Vom Torso zur Vollendung Die Entstehung von Mozarts ... · PDF file1. Bach und Mozart – Mythos zweier Werke 1 1. Bach und Mozart – Mythos zweier Werke Um kein anderes Werk der

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  • Klaus Klingen

    Vom Torso zur Vollendung

    Die Entstehung von Mozarts Requiem (KV 626)

  • Inhaltsverzeichnis

    Inhaltsverzeichnis

    1. Bach und Mozart Mythos zweier Werke .............. .............................................1

    2. Ein dubioser Auftrag und sein Initiator ............ ...................................................5

    3. Die Liturgie und Vertonungen des Requiems .....................................................9

    4. Das Fragment....................................... ...............................................................13

    5. Spekulationen ohne Ende ............................ ......................................................17

    6. Ein Torso wird vollendet ........................... .........................................................25

    7. Urauffhrungen des Requiems ..........................................................................29

    8. Die Vermarktung des Requiems ........................................................................31

    9. Autograph-Seite des Dies irae ...........................................................................35

    10. Literatur-Verzeichnis .............................. ............................................................37

    11. Konkordanz der biographischen Daten................ .............................................39

    12. Personenregister ................................... .............................................................41

  • 1. Bach und Mozart Mythos zweier Werke

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    1. Bach und Mozart Mythos zweier Werke

    Um kein anderes Werk der Musikliteratur ranken sich so viele Mythen, Legenden und Irritationen wie um das von Wolfgang Amadeus Mozart unvollendet hinterlassene Requiem KV 626. Natrlich verleitet jedes knstlerische Opus zu vielfltigen Spekula-tionen, wenn sein Schpfer durch einen pltzlich eintretenden Tod nicht mehr in der Lage ist, sein Werk zu vollenden. Im Falle von Mozarts Requiem ist es aber nicht nur der Tod eines relativ jungen Genies sowie die Umstnde seines Begrbnisses, son-dern auch die Auftragserteilung des Werks selbst und die ausgesprochen dubiosen Aktivitten von seiner Frau Constanze nach Mozarts Tod, die haben nicht unerheblich zu berbordenden Fiktionen und Hypothesen beigetragen haben.

    Diese ganz besondere Aura um ein unvollendet gebliebenes Werk, dessen ver-

    meintliche oder tatschliche Vollendung ein pltzlich eingetretener Tod verhinderte, soll mit Hilfe eines anderen Beispiels untermauert werden. Dazu begeben wir uns ausgehend von Mozarts Todesjahr noch weitere 40 Jahre zurck in das Jahr 1750, in dem Johann Sebastian Bach in Leipzig starb. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seit 27 Jahren das Amt des Thomaskantors inne. Im Gegensatz zu Mozart war Bach nicht mehr ganz so jung und seinem Tod ging eine mehrmonatige Leidensphase voran, vermutlich verursacht durch eine Augenoperation, die in einem Wirtshaus praktiziert wurde. Die medizinischen und hygienischen Begleitumstnde dabei entsprachen in keinster Weise unseren heutigen Gepflogenheiten und sie fhrten wohl letztendlich zum Tode des Thomaskantors. Als Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel den Nachlass seines Vaters sichtete, stie er auf eine unvollendete Komposition, nmlich auf die Kunst der Fuge BWV 1080. Carl Philipp Emanuel schloss deshalb daraus, dass es sich bei diesem Werk um Bachs opus ultimum, also um sein letztes Werk, handeln msse. Kurz entschlossen fgte er im Autograph an der Stelle, an der die Komposition abbricht, den Satz ein: "ber dieser Fuge, wo der Name B-A-C-H im Contrasubjekt angebracht worden, ist der Verfasser gestorben." Im Klartext bedeutet das: Bach ver-starb, als er in dieser Fuge gerade damit begonnen hatte, das dritte Thema (es han-delt hier sich nmlich um eine Tripelfuge) vorzustellen. Ein bedeutendes Werk unvoll-endet der Nachwelt zu berlassen, ist (fast) immer beklagenswert. Aber in diesem Fall ist es schon tragisch, dass gerade diese Bach'sche Fuge unvollendet blieb, handelt es sich doch hier um das musikalische Thema seines eigenen Namens, nmlich die Ton-folge der Buchstaben B-A-C-H. Johann Sebastian Bach hat nur sehr vereinzelt und dann auch eher versteckt diese Tonfolge in anderen Kompositionen verwendet, aber eine vollstndige Fuge ber dieses Thema aus der Feder des Thomaskantors existiert nicht. Zu gerne htten wir erfahren und gelernt, wie Bach mit dieser merkwrdigen Tonfolge umgegangen wre und sie nach den Regeln der Fugenkunst dekliniert htte. Offensichtlich war es sein Plan, in Gestalt des Themas ber B-A-C-H quasi seine mu-sikalische Signatur unter dieses Werk, die Kunst der Fuge, zu setzen. Denn zusam-men mit dem Wohltemperierten Klavier muss auch und gerade die Kunst der Fuge als sein Vermchtnis seiner auergewhnlichen Fhigkeiten der Fugenkomposition be-zeichnet werden.

  • Die Entstehung von Mozarts Requiem

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    Mit dem auf das Autograph notierten Satz hat Carl Philipp Emanuel die gesamte Musikwissenschaft fr ein paar Jahrhunderte in die Irre gefhrt. Heute wissen wir, dass Johann Sebastian Bach die Arbeiten an der Kunst der Fuge abgebrochen oder unterbrochen und dann die Komplettierung der h-Moll-Messe BWV 232 in Angriff ge-nommen hat. Somit ist nicht der geniale aber leider unvollendete Fugenzyklus, son-dern vielmehr die ebenso groartige und vollendete h-Moll-Messe in Wirklichkeit Bachs opus ultimum. Aber sehen wir dem Bach-Sohn den Lapsus nach, lebte er doch zum damaligen Zeitpunkt seit mehr als fnfzehn Jahren nicht mehr in Leipzig, also am Wohnort seines Vaters. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er ber die konkreten Aktivit-ten seines Vaters nicht mehr im Detail informiert war. Leider kennen auch wir nicht das Motiv, das Bach dazubewogen hat, die Arbeiten an der Kunst der Fuge abzubrechen. Zwar gibt es seit Neuestem einige Erkenntnisse dazu, diese sind aber vorlufig noch sehr spekulativ und im Sinne einer serisen Musikwissenschaft nicht ausreichend be-lastbar. Der Thomaskantor hat aber auch selbst zu erheblichen Irritationen ber seine Kunst der Fuge beigetragen. Whrend blicherweise Komponisten bei der Nieder-schrift eines mehrstimmigen Werks die einzelnen Stimmen in einer Partitur bereinan-der notieren, hat Bach in diesem Fall jede einzelne Stimme auf separate Notenbltter geschrieben, somit existiert keine Partitur, also keine Gesamtbersicht aller Stimmen. Auerdem ist aufgrund fehlender Kennzeichnung nicht gesichert, in welcher Reihen-folge die 14 Fugenstze gespielt werden sollen und was am meisten verwundert Bach hat nicht einmal festgehalten, welche Instrumente er fr die einzelnen Stimmen vorgesehen hatte.

    Carl Philipp Emanuel Bach hat aber nicht nur das Autograph der Kunst der Fuge

    mit diesem irritierenden Kommentar ber den Tod seines Vaters ergnzt. Er war es auch, der diesem Fugenzyklus als letztes Blatt einen Orgelchoral von Johann Sebasti-an Bach ber das Kirchenlied Vor deinen Thron tret ich hiermit hinzufgte, quasi als Ersatz fr den fehlenden Abschluss der Tripelfuge bzw. des ganzen Fugenzyklus. Das wiederum fhrte zu der Legendenbildung, Bach habe diese vergleichsweise kleine und ruhige Komposition seinem Schler und Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol auf dem Sterbebett diktiert. Deshalb wurde und wird diese Komposition auch als Bachs Sterbechoral bezeichnet. Inzwischen wissen wir, dass Bach diesen Orgelchoral schon viel frher vermutlich in seiner Weimarer Zeit komponiert hat. Unabhngig davon: Wer auch immer diesen Sterbechoral, der das Ende, den Abschluss des Le-bens thematisiert, zu der uns unvollendet berlieferten Fuge ber B-A-C-H hinzugefgt hat, inszenierte damit gewollt oder ungewollt, das sei dahin gestellt den Mythos Bach wie in einer Apotheose, getragen von der Polaritt finito (Leben) und non finito (Werk). Vielleicht war das Motiv dazu aber auch viel banaler. Es ist nicht auszuschlie-en, dass mit dem Geheimnis um den Sterbechoral, ebenso wie mit der Anmerkung Carl Philipp Emanuel Bachs auf der letzten Seite des Fugenzyklus, die Chancen zur Vermarktung dieses Werks verbessert werden sollten. Es grassierte damals nmlich ein modisches Faible fr Kunst-Torsi aller Art, was in diesem Fall uerst geschickt genutzt und durch die Aktivitten von Carl Philipp Emanuel noch dramaturgisch poten-ziert wurde. Falls es letztlich doch primr darum ging, die nicht gesicherte wirtschaftli-che Situation von Bachs Frau Anna Magdalena und ihrer noch im Hause lebenden Kindern zu verbessern, so erwiesen sich alle diese Bemhungen als vergebens. Wir wissen nmlich aus den Aufzeichnungen des Notenstechers und Verlegers der Kunst der Fuge, einem gewissen Johann Heinrich Schbler, dass nur ganz wenige Exempla-re dieser Komposition verkauft und mit den Verkaufseinnahmen nicht einmal die Druckkosten beglichen werden konnten. Und das, obwohl einer der einflussreichsten Musikkritiker der damaligen Zeit, der Musikwissenschaftler Friedrich Wilhelm Marpurg in seiner Vorrede der gedruckten Fassung der Kunst der Fuge diesen groartigen Zyk-lus besonders hervorragend bewertete: Er vermittle nmlich aufs Trefflichste die Re-geln der Fuge und es sei jedem angehenden Komponisten geraten, sich mit Fugen und Kontrapunkten dieser Art vertraut zu machen. Auch lobt er ganz berschwnglich Bachs tiefsinnige Kompositionen und ihre Harmonien. - Bei dem Notenstecher und

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    Verleger Johann Heinrich Schbler handelt es sich brigens um den Bruder von Jo-hann Georg Schbler, der als Setzer und Verleger der Schblerschen Orgel-Chorle von Bach berhmt wurde.

    Aber zurck zu Mozarts Requiem. Ist es vorstellbar, dass auch in diesem Fall einer

    unvollendeten Komposition die Nachwelt, hier also Constanze Mozart, derart manipu-lativ zugunsten eines wirtschaftlichen Vorteils eingegriffen htte? Viel leichter als die diversen Unklarheiten im Zusam