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Swiridoff Menschenbilder im Fokus der Sammlung Würth Von Kopf bis Fu ß

Von Kopf bis Fuß - swiridoff.de · tigen, deren Gesamtbestand von mehr als lp.kkk Werken sich so viel- fältig präsentieren lässt. War es vor einem Jahr noch die Ausstellung Waldeslust

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Swiridoff

Menschenbilder im Fokus derSammlungWürth

Von Kopfbis Fuß

C. Sylvia Weber 7 Vorwort

Beate Elsen-Schwedler 11 Von Kopf bis Fuß – Menschenbilder im Fokus der Sammlung Würth

Werner Spies 23 Der Leib unter der Lupe24 Endzeit – Malen und Zeichnen ohne Worte

27 Katalog

Beate Elsen-Schwedler 27 1 Das Maß aller Dinge: Idealbilder41 2 Frauenzimmer und Mannsbilder63 3 Puppen und andere Stellvertreter77 4 Persönliche Angelegenheiten:

Das Porträt in Moderne und Gegenwart93 5 In eigener Sache: Selbstbildnisse107 6 Der allegorische Körper123 7 Leibhaftig: Die Sprache des menschlichen Körpers135 8 »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?«147 9 Hommagen, Adaptionen und Wahlverwandtschaften161 10 Befreiung von der Ähnlichkeit: Abstrakte Porträts185 11 Der gestikulierende Körper191 12 Das ewig Weibliche: Metamorphosen der Eva211 13 Der Körper im Nachklang

217 Künstlerbiografien

253 Autoren

254 Fotonachweis

255 Bildrechte

256 Impressum

Inhalt

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Einblick in die AusstellungJosé de Gumarães – Mondi,Corpi e Anima (José deGumarães –Welten, Körperund Seele) im Art ForumWürth Capena (2010/11)

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C. Sylvia Weber

Vorwort

Wenn Musetta in Giacomo Puccinis Oper La Bohème sich,um ihren Geliebten Marcello zurückzugewinnen, in eherschüchterner Stimmlage daran freut, von Kopf bis Fuß vonallen bewundert zu werden, oder Marlene Dietrich unsheute noch mit ihrer verrucht dunklen und betörendenStimme überzeugt, »von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

zu sein und sonst gar nichts« (1930), so umreißen diese bei-den Protagonistinnen kurz und bündig den Kontext, worum

es uns in der Herbstausstellung unserer Sammlung dieses Malgeht. Wir konnten ein Alphabet von 134 Künstlerinnen und Künstlernder Sammlung Würth zusammenstellen, deren Werke sich – zugegeben –mit weit mehr als nur diesen Positionen des Menschbildes auseinander-setzen.

So befand sich einst der legendäre Regisseur Billy Wilder zusammen mitseinem Freund und Schauspieler Walter Matthau in der Diskussion überdie extravagante Hollywood-Ikone und Gourmandise Marilyn Monroe– sie liebte kostspielige Restaurants über alles –, wie sie sich denn ihregemeinsame Freundin teilen könnten. Billy Wilder hatte die praktischeLösung: Walter nimmt die Hälfte, die isst!

Wir sind nun, so hoffen wir, demgegenüber mit unseren 13 Kapitelnweitaus tiefer in die Menschenbilder, die die Künstler im wahrsten Sinnedurch ihre Werke verkörpern, und in die Leibhaftigkeit der Darstellungdes Menschen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in der Samm-lung Würth eingedrungen:

1 Das Maß aller Dinge: Idealbilder2 Frauenzimmer und Mannsbilder

(warum eigentlich nicht: Frauenbilder und Mannszimmer?)

3 Puppen und andere Stellvertreter4 Persönliche Angelegenheiten:

Das Porträt in Moderne und Gegenwart5 In eigener Sache: Selbstbildnisse6 Der allegorische Körper7 Leibhaftig: Die Sprache des menschlichen Körpers

José de GumarãesCabeça com dentes e lingua (Kopf mit Zähnen und Zunge), 1974Teil des Afrikanischen Alphabets mit 132 SymbolenAcryl auf Holz38 x 40 x 2 cmSammlung Würth, Inv. 14707

José de GumarãesPé com trés dedos (Fuß mit drei Zehen), 1974Teil des Afrikanischen Alphabets mit 132 SymbolenAcryl auf Holz33,5 x 34 x 2 cmSammlung Würth, Inv. 14690

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8 »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?«9 Hommagen, Adaptionen und Wahlverwandtschaften10 Befreiung von der Ähnlichkeit: Abstrakte Porträts11 Der gestikulierende Körper12 Das ewig Weibliche: Metamorphosen der Eva13 Der Körper im Nachklang

Denn es ist in der Tat eine Wonne, sich mit einer Sammlung zu beschäf-tigen, deren Gesamtbestand von mehr als 15.000 Werken sich so viel-fältig präsentieren lässt.

War es vor einem Jahr noch die Ausstellung Waldeslust – Bäume undWald in Bildern und Skulpturen der Sammlung Würth, die die Besucherebenfalls mit rund 330 Kunstwerken in der Kunsthalle Würth opulentund facettenreich von den Schöpfungsmythen bis zum Wald als erbauli-chem Ort führte, haben wir nun die eigene Kollektion auf Menschen-bilder hin hinterfragt und untersucht und sind, wie wir finden, mit weitüber 200 Exponaten zu einem ganz anschaulichen Ergebnis gekommen,das seinen Ausgangspunkt durchaus schon vor 1900 findet – lassen Siesich überraschen!

Dass dies alles überhaupt möglich ist, verdanken wir Reinhold Würthund seiner Passion zu sammeln, die uns eine Auswahl zu treffen ermög-lichte. Unser Ziel im Besonderen war es, noch nie oder seltener Gesehe-nes aus den Beständen vor Augen zu führen. Ergänzend zeigen wirWerke, die sich in der Sammlung ebenfalls zu diesem Thema finden las-sen, und Vertrautes in einer digitalen Präsentation innerhalb der Aus-stellung.

David Hockney, einem der größten Porträtisten unserer Zeit, dankenwir besonders für seine ganz aktuellen iPad-Selbstporträts, 2012 geschaf-fen, die unsere Schau ungemein bereichern. Eigens für diese Ausstellunghat er sie uns zusammen mit einem Film als Leihgabe eszur Verfügunggestellt.

Beate Elsen, die weite Teile der Konzeption übernommen hat, und ichdanken des Weiteren sehr herzlich:

Kirsten Fiege und Evelyn Aufrecht für ihre sorgfältige Betreuung derKatalogarbeiten und die große Umsicht bei diesem Projekt sowie

Peter Langemann und Danièle Appel für die gewohnt professio-nelle und terminorientierte grafische Umsetzung des Katalogs.

Stefanie Volz und ihrem Team in der Kunsthalle Würth, ins-besondere in der Verwaltung und am Shop, danken wir herzlich

für den großartigen und engagierten Facelift im Shop. Denn vorwenigen Tagen erst, nach einem heißen Sommer, endete eine der

C. Sylvia Weber

José de GumarãesGrande pé com quatro dedos e seis perforaçõ (Großer Fuß mit vierZehen und sechs Löchern), 1972Teil des Afrikanischen Alphabets mit 132 SymbolenAcryl auf Holz25 x 44 x 2 cmSammlung Würth, Inv. 14698

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erfolgreichsten Ausstellungen bei Würth – MEXICANI-DAD – mit über 150.000 Besuchern in viereinhalbMonaten. 50.000 Gäste zählten wir alleine in den letz-ten sechs Wochen vor Ausstellungsende.

Christoph Behr, Christoph Bueble und dem ganzenUmbau- und Restauratorenteam drücken wir unse-re Anerkennung aus – die Zeit zwischen beiden Aus-stellungen war bei diesem Wechsel eher knappbemessen und spricht für aller Engagement!

Lun Tuchnowski, der auch dieses Mal die großartige Einrichtungder Ausstellung besorgte, gemeinsam mit Andreas Ilg, danken wir fürsein ungebrochenes Engagement für die Dinge bei Würth und seine über-zeugende Kreativität bei allen Neuinszenierungen.

Werner Spies, der sich wieder einmal in gewohnter Spontaneität undmit großer Begeisterung für unsere Sache gewinnen ließ, gebührt unsereDankbarkeit von Herzen.

Bernadette Schoog schließlich danken wir für die Textbeiträge zu unse-ren Audiophone-Führungen sowie Maria Theresia Heitlinger für diePresse- und Öffentlichkeitsarbeit, dem gesamten Führungspersonal, des-sen intelligente Kunstvermittlung wir stets zu schätzen wissen, genausowie dem gesamten Team der Sicherheit und Aufsicht.

Zuallerletzt und besonders dankbar möchten wir jedoch die Kollegender Geschäftsleitung der Adolf Würth GmbH & Co. KG nennen: Wirwissen Ihr Vertrauen in unsere Arbeit sehr zu schätzen.

Vorwort

José de GumarãesCabeça con lingua(Kopf mit Zunge), 1972Teil des Afrikanischen Alphabets mit 132 SymbolenAcryl auf Holz25 x 44 x 2 cmSammlung Würth, Inv. 14703

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Leonhard KernGefesselter Sklave, 1645Birnbaumholz, vollrund geschnitzt26,5 x 19 x 12 cmSammlung Würth, Inv. 14905

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Von Kopf bis Fuß – Menschenbilder im Fokus der Sammlung Würth

Beate Elsen-Schwedler

Nachdem das Museum Würth bereits vor 17 Jahren den Blick hinterden Spiegel1 der Künstler warf und sich vornehmlich dem Porträt wid-mete, vermaßt nun die Kunsthalle Würth nochmals den ganzen Men-schen und widmet seinen diversen Implikationen im Fokus modernerund zeitgenössischer Kunst verstärkte Aufmerksamkeit.

Auf 2600 Quadratmetern entfaltet sich eine Art »szenischer Diskurs«über die Wandlungen und Konstanten des Menschenbildes. Von Kopfbis Fuß – Menschenbilder im Fokus der Sammlung Würth führt zwarbisweilen auch bekannte Inkunabeln der Sammlung neuen Betrach-tungsweisen zu. Der größere Teil der Exponate, darunter spektakuläreNeuerwerbungen, war aber bislang noch nicht in der Kunsthalle Würthzu sehen.

Obwohl der Fokus – bei einer Sammlungsausstellung unseres Hausesnaturgegeben – auf die vergangenen 120 Jahre gerichtet ist, stellen wirLeonhard Kerns idealisierten Gefesselten Sklaven von 1645 unserer Aus-stellung voran. Denn er stammt aus einer Zeit, in der zwischen Artifi-cialia und Naturalia, zwischen menschlicher und göttlicher Schöpfungnoch keine trennscharfe Grenze verlief – ähnlich wie auch heute ange-sichts digitaler und chirurgischer Bearbeitungsmöglichkeiten der Erschei-nung die Grenzen zwischen dem Naturgegebenen und dem von Men-schenhand Manipulierten wieder fließend geworden sind. So fließend,dass längst die Rede vom postbiologischen Zeitalter ist. Von den dis-kursiven soziologischen Grenzen des Geschlechts bei Judith Butler undanderen, die »das biologische Geschlecht (lediglich) als phantasmati-sches Feld kultureller Identität« deklarieren, ganz zu schweigen.2

Doch natürlich gibt es große Unterschiede in der Rezeption des »ge -mach ten Körpers«. Der antike idealisierte menschliche Körper wurde inder Regel nicht individuell aufgefasst, sondern als Personifikation undAllegorie eines übergeordneten abstrakten Bedeutungszusammenhangs.Als solche waren seine bildhaften Manifestationen weniger Ab- als Vor-bild. In der zeitgenössischen Kunst hingegen verblasst die Beschäftigungmit den göttlichen Tugenden zugunsten einer Hinwendung zum Men-schen und seinem Verhältnis zur materiellen und sozialen Umwelt. Dabeiinteressieren nicht nur mögliche Erfolge des Menschen, sondern häufigauch das Gegenteil, sein Scheitern beziehungsweise die Differenz zwi-

1 Der Blick hinter den Spiegel. Bildnisse und Selbstbildnisse inder Sammlung Würth, Ausst.-Kat.Museum Würth, hrsg. von C. Sylvia Weber, Sigmaringen 1995.

2 So unternimmt Judith Butler imletzten Kapitel ihres Werks DasUnbehagen der Geschlechter denVersuch, die Vorausgesetztheitdes Körpers auf ganzer Linie zuhinterfragen. Gleichzeitig zeigt sieauf, dass die körperliche Morpho-logie nie einfach nur gegeben ist,sondern im Moment ihres Gege-benseins immer schon die Schriftder jeweiligen Kultur aufweist,sodass es, laut Butler, überhauptkeinen lesbaren intelligiblen Kör-per geben kann. Das umfasstetwa die Bestimmung von Körper-grenzen, die Unterscheidung zwischen innen und außen desKörpers, die Festlegung erogenerZone in erlaubte und nichterlaubte oder auch Reinheits- und Säuberungsrituale, die denKörper als kulturellen Text aus-machen. Judith Butler, »LeiblicheEinschreibungen, performativeSubversionen«, in: Das Unbe ha-gen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1990, S. 190–208.

schen Anspruch und Wirklichkeit, was dem einen als menschliche Tra-gödie, dem anderen auch als Komödie erscheinen mag.

In Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse etwa lesen wir, dassim Menschen »Geschöpf und Schöpfer vereint« seien, nämlich »Stoff,Bruchstück, Überfluss, Koth, Unsinn, Chaos« – wie Nietzsche unbarm-herzig offenlegt – und »Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte« – also künst-lerisch-integrative Fähigkeiten.3 Als tapfer Erkennender entdecke derMensch den Leib, als Künstler müsse er sich der Herausforderung derTriebintegration stellen und seine Fähigkeit zur regelgerechten, hand-werklich sauberen Verarbeitung und Beherrschung seines »Materials«,das heißt aller Bestrebungen, Wünsche, Leidenschaften und Affektebeweisen. Diese Forderung blickt durchaus auf eine lange Traditionzurück, denn bereits das Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhundertsreflektierte die seinerzeit noch gegenwärtige Idealisierung des Körpersder humanistischen Tradition mit einer zur Schau gestellten eigenen Dis-ziplinierung des Körpers, jedoch immer noch mit dem Ziel, diesen dem

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3 Friedrich Nietzsche, Aphorismus-Nummer 225, in: Jenseits vonGut und Böse (Friedrich Nietz-sche: Sämtliche Werke. KritischeStudienausgabe in 15 Bänden, Bd. 12), hrsg. von Giorgio Colliund Mazzino Montinari, Mün-chen/Berlin/New York 1999, S. 165.

Beate Elsen-Schwedler

Pablo PicassoLe corsage orange – Dora Maar (Die orangefarbene Bluse –Dora Maar), 1940Öl auf Leinwand73 x 60 cmSammlung Würth, Inv. 3034

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Von Kopf bis Fuß

wie auch immer gearteten Ideal anzugleichen. Zeitgenössische Künstlerhingegen warten oftmals mit Darstellungen auf, die dieses Ideal aufge-geben haben und stattdessen seelische und körperliche Spannungen zumAusdruck bringen.

Auch das traditionelle künstlerische Ideal der Ähnlichkeit wird dabeinicht selten über Bord geworfen. So ging etwa Dora Maar, die wohlberühmteste Muse Pablo Picassos, die sich dem Künstler hin- und sichselbst dabei aufgab, als die »weinende Frau« in die jüngere Kunstge-schichte ein. Der Künstler hatte an ihr eine Aura des Düsteren, desSchmerzes entdeckt. Diese zwang ihn, wie er selbst sagte, sie in verzerrtenFormen zu malen. Und tatsächlich erscheint ihr Porträt, als habe derKünstler den Schmerz, der den Subtext des Bildes liefert, in seine Ein-zelteile zerlegen wollen. Dass die Formverzerrungen zugleich die for-male Antwort auf die intellektuelle »Eckigkeit« und Sprödigkeit der Por-trätierten sind, wie Werner Spies weiß,4 rückt eine weitere Dimensiondes Gemäldes in den Fokus. Dass Picasso sich zudem zeitlebens auf weni-ge Modelle beschränkte, entband ihn von der Aufgabe, die Identifikati-on der jeweils Dargestellten nicht mithilfe einer physiognomischen Ähn-lichkeit, sondern mithilfe von physischen Konstanten zustande zu brin-gen.5 Der Dora zugeordnete Schmerz jedenfalls wird auch angesichtsder leuchtend orangefarbenen Bluse, die sie trägt, nicht geringer. JeanDubuffet, Klaus Zylla, ja selbst Arnulf Rainer partizipierten noch ander Idee der vermeintlichen déformation des Spaniers, die indes viel eher»Freilegung« meint und wie so viele seiner Bildideen unsere Vorstellun-gen von Bild und Abbild grundlegend verändern sollte.

Wenn Rainer, der sich seit den 1950er-Jahren immer wieder mit demThema Mimik und physiognomischen Studien auseinandergesetzt hat,zum Beispiel seine in öffentlichen Fotoautomaten produzierten klein-formatigen Selbstbildnisse in Form von Fratzen, Grimassen, Visagen miteingefrorenem Ausdruck, aufgerissenem Mund oder irrem Lächeln über-malt, zeigt er sein Gesicht im Ausnahmezustand, nicht ruhig entspannt,nicht stumm, sondern schreiend, verschoben oder auch entrückt. Seineals Face Farces titulierten Übermalungen vom Ende der 1970er-Jahreübernehmen dabei zwei Aufgaben. Zum einen dienen sie der zumindestpartiellen Auslöschung des eigenen Porträts und der Zerstörung des vor-gefundenen Bildes, zum anderen lassen sie den offenbar rauschhaftenmalerischen Entstehungsprozess nachvollziehen, der bekanntermaßenauch auf der Einnahme von Psychostimulanzien beruhte.

Und wenn Dubuffet seine Dame blanche, einen großen, runden, schmut-zig-weißen Kopf auf schmalem Rumpf vor dunklem Hintergrund – wedernach der Natur gezeichnet noch karikierend angelegt –, auf eine elemen-tare menschliche Gestalt reduziert, markieren die gekratzten Lineamentsdennoch eine zeichnerische Binnenstruktur, durch die Haare und Gesichts-züge auf den malerischen Schichten er kennbar werden. Denn ob wohl

4 Vgl. Werner Spies, »Picasso – Die Zeit nach Guernica. Weinen-de Frauen und Porträts. DieSchlagkraft der Stereotypen«, in: ders., Kontinent Picasso (Augeund Wort: Gesammelte Schriftenzu Kunst und Literatur, Bd. 5),Berlin 2008, S. 216.

5 Vgl. Spies 2008 (wie Anm. 4), S. 214 ff.

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Dubuffet seine Porträts grundsätzlich anti-psychologisch und antiindividualistischverstanden wissen wollte, halten sie merk-würdigerweise die Balance zwischen demAllgemeinen und dem Individuellen. Nichtselten sogar lassen sich seine Porträts be -stimmten Personen zuordnen.

Trotz der Reduktion und Abstraktion,die das 20. Jahrhundert in vielfältigen Ver-fahren hervorgebracht hat und zu denenauch unsere Ausstellung spannende Bei-spiele bereithält, ist das grundsätzlichekünstlerische Interesse an der menschli-chen Erscheinung den Werken spürbarimmanent. Denn immer noch gilt, dasssich die beständig wandelnden Bedingun-gen des Menschseins nirgends mit einerderartigen Treffsicherheit ausloten lassenwie in der Kunst. Und nirgends lassen sichauch die vielfältigen Komponenten undAspekte menschlicher Erfahrungswirk-lichkeit besser zu einem möglichst kohä-renten Selbst- und Weltbild verbinden.Zahlreiche Selbstbildnisse unserer Aus-

stellung sprechen diesbezüglich eine denkbar deutliche Sprache. Siedemonstrieren, dass sowohl der Drang zur Selbstdarstellung als auchdie diesen reflektierende Kunst ein nicht versiegender Quell künstleri-schen Schaffens sind.

Die Wirkung solcher Reflexionen ist nicht zu unterschätzen, denn ausden jeweiligen Resultaten derartiger Bemühungen entwickelten sich zuallen Zeiten auch leitende Vorstellungen und Ordnungsprinzipien, Idea-le und Ambitionen, die die jeweiligen Kulturen und Zeitalter nicht nurreflektierten, sondern sie auch prägten. Stand das Erwachen eines indi-viduellen Bewusstseins, in der Regel noch überlagert vom Streben nachdem Ideal, in der griechisch-römischen Antike im Vordergrund, band daschristliche Zeitalter sein Selbstbildnis an die Gewissheit der unsterblichenSeele und des Mensch gewordenen Gottessohnes. Die Neuzeit hingegenwurde durch die Vorstellung des »Gottmenschen« bestimmt, der dieNaturgesetze zu erkennen und damit die Welt zu beherrschen vermag.Andreas Haiders Bildnis eines Mannes mit rotem Barett (um 1516/17)ist ein sprechendes Beispiel für dieses neue Selbstbewusstsein. Das leuch-tende Rot seiner Kopfbedeckung hat Signalcharakter und wird denjeni-gen, der in die Nähe des Bildes kommt, unwillkürlich zu sich herziehen.

Beate Elsen-Schwedler

Jean DubuffetLa dame blanche(Die weiße Dame), 1952Öl auf Holz75 x 60 cmSammlung Würth, Inv. 10667

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Von Kopf bis Fuß

Seine ineinandergefalteten, beringten und von Wohlstand kündendenHände suggerieren Frömmigkeit – doch sollte man zu diesem Thema aucheinen Rosenkranz erwarten können. Dieser Mann aber, obwohl nicht vonAdel, kann es sich bereits leisten, einen Künstler zu engagieren, der seinBild erschafft, so wie er selbst sein finanziell erfolgreiches Leben gestal-tet. Möglicherweise, so dürfen wir mit Kurt Löcher spekulieren, ist sogardie Burg, die auf dem Berg rechts im Hintergrund thront, in seinem Besitz.Es ist die Zeit der Entdeckung der Welt und des eigenen Selbstbewusst-seins, die uns in diesem Bild begegnet. Dieses Selbstbewusstsein bestimm-te das Klima der Neuzeit, von der Renaissance bis zur Aufklärung.

Erst der Moderne fiel es zu, die bis dahin konsensfähige Vorstellungeiner wissenschaftlich begründbaren Einheit allen Seins nachhaltig zuerschüttern. Der Paradigmenwechsel kam pünktlich zur Jahrhundert-wende. Denn 1900 leitete Max Planck mit der Aufstellung der Quan-

Andreas Haider (zugeschrieben)Bildnis eines Mannes mit rotem Barett, um 1516/17Lindenholz43 x 34 cmSammlung Würth, Inv. 6558

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tentheorie ein neues physikalisches Zeitalter ein, während SigmundFreud mit seiner Traumdeutung den Entwurf eines neuen, umfassen-den und rational begründeten Menschenbildes vorlegte. Angefüttertmit diesen wesentlichen Erkenntnissen aus Physik und Psychologie, ließsich die Vorstellung eines gemeinsamen göttlichen Ursprungs des Men-schen und der Welt nicht mehr unangefochten durchhalten. Vielmehrgewann die Einsicht in die gesetzmäßige Wirksamkeit anonymer Kräf-te anorganischer, organischer, psychischer und geistiger Art zunehmendan Raum. An der Vorstellung, dass diese Kräfte als jeweils unter-schiedliche Erscheinungsformen eines letztlich unfassbaren, doch unteil-baren holistischen Seins zu verstehen seien, wurde jedoch nicht gerüt-telt. Die daraus resultierende, in sich schlüssige Forderung, dann ebenalles von Grund auf neu zu denken, prägte alle progressiven Tenden-zen der Moderne und damit auch die Künste nachhaltig. Erst unserpostmodernes Zeitalter machte auch diesen letzten Gewissheiten denGaraus.

Alle diese Ideen, Bewegungen und Umschwünge finden ihren Widerhallin den mimetischen Formen des Menschenbildes, das man – eine For-mulierung Jens Eders und Maike Reinerths vom Institut für Filmwis-senschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aufgreifend – »alseine Art flexibles Gewebe aus historischen und kulturellen Vorstellun-gen über menschliche Merkmale« bezeichnen könnte. Es bildet nicht nuranschaulich und nachhaltig ab, wie Menschen mit sich selbst und ande-ren umgehen, sondern beeinflusst zugleich auch deren Selbsteinschät-zung. Denn Menschenbilder, das zeigt die (Kunst-)Geschichte, tretenimmer miteinander in Wechselwirkung und überformen einander.6

Kunstwerke, die solchen Vorstellungen eine spezifische, pointierte äuße-re Form verleihen, lassen daher immer auch aufschlussreiche Rückschlüsseauf ihren Entstehungskontext zu. War in früheren Jahrhunderten insbe-sondere die Gattung des Porträts auch in Form von Standbildern prä-destiniert, das jeweilige Menschenbild zu reflektieren, so wenden sich dieKünste seit dem 20. Jahrhundert zudem dem menschlichen Körper alskleinster sozialer Einheit und sinnfälligem Repräsentanten der nun herr-schenden Ideen, Wünsche, Sehnsüchte und Zweifel zu. In diesem Ver-ständnis sollen das Wesen des Menschen und die Bedingungen desMenschseins ausgelotet werden. Dabei tritt der Körper in zunehmendemMaße nicht mehr nur als Subjekt in Erscheinung, sondern auch als Objektdes künstlerischen Prozesses. Gefesselt, geschlagen, nackt und bemalt,reglos, in wilder Verrenkung oder gar fragmentiert ist er unter dem Ein-druck zweier Weltkriege und den damit einhergehenden Erfahrungen vonVerletzungen, Beklemmungen, Ängsten und existenziellem Ausgesetztseinseit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in allen möglichen Erschei-nungsformen gegenwärtig.

6 Siehe Jens Eder und Maike Reinerth sowie Joseph Imorde in ihrem gemeinsamen »Call for Papers« für den WorkshopMedium Menschenbild, Institutfür Filmwissenschaft der Johan-nes Gutenberg-Universität Mainz, 2010.

Beate Elsen-Schwedler

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Von Kopf bis Fuß

So entstanden neue Ausdrucksformen wie Body Art, Happening, Perfor-mance und Life Art, die die Grenzen zwischen Kunst und Leben mit niegekannter Wucht überschritten und dies auch weiterhin tun. Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch etwa, das Aspekte der Malerei,der Musik, des Theaters und der Performance mit liturgisch-religiösenElementen verbindet, hat an kontroverser Sprengkraft bis heute nichtseingebüßt. Seinen Schüttbildern und »Kreuzwegstationen« ist die Span-nung seiner Aufführungen eingelagert. Wichtige Grundlage seines Werkssind antike Mysterienfeste, die das reinigende Element der Katharsis zumZiel hatten – einen verschütteten Aspekt, den die Aufführungen wieder-beleben und auf die Leinwände transportieren. »Den Körper … [undseine Säfte] als Ausdrucksmittel zu wählen«, so Lea Vergine, »kommtdem Versuch gleich, sich mit etwas Verdrängtem zu befassen, das darauf-hin wieder an die Oberfläche der Wahrnehmung zurückkehrt, und zwarmit allen untrennbar damit verbundenen Facetten des Narzissmus.«7

Immer mehr wird in der Folge nicht nur in der Kunst, sondern auch imLeben der Körper zur bestimm- und formbaren Masse, dessen reale Prä-senz möglicherweise als Gegenreaktion auf die zunehmende Virtualisie-rung in alle Bereiche drängt.

»So viel Körper war nie«,8 kommentierte daher Silvia Bovenschen schon1997 in der Wochenzeitschrift Die Zeitmit Blick auf das auffallende Inte-resse am menschlichen Körper und an seiner bildlichen Inszenierung alsKonstrukt der Medien.

Und tatsächlich hat sich dieser Trend seitdem gesellschaftsweit nichtetwa abgeschwächt, sondern eher verstärkt. »Der Körper hat Kon-junktur«, geben auch die Herausgeber eines von der Deutschen For-schungsgemeinschaft geförderten Sammelbandes zum Thema Kulturender Leiblichkeit zu Protokoll. Ausgestellt, gestaltet, verfüg- und ver-führbar begegnet er uns täglich im Übermaß. Sein Präsentieren undZurichten gehört, so die Autoren, auch heute zu den Punkten, an denengesellschaftliche Fakten sichtbar und spürbar werden. So war es wohlnur eine Frage der Zeit, wann, nach linguistic oder iconic turn, auch dercorporeal oder body turn ausgerufen sein würde. Und zu diesem gesell-te sich die Renaissance des Begriffs der Leiblichkeit, der längst auch alsgeisteswissenschaftliche Kategorie tauglich geworden ist. Auch wenn eraus einer Zeit stammt, in der »man sich noch mehr um das leiblicheWohl (statt um […] den Body Mass Index)« scherte und »mit Essen Leibund Seele zusammenzuhalten versuchte (statt unter Anleitung von Koch-shows seinem Lifestyle den letzten Schliff zu geben).«9

Offenbar unausrottbare Redewendungen wie »leibhaftig anwesend«sein, eine »Leibspeise« als persönliche Lieblingsspeise oder einen »Leib-arzt« – nicht etwa für den Körper, sondern als persönlich betreuendenArzt – zu haben sowie eine »Leibrente«, also eine Rente auf Lebenszeit,oder die unbehagliche Vorstellung, jemandes »Leibeigener« zu sein,

7 Lea Vergine, Il corpo come lin -guaggio (La ›Body-art‹ e le storiesimili),Mailand 1974, S. 3 u. 9.Hier zitiert nach: Amelia Jones,»Überblick«, in: Tracy Warr(Hrsg.), Kunst und Körper, Berlin2012, S. 19.

8 Silvia Bovenschen, »Der Traumist aus, denn wir sind alleCyborgs: Die Marginalisierungdes Leibes und seine Wiederkehrals Konstrukt der Medien«, in:DIE ZEIT vom 14. November1997. Hier zit. nach: http://www.zeit.de/1997/47/kœrper.txt.19971114.xm (eingesehen im Juli2012).

9 »Dabei bleibt im genannten turnder Gegenstand der Untersu-chung nicht selten reduziert aufdas, was man im deutschenSprachgebrauch ›Körper‹ nennt:ein physisches Substrat, das wieein Ding unter Dingen beschreib-bar ist. Gegen diese begrifflicheVerkürzung stellt der Begriff desLeibes spätestens seit EdmundHusserl eine präzise theoretischeIntervention in die wissenschaft -liche und philosophische Diskus-sion um Körper und Körperlich-keit dar: Dem objektiv beobacht-baren Körper, den wir haben,wird der lebendige Leib, der wirsind, gegenübergestellt.« SieheEmmanuel Alloa, Thomas Bedorfund Christian Grüny, »Einlei-tung«, in: Leiblichkeit. Geschich-te und Aktualität eines Konzepts,hrsg. von Tobias N. Klass, Tübin-gen 2012, S. 2 f.

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mögen verdeutlichen, worum es in dieser noch nicht abgeschlosseneninterdisziplinären Studie geht. Im Leibbegriff schwingt immer eineDimension körperlichen Daseins mit, die nicht in einem objektivisti-schen oder materialistischen Körperverständnis aufgeht, sondern aufsEngste mit der Kategorie der Erfahrung verbunden ist. Häufig also wer-den der Körper als Medium, der Leib und das Leibliche hingegen alsdas menschliche Selbst und als solches als das Konstitutive der Selbst-,der Welterfahrung betrachtet.

Philosophie und Theologie bezeichnen als Leib den lebendigen Kör-per von Menschen oder Tieren. Mit der Rede vom Leib im Unterschiedzum Körper wird also entweder eine besondere Steigerung des Körper-lichen im metaphysischen Sinne (Theologie) beschworen oder es wer-den Aspekte der Selbstreferenz des Körpers angesprochen (Philosophie). Und auch in den Künsten erweist sich der Leib zunehmend wieder alseine Weise des Weltzugangs, als eine Art Grenzphänomen, in dem sichdie Ebene geistigen Tuns und schöpferischer Arbeit mit der Ebene desfaktischen leiblichen Daseins kreuzt. Ein Aspekt, der gerade deswegenumso bedeutender wird, als er dazu geeignet ist, den entscheidendenUnterschied zu den großen Gruppen künstlicher Identitäten und »mons-tröser Versprechen« (Donna Haraway)10 von künstlichen Menschen zumarkieren, die uns nicht erst heute in den hybriden, aus Maschine undOrganismus gebildeten Cyborg-Kreaturen begegnen. Vielmehr nahmensie ihren Anfang bereits in historischen Texten und Bildern, traten ver-stärkt in den populären Science-Fiction-Erzählungen auf und bevölker-ten seit dem 20. Jahrhundert in einem bis dahin unbekannten Ausmaßdie Kunst.

Die Puppen und künstlichen Menschen verweisen auf Sigmund FreudsDefinition des Unheimlichen, das sich laut Freud im Akt der unerwar-teten Verlebendigung eines unbelebten Dings zu erkennen gibt. Auch siesind Konstrukte, in denen individuelle wie gesellschaftliche Wahrneh-mungen und Projektionen, Realitäten und Fiktionen miteinander ver-schmelzen. Und dort, wo in den künstlerischen Darstellungen Gesich-ter buchstäblich von der Bildfläche verschwinden, wo also von Gesichts-verlust, Auslöschung und Entleerung die Rede sein muss, sind sie dochgerade durch ihre Abwesenheit als gedankliches sine qua non präsent,wie Judith Elisabeth Weiss überzeugend darlegt: Selbst dort nämlich,wo das Gesicht nicht mehr als solches oder nur noch vage erahnt wer-den kann, »ist es einerseits privilegierter Ort von Bedeutung und Maßdes menschlichen Ausdrucks schlechthin, andererseits Symptom einerKrisenhaftigkeit, die sich in der Befragung einer nicht mehr eindeutigenIdentifizierbarkeit und Individualität offenbart. Die bildrhetorische Evo-zierung von Krisenhaftigkeit mit dem Anti-Porträt des Bildes vom Men-schen zählt zum etablierten Repertoire künstlerischen Schaffens seit derModerne.«11

10 Donna Haraway ist Professorinam History of ConsciousnessDepartment der University of California in Santa Cruz. Der Schwerpunkt ihrer Lehreliegt auf feministischer Theorieund Kulturwissenschaften. Unterihren zahlreichen Veröffentlichun-gen finden sich Crystals, Fabrics,and Fields: Metaphors ThatShape Embryos, Berkeley 2004(1976) sowie Simians, Cyborgs,and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991.

11 Judith Elisabeth Weiss, »deface-ment / refacement – Löschung,Leere, Verlust« in: Gesicht im Porträt/Porträt ohne Gesicht(Kunstforum International,Bd. 216), 2012, S. 72 ff.

Beate Elsen-Schwedler

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Von Kopf bis Fuß

K. H. Hödickes Selbstbildnis, das statt seines Konterfeis die Leucht-reklame einer Hannoveraner Firma gleichen Namens vor nachtschwar-zem Himmel zeigt, mag hier als zwar ironisches, aber dennoch beredtesBeispiel gelten.

Als »Subjekte ohne Prädikate«, um eine Zuspitzung des PhilosophenArthur C. Dantos von 1986 zu zitieren, könnten etwa die Porträts vonAlex Katz aufgefasst werden. Die für seine Bildsprache bezeichnendeMonumentalisierung des menschlichen Antlitzes geht mit einer close-up-artigen Nahsicht einher. Die für Porträts üblicherweise maßgebendeWiedergabe der Individualität des Dargestellten droht buchstäblich hin-ter dem Gesicht zu verschwinden. So erzeugt er Nähe und Distanzzugleich. Das seit den Kindertagen der Moderne von der Ähnlichkeitbeziehungsweise vom Antlitz befreite Bildnis kommt einer Selbstauflö-sung der traditionsschwer in der Geschichte der Malerei verankertenGattung gleich.

Doch angesichts der umfassenden Krise der Repräsentation scheintdas nicht figurative Porträt als identitätsstiftendes Moment auch heutebisweilen konsensfähiger zu sein als das »alte« abbildhafte. Und mehrnoch: Um der scheinbar unmöglichen Antwort darauf, was der Menschist, was ihn ausmacht und antreibt, näherzukommen, wird alles Exis-tenzielle in extremer und immer wieder neuer Weise hinterfragt. Schonzu Beginn der 1960er-Jahren begannen verschiedene Künstler auf unter-schiedliche Art und Weise daher auch das Verhältnis des Körpers zu demihn umgebenden Raum zu erforschen. Ihrem Paradigmenwechsel lag ein

K. H. HödickeSelbstporträt, 1973Kunstharzfarbe auf Leinwand170 x 230 cmSammlung Würth, Inv. 3459

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fundamentaler Wandel des Menschenbildes zugrunde. Die Vorstellungvom verstandeszentrierten Ich der Moderne begann er allmählich zuguns-ten des heterogenen Ichs, wie es sich in der Postmoderne heraushob,abzulösen. Eines postmodernen Ichs, das sich, so machte es zumindesteine ganze Weile den Eindruck, nur noch in den »magischen« Momen-ten des Performativen seiner selbst bewusst zu werden schien (WienerAktionismus etc.). Der Einsatz von magischen, transformatorischen Ele-menten war offenbar notwendig, denn infrage gestellt wurden nicht nurdie Vorstellung vom Individuum als absolutem Mittelpunkt eines in sichschlüssigen Systems, mit entsprechend stabiler Identität, sondern damiteinhergehend auch sämtliche Formen stereotyper und kategorialer Dar-stellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Arbeiten dieser Art ent-wickelten sich bei manchem Künstler zum radikalen (Selbst-)Experimentin Aktionen, die, so sie festgehalten wurden, in Form von Fotos, Foto-sequenzen und Videos überkommen sind (vgl. Arnulf Rainer, JürgenKlauke etc.).

Doch auch die radikalen Werke Antony Gormleys erleben den eige-nen Körper nicht nur als Subjekt, Werkzeug und Material, sondern auchals Ort von Erinnerung und Transformation. Seit 1990 gilt sein Interessedem Zustand des Menschseins und der Erforschung des kollektiven Kör-pers sowie der Beziehung zwischen dem Selbst und dem anderen. In sei-nen Werken erforscht er die Phänomenologie des Raumerlebens und dieGrenzen des Erfahrungshorizonts über die physischen Grenzen des Kör-pers hinaus. Sein bevorzugtes Material ist Eisen, »mit der Tiefe unterTage assoziiert, auf der wir mit unseren Füßen stehen, […] unterstreicht[es], dass unser Körper nur vorübergehend der Masse der Materie ent-

Beate Elsen-Schwedler

12 Antony Gormley, zit. nach: Pressetext zur Ausstellung Antony Gormley – Horizon Field (2010–2012), Bregenz 2009.

Antony GormleyClose V (Nahe V), 1998Eisenguss27 x 187 x 174 cmSammlung Würth, Inv. 9194

liehen ist, die den Planeten ausmacht und der wir in gewisser Weise eineForm geben.«12

Anders Tony Ourslers, im Grenzbereich zwischen Wirklichkeit undFiktion angesiedelte Puppen, die er selbst als »Dummies« bezeichnet.Der Künstler belebt sie, indem er auf ihre plumpen, eierförmigen Fiber-glasköpfe Videoprojektionen von grotesken Gesichtern projiziert. Da erdiese Projektionen zudem mit stimmlichen »Sounds« unterlegt, ver-schwimmen Bild und Ton, Sprache und Musik zu einem multimedialenGanzen. Oursler schätzt es, wenn seine theatralischen Figuren an vor-zugsweise abgelegenen, überraschenden Stellen positioniert sind, da sieden jeweiligen Ausstellungsraum dann in eine Bühne verwandeln, wasihre absurde, unheimliche Wirkung verstärkt. Die fiependen, weinendenoder endlos redenden Video-Dummies verweisen auf menschliche Trie-be und zwischenmenschliche Beziehungen, äußern sich zu Tod, Verlan-gen, Macht, Geld, Übersättigung durch die Medien und immer wiederauch zur Entmenschlichung des Körpers im Cyberspace, die sie mit ihrereigenen Gestalt ja vor Augen führen. Als solche sind sie vorweg genom-mene Albträume einer zukünftigen virtuellen Welt.

Doch was heißt schon vorweggenommen? Die moderne Gesellschaftist in den letzten Jahren so sehr auf den Körper, seine Zurschaustellungund seine Verbesserung fixiert, dass auch im realen Leben das Echtekaum noch vom Manipulierten zu unterscheiden ist.

Denn tatsächlich ist in der postmodernen »Multioptionsgesellschaft«,wie sie der St. Gallener Soziologe Peter Gross so treffend bezeichnet,nicht nur der Kunstkörper, sondern der menschliche Körper schlechthinzur Option geworden. Für immer mehr Menschen ist der eigene Körpernicht mehr ein gott- oder naturgegebenes Schicksal, das es ergeben hin-

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Von Kopf bis Fuß

Tony OurslerTrip Time, 2007Videoprojektion auf Fiberglas/Ton66 x 112 x 51 cmSammlung Würth, Inv. 10619

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zunehmen gilt. Vielmehr erlauben relative Zeit und materieller Wohl-stand sowie eine hoch entwickelte Technik heute, den eigenen Körperals ein »reflexives Projekt« zu behandeln, in das man Erfolg verspre-chend investieren kann. So sieht das zum Beispiel auch die Schauspiele-rin Sharon Stone, die nicht nur ihrer Attraktivität – auch jenseits des50. Lebensjahrs –, sondern auch ihres außerordentlich hohen IQs wegengerühmt wird: »Es ist gar nicht so leicht, so schön zu sein, wie man aus-sieht«, bekennt sie und spricht damit an, was der heute gängig gewor-denen Auffassung über Schönheit zweifelsohne anhaftet. Die Tatsachenämlich, dass sie eben kein Geschenk der Götter ist und auch nur bedingtdas Ergebnis guter Gene, sondern das Resultat harter Arbeit. In StonesWorten verbinden sich also die Vorstellung von Schönheit auch mit tra-ditionellen Werten wie Disziplin, Wille und Anstrengung. Diese Auf-fassung ist nur in begrenztem Maß konsensfähig. Ein gewisses Unbe-hagen bleibt, denn offensichtlich wollen wir in der Schönheit immernoch ein Ideal sehen, das sich per Definition eben gerade dadurch aus-zeichnet, dass es unerreichbar ist. Und so verwundert es auch nicht, wennmit Körperkult und Schönheitswahn gleich zwei der am häufigsten –und typischerweise in einem Atemzug – verwandten Alltagsbegriffe zurKennzeichnung zeitgenössischer Körperpraktiken herangezogen werden,die auf eine moralische Abwertung abzielen. Zu untersuchen wäre indes,was dieser offensichtliche Widerspruch zwischen der fetischartigen Anbe-tung des idealen Körpers auf der einen Seite und der (scheinheiligen)Verachtung dieser Anbetung auf der anderen Seite über unsere Gegen-wartsgesellschaft aussagt.13

Solchen und vielen anderen Fragen bietet unsere Ausstellung Raum.Ungeachtet dessen versteht sie sich jedoch nicht als philosophischerGrundkurs, sondern eher als unterhaltsame Aufforderung zur Spuren-suche in der aktuellen Bandbreite künstlerischer Weltsichten und Obses-sionen. Natürlich ist sie auch eine weitere Entdeckungsreise durch dieSammlung Würth, diesmal zu den Gemeinsamkeiten und Unterschiedenin der Auffassung von Körper und Seele, die hier und da vielleicht sogarimstande ist, scheinbar unüberbrückbar Fernes fassbar zu machen.

Beate Elsen-Schwedler

13 Peter Gross, Die Multioptions -gesellschaft, Frankfurt a. M.1995, hier zit. nach: RobertGugutzer, »Körperkult undSchönheitswahn – Wider denZeitgeist«, Bundeszentrale fürpolitische BiIdung, 23. April2007, http://www.bpb.de/apuz/30504/kœrperkult-und-schœnheitswahn-wider-den-zeitgeist-essay?p=all (eingesehen Juli 2012).