.584 Vor allem für Kaufl eute hat auch Gaspard Hochfe-

der, der aus Nürnberg stammte und seit 1498 in Metz ansässig wurde, im Jahre

1515 ein spezielles Hilfsmittel gedruckt: ein lateinisch-französisch-deutsches

Wörterbuch.585

Für eine gewisse thematische Abrundung sei ein kurzer Blick auf den außer-

europäischen Raum gerichtet, der ganz gewiß eine gesonderte Betrachtung ver-

dient. Schon allererste Hinweise sind bemerkenswert und zugleich irritierend.

So entstand um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Jemen auf herrscherliche

Veranlassung mit dem sog. Rasûlid Hexaglot „ein sechssprachiges Lexikon, das

in sechs Spalten neben dem Arabischen auch Persisch, Türkisch und Mongo-

lisch sowie Armenisch und Griechisch nebeneinanderstellte“.586 Dieses Hexa-

glot gehört seinerseits in große Vernetzungsvorgänge, die den mongolisch-asia-

tischen Raum und gewisse lateineuropäische Entwicklungen linguistisch

prägten. Aus dem asiatisch-mongolischen Umfeld stammt auch der Codex Cu-

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136 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

manicus, der im Kern 1330 geschrieben wurde und ein vorwiegend für Händler

gedachtes lateinisch, persisch und kumanisches Wörterbuch darstellt.

VII. 5 Zum Spracherwerb: Motive und Hemmnisse

Die Vielsprachigkeit auf Erden war nach traditioneller Auff assung eine Strafe

für den Hochmut bei dem Turmbau zu Babel. Ob die Menschen außerhalb des

biblischen Kontextes den Strafcharakter ignorierten, ist nicht gewiß, daher auch

kein spezifi sches Hemmnis gegenüber fremden Sprachen, ihrem Erlernen und

Praktizieren zu vermuten. Und doch sollte es weit in die Gegenwart reichen, bis

man sich „von der biblischen Verunglimpfung der sprachlichen Vielfalt“ verab-

schiedete „und Babel nicht als Strafe, sondern als ein Geschenk“ begriff .587

Was aber bewog einzelne Menschen im Mittelalter, fremde Sprachen zu erler-

nen? Die Frage zielt vor allem auf persönliche Motive, schließt aber allgemeinere

Antriebskräfte nicht aus. Dies gilt vorrangig für politische Beweggründe, insbe-

sondere solche, die für die Aufrechterhaltung von Herrschaft als nützlich emp-

funden wurden. Hier ist beispielsweise an Kaiser Karls IV. berühmte Anweisung

in der Goldenen Bulle von 1356 zu denken.588 Er war der Auff assung, daß die

Kurfürsten angesichts der Vielfalt in Sitten, Lebensweise und Sprache der unter-

schiedlichen Völker des Reiches selbst sprachkundig sein sollten, „damit sie

mehr Leute verstehen und von mehr Leuten verstanden werden, wenn sie bei

der Fürsorge für die Bedürfnisse so vieler der kaiserlichen Majestät beistehen

und einen Teil ihrer Regierungssorgen tragen“. Motiv und zugedachte Funktion

sind eminent politisch und so wichtig, daß der Kaiser es „für höchst notwendig

erachtet[e]“, daß die voraussichtlichen Nachfolger dieser Kurfürsten bereits

vom siebenten Lebensjahr die politisch notwendigen Sprachen erlernten – ne-

ben der „angestammten deutschen Sprache“ Latein, Italienisch und Tschechisch.

Karl IV. selbst beherrschte diesen beachtlichen Sprachenkanon, dazu auch

perfekt das Französische. Aus seiner Autobiographie geht hervor, daß er früh

den eminent politischen Zweck sicherer Sprachbeherrschung erkannt hatte. Als

er nach langen Jahren aus der Fremde nach Böhmen zurückkehrte, hatte er, so

schreibt Karl selbst in seiner Vita, „die böhmische Sprache […] völlig verges-

sen“, lernte sie „jedoch nachher wieder, so daß wir sie wie jeder andere Böhme

[Tscheche] redeten und verstanden“.589

Für den künftigen König von Böhmen war dies nach Karls persönlicher Auf-

fassung ganz unverkennbar eine unabdingbare Grundvoraussetzung seiner

Herrschaft. So zwingend diese Erkenntnis und so imponierend ihre praktische

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Zum Spracherwerb 137

Umsetzung durch Karl IV. waren, so isoliert steht dennoch sein Beispiel. Frei-

lich ist nicht auszuschließen, daß mancher und ggf. sogar viele sein Vorbild als

verpfl ichtend empfanden, doch ist dies nicht ausdrücklich belegbar. Selbst für

die Erziehung der kurfürstlichen Prinzen ist nicht bekannt, ob die zitierten An-

weisungen der Goldenen Bulle von 1356 wirkungsvoll beachtet wurden.

Die große politische Bedeutung, die der Sprachbeherrschung in eigenen

Herrschaftsgebieten zukommen konnte, ist im negativen Sinne an Karls IV. Va-

ter, König Johann von Böhmen (1296–1346), ablesbar. Der gebürtige Luxem-

burger hatte 1310 die böhmische Erbtochter Elisabeth geheiratet, war dem

Land aber fremd geblieben, zumal er auch die tschechische Sprache nicht

schätzte. Recht authentisch berichtet Karl IV. in seiner Autobiographie, „böse

und falsche Ratgeber“ hätten seinen Vater vor Machtgelüsten des eigenen Soh-

nes gewarnt und ihm selbst unter anderem einschüchternd vorgehalten, er habe

in Böhmen keine Unterstützung zu erwarten: „Ihr aber seid ein Fremdling“ (vos autem estis advena).590

Es ist müßig, nach weiteren Motivationszeugnissen Ausschau zu halten, denn

die Quellen schweigen. Als Ausnahme wird man allerdings vielfältige Anpas-

sungszwänge werten müssen, wenn etwa Ausländerinnen geheiratet wurden

und diese ihr Heimatland verlassen mußten. Auf die entsprechende Situation

bei einigen Königinnen ist bereits hingewiesen worden. Ansonsten ist es schwer,

angesichts einer beachtlichen Dunkelziff er Vermutungen zu äußern. Berück-

sichtigen muß man nämlich auch Hemmnisse, die sich zu ideologischen Barrie-

ren steigern konnten. Hierfür gibt Kosmas von Prag (ca. 1045–1125) einen Fin-

gerzeig. Er schrieb deutschen Fürsten einen angeborenen Hochmut (innatam Teutonicis superbiam) und Verachtung für Slawen und ihre Sprache (eorum lin-guam) zu.591 Freilich spielen Vorurteile in einer oft mit eigenen Erfahrungen

gemischten Form bei ähnlichen Vorgängen eine Rolle. So klagte einst Michael

Choniates, der bibliophile Metropolit von Athen, „er habe seine Bibliothek zu-

sammengetragen für Leute, die nicht einer Sprache mit ihm seien und das grie-

chisch Geschriebene nicht einmal durch Dolmetscher verstehen könnten. Denn

eher würden Esel des Wohlklangs der Leier und Mistkäfer eines Wohlgeruchs

inne, als die Lateiner des Wohllauts und der Anmut des Griechischen.“592 Diese

polemische Äußerung basiert auf einer älteren Distanz gegenüber den Latei-

nern. Schon im Sommer 865 schrieb der byzantinische Protospathar Michael in

kaiserlich-byzantinischem Auftrag an Nikolaus I., die lateinische Sprache, in der

Papst Nikolaus schreibe, sei „skytisch und barbarisch“.593 Üblicherweise aber

urteilt so leicht, wer das Lateinische kaum beherrscht.

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138 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

Im Zusammenhang der geschilderten Abneigungen gegen fremde Sprachen

darf man allerdings nie vergessen, daß Fremdsprachenerwerb nicht nur mühse-

lig, sondern ausgesprochen langwierig ist. Der Dominikaner Campanella

(1568–1639) wußte es und schrieb in seinem „Sonnenstaat“, der sehr viel Wert

auf die Ausbildung in den Wissenschaften legte: „Nicht so streng wird auf

Sprachkenntnisse geachtet, da es ja genug Dolmetscher gibt, die im Sonnenstaat

Grammatiker heißen.“594 Die Aussage betonend hat Arno Borst zusammenge-

faßt: Im Sonnenstaat „wird man zwar das Wissen pfl egen, doch nicht die zeit-

raubenden Sprachkenntnisse; dafür hat man Dolmetscher“.595

Kaum eigens hinzuweisen ist auf Kaufl eute, insbesondere auf Fernkaufl eute

oder Fernhändler. Sie dürften regelmäßig Sprachkontakte gesucht haben, viel

öfter noch zwingend in solche verwickelt worden sein. Wie derartige Probleme

gemeistert wurden, ist einerseits nicht direkt überliefert, während andererseits

mit Heranziehung von Dolmetschern, mindestens mit einigermaßen sprach-

kundigen Leuten als Mittlern zu rechnen ist. Im Fall der hansisch-russischen

Handelskontakte ist das Problem erörtert worden, so daß dieser Hinweis genü-

gen mag.

Anzusprechen wäre hingegen eine Erzählung des Fortsetzers der Chronik des

Jakob Twinger von Königshofen aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts. Sie be-

zieht sich auf die für das Elsaß leidvolle Zeit der Armagnaken und könnte zu-

nächst die Risiken aufzeigen, die dem drohen, der nur einsprachig ist: „Oben im

Lande fi ng ein Geck einen Schweizer; der Geck konnte kein Deutsch und der

Schweizer kein Welsch. Da kam ein Sundgauer hinzu, der konnte beide Spra-

chen. Als nun der Geck den Schweizer bei der Gurgel hatte und 100 Kronen

begehrte, da war der Schweizer dessen zufrieden und hätte auch noch mehr ge-

geben. Der Welsche fragte nun den Sundgauer, was jener sagte, und dieser ant-

wortete: der Schweizer sagt, dass er keinen Pfennig geben will, worauf der Geck

dem Schweizer die Gurgel abstach. Als nun der Sundgauer gefragt wurde, wa-

rum er nicht die Wahrheit geredet, sagte er, er wäre gut österreichisch und daher

beiden nicht hold gewesen; deshalb so gönnte ich dem Walen das Geld nicht, so

gönnte ich auch dem Schweizer das Leben nicht.“596

Warum erzählte der Chronist diese Geschichte? Ging es um eine makabre

Unterhaltung? Oder sollte die Erzählung eine wichtige Nachricht übermitteln,

welche Gefahren nämlich sprachliches Unvermögen birgt, wie riskant auch die

vermeintliche Hilfe eines Sprachkundigen sein kann, wenn er nicht mittelt,

sondern bösartig nur eigenen Vorurteilen folgt und rücksichtslos ein böses Ge-

schehen manipuliert? Wenn solche Vermutungen plausibel sind, mag es ange-

hen, daß diese Geschichte hier erwähnt wurde.

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Belohnung und Besoldung 139

Von grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber Fremden wird man im Mittelal-

ter trotzdem nicht sprechen können, auch nicht von einer allgemeinen Aversion

gegenüber fremden Sprachen. Viel eher wäre von eminenten Schwierigkeiten zu

reden, wenn man mit fremden Sprachen umgehen oder gar sie lernen wollte.

Das Gesamtbild dürfte sich zwischen unterschiedlichen Polen bewegt haben,

deren einer durch eindrucksvolle Worte König Stephans des Heiligen von Un-

garn (um 970–1038) markiert wird. Er wußte um den Wert von „Gästen“ (hos-pites) und Fremden (adventicii), die sein bevölkerungsarmes Land dringend be-

nötigte. Und in diesem Zusammenhang lautete seine Erkenntnis, die noch der

Moderne als Vermächtnis dienen könnte: „Denn ein Reich mit nur einer einzi-

gen Sprache und nur einem einzigen Brauchtum ist energielos und zerbrech-

lich“ (Nam unius linguae uniusque moris regnum imbecille et fragile est).597

VII. 6 Belohnung und Besoldung

Das Problem der Besoldung von Dolmetschern ist sehr kompliziert und nicht

eindeutig zu klären. Zunächst ist daran zu erinnern, daß das Mittelalter kein

ausgeprägtes Besoldungswesen besaß, sondern daß an die Stelle eines spezifi -

schen Lohnes oder Gehalts eine bestimmte Amtsausstattung oder Sachleistung

trat. Im Falle höherer Amtsträger diente das Lehnswesen in seinen vielfältigen

Abstufungen als hinreichende „Besoldungskategorie“. Ausnahmen gab es gleich-

wohl immer wieder, wie auch die nachfolgende knappe Darstellung der Vergü-

tung von Dolmetschern aufzeigen kann. Allerdings bleibt das eher kollegiale

Moment eines dolmetschenden Eingreifens bei Sprachschwierigkeiten unbe-

rücksichtigt.

Wenn Dolmetscher im Hause, am Hofe, im Gefolge oder der Dienstmann-

schaft ihres Herrn bzw. Auftraggebers lebten und daher zum Dienstpersonal

oder zur familia gehörten, ist die Besoldungsfrage annähernd identisch mit ihrer

dienstlichen Funktion, ergibt sie sich aus der Zugehörigkeit zum Dienstbereich.

Auch für diesen insgesamt gibt es wenig Aufschluß in der Besoldungsfrage. Eine

gewisse Amtsausstattung kann nicht ausgeschlossen werden, obwohl der sozusa-

gen hauptberufl ich tätige Dolmetscher im Regelfall nicht belegt ist. Immerhin

könnte es sich um einen solchen handeln bei Iorwerth Goch, der um 1160 das

Lehen Sutton in Shropshire von König Henry II. erhielt, „by the service of being

interpreter (latimarius) between the English and the Welsh“.598 Allerdings ist

mit einem Sonderfall zu rechnen, insofern der Dolmetscher im Bereich der

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140 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

englisch-walisischen Grenze tätig war, also regelmäßiger Vermittlungsbedarf be-

stand.

Sofern Geistliche als Dolmetscher tätig waren, ist die Besoldungsfrage wohl

nicht angebracht, einzelne Belohnungen für erfolgreiches Dienen aber kaum

auszuschließen. An der Kurie scheint es Ausnahmen gegeben zu haben. Dies gilt

zunächst noch nicht für jene erwähnten nuncii, die in der Rechnungslegung

päpstlicher Kollektoren auftauchen. Die hier ausgewiesenen Geldbeträge könn-

ten nämlich reine Aufwandsentschädigungen für Dienstreisen gewesen sein.

Aber bei den Sprachlehrern etwa, die in den Gehaltslisten der apostolischen

Kammer erfaßt sind, ist eindeutig an Gehälter zu denken. Eine Einschränkung

ließe sich allenfalls mit dem Hinweis machen, daß diese universitären Sprach-

lehrer vor allem Sprachkundige bzw. künftige Dolmetscher ausbildeten, selbst

aber vielleicht nicht regelmäßig als Dolmetscher fungierten.

Obwohl also im Regelfall mit Dolmetschern ad hoc zu rechnen ist, die für

ihre spezielle Tätigkeit nicht oder nur von Fall zu Fall belohnt wurden, lassen

sich weitere Ausnahmen belegen. Dies gilt besonders für das Ordensland Preu-

ßen. Hier waren „begehrte Stellen“ für Tolken bereits erwähnt worden, die Dau-

erfunktion von Dolmetschern belegbar. Die Ausstattung solcher Leute mit Hu-

fenland scheint nicht unüblich gewesen zu sein. So verlieh, wie erwähnt, Bischof

Johannes von Samland seinem Dolmetscher Johannes im Jahre 1325 statt des

mit vier Hufen ausgestatteten Schulzenamtes in Th ierenberg (Kr. Fischhausen)

drei Haken in Plöstwehnen (Kr. Königsberg) zum Recht der Freien, wobei das

ursprünglich vorgesehene Schulzenamt mit seinem Zubehör den Rang (und

wohl auch die Verdienste) des Dolmetschers dokumentiert.599

Schon früher hatte der im Ordensbereich residierende Bischof von Kurland

namens Heinrich im Jahre 1253 die Verleihung verschiedener namhafter Güter

bezeugt, u. a. Vortmeyr [Ferner] Claus Cure, die tolk, die gude, di hie to Sacke he-vet, die sal hie hebben von unser lant, und die hi hevet to Bandowe, die sal hi hebben von der brodere lant. Für den Tolken Claus Cure wurden weitere Güter im Land

Samaiten in Aussicht gestellt, also zusätzlich zu dessen bereits erworbenen Gü-

tern zu Sacke und zu Bandowe.600

In den genannten Fällen handelt es sich um herausgehobene und off enbar

verdienstvolle Tolken, wie auch der Dolmetscher Johannes urkundlich als famu-lus et interpres bezeichnet wird601 und zur unmittelbaren Umgebung seines bi-

schöfl ichen Herrn gehörte.

Arm dran waren im Normalfall die gemeindekirchlichen Tolken, die dem

Pfarrer gegenüber der nichtdeutschsprachigen Bevölkerung bei seinen Amts-

handlungen sprachvermittelnd helfen mußten, die auch seine Predigten über-

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Belohnung und Besoldung 141

setzten. Im Kirchenarchiv von Schaken in Ostpreußen befand sich ein Visitati-

onsbescheid des Bischofs Mörlin vom 8. Juni 1569, der unter der Überschrift

„Tolcken“ gewisse Besserungen verordnet, vor allem aber Auskunft über die all-

gemeine Situation und ärmliche Besoldung eines solchen pfarrkirchlichen Dol-

metschers geben kann und deshalb in Gänze zitiert werden soll. Die in diesem

Text aufscheinenden Verhältnisse dürften im 14. und 15. Jahrhundert im Or-

densland Preußen kaum wesentlich anders gewesen sein: „Umb der Undeut-

schen Willen wird in diesem Kirchspiel ein Tolck gehalten, dem biszhero Viel

Jahr nur 2 ½ Mk. jetzo aber ein Jahr oder zwey sind ihm 3 Mk. jährlich gegeben

worden, darob er sich höchlichen beschweret; damit er nun der Kirchen zu

dienen bey Willen erhalten, so siehet der herr Bischoff fur gut an, dasz man ihm

über die geringe, biszhero empfangene Belohnung ein Kleid von halb Bohmi-

schen Tuch verehre, und ihme furder fur seine Mühe, weil er gleichwol in der

Kirchen zu tolcken, und neben dem Pfarrern und Caplan, wenn sie der Spra-

chen unkundig, nicht geringe Arbeit tragen muss, jährlich geben 6 Mark.“602

Wie steht es mit der Vergütung von Dolmetschern, mindestens von Sprach-

hilfen für Reisende und zwar für solche, die in der Nähe blieben, aber auch für

andere, die in die Ferne gingen? Aus Reiseberichten – sieht man von den Missi-

onsreisen nach Fernost zunächst einmal ab – ergeben sich kaum Hinweise. Und

doch war jeder in der Fremde, zumal in einer anders- bzw. fremdsprachigen

Umgebung auf Sprachvermittlung angewiesen. Vermutlich war die einfachste

und zugleich verbreitetste Form der Wegführer, der lokale und regionale Kennt-

nisse mit einem Mindestmaß an fremdsprachigen Brocken zu bündeln verstand

und als unersetzlicher Reiseführer fungierte. Insofern ist mit einer erheblichen

Zahl von Inanspruchnahmen solcher Dienste zu rechnen, mögen es Kaufl eute,

Bildungsreisende, Pilger, Geistliche oder Laien gewesen sein. Selbstverständlich

mußten sie alle belohnt oder vergütet werden, und wer fi nanziell gut bis sehr gut

ausgestattet war, hatte die Chance, ganz vorzügliche Begleiter zu fi nden, wohl

auch solche, die man als Dolmetscher ansprechen müßte.

Bei Reisen in die Ferne, insbesondere in den Orient, war die Entlohnung

einheimischer Dolmetscher, die oft zugleich als Reiseleiter fungierten, selbstver-

ständlich. Reiseberichte sprechen auch von gemieteten Dolmetschern, deren

Mietpreis off ensichtlich zeit- und marktüblich festgesetzt wurde, teils auch im

voraus zu entrichten war.603 Für eine Jerusalemfahrt, die 1479 von Venedig ins

Heilige Land führte, schlossen die Pilger mit einem „freien venezianischen Dol-

metscher“ einen entsprechenden Vertrag. Sogar die „Gesamtkosten für diesen

Diener“ sind überliefert. Für diese und eine weitere Jerusalemfahrt deutscher

Pilger 1479–1480 hat Kristian Bosselmann-Cyran betont, daß „keiner der Pil-

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142 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

ger […] sich je über schlechte Leistungen der Dolmetscher“ beklagte, die auch

„praktische Verhaltensmaßregeln auf dem fremden Territorium“ gaben und ih-

ren Preis off ensichtlich wert waren.604

VII. 7 Tätigkeitsbereiche

Grundsätzlich wird man annehmen dürfen, daß Dolmetscher wo auch immer

eingesetzt wurden, wenn man sie brauchte und sie entsprechend verfügbar wa-

ren. Letzteres traf vor allem fast uneingeschränkt für solche zu, die zum Hof

ihres Herrn, ggf. zum Dienstpersonal gehörten. Auch für Reisende standen Dol-

metscher zur Verfügung, wenn diese zur jeweiligen Reise- oder Pilgergruppe

gehörten. Im Ausnahmefall versahen Dolmetscher zusätzliche Dienste bei ihrem

Herrn und gehörten zu seiner engsten Umgebung. Ein solcher Fall war bei Prinz

Eduard von England gegeben, als er auf dem Kreuzzug im Heiligen Land weilte.

In einer Nacht wurde er in seinem Gemach von einem falschen Freund und

Diener angegriff en, als der ihn allein dort fand – „nur der Dolmetscher war

anwesend“ (interprete tantum presente).605 Eduard konnte sich mühsam behaup-

ten, doch hier interessiert vor allem die Tatsache, daß der Dolmetscher eine

persönliche Dienerrolle einnahm und off enbar unbewaff net war.

Konzentriert man die Frage nach Tätigkeitsbereichen stärker auf institutio-

nelle Zusammenhänge, so ist im säkularen Bereich vorrangig auf eine Doppel-

tätigkeit als Dolmetscher und Makler zu verweisen. Ganz auff ällig ist dieser

Zusammenhang im Hansehandel bzw. den Ziel-, aber auch Zwischenstationen

seefahrender Händler. Die baltischen Städte Riga und Reval seien exemplarisch

genannt, aber auch die große Handelsmetropole Venedig. Ob im Alltag Fern-

händler über tüchtige Dolmetscher verfügten, mindestens über fremdsprachen-

kundige Fahrtbegleiter, ist nur spekulativ zu beantworten, im letzteren Falle

aber zu vermuten. Die Situation an Königshöfen wie auch im Gefolge oder

Herrschaftszentrum größerer Fürsten ist ebenfalls nicht erkennbar, doch viel-

leicht den Verhältnissen bei Groß- und Fernhändlern vergleichbar. Bei größe-

rem und vor allem stetigem Bedarf ist mit qualifi zierten Dolmetschern in fester

Zugehörigkeit zu rechnen, im Einzelfall auch belegt, wie gezeigt werden konnte.

Für überregionale und internationale Kontakte, Verhandlungen oder Vertrags-

schlüsse war es für jede beteiligte Seite opportun, sich auf die Hilfe von oft

hochspezialisierten Dolmetschern zu stützen.

Schwer zu erkennen ist die Situation im Gerichtswesen. Immerhin fungier-

ten im Samland während des Spätmittelalters einheimische Preußen dank ihrer

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Herkunft und soziale Stellung 143

Sprachkenntnisse vor Gericht als Dolmetscher, auch vermittelten sie im tägli-

chen Umgang zwischen der deutschen und der preußischen Bevölkerung.606

Grundsätzlich wird man mit Dolmetschern vor Gericht zu rechnen haben,

wenn ein Kläger oder Beklagter der jeweiligen Gerichtssprache nicht mächtig

war.

Im kirchlichen Bereich wurden sehr oft Dolmetscher benötigt. Dies gilt zu-

nächst für die Mission, deren Träger dolmetschende Dienste in Anspruch nah-

men, wenngleich in weiten Teilen Europas eine anfängliche Unbefangenheit

überwunden werden mußte, die der Sprachenfrage keine Bedeutung beimaß.

Freilich gab es große räumliche wie zeitliche Unterschiede im fortschreitenden

Erkenntnisprozeß.

Häufi g bezeugt ist die Inanspruchnahme von Dolmetschern bei der Predigt,

insbesondere wenn päpstliche Legaten in der Fremde weilten. Ob solche Predig-

ten simultan gedolmetscht oder in größeren Textabschnitten paraphrasiert wur-

den, ist nicht eindeutig zu beantworten. Im kirchlichen Alltag sind insbeson-

dere Tolken im Preußenland für die Pfarrpredigt bezeugt, und im Beichtwesen

recht häufi g die Inanspruchnahme von Dolmetschern, die auch kirchenrecht-

lich als Instrumente galten und deren Tätigkeit das Beichtgeheimnis nicht ver-

letzte. Daß aber im Zweifelsfall jeder Kleriker grundsätzlich zur Wiedergabe

lateinischer Worte und Texte in die Volkssprache verpfl ichtet und befähigt war,

bedarf keiner besonderen Betonung. Von spezifi schem Dolmetschen ist aller-

dings in solchen Fällen oft nur in eingeschränkter Weise zu sprechen.

VII. 8 Herkunft und soziale Stellung

Die Frage nach der sozialen Herkunft der jeweiligen Personen und Gruppen

gehört zu den wichtigen Aufgaben jeder einschlägigen mediävistischen Untersu-

chung. So legitim dieses Postulat hinsichtlich der Dolmetscher ist, so kompli-

ziert gestaltet sich schon der Versuch einer Beantwortung. Es ist nämlich keine

einheitliche Linie zu erkennen, statt dessen dominiert fast durchgängig das

Qualifi kationsprinzip. In verkürzter Form ließe sich herausstellen, daß bei erfor-

derlicher Sprachvermittlung jeweils Personen gesucht wurden, die als solche

über fremdsprachliche Kenntnisse verfügten und die erforderliche Aufgabe

schlecht oder recht erfüllen konnten. Gab es mehrere Sprachkundige, mochte

ggf. der Qualifi zierteste als Dolmetscher dienen. Mehr läßt sich kaum sagen,

zumal die Beurteilung, wer der Qualifi zierteste sei, sich unserem interessierten

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144 Allgemeine Rahmenbedingungen für Dolmetscher

Blick entzieht, ja nicht einmal Beurteilungsmaßstäbe für solche Qualifi kation in

der Überlieferung erkennbar sind.

Gewiß gab es zu manchen Zeiten und an manchen Orten Schulen, die

fremdsprachlicher Ausbildung dienten und daher in gewissem Sinne auch einer

künftigen Tätigkeit als Dolmetscher dienlich waren. Kuriale Initiativen, auch

solche einzelner Orden, vor allem aber der Bedarf an Sprachkundigen, die in der

christlichen Missionsarbeit benötigt wurden und entsprechende Ausbildung er-

fuhren, sind hier zu nennen. Ein Berufsstand der Dolmetscher, für den entspre-

chend ausgebildet werden mußte, ist jedoch nicht nachweisbar. Dies gilt auch

für Juden, deren Sprachkenntnisse vielfach gerühmt werden, insbesondere von

denen, die davon profi tierten. Eine Ausnahmestellung nahmen jüdische Sprach-

mittler ohnehin ein,607 auch wenn die Aussage, sie seien aufgrund ihrer Sprach-

kenntnisse „die ‚geborenen‘ Gesandten und Dolmetscher“ gewesen, etwas über-

zogen klingt.608 Als ganz herausragende Beispiele allerdings können jüdische

Kaufl eute gelten, von denen Ibn Chorradabeh um 844/848 respektvoll berich-

tet, sie sprächen Persisch, Griechisch, Arabisch, Fränkisch, Spanisch und Sla-

wisch.609

Betonen läßt sich, daß sich eine bunte Palette ergibt von Geistlichen niede-

ren wie höheren Ranges, von Fürsten und Herren, Bürgern und Händlern usw.,

die in dolmetschender Funktion erkennbar sind. Da bei solchen mehrsprachi-

gen Personen in aller Regel keine Ausbildungs- oder Sprachlernphasen bezeugt

sind, greift die Annahme, sie kämen aus Grenzgebieten, aus Zonen der Doppel-

sprachigkeit, am ehesten. Eine gewichtige Ausnahme bilden allerdings vorzugs-

weise jene Personen, die aus dem Lateinischen bzw. in das Lateinische dol-

metschten. Sie hatten ihre Lateinkenntnisse, die für Geistliche ohnehin gefordert

wurden, grundsätzlich in den vielfältigen geistlichen Bildungseinrichtungen wie

etwa Kloster- oder Domschulen erworben.

In einer Vielzahl von Fällen, sieht man von Geistlichen abermals ab, waren

die fremdsprachlichen Mittler ursprünglich Kriegsgefangene. Da die Kriegsge-

fangenschaft im Mittelalter üblicherweise zur Versklavung führte, bedeutete der

sklavenhafte Status, daß der jeweilige Eigentümer voll über den Sklaven verfü-

gen konnte und mithin auch seine fremdsprachlichen Kenntnisse und Fähigkei-

ten uneingeschränkt nutzen durfte – und es auch tat. Bedeutsam war vor allem,

daß ihrer Freiheit beraubte und regulär versklavte Menschen auch auf Märkten

als Ware gehandelt wurden. Insofern lassen sich biographische Spuren kaum

verfolgen, denn sie verlaufen alsbald. Im Zusammenhang mit diesem nur knapp

angedeuteten Problem wäre daran zu erinnern, daß auch mitunter missionsbe-

fl issene geistliche Institute Knaben und Jugendliche in heidnischen Ländern

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Herkunft und soziale Stellung 145

oder ihrem Umfeld käufl ich erwarben, um sie für Missionszwecke zu schulen

und als mindestens zweisprachige Missionare in ihren ursprünglichen Heimat-

ländern einzusetzen.

Das Ausmaß einer Herkunft aus Kriegsgefangenschaft und Sklaverei läßt sich

kaum näher abschätzen, war aber gewiß relevant. In letzter Konsequenz bedeu-

tet dies jedoch, daß die Frage nach der sozialen Herkunft arg relativiert wird.

Hinsichtlich der sozialen Geltung, des aus der Dolmetschertätigkeit erwerbba-

ren sozialen Ansehens, läßt sich hingegen durchaus sagen, daß es funktionsad-

äquat war, sowohl Ansehen als auch Lohn in vielfältiger Weise im Regelfall er-

bringen konnte.

Über das jeweilige Alter nachweisbarer Dolmetscher sagen die Quellen fast

nichts aus. Die Annahme, daß nahezu alle Altersstufen vom Heranwachsenden

bis zum Greis vertreten waren, dürfte aber gerechtfertigt sein. Ganz auff ällig

scheint zu sein, daß junge Mädchen und Frauen sich nicht unter den Dolmet-

schern befi nden, obwohl doch Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Königinnen

und Damen des Adels in respektablem Ausmaß nachweisbar ist. Warum Frauen

gleichwohl nicht als Dolmetscherinnen zu belegen sind, bleibt eine off ene Frage,

über die nur spekuliert werden kann, was hier zu unterbleiben hat. Ganz er-

staunlich aber ist dann die gesicherte Überlieferung, daß bei der Eroberung

Mexikos bei den Feldzügen des Hernando Cortés gegen die Azteken eine Frau

als Dolmetscherin – und Verräterin an ihrem Volk – tätig war. Bei der Erörte-

rung eventueller Bildzeugnisse von Dolmetschern wird auf dieses berühmte Bei-

spiel zurückzukommen sein.

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