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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg JENS IVO ENGELS Vom Subjekt zum Objekt Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Originalbeitrag erschienen in: Dieter Groh (Hrsg.): Naturkatastrophen: Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen: Narr, 2003, S. [119]-142

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

JENS IVO ENGELS Vom Subjekt zum Objekt Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Originalbeitrag erschienen in: Dieter Groh (Hrsg.): Naturkatastrophen: Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen: Narr, 2003, S. [119]-142

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Jens Ivo Engels

Vom Subjekt zum Objekt

Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland

The perception of naturai disasters, like inundations or storm tides, in West Germanmedia, political and scientific discourse, shows a notable shift in the consiruction of »na-ture«. During the decades following World War II, »catastrophic« nature is a violentenemy, endangering socie fro.m the outside. Nature's ihrees thus demonstrate to human-kind that its rivilization is grounded on a shaky foundation. Ii is often interpreted as atranscendent sign, remembering the suprernag of God andl or natural laws over theachievements of modern lite. By the 60s, this »moralistic« discourse looses its exclusivie.Greater e.xpertise, technical planning and sophisticated gstems in coastal engineering anddisaster control, are mobilized to transform dien nature into a mathematically describedand technicalsly dominated field of human action. Nature is turned into an olject. By theend of the 70s, the disaster is defined not as Nature's impact on human Life, but as thecollapse of human securi? gstems. The significance of human domination, however,changes during the 70s and the 80s. In the end, ii is taken to no longer mean peceectcontrol, but chaotic consequences. Disasters are not intended, but unforeseen results ofenvironmental destruction. .Natural disasters are man-made and represent the dark side ofthe human tupirations offeasibile.

Will man Naturkatastrophen kategorisieren, scheint es nicht ganz abwegig,sich auf die antiken vier Elemente zu berufen: Wasser — Erde — Feuer — Luft.Die Luft wirbelt in Orkanstärke nicht nur Bäume und Wälder, sondern mit-unter ganze Stadtteile durcheinander. Vulkane speien feurige Lavaströme, diedie Kulturlandschaft erst versengen und dann versiegeln. Erdstöße bringen.Menschen mindestens ebenso um Zittern wie sie ihre Bauwerke erzittern las-sen. Im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts scheint es vor allem das Wasserzu sein, das den Menschen in Form von Naturkatastrophen auf den Leibrückte und an den Leib ging.

Im folgenden soll vom Wasser die Rede sein und darüber, wie es in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Öffentlichkeit in der BundesrepublikDeutschland aufgeschreckt hat. Anhand verschiedener Attacken des Wassersauf den Alltag möchte ich das gedachte Verhältnis von Gesellschaft und.Natur in den Blick nehmen. Dabei werde ich beschreiben, wie sich die Vor-stellung von starker Natur in die von einer schwachen Natur wandelte.

Konkret gemeint sind zum einen Hochwasserkatastrophen, die von Flüs-sen verursacht wurden: Insbesondere das Hochwasser von 1954 in Nieder-

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bayern an Inn, Isar und Donau und das Hochwasser vom Juli 1997 an derOder. Natürlich ist die eingangs vorgeschlagene Charakterisierung der Kata-strophenursachen unscharf; selten ist nur ein Element am Unglück beteiligt.Wasser ist besonders gefährlich im Zusammenspiel mit der Luft. Das gilt fürdie beiden anderen Ereignisse, die ich schwerpunktmäßig behandeln möchte:die Sturmflut an der Nordsee im Februar 1962 wurde ebenso von einemOrkantief ausgelöst wie die Schneekatastrophe von 1978/79 in Schleswig-Holstein, wo der Wind das Wasser in seinem festen Aggregatzustand zumächtigen Verwehungen auftürmte.

Durch die Katastrophe, so könnte man sagen, wird ein Zwang zum Dialoghergestellt. Dazu gehört, unscharf formuliert, ein Dialog »der Gesellschaft«mit »der Natur«. Steigt der Wasserspiegel, so antwortet der Mensch zuerstmit Sandsäcken vor der Haustür, dann vielleicht mit dem Rückzug ins Dach-geschoß, und schließlich läßt er sich von Hubschraubern evakuieren. Spätererhöht er Deiche, baut Flußsperrwerke und begreift diese Handlungen alsAntwort an die Natur, als Verteidigungsmaßnahme. Zweitens — und dasinteressiert mich in diesem Zusammenhang vor allem — zwingt die kata-strophische Situation die Gesellschaft zu einem Dialog mit sich selbst. DieKatastrophe erfordert Verständigung über eine ganze Reihe von Problemen.Unmittelbar nach dem Hereinbruch des Unglücks bzw. während seinerDauer muß geklärt werden, ob und welche Maßnahmen zum Schutz und zurRettung von Menschen und Gütern in die Wege zu leiten sind. Darüberhinaus klären die gesellschaftlichen Akteure, wie mit den Opfern umgegan-gen werden soll, welche Hilfsmaßnahmen beim Wiederaufbau zu ergreifensind und welche Vorsorge in Zukunft betrieben werden muß. Nicht zuletztwird darüber diskutiert, ob die Katastrophe eine Botschaft für die Gesell-schaft bereithält. Es wird ein Dialog darüber erzwungen, ob und, wenn ja,was aus der Situation zu lernen ist.

Je differenzierter eine Gesellschaft strukturiert ist, je mehr Kommunika-tion möglich und nötig ist und je größer die Bedeutung politischer Öffent-lichkeit für ein Gemeinwesen ausfällt, um so mehr Dialog kommt zustande.Zumindest gibt es desto mehr schriftlich dokumentierte Kommunikation inGestalt von Massenmedien, Parlamentsprotokollen, Verwaltungsakten,Kommissionsberichten und Versicherungsunterlagen, je stärker die Gesell-schaft differenziert ist. Aus der reichhaltigen Dokumentation, die jede Kata-strophe in der Geschichte der Bundesrepublik hinterlassen hat, greifen wir —da es ja um Wahrnehmung geht — die Beiträge zur öffentlichen politischenDiskussion heraus. Ich stütze meine Ausführungen insbesondere auf dieReaktion in der Tages- und Wochenpresse, auf Verlautbarungen der Landes-und Bundesregierungen und auf Sitzungsprotokolle der Parlamente und ihrerAusschüsse, sowie gelegentlich auf Wortmeldungen von Wissenschaftlern.Weitgehend ausgeblendet bleiben muß in diesem Zusammenhang die Frage

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nach dem tatsächlichen Ausmaß von Zerstörungen, nach den ökonomischenFolgen der Katastrophen und den Bemühungen um Wiederaufbau.

Die Katastrophensituation kann als Versuchsanordnung genutzt werden.Sie versetzt den Historiker in die bequeme Lage, das Funktionieren einerGesellschaft unter Extrembedingungen gleichsam zu »testen«. Oder genauer:der Historiker mag bei diesem Test zuschauen, ohne selbst die Bedingungendes Experimentes beeinflussen zu können. Die Intensivierung der Kommu-nikation über dieses eine, fokussierte Problem wirkt wie eine Zeitlupe oderwie ein Zoom. Jeder Text, jeder Kommentar fügt eine weitere Informations-schicht, eine weitere Facette hinzu, und es entsteht ein holograrnmartigesBild. Wir erfahren aber nicht nur etwas über die »Krisenreaktionskräfte« desGemeinwesens, also über die außergewöhnliche Situation. Daneben könnenErkenntnisse über den »Normalzustand« gewonnen werden, sei es, daß sie ingebrochener Form vorliegen, sei es, daß sie durch die Ereignisse in extremerWeise verdichtet sind. In gebrochener Form scheint in den Kommentarenzur Sturmflut in Hamburg etwa das Bedrohtheitsgefühl einer Öffentlichkeitauf, die den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Teilung noch nicht ver-wunden hat. In verdichteter Form zeigt sich hingegen das Bild, welches sichdie Gesellschaft von der Natur macht. Was sich unter normalen Umständennur mühsam aus verstreuten Fachdiskussionen zusammenstellen läßt, wirdangesichts der Katastrophe von Presse und Politikern aufgegriffen und damitfür den Historiker greifbar. Die Aktualität und das Bedürfnis nach Kommu-nikation ermöglichen diese Verdichtung einzelner Elemente wie in einemKompressor.

Damit sind wir jedoch bei den Problemen angelangt. Die Kompressionbewirkt Verzerrungen; sie mag zwar Grundwerte schlaglichtartig verdeutli-chen. Doch die scharfen Konturen müssen mit Verlusten an Tiefenschärfeerkauft werden. Ein Beispiel: Wenn die Kommentatoren angesichts der Ka-tastrophe etwa die Solidarität der Gemeinschaft beschwören, schweigen siesich notwendigerweise über jene Fragen aus, an denen Solidarität im Nor-malzustand verhandelt wird, etwa in Bereichen der Sozial- und Gesundheits-politik.

Die Katastrophe zeigt also Möglichkeiten gesellschaftlicher Reaktion. Siekann, aber sie muß nicht, und vor allem nicht alle, Charakteristika des Not-malzustandes erkennen helfen. Folglich ist jenen zu widersprechen, die sichvon der Katastrophenforschung erhoffen, die wichtigsten sozialen Konflikteungebrochen und vollständig präsentiert zu bekommen'. Die Katastrophen-situation ist eben doch eine Versuchsanordnung. Jeder Laborant weiß, daßdie Verhältnisse in Labor und Außenwelt sich unterscheiden.

1 Vgl. Stuart Piggin, The Mt Kembla Mine Disaster, 1902: Quarrying the Seams of Evidence toAssay the Human Response, in: Peter Hinton (Hrsg.), Disasters. Image and Context. Sydney1992, S. 11-25.

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Natur versus Zivilisation

Die Katastrophe initiiert in Wahrheit natürlich mehrere Dialoge, auf unter-schiedlichen Ebenen, die sich überlappen, durchschneiden und überlagern.Vieles lebt unter der Oberfläche weiter, was man untergegangen glaubt. Ssind auch die folgenden Ausführungen zu verstehen: Wenn von der Ablö-sung einer Wahrnehmungsform durch eine andere die Rede ist, dann heißtdas nur, die dominanten Diskurse in der Öffentlichkeit ändern sich, nichtaber, daß bisherige Vorstellungen mit einem Male verschwinden. Dies giltauch umgekehrt: »neue« Wahrnehmungen sind nicht in jedem Fall neu ent-standen, sondern begannen, die öffentlichen Auseinandersetzungen zu be-stimmen.

Die Naturkatastrophe galt den Zeitgenossen in allen hier behandelten.Fällen als Einbruch, und zwar als Einfall der Natur in den angeblich ge-schützten Binnenraum der Zivilisation. Dieses Motiv beherrscht die Selbst-wahrnehmung der Zeitgenossen. Die Katastrophe zeige den Menschen hilf-los einer Gewalt ausgeliefert, die die menschengemachte Sicherheit urplötz-lich als Illusion entlarve. Von der Mitte bis zum Ende des 20. Jahrhundertssetzte die Naturkatastrophe in den Augen der Kommentatoren ein Zeichenfür die Brüchigkeit des Alltags, der Technik und geregelter Abläufe. AlleVariationen, von denen die Rede sein wird, sind Variationen dieser Grund-idee. Stammte dieses Zeichen zunächst noch aus einer gedachten Außenwelt,aus der Natur als Gegenwelt zur Zivilisation, so erschien dieses Zeichenzunehmend als Botschaft, die der Mensch von sich selbst erhielt — wenn auchvielfach vermittelt und gebrochen.

Während der Hochwasserkatastrophe in Bayern von 1954 war die Natur einAkteur, ein Gegner des Menschen. Die Natur sei mächtig, der Mensch seischwach, schrieben nicht nur die Zeitungen 2. Auch im Bulleiin der Bundes-regierung ist von höheren Mächten die Rede, die die Bemühungen des Men-schen um Formung und Gestaltung der Landschaft zunichte machten. DieOpfer der Überschwemmungen, so das offizielle Regierungsorgan, befändensich »in der Gewalt der Natur«3. Die Naturkatastrophen, so lesen wir in einerjournalistischen Bilanz des Jahres 1954, zeigten Kräfte, die dem mensch-lichen Einfluß vollständig entzogen seien 4. Dieser Gegner besitze gar cha-rakterliche Eigenschaften: »heimtückisch« fresse sich das Wasser durch dieDämme, sei ekelhaft, »gelblich-trüb«5 .

Bekämpfte die Natur in Niederbayern den Menschen noch schleichendund heimtückisch, so stritt sie 1962 mit offenem Visier. Nach den Wortendes Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft, Dau, holte die Natur zum

2 So etwa in: Christ und Welt, 15.7.1954.3 Bulletin der Bundesregierung, 15.7.1954.4 Die Neue Zeitung, 1.1.1955.5 Zitate in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.7.1954.

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»furchtbaren Schlag« aus, »erbarmungslos« und »grausam«, in jener »gespen-stischen Mondnacht« vom 16. auf den 17. Februar'. Wie eine willensbeseelteMacht erscheint die Natur; pathetisch sprach der Bürgerschaftspräsidentvom Tod, der »zugreift«.7 »Wieder einmal«, so stand es im Hamburger Echo,habe »die Natur dem Menschen, der sie zu beherrschen glaubt, gezeigt, daßsie die stärkere ist«. 8 Natur, das waren Vitalität und Gewalt 9 .

Ähnliche Naturbilder finden wir auch in älteren Beiträgen, etwa zu Über-schwemmungen in den Jahren 1946 1 ° und 1947: »Das Wasser fließt von denBergen [...] und stößt Menschen und Tiere in Todesnot«." Dabei scheint dasKräfteverhältnis von Mensch und Natur eindeutig zugunsten letzterer ver-teilt, das zeige zumindest der »verzweifelte Kampf schwacher Menschenkraftgegen Naturgewalt«. 12

Stärker noch als acht Jahre zuvor erschien die Natur als eine Gegnerin imKampf und als die Antithese der Zivilisation. Die Kommentatoren wähltenihre Worte, als hätten sie einen wild um sich schlagenden Barbaren vor deminneren Auge: Die »Urgewalten der Natur«13 seien »entfesselte«14, »sprungbe-reit unbewältigte Kräfte« 15 . Aus diesen Formulierungen spricht der Anspruchder Zivilisation, diese Kräfte einstmals zu kontrollieren, zugleich aber auchdie Überzeugung, daß Kultur und Natur einander in einem unüberbrückba-ren Gegensatz gegenüber stünden. So erscheint die Natur als das prinzipiell»Andere«, »Fremde«, dem Lebensbereich des Menschen Fernstehende. EinKommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung forderte zum Schutz desMenschen eine klare Trennlinie zwischen Kultur und Natur ein:

6 Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg, 1962, 4. Sitzungvom 21.2.1962, S. 96.

7 Ebd.8 Hamburger Echo, 19.2.1962.9 Diese Konnotationen der Natur waren keineswegs neu; hierauf kann an dieser Stelle jedoch

nicht ausführlicher eingegangen werden. Im rnodernitätskritischen Denken, etwa des Natio-nalsozialismus, spielten Vorstellungen von Natur als Quell der Vitalität und als Vorbild fürden auch sozial zu führenden Kampf ums Überleben eine Rolle. Man könnte hier aber auchdas romantische Konzept der unberührten Natur gespiegelt sehen, wie es im Wilderness-Verständnis der nordamerikanischen Gesellschaft bis heute eine große Rolle spielt. Schließ-lich verweist diese Darstellung auch auf vormoderne Konzeptionen, die in der Forschungbisweilen mit dem Begriff »Naturfurcht« bezeichnet werden. Vgl. Meinhard Adler, Der Be-griff der Natur im Nationalsozialismus und in der Übertragung auf die heutige Zeit, in: Die-ter Hassenpfiug (Hrsg.), Industrialismus und Ökoromantik Geschichte und Perspektiven derÖkologisierung. Wiesbaden 1991, S. 65-92; Yjo Haila, >Wilderness< and the Multiple Layersof Environmental Thought, in: Environment and History 3 (1997), S. 129-147; Ernst Schu-bert/ Bernd Herrmann (Hrsg.), Von der Angst zur Ausbeutung — Umwelterfahrung zwischenMittelalter und Neuzeit. Frankfurt a.M. 1994.

10 Neue Hamburger Presse, 16.2.1946.11 Hamburger Echo, 21.3.1947.12 Ebenda.13 Hamburger Abendblatt, 19.2.1962.14 Westfalenpost, 19.2.1962.15 Stuttgarter Nachrichten, 19.2.1962.

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Das Meer [...] umfaßt nun einmal den Teil des Globus, auf und in dem Men-schenhand keine Spuren hinterläßt [...] es bleibt menschenfern, niemals kultivier-bar [...]. Umso unerbittlicher müssen die Palisaden, die wir von der Technik for-dern, zwischen See und Land die Scheidelinie ziehen. 16

Wir werden sehen, daß diese Auffassung im folgenden Jahrzehnt einer radi-kalen Revision unterzogen 'wurde. Die Naturkräfte hatten 1962 einen gleich.-sam militärischen Beigeschmack. Es lag für die Zeitgenossen offenbar nahe,die Situation Hamburgs mit dem Kriegsfall zu vergleichen 17. Die Katastro-phe zeige, wie wichtig der Zivilschutz sei. Viele Kommentatoren fordertenmit Blick auf Hamburg, die Verabschiedung der seit einigen Jahren disku=tierten Notstandsgesetzgebung voranzutreiben. Die Sturmflut sei ein Testfallfür den Kriegszustand. 18 Somit aktualisierten die Schrecken der Sturmflut diestumme Drohung des Ost-West-Konflikts 19 und rührten an den Erinnerun-gen aus dem vergangenen Krieg. Die Kriegsmetaphorik im »Kampf gegendie Natur« war weder eine Besonderheit, noch war sie ein neues Phänomen.

Beispielsweise hauen sich schon im frühen 19. Jahrhundert die Wasser-bauingenieure bei der Beschreibung ihrer Eingriffe in die Natur des militäri-schen Vokabulars bedient, 2° wohl um ihren Bemühungen eine heroischeNote zu geben. Aus Anlaß der Hamburger Sturmflut diente der Verweis aufden Krieg aber nicht mehr quasi nationalistischer Überhöhung, im Gegenteil.Insbesondere die verheerenden Bombenangriffe auf die Hansestadt werdenvon den Kommentatoren in Erinnerung gerufen. Die Opferrollen gleichen

16 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2.1962.17 So auch Erster Bürgermeister Nevermann und Innensenator Schmidt in ihren Reden vor

der Bürgerschaft, Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Ham-burg, 1962, 4. Sitzung vom 21.2.1962, S. 99,S. 101.

18 Christ und Welt, 2.3.1962.19 Schon in den Kommentaren zur Sturmflut in den Niederlanden 1953 hatte der Ost-West-

Konflikt sich den Kommentatoren gleichsam aufgedrängt. Dies zeigt, wie tief er im Bewußt-sein der Zeitgenossen verankert war und daß er dazu neigte, in fast allen Lebensbereichender Sinnstiftung und der Selbstvergewisserung zu dienen. 1953 nahm ein Autor im KölnerStatit-Anzeiger das allgemeine Lob für die Hilfsorganisationen und die Solidarität zum Anlaß,den Kommunismus als jene Gesellschaftsform zu geißeln, in der die Hilfsbereitschaft unddie Humanität unterdrückt werden; vgl. Kölner Stadt-Anzeiger, 5.2.1953. In der RheinischenPost wird das Schicksal der Bewohner der DDR mit dem Schicksal der Niederländer vergli-chen: Das Elend der Niederländer ist somit nur eine Parabel Für das dauerhafte Elend derOstdeutschen; vgl. Rheinische Post, 9.2.1953. Noch 1962 gab es ähnliche Anspielungen:Bundespräsident Lübke erwähnte in seiner Traueransprach für die Opfer der Sturmflut lo-bend Hilfsbereitschaft und Solidarität aller Menschen im Bundesgebiet. Daraus, so Lübke,könnten die Menschen in der DDR ableiten, daß sie von den Westdeutschen nicht verges-sen würden und der Zukunft vertrauensvoll entgegenblicken dürften. Bewährung in derNaturkatastrophe dient gleichsam dem höheren Sinn, sich im Kampf der Systeme zu be-währen; vgl. Bundespresseamt, Ansprache des Bundespräsidenten in Hamburg am26.2.1962, Bonn 1962.

20 Siehe dazu demnächst Mark Cioc, The Rhine as a World River, in: Edmund Barke/ KennethPomeranz (Hrsg.), The Environment and World History, 1500-2000. Urüversity of CaliforniaPress 2002.

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sich. Hamburgs Bewohner sind sowohl Opfer des Krieges gewesen als auchOpfer der Natur in der aktuellen Situation. 21

Diese mentalen Grundklänge helfen vielleicht erklären, warum die »Geg-nerin Natur« zu Anfang der 60er Jahre noch so präsent war. Siebzehn Jahrespäter, während der Schneekatastrophe in Schleswig-Holstein, war dieserHintergrund verblaßt. Überhaupt blieb das Bild der Natur in den Kommen-taren von 1979 sehr unbestimmt, fast so, als sei es eine Naturkatastropheohne Natur gewesen. Um den Grund dafür zu finden, ist ein weiterer Blickauf 1962 vonnöten.

Moralisierung und Technokratisierung der Katastrophe: Sturmflut 1962

In der Wahrnehmung der Flutkatastrophe können wir zwei unterschiedlicheHerangehensweisen ausmachen. Allerdings handelte es sich weniger um zweiLager einer öffentlich ausgetragenen Kontroverse. Vielmehr bezogen sich.mitunter auch die gleichen Autoren auf zwei verschiedene Wirklichkeitsbe-reiche der Katastrophe: Deutung und Handlung. Jedoch sind diese Kategorienunscharf und nicht wirklich gegensätzlich, denn jede Handlung fußt auf einerDeutung; und jede Deutung stellt eine Form von Handlung dar.

In den Augen der Zeitgenossen gehörten sie vermutlich zusammen, dochin der historischen Rückschau erweist sich, daß die eine mit der Zeit immerdominanter und die andere immer marginaler wurde: die Deutung verblaßteund die Handlung erstarkte. Man könnte auch von Katastrophen-Moral aufder einen und Katastrophenschutz-Technik auf der anderen Seite sprechen.Ein technokratisches Muster löste ein älteres, »moralisches« Muster ab. ImJahr 1962 galten beide Angebote gleichermaßen; hier verschränken sich beideund können bequem einander gegenübergestellt werden.

Die katastrophische Natur hatte 1954 wie auch 1962 die Aufgabe derSinnstiftung. Der Sinn der Katastrophe konnte in einer Botschaft gefundenwerden, die die Natur für den Menschen bereithielt. Nennen wir diesen As-pekt der Sinnstiftung »moralisch«. In diesen Interpretationen gab es zweiBezugspunkte für die Katastrophe: die Zivilisation und Zeichen Gottes. Sieverbanden sich zu einem zivilisationskritischen Interpretarnent.

Die Naturkatastrophe zeige, daß der Mensch sich nicht auf die Zivilisa-tion verlassen dürfe. Nicht sie berge ihn mit ihrer Technik, sondern derMensch stehe klein und hilflos vor Gott und seinen Ratschlüssen;22 die Tech-nik könne den Menschen »nicht der Hand Gottes entwiriden«. 23 Paradoxer-weise wird die Katastrophe als Zeichen der Geborgenheit des Menscheninterpretiert — und zwar nicht in der Beschwörung der schützenden Technik,sondern in der Beschwörung der Katastrophe selbst —, als Erinnerung an die

21 Vgl. etwa: Die Welt, 19.2.1962.22 Hamburger Abendblatt, 19.2.1962.23 Saarbrücker Landeszeitung, 19.2.1962.

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höhere, spirituelle Sicherheit in Gott. Dies ist im übrigen auch die höchstoffizielle Haltung der Bundesregierung gewesen. Im Bulletin ist die Rede vonden »Geheimnissen des Unerforschlichen«, die zeigen könnten, daß derMensch in der Gewalt höherer Mächte stehe. Auch erhalte das menschlicheLeben seine »Weihe« erst durch höhere Werte wie Solidarität und Nächsten-liebe, die in der Katastrophensituation gefordert seien. 24

Ein Kommentator in der Welt ging sogar so weit, die wissenschaftlicheUrsachenforschung zur Katastrophe zum Irrweg zu erklären. In seinen Au-gen versprach offenbar allein die gleichsam moralisch-transzendente Inter-pretation Erkenntnisse über das Unglück.25

Zivilisationkritik äußerte sich vor allem in dem, was man als »Degenerati-onsthese« bezeichnen könnte. Der vitalen Natur gegenübergestellt, erscheintder Mensch hier als schwächelndes Kind überzüchteter Zivilisation. DieZeitungskommentatoren kontrastieren meist das bequeme Großstadtlebenmit dem Elend in den überfluteten Stadtteilen. 26 Sorglosigkeit als Folge vonÜberheblichkeit ist die Diagnose. Überheblichkeit meint vor allem das blindeVertrauen der Menschen in die Leistungen der Technik. Dieses Urteil nährtesich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß die Sturmflutwarnungen von derBevölkerung wohl vernommen, aber kaum beachtet worden wa.ren. 27 DieMetropole Hainburg eignete sich vorzüglich zur Symbolisierung all dessen,was nach Meinung modernitätskritischer Geister die Zivilisation ausmachte —von der schnellebigen Vergnügungsindustrie St. Paulis bis hin zu den »fein-nervigen«28, doch verwundbaren Steuerungs- und Versorgungseinrichtungeneiner Großstadt.

Anders als die schwachen Metropolenbewohner hätten die Vorfahrensich den Naturgewalten noch entgegenstemmen können.29 Auch die Landbe-wohner an der Nordseeküste, so konnte man lesen, hätten dank ihrer größe-ren Naturverbundenheit vorsichtiger und schneller reagiert3° — eine Meinung,die von staatlich eingesetzten Untersuchungskommissionen zumindest impli-zit bestätigt wurde. 31 Zivilisierung als Naturentfremdung schien Degenerie-rung, Entfremdung von Gott und Sinnverlust gleichermaßen zu bedeuten.

24 Erklärung der Bundesregierung, in: Bulletin, 20.2.1962.25 Die Welt, 19.2.1962.26 vgl. etwa: Stuttgarter Zeitung, 20.2.1962.27 Vgl. etwa: Hannoversche Allgemeine, 24.2.1962.28 Süddeutsche Zeitung, 19.2.1962.29 Die Welt, 19.2.1962.30 Bonner Rundschau, 19.2.1962; Deutsche Zeitung, 19.2.1962; General-Anzeiger, 19.2.1962;

Saarbrücker Landeszeitu.ng, 19.2.1962. Auch die ausländische Presse übernahm diese Inter-pretation. Die Times etwa scheint anzunehmen, daß die Bewohner der Küstenstriche gera-dezu auf biologischer Ebene eine engere Beziehung mit der Natur unterhielten: sie hätteneine »inborn awareness« der Naturkräfte und sich daher rechtzeitig in Sicherheit gebracht;vgl. The Times, 22.2.1962.

31 So der »Sachverständigenausschuß zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe«,eingesetzt vom Hamburger Senat. Zitiert nach Bie real, Was lehrte uns die Flut?, in: Mittei-lungen der Handelskammer Hamburg 17,2 (1962), S. i-vi, hier S. iv.

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Darin wußten die Kommentatoren sich einig mit einer Tradition der Fort-schrittskritik, die spätestens seit der Jahrhundertwende aus ihrer Großstadt-skepsis kein Hehl gemacht hatte. 32

In diesen Zusammenhang gehört auch ein kraftvolles Naturbild, in demdie Natur freilich unter normalen Umständen positiv besetzt war. Sie galt alsQuell der Erbauung und Rückbesinnung auf Menschlichkeit und Innerlich-keit. Zwar konnte im Februar 1962 niemand dem »blanken Hans« eine posi-tive Seite abgewinnen. Die Funktionen der Erbauung und Rückbesinnungwurden ihm dennoch gutgeschrieben. Mit schöner Regelmäßigkeit unterstri-chen die Kommentare, wie groß bei aller Not die Solidarität, Nächstenliebeund Hilfsbereitschaft der Menschen waren. Erst die Katastrophe hatte siedazu wieder »erzogen«. Sogar der zeitgenössische Kampf um die von kon-servativer Seite bemängelte Jugendkultur fand ein Echo in den Beiträgen zurSturmflut. Jugendliche hätten nicht anders gekonnt, als mit anzupacken:

Auch der junge Mensch konnte innerlich nicht am Gebot der Stunde vorbei, erwurde [...] aus seiner Eigenheit und seinem Eigenwillen herausgerissen und zumanderen Menschen geführt.33

Insofern zeigte sich 1962 ein Naturbild, das der kulturkritischen Tradition,etwa des Heimatschutzes, noch eine Menge schuldete.

Gegenüber der Suche nach moralischen Botschaften findet sich 1962 einezweite Haltung. Ihr liegt die Idee zugrunde, das Katastrophenproblem mitHilfe von Technik, Organisation und Planung zu erfassen und zu lösen;kurzum: durch mehr Zivilisation. »Die Flut war schneller als der Plan«, titelteetwa das optimistische Handelsblatt, in dessen Darstellung das Unglück densystematischen Bemühungen des Küstenschutzes schlicht zuvorkam. 34 Hierhaben wir es weder mit moralischen Botschaften noch mit dem gebeuteltenMenschengeschlecht zu tun; vielmehr liefern sich Natur und Technik gleich-sam einen Wettlauf. In diesem Geist ließ sich übrigens auch ein Sinn desUnglücks ausmachen.

So wertete die Deutsche Zeitung die Flutkatastrophe als eine Art Test fürdas »Ineinanderspiel der verschiedenen Instanzen«, aus deren Ergebnissenman lernen müsse und könne. 35 Das Hamburger Abendblatt wandte sich vehe-

32 Rolf Peter Seide, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von derRomantik bis zur Gegenwart. München 1984; Werner Hartung, Konservative Zivilisationskri-tik und regionale Identität. Am Beispiel der niedersächsischen Heirnatbegewegung 1895 bis1919. Hannover 1991; Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Naturund Technik in Deutschland 1880-1933. Paderborn 1999.

33 [Hans irenn,] Sturmflut 1962. Ein Bericht des Diakonischen Werkes. Stuttgart [1963], S. 20.34 Handelsblatt, 20.2.1962. Der Artikel spielt auf den Küstenplan an, der als Reaktion auf die

verheerende Sturmflut in den Niederlanden von 1953 aufgelegt worden war und der inner-halb von zehn Jahren hätte fertiggestellt sein sollen. Nach Darstellung des Handelsblatteshätten Wasserbauer und Wissenschaftler alle Gefahrenquellen an der Nordseeküste schonlange erkannt.

35 Deutsche Zeitung, 19.2.1962.

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ment dagegen, die Ereignisse konsequenzlos höherer Gewalt anzulasten,sondern forderte statt dessen genaue Analysen der Vorgänge, um Katastro-phen künftig zu verhindern. 36 Wie bereits angedeutet, schlossen sich beideSinnangebote nicht aus. Neben den moralischen Folgerungen ziehen dieAutoren des Beitrags im Bulletin auch technokratische Konsequenzen. Ganzim Sinne künftiger Planungseuphorie heißt es, »systematische Gesamtpla-nung« des Katastrophenschutzes sei nun vonnöten.37 Die Handlungen derBehörden und Parlamente standen in bemerkenswertem Gegensatz zu densinnstiftenden zivilisationskritischen Reden, die die gleichen Entscheidungs-träger hielten.

Eine Besonderheit war in diesem Zusammenhang allerdings der Habitusdes Katastrophenmanagers Helmut Schmidt. Die große Bedeutung der 62er-Ereignisse für das öffentliche Bild des frisch gebackenen Hamburger Innen-senators ist bekannt. Sein Auftreten verlieh ihm aber nicht etwa nur einediffuse Popularität weit über Hamburgs Grenzen hinaus. Vielmehr erstritt ersich im öffentlichen Raum eine präzise Rollenzuschreibung, die den Macher-Kanzler der 1970er Jahre prä.figurierte. Es wäre wohl naiv anzunehmen,Schmidt verdanke seine Popularität allein der Tatsache, daß er am richtigenOrt zur rechten Zeit das Notwendige tat. Schmidts Auftreten in der Kata-strophe unterschied sich deutlich von dem anderer Politiker. Schmidt näm-lich verzichtete vollständig auf »moralische Sinngebung« in der Katastrophe.Er war nicht Prediger, sondern Techniker. Das zeigte sich besonders deutlich.in der Sondersitzung der Hamburgischen Bürgerschaft, wo er im Unter-schied zu den anderen Rednern weder über die Not noch über die bis insMark getroffene Zivilisation sprach. Statt dessen berichtete er, und zwar vonVerlustzahlen, Koordinierungsmaßnahmen und verbleibenden Aufgaben.Dabei schlug er insofern einen optimistischen Ton an, als er verkündendurfte, daß die Abstimmung der Rettungsmaßnahmen reibungslos funktio-niert habe. 38

Sichtlich beeindruckt waren die Journalisten vom Gebaren des Innense-nators schon während der Katastrophe gewesen. Schmidts Habitus zeichnesich dadurch aus, daß er kaum menschliche Regung zeige, wie etwa Sorge,Angst, Euphorie." Es schien, als habe Schmidt eine unpersönliche Maschine-rie in Gang gesetzt und am Laufen gehalten; er selbst schien Teil der Ma.-schine zu sein. 40 Schmidts Ausstrahlung war die Ausstrahlung des techno-

36 Hamburger Abendblatt, 30.3.1962.37 Erklärung der Bundesregierung, in: Bulletin, 20.2.1962.38 Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg, 1962, 4. Sitzung

vom 21.2.1962, S. 96-100.39 Journalisten schilderten gerne Anekdoten, die die Anspannung des »funktionierenden« und

fast nie »rnenschelnden« Schmidt hervorheben. Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung,24.2.1962.

40 Bezeichnend ist die Wortwahl Schmidts in seinem Bericht an die Bürgerschaft vom 21. Fe-bruar. Er wählt niemals die erste Person Singular, um über seine Koordinationsarbeit zu be-richten. Statt dessen benutzt er stets =persönliche Formulierungen, die den Eindruck er-wecken, der »Apparat« habe allein anonymen Abläufen gehorchend funktioniert.

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kratischen Minimalisten, der sich als Vermittler zwischen Notwendigkeitenund Möglichkeiten betätigte. Die anhaltende Begeisterung für Schmidtscheint daher auf den ersten Blick überraschend. Sie liegt wohl in seinerNüchternheit selbst begründet. Die Zeit war reif für einen pragmatischen,handlungsorientierten Umgang mit der Katastrophe.

In viel größerem Umfang als nach der bayerischen Hochwasserkatastrophevon 1954 befaßten sich bald unzählige Ausschüsse mit der Sturmflut. Hierzuzählten unter anderen der »Interfraktionelle Arbeitskreis Flutkatastrophe« imBundestag, der »Sonderausschuß Hochwasserkatastrophe« und der »Sachver-ständigenausschuß zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe« inder Hansestadt,41 die Ingenieur-Kommission des niedersächsischen Ministersfür Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 42 der »Aktionsausschuß Flutka-tastrophe« mit Vertretern von Bundesregierung und Wirtschaft, 43 sowie die»Arbeitsgruppe Sturmfluten« im »Küstenausschuß Nord- und Ostsee«! 4 DieAufgabe dieser Gremien bestand nach Ludwig Erhards Worten darin, »grö-ßere Klarheit über das Ausmaß der Katastrophe zu gewinnen und damitmehr Sicherheit über das zu gewinnen, was zu tun notwendig ist«. 45 Schon.Ende 1962 veröffentlichte die von Bund und Ländern eingesetzte »Arbeits-gruppe Küstenschutzwerke« Richtlinien für die Vereinheitlichung der Nord-seedeiche. Sie sollten gewährleisten, daß ein lückenloser Küstenschutz aufdem aktuellen Stand der Technik realisiert würde." In der Tat wurden so -wohl die Analyse des Geschehenen als auch die Vorsorgeplanungen zuneh-mend in solche Expertengremien verlagert. Die Auslegung der Geschehnissesollte nicht allein den Sonntagspredigern überlassen werden. Statt dessenschuf die Arbeit der Ausschüsse und Gremien im Nachhinein eine neueWirklichkeit der Sturmflut.

Die Katastrophe wurde in die Sprache der Spezialisten überführt. Stattvom »umgehenden« Tod, sprachen sie über Wohnungsbedarf in Quadrat-

41 Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg, 1962, 5. Sitzungvom 28.2.1962, S. 106, S. 368. 0. Friedrich, Bericht des vom Senat der Freien und HansestadtHamburg berufenen Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flut-katastrophe. Hamburg 1962; vgl. auch kursorisch Bielfeldt, Flut (wie Anm. 31).

42 Siehe dazu den Bericht, veröffentlicht unter dem Titel: Die Sturmflut vom 16./17. Februar1962 im niedersächsischen Küstengebiet. Bericht der [...] Ingenieur-Kommission, in: DieKüste 10 (1962), S. 17-53, S. 55-80.

43 Letzterer war auf Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums zustande gekommen unddiente vor allem dazu, Hilfsangebote deutscher Unternehmen an die Hamburger Wirtschaftzu koordinieren bzw. weiterzuleiten. Vgl. Bielfeldt, Flut (wie Anm. 31), S. ü, undVerhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Bd. 50, Sitzung vom22.2.62, S. 465.

44 Walter Herren, Bericht der Arbeitsgruppe »Sturmfluten« im Küstenausschuß Nord- und Ost-see, in: Die Küste 14 (1966), S. 63-70.

45 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Bd. 50, Sitzung vom22.2.1962, S. 466.

46 Arbeitsgruppe Kiistenschutzwerke, Empfehlungen für den Deichschutz nach der Februar-Sturm-flut 1962, in: Die Küste 10 (1962), S. 113-130.

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meterzahlen, machten Schadensangaben in Geldbeträgen, errechneten Kre-dit- und Investitionsbedarf.47 In den spezialisierten Expertengremien wurdedie ganzheitliche Betrachtung der moralischen Interpretation beiseite gelegt;das Ereignis wurde in Sachgebiete aufgeteilt, zerhackt und nach Zuständig-keiten differenziert. Damit verlor das Ereignis gleichzeitig seinen chaotischenCharakter; die ordnende Hand der Gesellschaft räumte nicht nur Trümmerbeiseite, sondern integrierte die Dimensionen der Katastrophe in bestehendeoder zu schaffende Zuständigkeitsbereiche. Der amorphe Auswurf wütenderNaturkräfte verschwand nach und nach in den feingegliederten Registraturenfunktionsorientierter Amtsstuben. Damit erhielten aber auch die Expertender Wirtschaft, des Wohnungsbaus, Katastrophenschutzes und Deichbausfaktisch die Entscheidungsgewalt. Nicht nur entmoralisiert, sondern auchvollkommen unpolitisch und scheinbar wertneutral war die Arbeit der Gre-rnien. 48

Auf die Wasserflut folgte eine Publikationsflut aus der Feder von Exper-ten des Wasserbaus, des Küstenschutzes, der Meteorologie, des Katastro-phenschutzes und anderer betroffener Fachgebiete. 49 Es hat den Anschein,als sei die Sturmflut 1962 geradezu zum Katalysator für eine Expansion desExpertenwesens geworden. Viele Verbesserungsvorschläge insbesondere fürdie Ausgestaltung der Deichkörper gelangten somit an die Fachöffentlich-keit. Eine große Zahl der Experten sah die Zeit für gekommen, moderneBaustoffe einzusetzen. Asphaltdecken galten als Gebot der Stunde; im Inter-esse größerer Elastizität kamen aber auch kunststoffummantelte Bleche indie Diskussion, die freilich zum Schutz vor Nagern mit Gift hätten versehenwerden rnüssen. 50

Zum Expertenwesen gehörte es auch, die Natur noch genauer zu beob-achten, um die Gefahr der Überraschung künftig zu vermeiden. Die rohen.Kräfte der vitalen Natur geronnen in der Sprache der Wissenschaft zu Wahr-scheinlichkeitsprognosen. Im Unterschied zum »moralischen« Diskurs vonder Natur ist der Deichbau darauf angewiesen zu wissen, welche Sturmflut-höhen in den nächsten 100 Jahren zu erwarten sind. Auf dieser Grundingewird der maßgebende Hochwasserstand für die Deichhöhe abgeleitet. DasLand Hamburg setzte eine Gutachter-Kommission unter der Leitung desHannoveraner Professors für Wasserbau Walter Hensen ein, die entspre-chende Empfehlungen erarbeitete. Komplexe mathematische Modelle, etwa

47 Siehe hierzu auch den Bericht des Innensenators Schmidt über die Hochwasserkatastrophe:Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg, 1962, 4. Sitzungvom 21.2.1962, S. 96-100.

48 Vgl. hierzu die Sitzungsprotokolle des »Sonderausschusses Hochwasserkatastrophe«,unpaginierte Seiten in: Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zuHamburg, Band 1962.

49 Vgl. allein die Beiträge im Fachblatt Die Küste.50 0. Sill, Welche Maßnahmen wird Hamburg treffen, um sein Stadt- und Landgebiet künftig

vor Hochwasserkatastrophen zu schützen?, in: Wasser und Boden 14 (1962), S. 268-274, hierS. 271; Karl Lehmann, Lassen sich Deichbrüche vermeiden?, in; Die Bautechnik 40 (1963),S. 160f.

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»halb-logarithmische Netze«, wurden in die Diskussion geworfen und in denspäteren Jahren verfeinert." Auch könne man Gesetzmäßigkeiten im zeitli-chen Auftreten der Sturmfluten ausmachen und daher künftige große Flutenvorhersagen. 52 Das Verhalten der Natur mußte zumindest unter beobachten-der Kontrolle stehen. Nicht nur Beobachtung, sondern auch Manipulationder Natur gehörte selbstverständlich dazu. In Hannover gab es bereits seitden 1950er Jahren eine Anlage, mit deren Hilfe Wellen und Strömungensimuliert werden konnten, und die nun verstärkt zum Einsatz kam. 53 Auchdies sind Beispiele für den Versuch, die Kontingenz natürlicher Vorgänge zuverarbeiten.

Man hat den Eindruck, daß die Hamburger Flutkatastrophe entgegen al-ler moralisierender Kommentare gleichsam zur günstigen Gelegenheitwurde, ausgefeilte technokratische Systeme ins Leben zu rufen, die dann inden folgenden Jahren immense Anstrengungen unternahmen, etwa imDeich- und Wohnungsbau. Allein der »Generalplan Deichverstärkung,Deichverkürzung und Küstenschutz Schleswig-Holstein« kostete in denersten eineinhalb Jahrzehnten nach der Sturmflut jährlich 70 Millionen DM.Im Rahmen dieser Maßnahmen erhielten alle Deiche eine Kronenhöhe von8,80 m; die Deichlinie verkürzte sich von insgesamt 500 auf 290 km Länge;260 km Zufahrtstraßen entstanden hinter den Deichen und die Eider-Mün-dung erhielt ein riesiges Sperrwerk, welches das Flußbett bei Sturmflut her-metisch gegenüber der See abriegelt. Alle Wohnhäuser auf den Halligen be-sitzen seit Ende der 1960er Jahre sturmflutsichere Betonkabinen, die denBewohnern das Überleben sichern sollen, wenn ihr Haus abgetragen wird. 54

Im Ergebnis erwuchs aus der Katastrophe also nicht jene Rückbesinnung aufdie natürliche Welt, jene Abkehr von der überzüchteten Zivilisation, wie vielePolitiker und Kommentatoren offenbar gehofft hatten. Statt dessen entstandnoch mehr Zivilisation, mehr Technik, Technokratie und »Herzlosigkeit derMaschine«, von der Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid in der Sondersit-zung anklagend gesprochen hatte." Dieser Widerspruch war den Zeitge-nossen offensichtlich nicht bewußt. Auf dem Gebiet der Katastrophenvor-

51 Gerhard Rbdenbeek, Hamburgs künftiger Hochwasserschutz, in: DAI-Zeitschxift 6 (1963),S. 33-35, hier S. 33; Walter Renten, Folgerungen aus der Sturmflut vom 16.117. Februar 1962,in: Polizei, Technik, Verkehr 8 (1963), S. 51-54, hier S. 52.

52 Rudolf Liese, Beitrag zur Ermittlung der Höhe kommender Sturmfluten, in: Deutsche Gewäs-serkundliche Mitteilungen 7 (1963), S. 35-39; kritisch dazu Hans Walden, Unterliegen dieHochwasserstände in der Deutschen Bucht wirklich einer 65-jährigen Periode, und dürftediese für Vorhersagen benutzt werden?, in: Deutsche Gewässerkundliche Mitteilungen7 (1963), S. 118-120.

53 Vgl. Walter Hessen, Modellversuche über den Wellenauflauf an Seedeichen im Wattgebiet, in:Mitteilungen des Franzius-Instituts Hannover 5 (1954); Hamburger Abendblatt, 16.3.1962.

54 [Helmut S ehe,' Die große Flut 1962 an der schleswig-holsteinischen Westküste, Husum 1975,S. 49-57.

55 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Bd. 50, Sitzung vom22.2.1962, S. 464.

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sorge dachte kein Politiker auch nur im Traume daran, auf die Perfektiontechnischer Errungenschaften zu verzichten." Die Perfektionieru.ng vonTechnik galt als sicheres und erfolgreiches Mittel im Kampf gegen das Ge-genüber »Natur«.

In einer kleinen Broschüre des Diakonischen Werkes wird eine ähnlich wi-dersprüchliche Haltung gegenüber der Zivilisation, der Technik und demSozialstaat deutlich. Der Autor kritisiert heftig den Zustand der modernenGesellschaft, deren Mitglieder unbekümmert und isoliert vor sich hinlebenwürden, dabei aber von der Gemeinschaft totale Sicherheit erwarteten. Diessind seiner Ansicht nach auch die Gründe dafür, daß die Sturmflut so uner-wartet kam. Kurz: Individualismus und das Vertrauen der Menschen in dieausdifferenzierte Gesellschaft hätten die Katastrophe erst so schlimm werdenlassen. Doch im Angesicht der Not hätten sich die Menschen wieder auf dieSolidarität besonnen, hätten geholfen und sich erst dabei wieder wie Men-schen benommen. Solidarität, das kann im. Weltbild des Autors kein anony-mes System sein, sondern nur die gleichsam nachbarschaftliche Hilfe vonPerson zu Person. Daher betont er auch ausdrücklich, daß die Hilfsorganisa-tionen wie Feuerwehr, Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk »lebendigeOrganismen sind und nicht nur Institutionen«." Und dennoch kam selbst dieDiakonie jenseits dieses Überbaus nicht ohne systernisches Denken aus.Ausführlich werden die organisatorischen Leistungen der Stuttgarter Zen-trale gelobt, der »gelenkte und gezielte Einsatz« im Katastrophengebiet. 58

Auch Kritik am »Sekuritätsdenken« mit ihrer Spitze gegen den Sozialstaatwiderspricht den Handlungen der Diakonie, die die Spenden nicht nur dazuverwendete, äußerste Not zu lindern, sondern auch Erholungsfahrten fürBetroffene organisierte."

Zu Beginn der 60er Jahre können wir also in der Reaktion auf die Naturkata-strophe eine Schere mischen Diskursen und Praktiken feststellen. Die Dis-kurse betonten die transzendenten und zivilisationskritischen »Botschaften«der Katastrophe, und zwar ohne auf nennenswerten Widerspruch zu stoßen.Als Motivation für die Praktiken ist zumindest jene vitalistische Naturvor-stellung sicherlich wirksam gewesen. Die Praktiken könnte man als Prozeßder Technok.ratisierung und Verplanung bezeichnen, getragen von der Vor-stellung, daß perfekte technische Lösungen bezahlbar und machbar waren.Während die »transzendenten« Diskurse im Laufe der nächsten Jahre ver-

56 Vgl. Erster Bürgermeister Nevermann in der Bürgerschaft Stenographische Berichte überdie Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg, 1962, 4. Sitzung vom 21.2.1962, S. 101.

57 [Wenn,] Sturmflut (wie Anm. 33), S. 7.58 Ebd., S. 11-14.59 Immerhin verschlangen die Kuren, vor allem für Frauen mit Kindern, über ein Drittel []

des gesamten Spendenaufkommens, nämlich 2,5 von insgesamt 7 Mio. DM. Demgegenüberschlug die Beschaffung neuen Hausrates nur mit 850.000 DM zu Buche. [Wenn,] Sturmflut(wie Anm. 33), S. 18, 25.

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schwanden, beherrschten die technokratischen Praktiken zunehmend diepolitische Landschaft und fanden bald auch Eingang in die Diskurse; manspricht im Rückblick gerne von Machbarkeitseuphorie.

Natürlich hatte es auch vor 1960 schon Expertengremien gegeben, dieunter Umständen auch großen formellen und informellen Einfluß entwickeln.konnten. 6° Im Bereich des Küstenschutzes etwa waren bereits nach der gro-ßen Holland-Sturmflut von 1953 Vorbereitungen getroffen worden, diedeutsche Nordseeküste nach modernen und möglichst einheitlichen Ge-sichtspunkten zu schützen.61 Jedoch waren diesen Vorhaben vor 1962 nureingeschränkt Taten gefolgt. Das Hamburger Stadtgebiet war 1962 noch vonsehr heterogenen Deichbauten geschützt. Und auch das Wissen über diesenHochwasserschutz war mangelhaft und nicht koordiniert. So stellte der Bau-senator zu seiner Überraschung erst nach der Katastrophe fest, daß ein gro-ßer Teil der Hamburger Deiche noch aus dem 11. bis 13. Jahrhundertstammte; die Funktion einer Deichanlage zwischen dem Hafen und demStadtteil Wilhelmsburg war vollkommen in Vergessenheit geraten und dahernicht gepflegt worden. 62 Erst nach 1962 erhielt Hamburg einen umfassendenHochwasserschutz auf dem Stand der Technik des 20. Jahrhunderts. DieSturmflut wurde zum Startsignal für die Realisierung großtechnischer Pro-jekte. Unter dem Druck der Verwüstungen in Holland hatten die Niederlan-de diesen Schritt zehn Jahre früher getan. Man darf wohl annehmen, daßNaturkatastrophen latent vorhandenen Planungskonzepten zum Durchbruchbzw. zur Realisierung verhalfen. Denn in den Augen der Zeitgenossen wardie hohe Zahl der Opfer in Hamburg auf mangelnde Vorbereitung und Pla-nung zurückzuführen, vor allem im Katastrophenschutz. Daraus zog derHamburger Sachverständigenausschuß die Konsequenz der vollständigenErfassung: Jedes Hilfsgerät und vor allem alle Menschen, die es bedienenkönnen, sollten künftig zentral erfaßt werden. 63

Neu war auch, daß die technischen Lösungen explizit mit der Hoffnungverbunden wurden, das Sturmflutproblern ein für allemal zu lösen. 64 Ausdiesen Hoffnungen spricht das, was die sinnstiftenden Kommentatoren ih-rerseits als Hybris geißelten.

Der Kampf der Menschen gegen die Natur blieb ein Thema, an dem diesiegessicheren Beherrscher der Technik zunächst festhielten. Einen Höhe-

60 Vgl. etwa die von Mark Cioc untersuchte internationale Rhein-Schiffahrts-Kommission, diegegen Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und den einseitigen Ausbau des Stro-mes zur Wasserstraße maßgeblich beeinflußte; Cioc, Rhine (wie Anm. 20).

61 J, M. Lorenzen, Gedanken zur Generalplanung am nordfriesischen Wattenmeer, irr DieKüste 5 (1956); E. Metzkes, Welche Folgerungen zieht das Land Niedersachsen aus den Er-fahrungen mit der Sturmflut vom Februar 1962 für seinen Hochwasserschutz?, in: Wasserund Boden 14 (1962), S. 278-281, hier S. 279 zum Niedersächsischen Küstenprogramm1955-1964; Sill, Maßnahmen (wie Anm. 50), S. 268.

62 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1962.63 Zitiert nach Bielfeldt, Flut (wie Anm. 31), S. v.64 Vgl. Marcus Petersen! Hans Rohde, Sturmflut. Die großen Fluten an den Küsten Schleswig-

Holsteins und in der Elbe. Neumünster 3 1991, S. 156.

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punkt markiert folgende Ankündigung des Bundesverkehrsministers GeorgLeber im Mai 1970. Angesichts eines der periodischen Hochwasser an derSaar erklärte er auf dem Bundesparteitag der SPD in Saarbrücken, angeblich.nach Absprache mit Bundeskanzler Brandt: »Wir schaffen die Voraussetzun-gen dafür, daß die Saarländer zum letzten Male ein solches Hochwasser erle-ben«, denn: die Saar werde »nunmehr« kanalisiert, die nötigen Gelder seien.von der Bundesregierung bereitgestellt. Soviel Siegesgewißheit, so viel Ver-trauen in Technik und Lenkbarkeit der Gewässer waren allerdings selbst inden Augen der anwesenden Genossen schwer nachvollziehbar. Leber erntete»ungläubiges Staunen« und ironisches Gelächter. 65 Auf dem Höhepunkt derMachbarkeitsutopien an der Wende der 70er Jahre zeigten sich bereits deutli-che Risse im optimistischen Konsens.

Ursachenforschung: Der Mensch rückt in den Mittelpunkt

Das »Bild der Natur« läßt sich im Katastrophenfall jedoch nicht auf jeneAussagen reduzieren, die die Einwirkung der »aus den Fugen geratenen«Naturkräfte beschreiben. Ebenso aussagekräftig sind die Diskussionen überdie mittelfristigen Ursachen der Katastrophe. Hieran lassen sich Wandlungenim Selbstverständnis der von der Natur gebeutelten Gesellschaft recht deut-lich ablesen.

1954 war nicht viel der Rede von anderen Ursachen als von ungünstigerWetterlage mit Dauerregen. Wirkliche Ursachenforschung war ohnehinkaum ein Thema; statt dessen herrschte der Eindruck vor, daß das Unglückgleichsam >über Bayern gekommen sek.

Auch die Sturmflut von 1962 galt vor allem als Werk roher Naturkräfte.Wie bereits geschildert, versuchten zumindest die Experten jedoch, dieserRoheit mit Mitteln exakter Beschreibung beizukommen. Daneben regtensich nicht wenige Stimmen, die zumindest darauf pochten, die Folgen desHochwassers seien vermeidbar gewesen. Der bestehende Küstenplan seisträflich vernachlässigt und mit Rücksicht auf die Kosten nur schleppendumgesetzt worden. 66 Umgekehrt galten weitere Deichbaumaßnahmen alssicheres Mittel, künftige Flutkatastrophen zu verhindern. 67 Daneben kritisier-ten viele Kommentatoren die unzureichende Steuerung des Katastrophen-schutzes. Das Schlimmste hätte verhindert werden können, so der Tenor,wenn es vorausschauende Planung gegeben hätte. 68 Mangelnde Perfektionder Technik und mangelnde Vorsorge schoben sich auch in den Beratungender Expertengremien deutlich in den Vordergrund. Diese Erklärungen waren

65 Saarbrücker Landeszeitung, 14.5.1970.66 Vgl. etwa: Hamburger Echo, Der Mittag, Weser-Kurier, Westfalenpost, jeweils Ausgabe

vom 19.2.1962.67 Vgl. z.B. Stuttgarter Zeitung, 23.2.1962.68 Weser-Kurier, 19.2.1962; Bonner Rundschau, 19.2.1962.

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gewissermaßen Teil eines Kampfes über die Deutung der Sturmflut. War siedas Werk einbrechender Nahekräfte oder die Folge menschlicher Unterlas-sungssünden?

In den Äußerungen zur Schneekatastrophe von 1979 finden wir ein blasses,inhaltsleeres Naturbild. Die zeitgenössische Ursachenforschung liefert denGrund: 1979 war vor allem eine technische Katastrophe. Schneemengen undWindgeschwindigkeiten, so unterstrichen viele Kommentatoren, seien imGrunde genommen nicht außergewöhnlich. Noch wenige Jahrzehnte zuvorhätten die Tage um Neujahr einfach als harter Wintereinbruch gegolten. DieSituation habe sich allein deswegen zu einer Katastrophe auswachsen kön-nen, weil die Menschen mittlerweile von der Infrastruktur vollständig abhän-gig seien. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Stromversorgung, diein weiten Gebieten Schleswig-Holsteins zusammengebrochen war."

Die Wetterverhältnisse hatten dazu geführt, daß die über Land gelegtenLeitungen vereisten und durch Windeinwirkungen vielerorts rissen. Selbst dieBauern mußten ihren Zoll an die Zivilisation bezahlen. Die viehhaltendenBetriebe gehörten zu den großen Verlierern des Schneewinters. Fast allebesaßen automatisierte und klimatisierte St2llungen, deren Versorgungssy-steme auf Elektrizität angewiesen waren. Beleuchtung, Heizung, der Melk-rhythmus, ja selbst Viehfütterung brachen in den ersten Januartagen 1979auf vielen Höfen zusammen. Dies erregte die Aufmerksamkeit der Journali-sten wohl auch deshalb, weil die Landwirte in den Alltagsmythen oft alsletzter Berufsstand mit Naturverbundenheit galten. 7°

Wieder ging es um die Brüchigkeit der menschlichen Zivilisation — unddennoch fielen die Deutungen anders aus als 1962: Es waren 1979 keinemoralischen Beurteilungen des Zivilisationsmenschen zu vernehmen.71 Wäh-rend diese moralische Bewertung 1962 noch mit einer erstaunlichen Hoff-nung auf technische Lösung der Hochwassergefahren verbunden war, gab es1979 nur noch geringen Optimismus. Zwar wurden Forderungen laut, dieStromversorgung künftig über Erdleitungen zu gewährleisten. Doch wiesendie Behörden darauf hin, daß es in einem unterirdischen System eher nochleichter zu Störungen kommen könne. 72 In der öffentlichen Debatte überwogohnehin die Auffassung, daß die Infrastruktur mit zunehmender Komplexi-tät auch anfälliger werden müsse. Die Katastrophenvorsorge konzentriertesich in den folgenden Wochen vor allem auf die Frage, wie man Anreize für

69 Helmut Sethe, Der große Schnee. Der Katastrophenwinter 1978/79 in Schleswig-Holstein.Husum 1980 u.ö.

70 Fast jeder ausführlichere Zeitungsbeitrag erwähnt die Probleme der vollautomatisiertenMastbetriebe, etwa: Süddeutsche Zeitung, 2.1.1979.

71 Eine Ausnahme bildet ein Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 2.1.1979 unter demTitel »Lebensgefährliche Verwöhnung«, in dem wie 1962 von der Überheblichkeit der Zivi-lisationsmenschen die Rede ist. Doch auch in diesem Text liegt die Schuld an der Katastro-

he bei den Menschen und nicht bei der Natur.72 Ausführliche Erörterungen in: Der Spiegel, 8.1.1979.

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den Erwerb von Notstromaggregaten schaffen könne. 73 Anders als zu Be-ginn der 60er Jahre zeigte sich in der Diskussion über den Katastrophen-schutz auch ein Bewußtsein für die Kosten. Statt über die technisch mögli-chen Lösungen wurde vor allem darüber diskutiert, ob sie wirtschaftlich Sinnmachten. Hier sprachen Landesregierung und Pressekommentatoren miteiner Stimme: Man könne zwar teures Räumgerät in größeren Zahlen bereit-halten, doch stünden die Kosten in keinem Verhältnis zum Nutzen, schließ-lich träten derartige Katastrophen nur sehr selten ein. 74 Ende der 70er Jahregab es keine Hoffnung mehr auf totale Sicherheit.

Einige Kommentatoren griffen angesichts versagender Zivilisation die inden 70er Jahren entstandenen Forderungen nach einem »Zurück zur Natur«auf. Anders als zu Zeiten der vagen Zivilisationskritik am Beginn der 60erJahre gab es nun relativ konkrete Vorschläge und sogar einige Aussteiger, diedie Abkehr von der Zivilisation auch praktizierten. 75 Doch riefen die Zeitun-gen nicht nach der großen Wende, sondern verschrieben sich dem Realis-mus. Zwar müsse man anerkennen, daß die Technik anfällig sei, ja mögli-cherweise immer anfälliger werde; doch eine Alternative zur technisch-zivili-sierten Welt gebe es nicht. 76 Die pragmatische Haltung der Medien unter-schied sich deutlich vom moralischen Raunen im Blätterwald von 1962.

1979 handelte die Ne= nicht mehr, es war der Mensch, der sich durchmangelndes technisches Geschick in die Katastrophe manövriert hatte. Si-cherheit war weniger eine Frage der Sicherheit vor der Natur, als vor demVersagen menschlicher Einrichtungen. 77 Technik bewährte sich nicht mehrgegenüber der Natur, sondern mußte als System sozusagen von innen herfunktionieren. Die Debatte über Naturkatastrophen in der Bundesrepublikhatte endgültig den Menschen als Hauptverursacher in den Blick genommen.

73 Vgl. etwa: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 14.1.1979; Frankfurter Allgemeine Zeitung,31.1.1979. Im folgenden Jahr startete die CDU-Mehrheit im Bundesrat gar eine Gesetzesin-itiative zur steuerlichen Subventionierung von Notstromaggregaten, die im Bundestag je-doch keine Mehrheit fand; Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenographische Be-richte, Bd. 114, Sitzung vom 13.2.1980, S. 16062-16065.

74 Siehe dazu: Kölner Stadt-Anzeiger, 3.1.1979; Die Presse, 13.1.1979 mit einer Bemerkung desBundesverteidigungsministers Hans Apel; Stuttgarter Zeitung, 4.1.1979 mit einer Darstel-lung der Position der Landesregierung. Nichtsdestotrotz kündigte Ministerpräsident Stol-tenberg im Kieler Landtag allerdings an, mehr Geld für technisches Gerät bereitzustellen;Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.1.1979.

75 Vgl. dazu folgende Titel: Frip*of Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern21983; Harald Glätzer, Landkommunen in der BRD — Flucht oder konkrete Utopie? Bielefeld1978; Aus Liebe zum Leben. Ein neuer Lebensstil. Tips und Rezepte für erste Schritte, hrsg.v. AUD Landesverband Hamburg, Hamburg o.J. [ca. 19751; Karl E771Si Wenke/ Horst Zilleßen(Hrsg.), Neuer Lebensstil — verzichten oder verändern? Opladen 1978.

76 Vgl. etwa: Stuttgarter Nachrichten, 5.1.1979.77 Mangelnde Koordinierung der staatlichen Stellen und zu zentralistisch geplante Versor-

gungseinrichtungen galten gemeinhin als wesentliche Ursache; angesichts der zweitenSchneekatastrophe etwas später im selben Winter sprach die Zeit davon, erst das schlechteKrisenmanagement schaffe die Katastrophe; Die Zeit, 23.2.1979.

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Die Konjunktur anthropogener Katastrophenursachen

Diese Entwicklung hatte sich schon in den Jahren zuvor angedeutet. Dabeiwar ein Erklärungsmuster entstanden, das in den 80er und 90er Jahren vonallergrößter Bedeutung werden sollte. Angesichts des Schneewinters 1978/79galten Eingriffe des Menschen in die Natur nur selten als direkte Ursache. 78

Anders im Bereich des Wasserbaus — hier erscheint der Mensch schon seitdem Beginn der 70er Jahre zunehmend als Mitverursacher. Aus den Deichen.als »Palisaden« gegen die anstürmende Natur werden mit der Zeit folgen-schwere Eingriffe in die hydrologischen Wirkungszusammenhänge. Die be-drohlichen Fluten mutierten zu seltsamen Hybriden, zu Mischungen ausNaturkraft und ungewollter sowie unkontrollierbarer Technikfolge. Das Bildvom Zauberlehrling drängte sich auf.

1973 erlebten die Bewohner der Nordseeküste wieder eine Sturmflut. DieExperten wunderten sich über die außergewöhnliche Höhe der Flutwelle, diewesentlich über den Jahrhundert-Werten von 1962 lagen. In den letzten 10Jahren waren die Deiche verstärkt und erhöht worden; daher hielt sich derSchaden in Grenzen. Diesmal hatte man also richtig reagiert und aus den.Erfahrungen von 1962 gelernt. Doch vielleicht hatten sich die Deichspeziali-sten zu gelehrig gezeigt. Denn die Experten kamen zu der Ansicht, daß dieSchutzmaßnahmen für die höheren Fluten verantwortlich waren. Seit 1962waren die Deichlinien erheblich verkürzt und die Mündungen der Flüssedurch Sperrwehre verschlossen worden. Die Wassermassen besaßen nunweniger Ausweichraum, was sich in Form größerer Fluthöhen auswirkte.Küstenschutz verursachte paradoxerweise Hochwassergefahr. Diese Ansichtverbreitete sich im Lauf der 70er Jahre auch in den Kommentarspalten undBerichten der Presse. 79

Ähnliche Urteile finden sich auch über Flußüberschwemmungen. So ti-tette die Südweseresse 1978: »Naturschützer: Hochwasserschäden sind >haus-gemachtm 8° Diese Schlagzeile verrät auch einen wichtigen Grund, warumdie Expertenmeinungen nun Gehör fanden: Im Laufe der 70er Jahre warenUmweltverbände entstanden, die sich im Unterschied zum traditionellenNaturschutz mit Erfolg um öffentliche Aufmerksamkeit bemühten.

78 Eine Ausnahme bildet ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1.2.1979. Hierinwird die Flurbereinigung dafür verantwortlich gemacht, daß die traditionellen Hecken.(»Knicks«) aus der Landschaft verschwunden sind. Diese Hecken hätten dafür sorgen kön-nen, daß die Verwehungen an Straßen und in den Ortschaften wesentlich geringer ausgefal-len wären.

79 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.11.1973 und 21.12.1973; Frankfurter Rundschau,9.1.1976; Der Spiegel, 12.1.1976; Hamburger Abendblau, 5.1.1979. Vgl. zum Anstieg desWasserspiegels: Hans Rohde, Sturmflutb.öhen und säkularer Wasseranstieg an der deutschenNordseeküste, in: Die Küste 30 (1977), S. 52-139.

80 Südwestpresse, 5.5.1978. Ähnliche Urteile in: Der Spiegel, 29.5.1978, und Frankfurter Allge-meine Zeitung, 11.2.1980.

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Wohlgemerkt: Das Wissen über ambivalente Wirkungen von Eindeichungenwar nicht neu. Schon im Zusammenhang mit dem bayerischen Hochwasser1954 hatten Naturschützer und Landschaftsplaner darauf hingewiesen; dieFachzeitschrift Natur und Landschaft widmete dieser Frage Anfang 1955 einganzes Themenheft, in dem wir auch ausführliche Hinweise auf die Folgenvon Bodenversiegelung und Flußbegradigung finden. 81 Selbst in der Mitteder 50er Jahre waren dies keine brandneuen Erkenntnisse. Schon in der er-sten Hälfte des 19. jahrhunderts 82 und vermehrt gegen Anfang der 1880erJahre hatte es im Reichstag und unter Hydrologen erhitzte Debatten über diemenschengemachten Ursachen von Rheinhochwassern gegeben. 83 Die Dis-kussionen über den Zusammenhang von Rodungen und Überschwemmun-gen hatten zu dieser Zeit bereits eine historische Dimension. 84

Es gab also immer ein wissenschaftlich fundiertes Angebot, mit dem mandie Katastrophen als menschengemacht hätte interpretieren können. Doch inder öffentlichen Debatte spielte dieses Angebot bis gegen Ende der 60erJahre so gut wie keine Rolle.

Dafür gibt es sicher viele Gründe. Sie sind vermutlich nicht darin zu su.-chen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis erst im Laufe der 60er Jahre aus-reichte, um sich gleichsam aus rein sachlichen Gründen der öffentlichen.Diskussion aufzudrängen. Dem ist zum einen entgegenzuhalten, daß öffent-liche Diskussionen über Umweltgefährdungen oft nicht den wissenschaftli-chen Standards ihrer Zeit gehorchen; so ist kürzlich gezeigt worden, daß dieDebatte über die verheerende Wirkung von Rodungen zu einer Zeit ihrenöffentlichen Höhepunkt erlebte, als die zugrunde liegenden Modelle schonseit Jahrzehnten überholt waren.85 Es wird häufig angenommen, der Primatdes wirtschaftlichen Aufbaus habe ökologische Erwägungen bis etwa 1970und noch darüber hinaus hoffnungslos an den Rand gedrängt. Diese Erklä-rung reicht jedoch allein nicht aus. Denn auch die Sachwalter der »ökologi-schen Dimension« beschrieben das Problem 1955 anders als in den 70erJahren. Die Konjunktur anthropogener Erklärungen kann wohl nur im Kon-

81 Natur und Landschaft, Heft 30,1 (1955).82 Kritik an den Begradigungen des Oberrheines übte vor allem F. Andri, Bemerkungen über

die Rectifikation des Oberrheins und die Schilderung der furchtbaren Folgen, welche diesesUnternehmen für die Bewohner des Mittel- und Unterrheins nach sich ziehen wird. Hanau1828.

83 Christoph Bernhardt, Zeitgenössische Kontroversen über die Umweltfolgen der Oberrhein-korrektion im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 146 (1998),S. 293-319. Stenographische Berichte über die Reichstagsverhandlungen, V. Legislaturperi-ode, 2. Session 1882/83, Bd. 4, 83. Sitzung vom 9.5.1883, S. 2430-2447 (Beratungen über ei-nen Antrag des Abgeordneten Thilenius).

84 Vgl. Christian Pfister/ Daniel Brätle, Rodungen im Gebirge — Überschwemmungen im Vor-land: Ein Deutungsmuster macht Karriere, in: Rolf Peter Sieferlel Helga Breuninger (Hrsg.),Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 297-323.

85 Va.rant K Saberwal, Science and the Desiccationist Discourse of the 20th Century, in:Environment and History 4 (1998), S. 309-343.

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Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik 139

text sich verändernder Wahrnehmung von Natur einerseits und Gesellschaftandererseits beschrieben werden.

Interessanterweise lehnte es der prominente Naturschützer Otto Kraus in_dem bereits erwähnten Themenheft von Natur und Landschaft ab, den Men-schen als Verursacher der Katastrophe zu betrachten, obwohl andere Artikelin der gleichen Ausgabe durchaus über die Folgen von Gewässerbegradigun-gen informierten. Kraus hielt also die menschlichen Eingriffe in den Wasser-haushalt nicht für gering. Aber die Katastrophe machte in seinen Augen nurals Ausdruck einer starken Natur Sinn. Für Kraus war die Natur ein sichautonom regelndes System, die Überflutungen hätten daher einen »Sinn«,überbrächten eine Botschaft: »Die Natur weiß aber, warum sie solche Prü-fungen auferlegt«. Wenn der Mensch Katastrophen verhindern wolle, somüsse er die in der Katastrophe »von der Natur vorgezeichneten Wege«studieren und befolgen. Die Natur war auch bei Kraus ein Gegenüber, eineLehrerin. 86

Selbst der damalige Bundesminister ohne Geschäftsbereich, Franz-JosephStrauß, erwähnte das Problem anthropogener Ursachen für Überschwem-mungen. Strauß war von der Bundesregierung als Beobachter ins Katastro-phengebiet entsandt worden. Er veröffentlichte nach seiner Reise einen.gleichsam offiziellen Bericht, den der, Rheinische Merkur druckte.87 Haupt-thema sind die Hilfsmaßnahmen während der Tage mit Wasserhöchststän-den. Politisches Ziel des Artikels war es offenbar, die Zurückhaltung SPD-geführter Landesregierungen beim Aufbau des Technischen Hilfswerks zugeißeln. Am Ende dieses Textes geht Strauß kurz auf die problematischenFolgen des Wasserbaus ein, ohne in ihm die Ursache für die Katastropheauszumachen. Der Abschnitt gleicht im Ton sehr einer Umweltschutz-Rhe-torik, die in den 70er Jahren große Verbreitung finden sollte: »Wir habenallen Grund, über die Grenzen des Fortschritts nachzudenken, denn man-ches hatte die Natur weiser eingerichtet, als der zivilisationsbesesseneMensch von heute wahrhaben will«. Doch im vorliegenden Kontext predigteder künftige Minister für Atomfragen natürlich nicht die Abkehr von Tech.-nik und Wachstum. Vielmehr bediente er einen zivilisationskritischen Dis-kurs, der wie 1962 politisch folgenlos blieb und bleiben sollte. Die weiseNatur ist hier ein Topos, die Natur vor allem Botschafterin einer kulturkriti-schen Moral. Der Verweis auf Manipulationen am Wasserhaushalt ist einwohlfeiles Argument, vielleicht gar nur ein rhetorischer Aufhänger.

Solange die Anschauung der Natur mit der moralischen Botschaft von derOhnmacht des Menschen verbunden war, solange schien es unplausibel, daßdie Zivilisation Katastrophen herbeiführen könne. Solange die Naturkata-strophe eine Zivilisationskritik motivierte, die die angeblich verlorene Vitali-tät des Menschen im Naturschauspiel entdecken wollte, solange konnte das

86 Otto Kraus, Die Flut ist vorüber!, in: Natur und Landschaft 30 (1955), S. 1-3.87 »Die Wasserkatastrophe in Bayern«, 16.7.1954.

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»Verhalten« der Flüsse und Ozeane nicht als Hybrid von Technik und Naturaufgefaßt werden.

Dies änderte sich, als sich eine technizistische Vorstellung von der Total-beherrschung aller natürlichen Vorgänge verbreitete. Voraussetzung für dasZiel der totalen Beherrschung war ein Wandel im Naturbild — die Naturhatte als Trägerin quasi transzendenter Moralbotschaften zunächst keineBedeutung mehr. Jetzt galt der Mensch zwar noch nicht als Urheber derKatastrophe. Vielmehr war die Katastrophe eine Art Panne; sie markierteeine Lücke im System der Eindämmung.

Schließlich scheiterte die Utopie der totalen Naturbeherrschung im Sinnedes erwähnten Moselprojekts von Georg Leber. Doch die Wandlung imNaturbild blieb von Bedeutung. Zwar erhielt Natur wieder eine moralischeKomponente. Doch seitdem ist die Natur schwach, nicht stark. Schutz derNatur gilt nicht mehr als Antwort auf die Degenerierung der Menschheit;Schutz der Natur ist nun Opferschutz. Natur und Katastrophe haben ihreAutonomie in der Zeit der technizistischen Utopie verloren und später nichtwiedererlangt.

Seither haben Naturkatastrophen einen eigenartigen Charakter. Anstelleoder zumindest neben die Bedrohung für den Menschen ist die Bedrohtheitder Natur getreten. Helmut Kohl verlangte angesichts des Oder-Hochwas-sers im Sommer 1997, den Flüssen ihren Raum wiederzugeben. Denn, soforderte der Bundeskanzler, der Mensch solle in Frieden mit der Natur le-ben.88 In der Tat galt es Ende der 90er Jahre geradezu als Platitüde, daß derMensch Verursacher der Katastrophe war. »Fehlgeleitete menschliche Tüch-tigkeit« sei die Ursache der Überschwemmungskatastrophe." Neben denOpfern an Menschen und Gütern kommt nun auch das Opfer Natur zuseinem Recht. Die Medien berichteten mehrfach über Umweltschäden, dievon Öl, Chemikalien, Schwermetallen und Industrieabwässern in den über-fluteten Gebieten angerichtet werden. 9° Dieses Thema hatte sich bereits seitMitte der 70er Jahre angedeutet." Die schwache Natur ist natürlich nichtungefährlich für Mensch und Zivilisation — im Gegenteil. Doch seit dertechnizistischen Wende liegt die Gefährlichkeit der Natur nicht mehr in ihrerWildheit, sondern resultiert aus ihrem Charakter als Manipulationsopfer. Sowurde 1997 gar vorgeschlagen, das seit dem 18. Jahrhundert besiedelteOderbruch wieder zu räutnen. 92 Der Mensch sollte hier nicht vor der Naturweichen, sondern vor seiner Manipulation an der Natur.

88 Regierungserklärung im Deutschen Bundestag; Verhandlungen des Deutschen Bundestags,Stenographische Berichte, Bd. 189, S. 16826.

89 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.7.1997. Interessant in diesem Zusammenhang ist die derMedizin entlehnte Wortwahl: verstärkter Deichbau bedeute, nur an Symptomen zu kurieren;Die Zeit, 8.8.1997.

90 Süddeutsche Zeitung, 16.7.1997.91 Stuttgarter Zeitung, 26.5.1978.92 Frankfurter Allgemein Zeitung, 9.8.1997.

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Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der 13 undesrepublik 141

Schluß

Selbst im Kontext der Katastrophe wandelte sich die starke zur schwachenNatur, scheint der Mensch sich von der Kriegsführung auf ein generösesFriedensangebot verlegt zu haben. Galt Natur noch in der Jahrhundertmitteals fremde Gegnerin, so zeigt sie sich dreißig Jahre später unendlich ver-strickt mit dem menschlichen Handeln. Kein Naturvorgang mehr, selbstkeine Katastrophe mehr, in dem der Mensch sich nicht selbst erkennen muß.Somit bietet die Katastrophe keine Bewährungsmöglichkeit der Gesellschaftmehr am Rande ihrer selbst. Die Katastrophe ist vollständig ein gesell-schaftsinternes Problem geworden.

Dieses Naturbild ist auf einem Umweg zustande gekommen, den die Ge-sellschaft über die Planungs- und Machbarkeitsutopien genommen hat. Inder Planungslogik wurde die Natur bares Objekt, ihr Eigenleben sollte außerKraft gesetzt werden. Als die Machbarkeit verblaßte, blieb die Natur alsgeschundenes, wenn auch unberechenbares Opfer auf der Strecke. Nichtmehr die unberührte Natur war nun gefährlich, sondern die berührte.

Die verheerende Macht des Menschen hat seit den 80er Jahren globaleAusmaße angenommen. Seit der Diskussion über Ozonloch, Erderwärmungund menschlich verursachte Klimaänderung sind potentiell alle meteorologi-schen und hydrologischen Phänomene auf menschlichen Einfluß zurückzu-führen;93 der Mensch ist sozusagen omnipräsent und omnipotent.

Der angebliche Gegensatz zwischen Machbarkeitsvorstellung und Öko-logisierung erweist sich als Fehleinschätzung. Es gibt einen engen Zusam-menhang zwischen der Utopie von der totalen Beherrschung der Natur (zummenschlichen Nutzen) und der Selbstgefährdung des Menschen über denUmweg der verwundeten Natur. Aus der Utopie der Beherrschbarkeit wirdnicht etwa die Gewißheit der Unbeherrschbarkeit. Vielmehr wurde aus derUtopie die Obsession des faktischen Beherrschtseins der Natur durch denMenschen. Für beide Haltungen ist das Gegenüber Natur gegenstandslos.Vielmehr zeigt sich in den Katastrophen, daß die Flüsse, Ozeane und sogardas Wetter hybride Mischwesen sind zwischen Natur und Zivilisation. DerMensch domestiziert gewissermaßen die Natur, und zwar um den Preis, sich

93 Vgl. dazu vom historischen Standpunkt Christian Pfister, Wetternachhersage. 500 Jahre Kli-mavariationen und Naturkatastrophen (1496-1995). Bern 1999; sowie Heinz Engel, EineHochwasserperiode im Rheingebiet. Extremergebnisse zwischen Dez. 1993 und Febr. 1995.Lelystad 1999; Bruno Fritsch, Anthropogene Veränderungen der Atmosphäre. Schritte aufdem Wege zu einer globalen Umweltpolitik. Chur 1991; Thomas A. M. de Groot (Hrsg.), Cli-mate Change and Coastal Evolution in Europe. Dodrecht 1999; Hochwasser — Naturereig-ins oder Menschenwerk. Aachen 1997; Gerhard Schmitz, Quo vadis Hochwasser? Die Folgender Klimaveränderung für den Rhein, das Hochwasserkonzept der Bundesstadt Bonn unddas Oderhochwasser von 1997. Bonn 2000; Horst Stern! WolfgangEbenhöh I Frank Simmering,,Küsten im Klimawandel. Oldenburg 1995.

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als Zerstörer seiner selbst zu bekennen. Denn Schicksal und höhere Mächtesind kein Erklärungsangebot für Katastrophen mehr. 94

Der enttäuschte Optimismus lebt fort. Freilich als versteckter, »indirek-ter«, mit negativem Vorzeichen versehener Optimismus. Weil er der Kata-strophenurheber ist, liegt es nämlich beim Menschen, und bei ihm allein,Katastrophen zu verhindern. Was genau nötig ist und wie hoch der Preisdafür liegt, bleibt unklar. Aber die Forderungen der Ökologen belegenscheinbar, daß die Abwendung des Unheils prinzipiell möglich ist — und seies nur, indem der Mensch seine Präsenz auf ein Minimum reduziert. Damiterhält die Naturkatastrophe eine neue Moralität. Sie klagt den Menschen an,und zwar als Zerstörer und als Gegner seiner selbst. Denn nachdem er dieNatur entmachtet glaubt, ist der Mensch auf diesem Planeten mit sich selbstalleingelassen.

94 Vgl. dazu Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurta.M. 1986, S. 9, S. 107.