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Herausgeber Professor Dr. Bernhard Großfeld, Münster Professor Dr. Christian Starck, Göttingen Professor Dr. Rolf Stürner, Richter am OLG, Freiburg i.Br. Professor Dr. Ulrich Weber, Tübingen Redaktion Rechtsanwältin Heide Schapka Mohr Siebeck. JL 55. Jahrgang 18. Februar 2000 Seiten 165-216 Juristen Zeitung Professor Dr. Winfried Brugger, Universität Heidelberg Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? N *-» :<ü i/) «+- Die Anwendung von Folter ist staatlichen Organen im nationalen.wie internationalen Recht zu Recht strikt untersagt. So soll ein effektiver Schutzwall gegen staatliche Barbarei errichtet werden. Die Absolutheit der Folterverbote kann aber in Ausnahmefällen zu Ergebnissen führen, die den Täterschutz dem Opferschutz vorordnen und Gerechtigkeits- maßstäbe auf den Kopf stellen. Der Aufsatz analysiert diese Fallgruppe und diskutiert, auf welche Weise die bedrohten Opfer zu ihrem Recht kommen können. Neuere Gerichts- entscheidungen aus Israel unterstreichen die Aktualität dieses Themas, das in Deutschland lange tabuisiert worden ist.* I. Allgemeines zur Folter und ein besonderer Fall Darf der Staat foltern? Unser Rechtsgefühl sagt: Auf keinen Fall! Es wäre schlimm, wenn wir eine andere Reaktion hät- ten. Würden wir anders reagieren, wenn wir uns vorstellen, daß die Staatsgewalt Folter zum Schutz der Bürger und nicht zu deren Unterdrückung einsetzt? Auch dann, vermute ich, würden die meisten von uns Folter für illegitim halten, gemäß dem Grundsatz: Ein guter Zweck heiligt nicht jedes Mittel. Trotzdem regen sich Zweifel, wenn wir von dem ab- strakten Hinweis auf Staaten, die schlimme Taten böser Menschen gegen gute Bürger mit brachialen Mitteln verhin- dern wollen, zu konkreteren Beschreibungen wahrscheinli- cher oder wirklicher Gefahrensituationen fortschreiten. Vie- le werden sich erinnern an den Erpressungsfall Hintze im September 1997, als Matthias Hinze bei Potsdam entführt und, wie man durch Erpressungsbriefe wußte, in einer Erd- grube vergraben worden war. Die beiden Täter wurden nach mehreren Tagen von einer Polizeistreife verhaftet. Als einer der Entführer die Polizei nach langen Verhören zu dem Ver- steck führte, war Matthias Hintze schon gestorben 1 . Wäre * Deutsche Fassung eines Vertrags, den der Verfasser im Frühjahrs- semester 1999 an mehreren Rechtsfakultäten der USA gehalten hat. Der Artikel baut in den Teilen I bis IV auf zwei früheren Veröffentlichungen auf: Würde gegen Würde, VB1BW 1995, 415f., 446ff.; Darf der Staat aus- nahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 ff. Die Vortragsform ist bei- behalten worden, die Fußnoten sind exemplarisch. 1 Vgl. Rhein-Neckar-Zeitung vom 9. 10. 1997, S. 17 und vom 10. 10. 1997, S. 1. die Anwendung körperlichen Zwangs zum schnelleren Her- ausfinden des Verstecks legitim gewesen? Manche werden wissen, daß der israelische Supreme Court in einer Entschei- dung aus dem Jahre 1996 die Anwendung von Gewalt gegen inhaftierte mutmaßliche Terroristen als zulässig angesehen hat, wenn davon auszugehen ist, daß diese zur Abwendung eines drohenden Terroraktes gegen die Bevölkerung not- wendig ist 2 . Statt auf diese realen Vorkommnisse einzugehen, möchte ich einen in Deutschland - noch - fiktiven Fall be- handeln 3 , nicht um mich um die realen Probleme herumzu- winden, sondern um unsere gemeinsame Ausgangsüberzeu- gung zu testen, daß Folter nie, in wirklich keinem Fall prak- tiziert werden sollte. Je nach Festigung oder Relativierung dieser Überzeugung wird sich dann ein Bewertungsrahmen herauskristallisieren, in dem, bei ausreichender Fakten- kenntnis, zu den genannten realen oder künftig sich ereig- nenden Fällen Stellung bezogen werden kann. Der Fall spielt in der Heimatstadt des Lesers. Diese wird durch einen Terroristen bedroht, der eine tödliche chemische Bombe versteckt hat. Bei der Geldübergabe wird der Terro- rist von der Polizei gefaßt und in Gewahrsam genommen. Der Erpresser schildert den Beamten glaubhaft, daß er vor der Übergabe den Zünder der Bombe aktiviert hat. Die Bombe werde in fünf Stunden explodieren und alle Bewoh- ner der Stadt sowie der Umgebung töten; diese würden eines qualvollen Todes sterben, die schlimmste Folter sei dagegen nichts. Trotz Aufforderung gibt der Erpresser das Versteck der Bombe nicht preis. Androhungen aller zulässigen Zwangsmittel helfen nichts. Der Erpresser fordert eine hohe Geldsumme, seine eigene Freilassung sowie die Freilassung rechtskräftig verurteilter politischer Kampfgenossen, ferner ein Fluchtflugzeug mit Besatzung. Sobald er in der Luft sei, werde er das Versteck der Bombe verraten, so daß diese dann entschärft werden könne. Als Sicherheit sollen ihm zehn prominente Bürger der Stadt als Geiseln zur Verfügung ge- stellt werden. Die Polizei glaubt aus faktischen und rechtli- 2 Entscheidung des Israeli Supreme Court, in der Funktion als High Court of Justice, Entscheidung HCJ 804/96, Muhammad Abd al-Aziz Hamdan v. General Security Service vom 14. 11. 1996. Vgl. die inoffizielle englische Übersetzung dieser Entscheidung in: Legitimizing Torture. The Israeli High Court of Justice Rulings in the Bilveise, Hamdan and Mubarak Gases. An Annotated Sourcebook, January 1997, in: http://www. derechos.org/human-rights/mena/doc/hamdan.html. Zu der neueren Entscheidung vom 6. 9. 1999 siehe unten Fn. 13. 3 Vgl. schon W. Brugger VBlBW 1995, 414 f., 446 ff. und unten Fn. 5.

Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? · 2014. 7. 10. · Folter darf wirklich nie, und Folter darf ausnahmsweise doch angewendet werden! II. Das absolute

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HerausgeberProfessor Dr. Bernhard Großfeld, MünsterProfessor Dr. Christian Starck, GöttingenProfessor Dr. Rolf Stürner, Richter am OLG, Freiburg i.Br.Professor Dr. Ulrich Weber, Tübingen

RedaktionRechtsanwältin Heide Schapka

Mohr Siebeck.

JL 55. Jahrgang18. Februar 2000Seiten 165-216

JuristenZeitung

Professor Dr. Winfried Brugger, Universität Heidelberg

Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?

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«+-

Die Anwendung von Folter ist staatlichen Organen imnationalen.wie internationalen Recht zu Recht striktuntersagt. So soll ein effektiver Schutzwall gegen staatlicheBarbarei errichtet werden. Die Absolutheit der Folterverbotekann aber in Ausnahmefällen zu Ergebnissen führen, die denTäterschutz dem Opferschutz vorordnen und Gerechtigkeits-maßstäbe auf den Kopf stellen. Der Aufsatz analysiert dieseFallgruppe und diskutiert, auf welche Weise die bedrohtenOpfer zu ihrem Recht kommen können. Neuere Gerichts-entscheidungen aus Israel unterstreichen die Aktualitätdieses Themas, das in Deutschland lange tabuisiert wordenist.*

I. Allgemeines zur Folter undein besonderer Fall

Darf der Staat foltern? Unser Rechtsgefühl sagt: Auf keinenFall! Es wäre schlimm, wenn wir eine andere Reaktion hät-ten. Würden wir anders reagieren, wenn wir uns vorstellen,daß die Staatsgewalt Folter zum Schutz der Bürger und nichtzu deren Unterdrückung einsetzt? Auch dann, vermute ich,würden die meisten von uns Folter für illegitim halten,gemäß dem Grundsatz: Ein guter Zweck heiligt nicht jedesMittel. Trotzdem regen sich Zweifel, wenn wir von dem ab-strakten Hinweis auf Staaten, die schlimme Taten böserMenschen gegen gute Bürger mit brachialen Mitteln verhin-dern wollen, zu konkreteren Beschreibungen wahrscheinli-cher oder wirklicher Gefahrensituationen fortschreiten. Vie-le werden sich erinnern an den Erpressungsfall Hintze imSeptember 1997, als Matthias Hinze bei Potsdam entführtund, wie man durch Erpressungsbriefe wußte, in einer Erd-grube vergraben worden war. Die beiden Täter wurden nachmehreren Tagen von einer Polizeistreife verhaftet. Als einerder Entführer die Polizei nach langen Verhören zu dem Ver-steck führte, war Matthias Hintze schon gestorben1. Wäre

* Deutsche Fassung eines Vertrags, den der Verfasser im Frühjahrs-semester 1999 an mehreren Rechtsfakultäten der USA gehalten hat. DerArt ikel baut in den Teilen I bis IV auf zwei früheren Veröffentlichungenauf: Würde gegen Würde, VB1BW 1995, 415f., 446ff.; Darf der Staat aus-nahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 ff. Die Vortragsform ist bei-behalten worden, die Fußnoten sind exemplarisch.1 Vgl. Rhein-Neckar-Zeitung vom 9. 10. 1997, S. 17 und vom 10. 10.1997, S. 1.

die Anwendung körperlichen Zwangs zum schnelleren Her-ausfinden des Verstecks legitim gewesen? Manche werdenwissen, daß der israelische Supreme Court in einer Entschei-dung aus dem Jahre 1996 die Anwendung von Gewalt gegeninhaftierte mutmaßliche Terroristen als zulässig angesehenhat, wenn davon auszugehen ist, daß diese zur Abwendungeines drohenden Terroraktes gegen die Bevölkerung not-wendig ist2. Statt auf diese realen Vorkommnisse einzugehen,möchte ich einen in Deutschland - noch - fiktiven Fall be-handeln3, nicht um mich um die realen Probleme herumzu-winden, sondern um unsere gemeinsame Ausgangsüberzeu-gung zu testen, daß Folter nie, in wirklich keinem Fall prak-tiziert werden sollte. Je nach Festigung oder Relativierungdieser Überzeugung wird sich dann ein Bewertungsrahmenherauskristallisieren, in dem, bei ausreichender Fakten-kenntnis, zu den genannten realen oder künftig sich ereig-nenden Fällen Stellung bezogen werden kann.

Der Fall spielt in der Heimatstadt des Lesers. Diese wirddurch einen Terroristen bedroht, der eine tödliche chemischeBombe versteckt hat. Bei der Geldübergabe wird der Terro-rist von der Polizei gefaßt und in Gewahrsam genommen.Der Erpresser schildert den Beamten glaubhaft, daß er vorder Übergabe den Zünder der Bombe aktiviert hat. DieBombe werde in fünf Stunden explodieren und alle Bewoh-ner der Stadt sowie der Umgebung töten; diese würden einesqualvollen Todes sterben, die schlimmste Folter sei dagegennichts. Trotz Aufforderung gibt der Erpresser das Versteckder Bombe nicht preis. Androhungen aller zulässigenZwangsmittel helfen nichts. Der Erpresser fordert eine hoheGeldsumme, seine eigene Freilassung sowie die Freilassungrechtskräftig verurteilter politischer Kampfgenossen, fernerein Fluchtflugzeug mit Besatzung. Sobald er in der Luft sei,werde er das Versteck der Bombe verraten, so daß diese dannentschärft werden könne. Als Sicherheit sollen ihm zehnprominente Bürger der Stadt als Geiseln zur Verfügung ge-stellt werden. Die Polizei glaubt aus faktischen und rechtli-

2 Entscheidung des Israeli Supreme Court, in der Funktion als HighCourt of Justice, Entscheidung HCJ 804/96, Muhammad Abd al-AzizHamdan v. General Security Service vom 14. 11. 1996. Vgl. die inoffizielleenglische Übersetzung dieser Entscheidung in: Legitimizing Torture. TheIsraeli High Court of Justice Rulings in the Bilveise, Hamdan and MubarakGases. An Annotated Sourcebook, January 1997, in: http://www.derechos.org/human-rights/mena/doc/hamdan.html. Zu der neuerenEntscheidung vom 6. 9. 1999 siehe unten Fn. 13.3 Vgl. schon W. Brugger VBlBW 1995, 414 f., 446 ff. und unten Fn. 5.

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166 Brugger Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? JZ 4/2000

"5 chen Gründen, diese Forderungen nicht erfüllen zu können,und sieht nur noch ein einziges Mittel der Gefahrenbeseiti-gung: das „Herausholen" des Verstecks der Bombe aus demErpresser, notfalls mit Gewalt. Darf sie das?

Meine Vermutung ist, daß die meisten von uns sagenwerden: „Eigentlich nicht, aber ...". Das „aber" würde aufeine gewisse Einschränkung unserer Ausgangsüberzeugungvon dem absoluten Verbot der Anwendung von Folter hin-deuten - und von Folter im nicht nur umgangssprachlichen,sondern auch rechtstechnischen Sinn ist hier zweifellos dieRede. Folter umfaßt auf jeden Fall die Anwendung erhebli-cher körperlicher Gewalt durch einen Träger öffentlicherGewalt gegen eine Person, um von dieser eine Aussage zu er-zwingen oder eine Information zu erhalten4. Das ist sogardas Schulbeispiel für Folter. Wie also ist dieser Fall zu lösen?Ich will im folgenden nicht auf der Ebene rechtsphilosophi-scher Reflexion argumentieren, obwohl sich dort durchausAutoren und Schulen finden lassen, die für die Anwendungvon Folter in dem Ausgangsfall stimmen würden5. Statt des-sen konzentriere ich mich auf die Ebene des positiven Rechtsund skizziere zunächst, daß sich auf die Frage nach derZulässigkeit der Anwendung von Folter in dem Ausgangsfallnicht nur eine, sondern zwei Antworten formulieren lassen:Folter darf wirklich nie, und Folter darf ausnahmsweisedoch angewendet werden!

II. Das absolute Verbot derAnwendung von Folter im deutschenund im internationalen Recht

1. Polizeirecht

In dem Ausgangsfall geht es nicht primär um die Verfolgungeiner Straftat. Vielmehr steht für die Polizei die Eliminierungder drohenden Gefahr im Vordergrund. Damit kommt Poli-zeirecht und nicht Strafprozeßrecht zur Anwendung. Unter-stellen wir, daß die bedrohte Stadt in Baden-Württembergliegt. Hier ergibt sich eine Pflicht zur Aussage über gefah-renrelevante Sachverhalte aus §§ 20 I, 27 IV l, III Nr. lbwPolG, soweit die Aussage „zur Abwehr einer Gefahr fürLeben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder für be-deutende fremde Sach- oder Vermögenswerte ... erforder-lich ist". Das wäre sie in dem Ausgangsfall: Das Leben derBewohner der Stadt ist unmittelbar bedroht. Doch sieht § 27IV 2 bwPolG ein Auskunftsverweigerungsrecht vor, soweitder Betroffene „durch die Auskunft sich selbst oder einenAngehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einerStraftat... verfolgt zu werden ..."; vergleichbare Rechte ent-hält § 136 12 StPO. Eine Verfolgungs- und Anklagegefahrbesteht durchaus, da der Terrorist zumindest, um nur einigeMöglichkeiten zu nennen, eine räuberische Erpressung, dasHerbeiführen einer Sprengstoffexplosion und eine schwereGefährdung durch Freisetzen von Giften versucht hat,

4 Im Völkerrecht weithin akzeptiert ist die Folterdefinition in § l I desUN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschlicheoder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. 12. 1984, BGBl. 1990II S. 246. Danach ist Folter „jede Handlung, durch die einer Person vor-sätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügtwerden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder einGeständnis zu erlangen ..., wenn diese Schmerzen oder Leiden durch einenAngehörigen des öffentlichen Dienstes oder eine andere in amtlicher Ei-genschaft handelnde Person, auf deren Veranlassung oder mit deren aus-drücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden."5 Hierzu W. Brugger Der Staat 35 (1996), 67 ff., Abschnitte IV und V so-wie die Beiträge in Israeli Law Review 23 (1989), 142 ff.

§§ 253 I, III, 255, 308 I, 330 a i. V. m. § 23 StGB. Doch solltedieses Aussageverweigerungsrecht sinnvollerweise nur für ,die strafrechtliche Verfolgung, nicht für die Pflicht zur Ge-fahrenabwehr gelten. Wie lassen sich diese in Spannung be-findlichen polizeirechtlichen und strafprozessualen Anlie- 'gen in Ausgleich bringen? § 12 II des hessischen Gesetzesüber die öffentliche Sicherheit und Ordnung enthält eine Re-gelung, die beiden Gesichtspunkten gerecht wird und des-halb als allgemeiner Rechtsgedanke interpretiert werdensollte6. Die grundsätzlich bestehende Aussagepflicht wird •dort wie in den baden-württembergischen Vorschriften fürFälle drohender Selbstbezichtigung eingeschränkt. Aller-dings setzt Satz 3 eine Ausnahme für das Aussageverweige-rungsrecht fest: „Dies gilt nicht, wenn die Auskunft für dieAbwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer ,Person erforderlich ist." Um das Recht gegen eine Selbstbe-zichtigung im Strafprozeß trotzdem zu schützen, bestimmtder folgende Satz 4: „Auskünfte, die gemäß Satz 3 erlangtwurden, dürfen nur zu Zwecken der Gefahrenabwehr ...verwendet werden." Mit anderen Worten: Der zur AussageVerpflichtete kann strafrechtlich nur so weit belangt werden,als seine Verantwortlichkeit vor der Aussage zur Gefahren-abwehr schon feststeht und im Prozeß bewiesen werdenkann.

Verweigert ein Aussagepflichtiger die Auskunft, sindZwangsmittel zu prüfen. Typischerweise kommen drei Mög-lichkeiten in Betracht, wenn die Polizei die Gefahr nichtselbst durch Ersatzvornahme beseitigen kann: Zwangsgeld,Zwangshaft und unmittelbarer Zwang (§§ 49 ff. bwPolG).Zwangsgeld und Zwangshaft scheiden in dem hier vorliegen-den Fall aus. Dagegen käme die Anwendung unmittelbarenZwangs, für die die §§ 50 ff. bwPolG ausdifferenzierte Ver-hältnismäßigkeitsstandards zur Verfügung stellen, in Be-tracht, wenn nicht § 35 bwPolG bestimmen würde: „Die |Polizei darf bei Vernehmungen zur Herbeiführung einer lAussage keinen Zwang anwenden."

2. Verfassungsrecht

Dieses absolute polizeirechtliche Verbot wird durch das Ver-fassungsrecht bestätigt. Dabei trügt der erste Schein, wenn '?.man von Art. 2 II GG ausgeht, der solche Zwangsmaßnah-men nicht von vornherein ausschließt: Zwar hat nach Satz ljeder „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrt-heit", in das durch Erzwingung einer Aussage eingegriffenwürde; doch enthält Satz 3 einen allgemeinen Gesetzesvor-behalt. Art. 2 II GG hat jedoch Nachrang gegenüber demspezielleren Art. 104 I 2 GG: „Festgehaltene Personen dür-fen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden."Diese Norm ist wiederum eine Spezifikation der Garantieder Menschenwürde in Art. l I GG: „Die Würde des Men-schen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Ver-pflichtung aller staatlichen Gewalt." Beide Vorschriftenbringen den allgemeinen Rechtsgedanken zum Ausdruck,daß kein Mensch, ob unschuldig oder schuldig, verdächtigoder unverdächtig, nur als Mittel zu einem - auch vielleichtguten - Zweck gebraucht, mißbraucht werden soll. Wie § 35bwPolG enthalten auch die Art. 104 I 2 und l I GG keinenSchrankenvorbehalt.

6 So offenbar H. Scholler/B. Schloer, Grundzüge des Polizei- und Ord-nungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1993, S. 103 ff.Die im Text gegebene Abgrenzung ist m. E. auch mit BVerfGE 56, 37 ff. =JZ 1981, 303 vereinbar.

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JZ 4/2000 Brugger Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? 167 CD

£3. Internationales Recht

Das absolute Verbot der Aussagenerpressung bei polizei-rechtlichem Gewahrsam wird bestärkt durch das internatio-nale Recht, in dem Folter und folterähnliche Maßnahmen ineiner Vielzahl von Rechtsakten verboten sind7. Exemplarischsei Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention8 ge-nannt, die im Range eines Gesetzes in Deutschland gilt undbei der Auslegung unseres Rechts möglichst zu berücksichti-gen ist: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher odererniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen wer-den." Dieses Verbot ist, wie sich aus Art. 15 EMRK ergibt,notstandsfest: Selbst im Kriegsfall oder anderen öffentlichenNotständen darf Art. 3 nicht eingeschränkt werden. JederEingriff in Art. 3 EMRK ist somit automatisch - wie auchbei den absoluten Verboten des § 35 bwPolG und Art. 104I 2 i. V. m. l I GG - eine Verletzung dieser Norm; die in die-sen Vorschriften angesprochenen Verhaltensweisen lassensich nie rechtfertigen. Würde die Polizei den Erpresser mitGewalt zur Aussage zwingen, läge also eine Verletzung auchdes Art. 3 EMRK vor.

III. Formulierungslücke und Wertungslücke

Das bisherige Ergebnis wird nicht jedem einleuchten. Alle,die über diesen konkreten Fall nachdenken, werden, so hof-fe ich, ein Unbehagen verspüren. Manche oder viele, vermu-te ich, werden es für ungerecht und nicht akzeptabel, ja gera-dezu monströs halten, stellt sich die Staatsgewalt doch in ei-ner Situation, in der Recht und Unrecht zwischen Opfernund Erpresser klar verteilt sind, auf die Seite des Rechtsbre-chers. Empörung, für sich genommen, ist jedoch keinRechtsargument, höchstens ein Anstoß, die Rechtsargumen-te noch einmal genauer zu prüfen. Das soll im folgenden ge-schehen. Der erste Schritt hierzu ist, daß zwischen Formulie-rungslücke und Wertungslücke unterschieden wird9. EineFormulierungslücke liegt vor, wenn wir nach dem Plan einesGesetzes eine Regelung erwarten würden, eine solche abernicht finden - beispielsweise sollte ein Strafgesetzbuch Nor-men über Diebstahl, Erpressung, Mord und Totschlag ent-halten. Eine Formulierungslücke liegt hier zweifellos nichtvor. In einem Rechtsstaat sind Normen zu erwarten, die denExekutivorganen bei der Auswahl von Handlungsmittelngewisse Beschränkungen auferlegen, und genau das tun dieweiter oben erwähnten Vorschriften: Sie schließen die An-wendung von Folter kategorisch aus.

Vielleicht liegt aber eine Wertungslücke vor? Eine solcheist gegeben in Fällen, in denen die Rechtsordnung zwar füreinen zu beurteilenden Sachverhalt eine einschlägige Normbereitstellt und somit eine rechtliche Bewertung vorgibt -diese Wertung erscheint aber im Lichte anderer Normen, diedie betreffende Rechtsordnung ebenfalls enthält, als unange-

7 Vgl. etwa Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom10. 12. 1948(SartoriusIINr. 19); Art. 7 i. V. m. Art. 4 und 10 I des Interna-tionalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966,BGB1. 1973 II S. 1534; das Europäische Übereinkommen zur Verhütungvon Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Stra-fe vom 26. 12. 1987, BGB1. 1989 II S. 946; die oben Fn. 4 erwähnte UN-Folterkonvention.8 Konvention zum Schütze der Menschenrechte und Grundfreiheitenvom 4. 11. 1950, BGB1. 1952 II S. 685, 953 mit späteren, die Art. 3 und 15nicht betreffenden Änderungen.9 Zur Terminologie siehe R. Zippelius, Juristische Methodenlehre,6. Aufl. 1994, § 11, S. 58 ff. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissen-schaft, 6. Aufl. 1991, S. 381 ff., 391 ff. spricht von offener und verdeckterLücke, £. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 141 ff. von offenerund Ausnahmelücke.

messen, ungerecht, und sollte aus deren Sicht anders undbesser gelöst werden. In einem solchen Fall Hegt ein Wer-tungswiderspruch oder eine Wertungspluralität vor, so daßsich die Frage stellt: Welche der beiden widersprechendenWertungen soll den Vorrang erhalten? Rechtstechnisch kannman darauf antworten: Immer die textlich spezifischsteNorm, hier also § 35 b bwPolG, Art. 104 I 2 i. V. m. l I GGund Art. 3 EMRK. Doch hilft das nicht weiter, denn die Ka-tegorie der Wertungslücke ist gerade für Situationen entwor-fen worden, in denen keine Formulierungslücke vorliegt, derWortlaut des Gesetzes vielmehr eindeutig, aber eben ausSicht anderer relevanter Rechtsnormen ungerecht und nichtakzeptabel erscheint.

Welches sind also die Normen, die eventuell das absoluteVerbot der Folter relativieren könnten? Bevor eine Antwortauf diese Frage möglich ist, sind die Charakteristika des Aus-gangsfalles näher zu analysieren. Dieser zeichnet sich durchacht Merkmale aus10. Es liegt eine (1) klare, (2) unmittelbare,(3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben und die körperlicheIntegrität einer unschuldigen Person vor. (5) Die Gefahr istdurch einen identifizierbaren Störer verursacht. (6) Der Stö-rer ist die einzige Person, die die Gefahr beseitigen kann, in-dem er sich in die Grenzen des Rechts zurückbewegt, alsodas Versteck der Bombe verrät. (7) Dazu ist er .auch ver-pflichtet. (8) Die Anwendung körperlichen Zwangs ist daseinzig erfolgversprechende Mittel zur Informationserlan-gung.

Am letztgenannten Punkt mag man Zweifel haben:Schließlich könnte die Polizei auch dem Verlangen des Er-pressers nachkommen; ferner ist nicht sicher, daß dieser beiAnwendung von unmittelbarem Zwang das Versteck verra-ten würde. Was den ersten Punkt angeht, so würde dasNachgeben der Polizei selbst wiederum zu erheblichenGrundrechtseingriffen bei den geforderten Geiseln sowie zuEinbußen bei der Gleichbehandlung und bei der Strafrechts-pflege als Moment des Rechtsstaats durch Freilassung derrechtskräftig verurteilten Straftäter führen. Es ist auch nichtsicher, daß der Erpresser vom Flugzeug aus das Versteck ver-rät. Was den zweiten Punkt angeht, so gilt im Polizeirechtbei der Einschätzung der Geeignetheit eines Gefahrenbesei-tigungsmittels der Grundsatz der ex ante-Sicht11, und nachdieser spricht eine Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Anwen-dung körperlichen Zwangs zur Preisgabe des Verstecks derBombe führen würde. Nimmt man diese beiden Punkte zu-sammen, wird man das Vorliegen des Kriteriums (8) bejahenkönnen.

Bevor mögliche Gegennormen zu den absoluten Verbo-ten der Anwendung von Folter geprüft werden, ist weiterhindarauf hinzuweisen, daß solche Normen im deutschen Kon-text nicht erfolgversprechend sind, wenn sie auf strafrechtli-chen Notwehrrechten beruhen12. Auf den ersten Blickscheint § 32 StGB auf den hier vorliegenden Fall zu passen:„(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist,handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung,

10 Gegenüber der Typenbeschreibung des Falles in der oben Fn. 5 ge-nannten Publikation (S. 74) habe ich hier zwei Verdeutlichungen vorge-nommen: Es muß sich um eine „erhebliche" Gefahr handeln (das ergab sichdort aus dem Verweis auf § 54 II bwPolG). Ferner habe ich Eingriffe in die„Würde" jetzt herausgenommen. Konzeptionell besteht dazu eigentlichkein Grund, praktisch ist die Lage in Deutschland jedoch so, daß die Ver-fassungsrechtswissenschaft trotz der Maxime, nur die elementarsten Ver-letzungen als Würdeverletzungen anzusehen, faktisch umfangreiche Kata-loge von Würdeinteressen entworfen hat, die mehr oder weniger alleGrundrechtsinteressen umfassen. Das geht für die hier diskutierte Proble-matik entschieden zu weit.11 Vgl. Scholler/Schloer (Fn. 6), S. 314 f.12 Vgl. zum folgenden Brugger (Fn. 3), S. 453 ff.

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die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigenAngriff von sich oder einem anderen abzuwenden." Obwohlman nach dem Sachverhalt davon ausgehen kann, daß dieVoraussetzungen des § 32 StGB vorliegen, ist die Anwend-barkeit der Norm in einem Gewahrsamsfall bzw. für die Po-lizisten ausgeschlossen. Zum ersten enthält Art. 104 I 2 GGals dem § 32 StGB gegenüber vorrangige Norm eine speziel-le Regelung für polizeiliche Gewahrsamsfälle. Zum zweitensind die angeführten Normen des internationalen Rechts, dieFolter ausnahmslos ausschließen, gerade für Amtswalter-handeln erlassen worden, so daß diese Normen nicht nur ge-genüber dem § 32 StGB jüngeren Datums, sondern auch spe-zieller sind. Zum dritten ist es fraglich, ob ein strafrechtli-cher Rechtfertigungsgrund, der nachträglich die Strafbarkeitvon Individuen ausschließt, vorgängig als Befugnisnorm fürAmtswalterhandeln taugt13. Auf der Suche nach Gegennor-men zu den absoluten Folterverboten muß man also Vor-schriften finden, die (1) zumindest auf der gleichen Ebenewie die Verbotsnormen angesiedelt sind, und aus denen (2)der Schluß gezogen werden kann, daß eine Relativierung desabsoluten Folterverbots für Fälle mit den angeführten achtMerkmalen zu rechtfertigen ist, weil die in den Gegennor-men geschützten konkurrierenden Rechtsgüter überwiegen.Zu prüfen sind also in einem zweiten Durchgang noch ein-mal die Normen des Polizeirechts, des Verfassungsrechtsund des internationalen Rechts.

IV. Die Relativierung des absolutenFolterverbots in Ausnahmesituationen

1. Polizeirecht

§ 35 bwPolG schließt, wie dargestellt, bei Vernehmungen dieAnwendung von Zwang zur Durchsetzung von Auskunfts-pflichten aus. Gleichzeitig geben aber die Vorschriften zurAnwendung unmittelbaren Zwangs in §§ 50 ff. bwPolG zuerkennen, daß die Zulässigkeit der Anwendung von Zwangs-mitteln nach Art und Grad der Bedrohung gestuft ist. Mög-lich ist „jede Einwirkung auf Personen oder Sachen durcheinfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichenGewalt oder Waffengebrauch" (§ 50 I bwPolG), je nach Er-

13 In der Hamdan-Entscheidung von 1996 (Fn. 2) hatte sich der israeli-sche Supreme Court auf die israelische Version des Notwehrrechts berufen,um die Anwendung von körperlicher Gewalt zur Informationserlangung ineinem Fall zu rechtfertigen, in dem das Gericht von einer unmittelbarenBedrohung von Menschenleben unter anderem durch den Inhaftierten aus-ging, ohne sich letztlich auf diese Norm festlegen zu wollen. Eine andereBefugnisnorm war aber vom Gericht nicht zitiert worden. In der mehrereKlagen zusammenfassenden Entscheidung des Supreme Court of Israelvom 6. 9. 1999, in der Funktion als High Court ofjustice - H. C. 5100/94u. a., in: http://www.derechos.org/human-rights/mena/doc/torture.html- schloß das Gericht die Berufung auf die „necessity defense" als Ermäch-tigungsgrundlage aus. Es lagen aus Sicht des Supreme Court auch sonstkeine Ermächtigungsgrundlagen zur Anwendung von körperlicher Gewaltgegen mutmaßliche Terroristen vor. Anders als weithin in den Massenme-dien berichtet, schloß der Supreme Court aber Zwangsmaßnahmen gegenTerroristen zur Abwendung von Anschlägen auf die Bevölkerung nicht ab-solut aus. Er beharrte aus Gründen des Gesetzesvorbehalts und einer im-pliziten Wesentlichkeitstheorie auf einer klaren gesetzlichen Regelung vonEingriffsbefugnissen. Inhaltlich sprach das Gericht die Problematik von„ticking time bomb situations" an - das ist die hier vorliegende Konstella-tion. Man kann diese Entscheidung so lesen: Falls überhaupt Folterungenoder folterähnliche Maßnahmen zulässig sind, dann in diesen Situationen,aber darüber muß das Parlament entscheiden. Offen bleibt in dieser Ent-scheidung, wie die internationalen absoluten Verbote zu einer eventuellenparlamentarischen Ermächtigung stehen. Dazu nimmt der Text oben Stel-lung.

forderlichkeit. Bei ganz schweren Bedrohungen darf intensi-ver eingegriffen werden, dürfen sogar Schußwaffen einge-setzt werden. Bei den schwersten Gefahren ist der finale Ret-tungsschuß zulässig, wie § 54 II bwPolG deutlich macht:„Ein Schuß, der mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-lichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er daseinzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensge-fahr oder der gegeawärtigen Gefahr einer schwerwiegendenVerletzung der körperlichen Unversehrtheit ist." In diesengestuften Eingriffsbefugnissen kommen zwei Aufbau- undErmächtigungsprinzipien des Polizeirechts zum Ausdruck:(1) Polizeirecht hat Gefahren effektiv abzuwehren und zubeseitigen. (2) Die Polizei hat Gesetz und Recht zu schützenund denjenigen, der deren Grenzen überschreitet, in seineSchranken zu verweisen. Für den Fall des finalen Rettungs-schusses heißt das: Das unschuldige Leben muß nicht zu-gunsten des Lebens des Störers geopfert werden14.

Wenn man sich diese gestuften Eingriffsbefugnisse vorAugen führt, dann „paßt" von dem in Betracht gezogenenHandlungsmittel eigentlich § 52 bwPolG, der unmittelbarenZwang gegen Personen unter näher bezeichneten, hier gege-benen Verhältnismäßigkeitskautelen zuläßt. Zwang zur Aus-sagenerpressung widerspricht jedoch dem absoluten Verbotdes § 35 bwPolG. Doch führt aus Sicht derjenigen, die des-sen Rechtsfolge für den hier vorliegenden Fall als ungerechtund absurd ansehen, gerade die Absolutheit dieser Norm zudem Wertungswiderspruch: § 35 müßte insoweit eigentlicheine Beschränkung enthalten, um das Gerechtigkeitsgefühl,den Begriff „Recht" in Art. 20 III GG sowie die genanntenPolizeirechtsmaximen nicht zu konterkarieren. DieserSchluß wird unterstützt, wenn man sich die Intensität desEingriffs beim finalen Rettungsschuß in § 54 II bwPolG vorAugen führt: Dieser ist zulässig zur Abwehr einer gegenwär-tigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einerschwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrt-heit! Als in der Stufung der Eingriffsbefugnisse der §§ 50 ff.bwPolG intensivstes Eingriffsmittel sollten die Tatbestands-voraussetzungen dieser Norm dann auch für Aussagener-pressung gelten. Die acht Charakteristika des Ausgangsfallestragen dem Rechnung, ja sind noch enger gefaßt, um die Ver-hältnismäßigkeit auszubalancieren und um eine zu weitge-hende Entwertung des § 35 bwPolG zu verhindern.

Ein Gedankenexperiment unterstützt diese Sicht derDinge: Hält ein Geiselnehmer die Pistole an die Schläfe derGeisel, darf er erschossen werden, wenn dies das einzig er-folgversprechende Mittel zur Rettung des Lebens der Geiselist. Hat ein Geiselnehmer die tickende Bombe an der Geiselbefestigt, und kann diese nur durch Anwendung von Zwangzur Preisgabe des Codes des Zündmechanismus gegen denGeiselnehmer gerettet werden, schließen die einschlägigenRechtsnormen diese Maßnahme aus. Das ist ein Wertungs-widerspruch im Sinne einer nicht einleuchtenden Ungleich-behandlung und eine klare Ungerechtigkeit aus Sicht desOpfers und der Ziele des Polizeirechts, die Vorrang verdie-nen gegenüber der an sich bedenklichen Rechtsfortbildunggegen den Wortlaut des Gesetzes.

Auch ein weiteres Bedenken ist letztlich nicht durch-schlagend. Das Bedenken knüpft daran an, daß hinter § 35

14 Vgl. E. Denninger, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Po-lizeirechts, 1992, E Rn. 107, 115: „Die letzte Rechtfertigung für die polizei-liche Inanspruchnahme unbeteiligter Dritter ergibt sich ... aus dem unbe-dingten Auftrag an die Polizei, Störungen und Gefahren zu beseitigen bzw.abzuwehren und zu verhüten. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, daß eskeine (innenpolitische) Gefahrenlage geben kann, vor der die Polizei resi-gnierend ,die Waffen strecken* dürfte." Was Denninger hier für die Inan-spruchnahme unbeteiligter Dritter sagt, muß natürlich um so mehr fürHandlungsstörer gelten.

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bwPolG und Art. 104 I 2 GG unter anderem die Überlegungsteht, Personen, die durch den polizeilichen Zugriff bei Ver-nehmungen oder Festnahmen in eine hilflose Position gera-ten sind, besonders zu schützen. So richtig und wichtig dieseÜberlegung gegen ja manchmal wirklich drohenden polizei-lichen Übereifer ist, trifft sie hier doch nicht die Merkmaledes Ausgangsfalls: Obwohl in der Obhut der Polizei, ist derErpresser doch nicht hilflos. Im Gegenteil hält er durch sei-ne Kenntnis der Lokalität der Bombe faktisch die Fäden inder Hand. Er ist zwar in der Hand der Polizei, aber gleich-zeitig sind ihm Polizei und Bevölkerung der Stadt ausgelie-fert. All das zusammengenommen führt dazu, daß die allge-meine Wertung der gestuften polizeilichen Eingriffsbefug-nisse von der einfachen körperlichen Gewalt bis zum finalenRettungsschuß für Fallkonstellationen mit den acht eingren-zenden Merkmalen den Vorrang verdient gegenüber dem ab-soluten Verbot der Zwangsanwendung bei Vernehmungen in§ 35 bwPolG. Für diese Situationen kann § 35 bwPolG inseinem Anwendungsbereich teleologisch reduziert werden.

2. Verfassungsrecht

Art. 104 I 2 GG mit seinem Verbot der Mißhandlung festge-haltener Personen scheint diesem Ergebnis auf den erstenBlick zu widersprechen, enthält die Norm doch keinenSchrankenvorbehalt. Auf den zweiten Blick jedoch wirddeutlich, daß der auf der Polizeirechtsebene diagnostizierteWertungswiderspruch in der gleichen Weise im Verfassungs-recht wiederkehrt. Art. 104 I 2 GG hat nur die Interessen desFestgenommenen als hilfloser Person im Auge, und er-scheint in der Anwendung auf Fälle der vorliegenden Art, indenen die Exekutivorgane gleichzeitig dem Festgenomme-nen ausgeliefert sind, ungerecht und absurd. Doch wie stehtes mit der Staatsfundamentalnorm des Art. l I GG, der Men-schenwürde, in deren Licht alle anderen Normen, auch die-jenige des Art. 104 I 2 GG, auszulegen sind? Die Botschaftdes Art. l I GG scheint klar zu sein: Zwingt die Polizei denErpresser zur Informationspreisgabe, benutzt sie ihn nur alsMittel zu einem - wenn auch guten - Zweck, und das ist oh-ne Einschränkung verboten. Die Menschenwürde kommt je-dem Menschen zu, auch dem Störer und vermutlichenStraftäter! Doch bleibt hier schon ausgeblendet, daß der dro-hende Zwang nur dazu dienen soll, den Erpresser in den ihmzustehenden Rechtsraum zurückzudrängen, den er eigen-mächtig und in Verletzung individueller Rechte andererüberschritten hat. Kantisch gesprochen wird der Zwang nurausgeübt, um den Freiheitsgebrauch aller wieder kompatibelzu machen15.

Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß Art. l I GG janicht nur eine unbedingte Achtungsverpflichtung, sondernauch eine unbedingte Schutzverpflichtung der Staatsorganeenthält. Während die Achtungsdimension hier im Sinne ei-ner Unterlassungsverpflichtung gegenüber dem Erpresserwirkt - „Foltere mich nicht!" -, können sich alle Opfer desErpressungsversuchs und der Todesdrohung auf den Schutz-anspruch des Art. 2 II i. V. m. l I GG berufen - „Schütze un-ser Leben! Wir wollen keinen qualvollen Tod erleiden, gegenden die schlimmste Folter nichts ist!" Es steht also körperli-che Integrität gegen körperliche Integrität und Würde gegenWürde, und falls ein solcher Konflikt nicht anderweitig auf-lösbar ist, darf im Zweifel der Staat die Interessen der Opferdenjenigen der Täter überordnen16. Dies muß jedenfalls in

15 Die Anwendung von Zwang in der beschriebenen Situation wäre ausKantischer Sicht, die sich ja stark in der Rechtsprechung des BVerfG zuArt. l GG widerspiegelt, gerechtfertigt - ein für viele sicher überraschen-des Ergebnis. Hierzu näher Brugger (Fn. 5), Abschnitt IV.

Situationen gelten, in denen die staatliche Gewalt durchFestnahme des Täters die privaten Notwehrrechte außerKraft setzt, wegen des staatlichen Gewaltmonopols also denbedrohten Bürgern verbietet, ihr Leben selbst zu schützen17.Im Ergebnis heißt dies, daß Art. 104 I 2 GG im Lichte desArt. l I GG im gleichen Umfang in seinem Anwendungsbe-reich teleologisch reduziert werden darf wie § 35 bwPolGgegenüber den §§ 50 ff. PolG: Soweit die acht Kriterien desAusgangsfalles gegeben skid und ein Konflikt von Würdegegen Würde vorliegt, ist es rechtlich nicht zu beanstanden,wenn die Interessen der Rechtstreuen diejenigen der Rechts-brecher übertrumpfen.

3. Internationales Recht

Die beschränkte Zulassung von Folter steht in Widerspruchzu der klaren Textaussage der Artikel 3 und 15 der Europäi-schen Menschenrechtskonvention, die hier als Repräsenta-tivnormen für alle weiteren im internationalen Recht auf-findbaren absoluten Folterverbote dienen. Wenn die Abso-lutheit des Ausschlusses von Folter (sowie der in Art. 3EMRK genannten foltergleichen Behandlungsweisen) wegendes schon angesprochenen Wertungswiderspruchs zu denLebens- und Würdeinteressen der Bevölkerung relativiertwerden soll, so muß sich der Blick auch hier auf eventuelleGegennormen sowie auf die Atypik des Ausgangsfalles imVergleich mit den von Art. 3 EMRK primär bedachten Situa-tionen richten.

Was den letztgenannten Punkt angeht, so wendet sichArt. 3 EMRK vorrangig gegen autoritäre und totalitäre poli-tische Systeme, deren Repressionsinstrumente traditionelldie Anwendung von Folter umfaßt haben. Wie aber steht esmit der Stoßrichtung der Norm, wenn die Lebens- und Wür-debedrohungen nicht von der organisierten Staatsgewalt,sondern von privaten Akteuren ausgehen, deren Aggressionim konkreten Fall - nach der polizeilichen Festnahme - garnicht mehr von den bedrohten Bürgern, sondern, wennüberhaupt, dann nur noch von den staatlichen Organenzurückgewiesen werden kann? Läge die notwendige Gegen-wehr „nur" in der Vernichtung des Lebens des privaten Ag-gressors durch die Polizei, bestünden keine Bedenken ausder EMRK, wie Art. 2 EMRK deutlich macht, der in Ab-satz l das Recht auf Leben verankert, in Absatz 2 aber fol-gende Einschränkung anbringt: „Eine Tötung wird nicht alsVerletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eineGewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforder-lich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu ver-teidigen ...". Genau diese Wertung bringt § 54 II bw PolGzum Ausdruck, womit wir bei der Frage sind, ob die Aus-

16 Vgl. P. Kirchhof, Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt inAusnahmesituationen, in dem gleichnamigen Band der Deutschen Sektionder Internationalen Juristenkommission (Reihe Rechtsstaat in der Be-währung Band 2), 1976, S. 83, 114: Bei einer Grundrechtskollision von Le-ben gegen Leben „und ähnlichem Extremfall gibt ein weiteres Rechtsgut,der Geltungsanspruch der Gesamtrechtsordnung, den Ausschlag ... Das inGrenzen der Rechtsordnung verbleibende Opfer verdient den vorrangigenSchutz des Staates. Der Angreifer verliert ihn, soweit der Schutz des Opfersdieses fordert."17 Das Problem hier ist, daß durch das Dazwischentreten der Staatsge-walt in Form der Polizei das Lebensschutzniveau erheblich absinkt. Vorherkonnten sich die Bürger auf ihr Notwehrrecht aus § 32 StGB berufen, dasjede zur Gefahrabwendung notwendige Maßnahme rechtfertigt, auch einedurch Zwang herbeigeführte Aussage über das Versteck der Bombe. Nachder Festnahme durch die Polizei ist plötzlich der Störer privilegiert. Seinekörperlichen Integritätsinteressen bekommen Vorrang vor den Lebensin-teressen der Bevölkerung. Wollte diese den Erpresser aus der Obhut derPolizei befreien, müßten die Polizeibeamten den Erpresser notfalls mitSchußwaffen verteidigen.

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wechslung der Rechtsfolge „Tötung" durch „Zwang zurPreisgabe einer lebensrettenden Information" im Rahmender EMRK zu rechtfertigen ist.

Dieses wird man unter Berufung auf die schon bekann-ten Argumente bejahen können. Die Konvention enthält inArt. 3 und 15 einerseits und Art. 2 andererseits zwei unter-schiedliche Wertungen. In der Regel gehen für die Rechtsfol-ge „Folter" und die sonstigen in Art. 3 genannten folterähn-lichen Maßnahmen die erstgenannten, speziellen Artikel mitihren absoluten Verboten vor. In dem hier zugrundegelegtenAusgangsfall verschieben sich jedoch die Wertungsaspekte:Von der Tatbestandsseite aus ist Art. 2 wesentlich differen-zierter und problemspezifischer als der insoweit gänzlichunterscheidungslose, sozusagen fall- und situationsenthobe-ne Art. 3 EMRK. Art. 2 II a EMRK ist insoweit passender,als er zugeschnitten ist auf Aggressionsakte Dritter; ein Staatmuß das Recht haben, alles Notwendige zum Lebens- undWürdeschutz der bedrohten Opfer zu unternehmen, insbe-sondere in einem Fall, in dem er durch die polizeiliche Fest-nahme private Notwehrrechte verdrängt, die ansonsten denkonkreten Akt - Zwang zur Preisgabe der lebensrettendenInformation - erlauben würden. Damit wird die Gefahr po-lizeilicher Übergriffe gerade durch Folterakte nicht geleug-net, Art. 3 und 15 werden nicht konturenlos ausgehebelt.Die Ausnahme betrifft nur eine EMRK-interne Anpassungund Ausgleichung unterschiedlicher Wertungen, die im Textder Art. 3 und 15 nicht angemessen zum Ausdruck kommt.Es liegt eine Wertungslücke vor, die geschlossen werdenkann, wenn man für Fälle mit den acht genannten Merkma-len die Wertung des Art. 2 II a EMRK als vorrangig ansiehtund demgemäß den Anwendungsbereich der Art. 3 und 15EMRK teleologisch reduziert. Das läuft auf einen dem Art. 3EMRK im Geiste hinzuzufügenden Satz 2 hinaus, der in An-lehnung an Art. 2 II EMRK folgende Gestalt hätte: „EineFolter oder sonstige Satz l unterfallende Behandlung wirdnicht als Verletzung dieses Artikels angesehen, wenn sie un-bedingt erforderlich ist zur Beseitigung einer klaren, unmit-telbaren, schwerwiegenden Gefahr für das Leben oder diekörperliche Integrität einer unschuldigen Person. Sie darfnur gegen einen identifizierten Störer angewendet werden,der eine Pflicht zur Gefahrenbeseitigung insbesondere durchPreisgabe von Information hat."18 Im Ergebnis heißt dies,daß in unserem Ausgangsfall die Anwendung von unmittel-barem Zwang durch die Polizei nicht nur im Rahmen der§§ 50 ff. bwPolG möglich, sondern auch durch das Grundge-setz und die Europäische Menschenrechtskonvention ge-rechtfertigt ist.

V. Eine Pflicht zur Anwendung von Folter?

Die bisherigen Darlegungen bezogen sich auf die Frage, obdie staatliche Gewalt in der besagten Situation foltern darf.Wer die Textaussagen der einschlägigen Normen als rechtlichverbindlich und moralisch akzeptabel oder gar gerecht an-sieht, wird „nein" antworten und dann überlegen müssen,wie im Ausgangsfall weiter zu verfahren ist: Soll das Geld ge-zahlt, sollen die rechtskräftig Verurteilten freigelassen, dasFlugzeug und die Geiseln - vielleicht sogar gegen ihren Wil-

18 Die hier vorgebrachten Argumente können entsprechend im Rahmender anderen Rechtsinstrumente vorgebracht werden, die absolute Verbotevon Folter und foltergleichen Handlungen enthalten, vgl, oben Fn. 7. Auchdort ist intern oder, falls nötig, extern in einer anderen gleichrangigen völ-kerrechtlichen Norm nach dem Recht auf Leben und insoweit zugelassenenEinschränkungsmöglichkeiten zu suchen, die in der hier vorliegenden Fall-konstellation Vorrang verdienen.

len - gestellt werden, alles auf die Gefahr hin, daß der Er-presser, einmal in der Luft, das Versteck doch nicht nennt?Oder, falls wir weder foltern noch den Forderungen des Er-pressers nachkommen wollen: Sollen wir alle einen qualvol-len, würdelosen Tod sterben? Wird die Frage dagegen imSinne der Alternativlösung mit „ja" beantwortet, ergebensich zwei weitere Analyseschritte, die in der Eigenart desdeutschen Verfassungsrechts begründet sind. Der ersteSchritt bezieht sich auf die Frage, ob in der besagten Situa-tion Folter nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten wäre.

Dieser auf den ersten Blick überraschende Gedanke wirdnahegelegt durch die in ständiger Rechtsprechung desBVerfG vertretene Ansicht, daß Grundrechte nicht nur Ab-wehrrechte, sondern auch objektive Wertentscheidungenoder Elemente objektiver Ordnung sind19. Das Gericht unddie Verfassungsrechtsdogmätik haben ein ganzes Spektrumvon solchen objektiven Dimensionen entwickelt20, von de-nen hier die Schutzpflichtdimension in Betracht kommt. DieStaatsorgane haben die Grundrechte nicht nur zu achten, in-dem sie selbst keine Grundrechtsverletzungen begehen, son-dern auch angemessen gegen Bedrohungen von dritter Seitezu schützen. Dies gilt schon nach dem-Text des Art. l I GGfür drohende Eingriffe in die Menschenwürde; nach der Ver-fassungsrechtsdogmätik werden staatliche Schutzpflichteninsbesondere dann aktuell, wenn „die Grundrechtsverlet-zung, die sich aus der Grundrechtsgefährdung zu entwickelndroht, irreparabel^ die Entwicklung, die aus der Grund-rechtsgefährdung die Grundrechtsverletzung hervorzubrin-gen droht, unbeherrschbar oder das konflikt- und kollisions-reiche Zusammenspiel der Einzelnen, in dem Grundrechts-verletzungen passieren können, von den Betroffenen nichtautonom regulierbar ist"21. Alle drei Gesichtspunkte kom-men in dem Ausgangsfall zusammen: Drohender Lebensver-lust für die Bevölkerung der Stadt, Unbeherrschbarkeit derEinwirkungen nach der chemischen Explosion, Wegfall au-tonomer Regulierbarkeit des drohenden Schadens (durchBerufung auf das Notwehrrecht) wegen des Dazwischentre-tens der Polizei.

Die Bedeutung des staatlichen Lebensschutzes bei Be-drohungen von dritter Seite ist vom BVerfG mehrmals her-vorgehoben worden, insbesondere in den Abtreibungsurtei-len22. Jedoch bietet sich hier eine noch passendere Entschei-dung als Referenz an - der .Sc/7/e;yer-Entführungsfall aus demJahre 197723. Hanns Martin Schleyer war nach Ermordungseiner Begleitpersonen von Terroristen entführt worden. DieEntführer forderten von der Bundesregierung die Freilas-sung von elf politischen Gesinnungsgenossen, die teils inUntersuchungshaft saßen, teils schon rechtskräftig verurteiltwaren, sowie die freie Ausreise. Bei Nichterfüllung dieserForderungen drohten sie die „Hinrichtung" der Geisel an.Schleyers Sohn stellte daraufhin beim BVerfG den Antrag aufErlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der die Regierungzur Erfüllung der Forderungen der Erpresser verurteilt wer-den sollte. Dies lehnte das BVerfG ab, aber nicht, weil es dieBedeutung des Lebensschutzes für Hanns Martin Schleyergering schätzte. Das Gericht stellte ausdrücklich fest:

„Art. 2 II l in Verbindung mit Art. 112 GG verpflichtet den Staat,jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfas-

19 Seit der Lüth-Entscheidung BVerfGE 7, 198, 204 f. = JZ 1958, 119,120, dazu B. Wälff, S. 202.20 Vgl. repräsentativ B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II,15. Aufl. 1999, §4.21 Pieroth/Schlink (Fn. 20), Rn. 92.22 Vgl. BVerfGE 39, l, 42 = JZ 1975, 205, 208 m. Anm. Kriele; 88, 203,251 = JZ 1993, Anhang nach S. 1172, vgl. dazu Starck JZ 1993, 816.23 Vgl. BVerfGE 46, 160 ff. - JZ 1977, 750.

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send. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor diesesLeben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Ein-griffen von Seiten anderer zu bewahren (BVerfGE 39, l, 42). An diesemGebot haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderenAufgaben, auszurichten. Da das menschliche Leben einen Höchstwertdarstellt, muß diese Schutzverpflichtung besonders ernst genommenwerden."24

Die Ablehnung der einstweiligen Anordnung gründetein der Besorgnis, bei Entgegenkommen in diesem Fall wür-den die Staatsorgane in künftigen Geiselnahmefällen eher er-preßbar und für die Rechtsbrecher berechenbar, so d^ß auflange Sicht gesehen die Rettung des Lebens von Haqm Mar-tin Schleyer mit der Gefährdung vieler anderer potentiellerOpfer erkauft werden würde.

Dies ergibt sicher Sinn. Die Staatsorgane müsseAbwägungen zwischen Einzelwohl und Gesamtwohl treffenkönnen, dementsprechend muß ihnen bei der Wahl der ef-fektivsten Lebensschutzmaßnahme ein Beurteilungs- undErmessensspielraum zur Verfügung stehen, in den Gerichtedurch Interpretation entsprechender Schutzpflichten nichtvoreilig eingreifen sollten. Doch macht das BVerfG eine be-merkenswerte Einschränkung für die Eigenverantwortungder zuständigen Regierungs- und Exekutivorgane:

„Ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zum Schutz des Lebens kannsich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmtenMittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weisenicht zu erreichen ist."25

Im Sc/7/ejer-Entführungsfall lag keine Ermessensredu-zierung auf Null vor, in unserem Ausgangsfall dagegen istdas Ermessen auf Null reduziert: Würde steht gegen Würde,Leben gegen Leben, das einzig erfolgversprechende Mittelzum Schutz der Bewohner der Stadt ist die Anwendung vonZwang gegen den gefaßten Erpresser, um das Versteck derBombe herauszufinden. Zudem trifft die staatlichen Organenoch eine besondere Gewährleistungspflicht zum Lebens-schutz, weil sie durch die polizeiliche Festnahme die priva-ten Notwehrrechte der bedrohten Bevölkerung aushebeln.Damit steht fest: Die Polizei darf in diesem Fall nicht nurfoltern, sie muß es aus verfassungsrechtlichen Gründenauch.

nen überschaubaren, identifizierbaren, aber nicht unbedingtkleinen Personenkreis handelt26.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gege-ben. (1) Wie nach der Alternativlösung dargelegt, darf undmuß die Polizei unmittelbaren Zwang gegen den Erpresseranwenden, um das Versteck der Bombe herauszufinden. Dieeinfachgesetzliche Ermächtigung dazu findet sich in der Stu-fung der polizeirechtlichen Eingriffsbefugnisse in den§§ 50ff. bwPolG, insbesondere in §§ 50, 52 bwPolG. Dieselassen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die Einwirkungauf Personen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittelder körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch zu, undschränken im Ausgangsfall den Anwendungsbereich des § 35bwPolG ein. Diese Erlaubnis wandelt sich schon polizei-rechtlich zur Pflicht, wenn man die Zwecke des Polizeirechtsund die konkret widerstreitenden Interessen berücksichtigt;die Pflicht ergibt sich aber auch grundrechtlich aus der Ge-samtabwägung der Kollision von Würde gegen Würde undLeben gegen Leben des Störers einerseits, der bedrohten Be-völkerung andererseits. (2) Daß diese Pflicht die betroffenenBürger auch begünstigen soll, ergibt sich aus der Schutz-funktion der einschlägigen polizeirechtlichen Aufgaben -Gefahrenabwehr auch im Interesse der Bürger, insbesonderewenn Lebensinteressen betroffen sind - wie auch der gleich-gerichteten grundrechtlichen Schutzzwecke. Damit wirdnicht geleugnet, daß solches Handeln auch grundrechtlicheEingriffe für den Erpresser mit sich bringt, aber diese sind inder beschriebenen Fallsituation gerechtfertigt - der Erpres-ser kann dem Eingriff ohne weiteres ausweichen, durchRückzug in den Bereich legalen Verhaltens, während dieBürger dies nicht können27. (3) Schließlich handelt es sichauch um eine überschaubare Gruppe von Personen - die Be-völkerung der bedrohten Stadt. Damit ergibt sich - ausge-hend von der Alternativlösung der Erlaubnis zur Folter indiesem Fall und aufbauend auf der herrschenden Verwal-tungsrechts- und Verfassungsrechtsdogmatik - der Schluß,daß die betroffenen Bürger hier einen individuellen An-spruch auf Anwendung von Gewalt haben, um das Versteckder Bombe zu erfahren und die Lebensgefahr zu beseitigen.

VI. Ein Recht auf Anwendung der Folter?

Wenn die Polizei in dieser Situation Zwang zur Preisgabe desVerstecks der Bombe nicht nur anwenden darf, sondern so-gar muß - haben dann die in ihren Lebens- und Würdeinter-essen bedrohten Bürger einen individuellen Anspruch aufFolterung? Auch diese zunächst schockierende Frage ist ei-ne, wenn man der herrschenden Dogmatik folgt, naheliegen-de Frage, die zu stellen die Schutznormlehre gebietet. DieseLehre legt die Voraussetzungen fest, unter denen eine Hand-lungspflicht eines Trägers öffentlicher Gewalt - hier der Po-lizei - gleichzeitig zu einem Anspruch der durch die Pflichtbegünstigten Bürger wird. Die Schutznormtheorie wirdbenötigt, weil nicht jeder öffentlich-rechtlichen Pflicht einsubjektivrechtlicher Anspruch des Begünstigten entspricht -es gibt keinen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch.Voraussetzung einer solchen Pflicht-Recht-Transformationist, (1) daß eine Pflicht zu einem bestimmten Handeln be-steht, (2) daß dieses Handeln die Bürger nicht nur objektivbegünstigt, sondern auch begünstigen soll, wobei die Geset-zeszwecke und das Grundgesetz, insbesondere die Grund-rechte zu berücksichtigen sind, ferner (3) daß es sich um ei-

24 BVerfGE 46, 160, 164-JZ 1977,750,751.25 BVerfGE z.z.O., S. 164f.

VII. Abschließende Überlegungen

Das Ergebnis muß verblüffen und, je nach Vor- und Nach-verständnis, entsetzen oder befriedigen. Kein deutsches Ge-richt und kein deutscher Rechtsprofessor hat, soweit ich se-he, seit Inkrafttreten des Grundgesetzes die Zulässigkeit vonFolter explizit vertreten28 oder gar eine Pflicht zur und einRecht auf Anwendung von Folter diagnostiziert. Doch gehtes gar nicht um eine generelle Schwächung der Folterverbo-te, sondern im Gegenteil um deren Stärkung durch Spezifi-zierung und Herausnahme einer Fallgruppe, in der das abso-

26 Vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1997, §8Rn. 8 ff.; E. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV,Rn. 118 ff., 127 ff.; E Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, 11. Aufl. 1998, §42Rn. 83 ff., 117 ff.27 Ein Eingriff läge nicht nur in Art. 104 I 2 GG, sondern auch in Art. l IGG - durch Brechung des Willens - vor, wenn man Art. l I, wie die h. M.das tut, als Grundrecht ansieht. Der Fall zeigt, daß die These, jeder Eingriffin die Menschenwürde sei automatisch eine Verletzung, nicht aufrechtzuer-halten ist. Hierzu W. Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grund-rechte, 1997, S. 9 ff.28 Vgl. aber das Buch des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsi-denten Ernst Albrecht, Def Staat. Idee und Wirklichkeit. Grundzüge einerStaatsphilosophie, 1976, S. 174, und hierzu, unter Diskussion eines ver-gleichbaren Ausgangsfalles, R. W. Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus.Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1988, S. 565. Vgl. zu Reaktionen auf meineoben Fn. 3 und 5 zitierten Artikel unten Fn. 36.

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*D lute Folterverbot zu widersinnigen und ungerechten Ergeb-nissen, zu einem „ethischen Skandalen"29 führen würde.Nicht alle werden diese Einschätzung teilen. Manche oderviele werden sagen: Fiat lex, pereat mundus, und sie könnensich auf den Wortlaut der einschlägigen Rechtsnormen unddie moralische Haltung stützen, daß bestimmte Akte wieFolter so schlimm sind, daß sie verboten sein sollen, wasauch immer die Folgen sein mögen.

Andere, unter ihnen der Verfasser, teilen diese Ansichtnicht. Sie werden, was die moralische Einschätzung vonHandlungen angeht, immer auch auf deren Voraussetzungenund Konsequenzen achten, um dann zu einem abgewogenenGesamturteil zu kommen30. In diesem Fall ist das Urteil klar:Der Erpresser hat die Grenzen des Rechts überschritten, erkann sich und muß sich in das Feld der Legalität zurückbe-wegen. Das ist einfach und unkompliziert möglich und zu-mutbar. All das gilt für die bedrohten Bürger der Stadt unddie Polizisten bzw. die eingeforderten Geiseln nicht: Sie sindder Erpressung und Todesgefahr ausgeliefert. In einer sol-chen Situation den Erpresser zu privilegieren gegenüber denan sich notwehrberechtigten Bürgern, stellt die Gerechtig-keit auf den Kopf. In einem solchen Fall kann man mit demAltbundespräsidenten Roman Herzog sagen: „Auf denErnstfall einer terroristischen ... Erpressung bezogen be-deutet das: Wenn der Staat als zu schwach erscheint, die eige-ne Werteordnung zu verteidigen, dann zerstört er das Ver-trauen derer, die ihn gerade mit dieser Schutzfunktion beauf-tragt haben; niemand stattet einen schwachen Garanten mitstarken Rechten aus."31

Was die Umgehung des Wortlauts der zitierten Zwangs-anwendungs- und Folterverbote angeht, so ist dies sicher be-denklich unter Gesichtspunkten der Rechtssicherheit undGewaltenteilung: Klare Gesetzesgebote sollten eigentlich

<; immer beachtet werden! Doch ist die Kategorie der Wer-tungslücke bzw. besser des Wertungswiderspruchs geradedazu entwickelt worden, um solche Spannungslagen zu be-

, wältigen. Nur wenn der Widerspruch einer Gesetzesnormzu den Gesetzeszwecken oder eines Gesetzes zu Recht und

' Gerechtigkeit deutlich und intensiv ist, kommt eine solcheinterpretative Fortbildung des Rechts in Betracht. DasBVerfG selbst hat in der Soraya-Entscheidung, in der es sichrechtsfortbildend über eine klare Bestimmung des Bürgerli-chen Gesetzbuches hinwegsetzte, betont:

„Dem unter Entscheidungszwang stehenden Richter [und, man er-gänze in diesem Fall, Polizisten] kann ... kein Vorwurf gemacht wer-den, wenn er zu der Überzeugung gelangt, er dürfe nicht im Vertrauenauf eine noch ganz Ungewisse künftige Intervention des Gesetzgebersformale Gesetzestreue auch um den Preis einer erheblichen Einbuße anGerechtigkeit üben."32

„Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Geset-ze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kannunter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der

29 So R. W. Trapp, in: /. Nida-Rümelm/W. Vossenkubl (Hrsg.), Ethischeund politische Freiheit, 1998, S. 447, 463.30 Erstere würde die Rechtsphilosophie als Deontologen, letztere alsKonsequentialisten ansehen. Man kann auch an Max Webers Unterschei-dung von Gesinnungs- und Verantwortungsethikern denken.31 Ansprache des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog bei derGedenkveranstaltung aus Anlaß der 20. Wiederkehr des Todestages vonHanns Martin Schleyer am 18. 10. 1997, Veröffentlichungen der HannsMartin Schleyer-Stiftung, Band 50, S. 29, 36 f. Auf S. 35 findet sich eine et-was andere Formulierung: „Die Idee des Rechtsstaats ist mehr als ein Or-ganisationsschema. In ihm bündelt sich die Erfahrung, daß staatliche Machtmißbraucht werden kann und daß deshalb Vorkehrungen zu ihrer Begren-zung zu treffen sind . . . [Dies] sind die in einem freiheitlichen Staatschlechthin konstituierenden Merkmale, die weder unter Effizienzgesichts-punkten modifizierbar noch durch subjektive Gerechtigkeitserwartungendes einzelnen Bürgers relativierbar sind."32 BVerfGE 34, 269, 292 = JZ 1973, 662, 667 m. Anm. Kühler.

verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt unddem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag... Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern,Wertvorstellungen, die der verfassungsgemäßen Rechtsordnung imma-nent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur un-vollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewerten-den Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Lichtzu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sichdabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationalerArgumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden, daß dasgeschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lö-sen, nicht erfüllt."33

Die absoluten Folterverbote sind in der diskutiertenFallkonstellation ungerecht. Sie aufrechtzuerhalten, unter-gräbt das Vertrauen der Bürger in die Rechtsordnung als Sy-stem gegenseitiger Sicherheit und Freiheit. Sie für die ange-sprochene Fallgruppe zu beschränken, würde das Gleichge-wicht wieder herstellen. Damit wird nicht der Maxime „Notkennt kein Gebot" das Wort geredet. Im Gegenteil geht esum eine Rechtsabwägung und Spezifizierung der Ausnah-mesituation, damit nicht die eine Ausnahme zu vielen Aus-nahmen mutiert und der Grenzfall plötzlich der Regelfallwird34. Daß die Auslegung der acht Tatbestandsmerkmaleder Ausnahmekonstellation, die ja zum großen Teil aus demPolizei- und Ordnungsrecht bekannt sind, im Einzelfallschwierig ist, wird nicht geleugnet, aber das ist bei jedem„hard case" der Fall. Vielleicht sind auch die acht Tatbe-standsmerkmale zu eng oder zu weit35? Ohne eine argumen-tative Klärung läßt sich das nicht sagen.

Gegen eine solche Diskussion gibt es allerdings eminentstarke Widerstände. In Deutschland gründen diese vermut-lich in der Erfahrung des Dritten Reiches, das nach wie voreinen langen und düsteren Schatten auf Themen wie Folterwirft und faktisch oft als Diskussionstabu wirkt bzw. das Er-gebnis differenzierungslos vorherbestimmt. Im Völkerrechtist wohl die Befürchtung vorherrschend, die Zulassung auchnur einer Ausnahme von den absoluten Folterverboten wür-de den mühsam errichteten Damm gegen staatliche Barbareizerstören und die errungenen Fortschritte zunichte machen.Diese allgemeine Befürchtung ist nicht von der Hand zuweisen. Aber ist das ausreichend Grund, konkrete Entschei-dungen erdulden zu müssen, von denen wir wissen, daß sie

33 AaO, S. 287. Diese Kriterien finden sich auch in der Literatur wieder.Vgl. Zippelius (Fn. 8), §13 III, S. 76 f.; Larenz (Fn. 8), S. 400; Kramer(Fn. 8), S. 165.34 Von den genannten Kriterien ausgehend, ist zum Beispiel klar, daß indem vom EuGHMR entschiedenen Fall Republik Irland gegen VereinigtesKönigreich die Anwendung der sogenannten „Fünf Verhörtechniken" ge-gen inhaftierte IRA-Mitglieder nicht zulässig war. Dort gab es nur vageVerdachtsmomente auf terroristische Akte, und es fehlte an der Unmittel-barkeit der Gefahr. Im Ergebnis besteht damit kein Unterschied zur Ent-scheidung des EuGHMR, der diese Behandlungsmethoden als folterähn-lich im Sinne des Art. 3 EMRK eingestuft hat: Entscheidung vom 18. 1.1978, EGMR 26, 65 ff. Zu weiteren Fällen, die der hier diskutierten Kon-stellation nicht entsprechen, Brugger (Fn. 5), S. 274 Fn. 20, 94 Fn. 90. Dievom israelischen Supreme Court angesprochenen „ticking time bomb situa-tions" (Fn. 13) werden in dem Abschnitt „Physical Means and the ,Neces-sity' Defence" wie folgt beschrieben: „[A suspect] holds information res-pecting the location of a bomb that was set and will imminently explode.There is no way to diffuse the bomb without this information. If the infor-mation is obtained, however, the bomb may be diffused. If the bomb is notdiffused, scores will be killed and maimed." Die hier genannten acht Fall-merkmale spezifizieren diese Fälle, ferner wird ein Vorschlag unterbreitet,wie mit diesen Fällen auf völkerrechtlicher Ebene verfahren werdenkönnte. *35 Sollte die Zahl der Bedrohten entscheidend sein oder reicht unter dengenannten Umständen, wie hier vertreten, ein Konflikt von einem Störergegen ein Opfer aus? Sollte es, wie § 52 I bwPolG nahelegt, auch auf Alterund Geisteszustand des Störers ankommen? Sollte, wie im Polizeirecht all-gemein, das Ausmaß der drohenden Gefahr die Strenge der Unmittelbar-keitsprüfung oder gar andere der acht Faktoren beeinflussen?

Page 9: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? · 2014. 7. 10. · Folter darf wirklich nie, und Folter darf ausnahmsweise doch angewendet werden! II. Das absolute

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ungerecht sind und uns das Leben kosten können? Wenn dieRechtswissenschaft Wissenschaft von Gesetz, Recht und Ge-rechtigkeit sein will, dann muß sie die Kraft zur Unterschei-dung aufbringen und darf sich nicht vor den heikelsten Pro-blemen drücken. Daß durch die Zulassung von Folter in derhier diskutierten Fallkonstellation die Zivilität des Rechts er-hebliche Einbußen hinnehmen würde, steht außer Frage.Aber außer Frage steht auch, daß in einer Lage, in der mitBarbarei auf jeden Fall zu rechnen ist, was immer man tut,das Recht sich besser auf die Seite der Opfer als der Täterstellen sollte. Dies deutlich und unmißverständlich zumAusdruck zu bringen, im nationalen wie internationalenRecht, wäre trotz der unleugbaren Verluste ein Gewinn anGerechtigkeit und Rechtssicherheit, für alle Betroffenen,von potentiellen und faktischen Rechtsbrechern über dieBürger bis zu den Polizisten, auf deren Rücken dieser Wer-tungskonflikt ansonsten ausgetragen wird.

Trotzdem ist mit einer Änderung der Rechtslage im deut-schen und internationalen Recht nicht zu rechnen36.Deutschland mit seiner Vergangenheit ist, wie die bisherigeNichtbehandlung dieses Themas jedenfalls in Form vonrechtswissenschaftlichen Fallanalysen zeigt37, kaum willens,

36 Anders ist die Lage in Israel, wo nach der oben Fn. 13 zitierten Ent-scheidung des Supreme Court eine Entscheidung des Parlaments nicht aus-zuschließen ist.37 An apodiktischen Aussagen zum absoluten Verbot von Folter dagegenbesteht kein Mangel. Vgl. repräsentativ A. Podlech, in: Alternativkommen-tar zum GG, 1984, Art. l I Rn. 73: Eine „Folterung [ist] auch nicht zurRettung anderer Menschen, z. B. einer Geisel, erlaubt." Siehe aber nunmehr

hier vorzupreschen. Im Völkerrecht herrschen die genanntenWiderstände gegen eine Textänderung vor. Wie die einschlä-gigen ausführlichen Rechtsakte zeigen, sollen im Gegenteildas Unwerturteil über jede Art von Folter oder folterähnli-cher Behandlung verstärkt sowie die Sanktionierung vonVerstößen festgezurrt werden. Wenn somit die eigentlich ge-botene Textänderung nicht eintreten wird, tritt vielleicht einpsychologischer Vorteil der hier angebotenen interpretativenAusweichstrategie vor Augen, mit der nationale und interna-tionale Juristen, die Sympathie für die hier entwickelte Al-ternativlösung haben, leben können: Wir halten die absolu-ten Verbote aufrecht, um Folter möglichst stark zu tabuisie-ren und die zuständigen Exekutivorgane möglichst effektivvon ihrer Praktizierung abzuschrecken. Gleichzeitig hoffenwir aber, daß für den Fall des Eintretens der geschildertenAusnahmesituation die Amtswalter das Richtige und Ge-rechte tun würden, nämlich Zwang zur Informationspreisga-be anwenden. Wir erwarten dann auch, daß der moralisch-politische Druck zum Schutz dieser Amtswalter übermäch-tig wäre. Und wir wissen, daß das zumindest von dem Er-presser angerufene nationale oder internationale Gerichtdann interpretativ Wege finden würde, für diese Fallgruppe,aber auch nur für diese, die notwendige Zwangsanwendungals gerechtfertigt anzusehen.

T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, §23 12,S. 173 und C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner GG,4. Aufl. 1999, Art. l I Rn. 71, die der hier vorgeschlagenen Lösung desKonflikts zuneigen.

Professor Dr. Thomas Würtenbergerund Dr. Michael Fehling, LL.M., Universität Freiburg i. Br.

Zur Verfassungswidrigkeit des Curricularnormwertesfür das Fach Rechtswissenschaft

Die Aufnahmekapazität der rechtswissenschaftlichenFakultäten wird nach dem Curricularnormwert (CNW)bestimmt. Dieser drückt in einer kompliziertenmathematischen Formel den Aufwand aus, den dieAusbildung eines Studierenden an Lehrveranstaltungs-stunden verursacht (Lehraufwand). Je höher dieserLehraufwand und damit der CNW für einen Studiengangfestgesetzt ist, desto günstiger ist das Zahlenverhältniszwischen Lehrenden und Lernenden; mit anderen Worten:um so weniger Studierende kommen auf einen Lehrenden.Da der CNW für das rechtswissenschaftliche Studium mit1,7 im Vergleich zu den anderen Studienfächern den weitausniedrigsten Wert aufweist, müssen mit dem gegebenenStand an Lehrpersonal deutlich mehr Studierende als inanderen Fächern ausgebildet werden. Das Fach Rechts-wissenschaft weist so das schlechteste Betreuungsverhältnisaller Studienfächer auf.

Seit einigen Jahren wird mit Sorge beobachtet, daß die Juri-sten auf dem Arbeitsmarkt zunehmend schwerer zu vermit-teln sind, und wird eine gesellschaftspolitisch unerwünschte„Juristenschwemme"1 befürchtet. Dies führt zu Überlegun-

gen, die Ausbildungskapazitäten der Juristischen Fakultätenabzusenken. Zu diesem Zweck hat die Strukturkommissiondes Landes Baden-Württemberg vorgeschlagen, die Ausbil-dungskapazität der Juristischen Fakultäten dadurch um20 % zu verringern, daß der entsprechende Prozentsatz vonHochschullehrer- sowie Assistentenstellen in den Fakultätengestrichen wird2. Die negativen Folgen dieses derzeit in Um-setzung befindlichen Vorschlages liegen auf der Hand. Stel-lenstreichungen lassen die Forschungsschwerpunkte, aberauch Schwerpunkte in der Ausbildung verkümmern. Sokann das Wahlfachprogramm derzeit nur eingeschränkt,nach weiteren Stellenstreichungen, wie sie derzeit in Baden-Württemberg vollzogen werden, kaum noch angeboten wer-den. Von der Hochschulstrukturkommission des Landes Ba-den-Württemberg wird bei ihrem Vorschlag übersehen, daßein vergleichbares Ergebnis bereits durch eine Änderung desCNW im Fach Rechtswissenschaften erreicht werden kann.Wenn Abbau von Ausbildungskapazität im Fach Rechtswis-senschaften politisches Ziel ist, so liegt es nahe, sich zunächst

1 Ca. 180.000 Juristen im Erwerbsleben stehen fast 135.000 Studierende

und Referendare gegenüber. Jährlich drängen zwischen 10.000 und fast12.000 angehende Juristen auf einen Arbeitsmarkt, der weitgehend gesättigtist (Schöbet JA 1999, 805, 808).2 Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst BW (Hrsg.), Ab-schlußbericht der Hochschulstrukturkommission BW, 1998, S. 217.

Jörg
Professor Dr. Thomas Würtenberger und Dr. Michael Fehling, LL.M., Universität Freiburg i. Br. Zur Verfassungswidrigkeit des Curricularnormwertes für das Fach Rechtswissenschaft Die Aufnahmekapazität der rechtswissenschaftlichen Fakultäten wird nach dem Curricularnormwert (CNW) bestimmt. Dieser drückt in einer komplizierten mathematischen Formel den Aufwand aus, den die Ausbildung eines Studierenden an Lehrveranstaltungsstunden verursacht (Lehraufwand). Je höher dieser Lehraufwand und damit der CNW für einen Studiengang festgesetzt ist, desto günstiger ist das Zahlenverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden; mit anderen Worten: um so weniger Studierende kommen auf einen Lehrenden. Da der CNW für das rechtswissenschaftliche Studium mit 1,7 im Vergleich zu den anderen Studienfächern den weitaus niedrigsten Wert aufweist, müssen mit dem gegebenen Stand an Lehrpersonal deutlich mehr Studierende als in anderen Fächern ausgebildet werden. Das Fach Rechtswissenschaft weist so das schlechteste Betreuungsverhältnis aller Studienfächer auf. Seit einigen Jahren wird mit Sorge beobachtet, daß die Juristen auf dem Arbeitsmarkt zunehmend schwerer zu vermitteln sind, und wird eine gesellschaftspolitisch unerwünschte „Juristenschwemme"1 befürchtet. Dies führt zu Überlegungen, die Ausbildungskapazitäten der Juristischen Fakultäten abzusenken. Zu diesem Zweck hat die Strukturkommission des Landes Baden-Württemberg vorgeschlagen, die Ausbildungskapazität der Juristischen Fakultäten dadurch um 20 % zu verringern, daß der entsprechende Prozentsatz von Hochschullehrer- sowie Assistentenstellen in den Fakultäten gestrichen wird2. Die negativen Folgen dieses derzeit in Umsetzung befindlichen Vorschlages liegen auf der Hand. Stellenstreichungen lassen die Forschungsschwerpunkte, aber auch Schwerpunkte in der Ausbildung verkümmern. So kann das Wahlfachprogramm derzeit nur eingeschränkt, nach weiteren Stellenstreichungen, wie sie derzeit in Baden- Württemberg vollzogen werden, kaum noch angeboten werden. Von der Hochschulstrukturkommission des Landes Baden- Württemberg wird bei ihrem Vorschlag übersehen, daß ein vergleichbares Ergebnis bereits durch eine Änderung des CNW im Fach Rechtswissenschaften erreicht werden kann. Wenn Abbau von Ausbildungskapazität im Fach Rechtswissenschaften politisches Ziel ist, so liegt es nahe, sich zunächst 1 Ca. 180.000 Juristen im Erwerbsleben stehen fast 135.000 Studierende und Referendare gegenüber. Jährlich drängen zwischen 10.000 und fast 12.000 angehende Juristen auf einen Arbeitsmarkt, der weitgehend gesättigt ist (Schöbet JA 1999, 805, 808). 2 Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst BW (Hrsg.), Abschlußbericht der Hochschulstrukturkommission BW, 1998, S. 217.