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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940 Seite 1 Vor 80 Jahren: Bombentote an der Oberschlesier Straße II. Weltkrieg 1939 1945 Vor 8o Jahren starben am 20. Juni 1940 an der Oberschlesier Straße sechs Menschen. In Münster gab es die ersten Toten durch Fliegerbomben. Vorwort Paulheinz Wantzen, Schriftleiter der Münsterschen Zeitung, schrieb während des Zweiten Weltkriegs ein privates Tagebuch. Die Aufzeichnungen beginnen September / Dezember 1939, sie enden am 25. September 1946. Im Februar 2000 erschien eine vollständige Abschrift der Handschrift im Verlag Das Dokument, Bad Homburg, mit dem Titel: Das Leben im Krieg 1939 - 1946. Das Tagebuch besteht aus 19 Büchern mit insgesamt 6.060 Seiten einschließlich der eingefügten Zeitungsausschnitte, Lebensmittelkarten, Raucher- und Kleiderkarten, Flugblätter und vertraulichen Informationen für Schriftleiter der Zeitungen. Die gedruckte Version umfasst 1.657 Seiten im A-4- Format. Abbildung 1: Zeitungsanzeige vom 21. Juni 1940

Vor 80 Jahren: Bombentote an der Oberschlesier Straße · 2020. 4. 2. · schwere Flak, die bei Appelhülsen stand, bumste dazwischen, dass die Scheiben klirrten, Scheinwerfer suchten

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

Seite 1

Vor 80 Jahren: Bombentote

an der Oberschlesier Straße

II. Weltkrieg 1939 – 1945

Vor 8o Jahren starben am 20. Juni 1940 an der Oberschlesier Straße sechs Menschen.

In Münster gab es die ersten Toten durch Fliegerbomben.

Vorwort

Paulheinz Wantzen, Schriftleiter der

Münsterschen Zeitung, schrieb während des

Zweiten Weltkriegs ein privates Tagebuch.

Die Aufzeichnungen beginnen September /

Dezember 1939, sie enden am 25.

September 1946. Im Februar 2000 erschien

eine vollständige Abschrift der Handschrift

im Verlag Das Dokument, Bad Homburg,

mit dem Titel: Das Leben im Krieg 1939 -

1946. Das Tagebuch besteht aus 19

Büchern mit insgesamt 6.060 Seiten

einschließlich der eingefügten

Zeitungsausschnitte, Lebensmittelkarten,

Raucher- und Kleiderkarten, Flugblätter

und vertraulichen Informationen für

Schriftleiter der Zeitungen. Die gedruckte

Version umfasst 1.657 Seiten im A-4-

Format.

Abbildung 1: Zeitungsanzeige vom 21. Juni 1940

Page 2: Vor 80 Jahren: Bombentote an der Oberschlesier Straße · 2020. 4. 2. · schwere Flak, die bei Appelhülsen stand, bumste dazwischen, dass die Scheiben klirrten, Scheinwerfer suchten

Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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Ihr Blut kommt auf

Englands Schuldkonto

Bombenangriff auf die Stadt Münster

Je größer, je gewaltiger der Sieg wird, den die deutschen

Waffen auf dem Schlachtfelde in Frankreich erringen, um

so ohnmächtiger wird die Wut der britischen Kriegshetzer.

In ihrer Verzweiflungsstimmung greifen sie immer wieder

zu den ruchlosesten und gemeinsten Verbrechen, mit

denen sie noch eine Wendung glauben herbeiführen zu

können. Nach einem nunmehr schon bekannten Verfahren

führen sie unter dem Schutz der Nacht feige Angriffe auf

westdeutsche Städte und Dörfer aus, wo sie wahllos ihre

Bomben abwerfen, ohne sich um die völkerrechtlichen

Bestimmungen über den Schutz der Zivilbevölkerung zu

kümmern.

So wurden auch in der Nacht zum 20. Juni auf friedliche

Städte und Dörfer unseres Heimatgebietes solche

verbrecherischen Angriffe ausgeführt, die z.T. jenen

zweifelhaften „Erfolg“ hatten, wie er offensichtlich on der

Absicht Englands liegt. Weit ab von jedem militärischen

Ziel schlugen die Bomben in Straßen und Wohnhäuser, in

Bauernhöfe und auf freies Feld.

Leider hat der Angriff auf die unverteidigte Stadt Münster

auch das Leben mehrerer Volksgenossen gefordert. Fünf

Tote, ein Schwerverletzter und dreißig Verletzte sind das

Opfer dieses ruchlosen Anschlages. So wurden wahllos

Bomben auf eine Siedlung abgeworfen, wodurch zwei

Häuser zerstört wurden. Hier sind auch die fünf Toten und

mehrere Verletzte zu beklagen. Ihr Blut kommt auf das

Schuldkonto Englands, dem die Rechnung demnächst

präsentiert werden wird. In einem anderen Stadtteil ging

ebenfalls eine Bombe nieder, die erheblichen Schaden

anrichtete und einen Schwerverletzten forderte.

Eine weitere Sprengbombe schlug am Stadtrand, wo sich

keinerlei militärische Ziele befanden, ein. Das Gemeinste

ist, daß auch wahllos Brandbomben über der inneren Stadt

abgeworfen wurden, wo sie teilweise größeren

Sachschaden anrichteten. Selbst weit von der Stadt

entfernt, in dem rein landwirtschaftlichen Gelmer gingen

Bomben nieder, die leider ebenfalls das Leben eines

Volksgenossen forderten.

Die münstersche Bevölkerung weiß, daß dieser Krieg auch

von der Heimat ihre Opfer fordert. Mit dankbarer Freude

erkennt sie, was es heißt, daß der Führer und die siegreiche

Wehrmacht den Krieg von den Grenzen des Landes

ferngehalten haben. Sie läßt sich deshalb auch von diesen

gemeinen Verbrechen Englands nicht in ihrer Freude über

die gewaltigen deutschen Siege beeindrucken in der

Gewißheit, daß unsere stolzen Truppen bald dafür sorgen

werden, daß England die Lust zu solchen Gangsterstücken

der Kriegsführung gründlich verlieren wird.

Abbildung 2: Zeitung vom 22. / 23. Juni 1940 links und Abschrift rechts

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

Seite 3

Kriegsbeginn

Schon vor dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 zeichnete sich der mögliche

Kriegsbeginn ab. Bereits im Frühjahr hatte es immer wieder Kriegsgerüchte gegeben. Im Laufe

des Sommers ließ das sich verschlechternde Verhältnis zu Polen die Möglichkeit eines Krieges

wahrscheinlicher werden. Die Kriegsvorbereitungen gingen fast unbemerkt fieberhaft voran.

Tagsüber bildeten sich vor den Radiogeschäften Menschentrauben, die den Nachrichten

zuhörten. Die Einberufungen nahmen immer größeren Umfang an. Private Kraftfahrzeuge

wurden sogar auf offener Straße für das Militär eingezogen. Die Bevölkerung strömte in die

Einzelhandelsgeschäfte und kaufte, was zu bekommen war, wogegen die Cafés und Gaststätten

in den letzten Tagen des Monats vollkommen leer standen. Schon 1937 gab es erste

Luftschutzbaumaßnahmen.

Abbildung 3: Luftschutzunterstände in der Promenade am 14. April 1940

Links: Am Eingang in die Aegidiistraße. Rechts: Am Staatsarchiv

Am Sonntag, den 28. August 1939, vier Tage vor Kriegsbeginn, wurde für Lebensmittel eine

Einheitskarte ausgegeben, die vier Wochen galt. Diese Einheitskarte wurde bald durch

unterschiedliche Karten ergänzt oder ersetzt. Es gab Karten für Schwer- und Schwerstarbeiter,

Lang- und Nachtarbeiter, Karten für Brot, Fleisch, Fett, Eier, Marmelade/Zucker, Kleider,

Karten für Kleinst- und Kleinkinder, für Kinder bis zu sechs Jahren, für Jugendliche und

Erwachsene. Für Soldaten auf Urlaub gab es Urlaubskarten. In der BRD wurden alle Karten

1950, in der DDR 1958 abgeschafft.

Am 4. und 5. September ertönten zum ersten Mal die Alarmsirenen der Stadt. Sie wurden von

der Luftschutzwarnzentral (LWZ) ausgelöst. In der Nacht vom 4. auf den 5. September heulten

die Sirenen, Luftgefahr für Münster! Flakgeschütze gaben erste Schüsse ab. Ein Luftangriff

blieb vorläufig noch aus. „Das war mein erster Fliegeralarm“, schreibt Dr. Franz Wiemers in

seiner Kriegschronik.

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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Abbildung 4: Die wöchentlichen Rationen eines Normalverbrauchers betrugen im Zweiten Weltkrieg

Am 01. September 1939 begann also der Krieg mit Polen, zwei Tage später, am 03. September,

kam die Kriegserklärung von England und Frankreich an Deutschland. Nächtliche

Fliegeralarme nahm die deutsche Bevölkerung noch mit ziemlicher Ruhe, fast mit Humor hin.

Frauen mit kleinen oder kranken Kindern waren sehr unruhig, sie fragten sich: wie soll das

weiter gehen? Bereits in den ersten Nächten gab es Fliegeralarm durch Sirenengeheul. Frauen

in dünnen Batisthemden, oft ohne Mantel und Fußbekleidung, ihre Kleinen auf dem Arm,

stolperten, fielen und schrien auf dem Weg zum Sammelschutzraum. Die Männer waren bald

wieder draußen, im Schutzraum durfte nicht geraucht werden. Sie standen beieinander und

klönten. Einige Flieger überflogen Münster und warfen Flugblätter in Mengen ab. Die Zettel

wurden von Soldaten eingesammelt und abgeliefert. Zahlreiche Blätter liefen in der

Bevölkerung von Hand zu Hand. (1* 1-2/3-7)

In der Kriegschronik schreibt Dr. Wiemers: „Am 9. September 1939 fand ich in der Zeitung die

erste Todesanzeige eines Gefallenen aus Münster: Hermann Glosemeyer, gestorben im Alter

von 22 Jahren.“

September / Dezember 1939: Erste Flugzeugabwehr

An mehreren Tagen war Flakfeuer (Schüsse der Flieger-Abwehr-Kanonen) zu hören. Auch die

schwere Flak, die bei Appelhülsen stand, bumste dazwischen, dass die Scheiben klirrten,

Scheinwerfer suchten den Himmel ab, MGs und leichte Flak bellten, bis auf ein wahres

Feuerwerk dutzender gelber und roter Raketen der ganze Zauber zu Ende ging. (1* 2/8)

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

Seite 5

!!! Warnung !!!

– Seite 2 –

Präsident Roosevelt hat euch sowohl Frieden mit Ehren als

auch die Aussicht auf materielle Wohlfahrt angeboten. An

Stelle dessen hat eure Regierung euch zu dem

Massenmord, dem Elend und den Entbehrungen eines

Krieges verurteilt, den zu gewinnen sie nicht einmal

erhoffen können.

Nicht uns, sondern euch haben sie betrogen. Durch Jahre

hindurch hat euch eine eiserne Zensur Wahrheiten

unterschlagen, die selbst unzivilisierten Völkern bekannt

sind. Diese Zensur hält den Geist des deutschen Volkes in

einem Konzentrationslager gefangen. Wie sonst konnten

sie es wagen, die Zusammenarbeit friedliebender Völker

zur Sicherung des Friedens fälschlich als feindliche

Einkreisung darzustellen? Wir hegen keine Feindseligkeit

gegen euch, das deutsche Volk.

Diese Nazi Zensur hat euch verheimlicht, daß ihr nicht

über die Mittel verfügt, einen langen Krieg

durchzuhalten. Trotz erdrückender Steuerlast seid ihr am

Rande des Bankrotts. Wir und unsere Bundesgenossen

verfügen über unermeßliche Reserven an Manneskraft,

Rüstung und Vorräten. Wir sind zu stark, durch Hiebe

gebrochen zu werden und können euch unerbittlich bis zur

Erschöpfung bekämpfen.

Ihr, das deutsche Volk, habt das Recht, auf Frieden zu

bestehen jetzt und zu jeder Zeit. Auch wir wünschen den

Frieden und sind bereit, ihn mit jeder aufrichtig friedlich

gesinnten deutschen Regierung abzuschließen.

Abbildung 5: Teil eines englischen Flugblattes links und Abschrift rechts.

Gefunden am 5. September 1939 im holländischen Enschede. (1* 37/165)

3. Mai 1940: Neue Munition - Export nach Russland

Sehr interessant erzählte gestern mein Bruder Rudolf über Versuche mit den neuen, in

Norwegen angewandten Bomben, die so neu sind, dass man nicht einmal Schusstafeln von

ihnen besitze, die jetzt erst in Unterlüß (größtes Test- und Versuchsgebiet für Waffen und Munition in der

südlichen Lüneburger Heide) und auf einigen anderen Schießplätzen gemessen und berechnet

würden. Jedenfalls seien es aber sehr gute und durchschlagende Bomben. Erstaunlich sei,

welche Mengen an Waffen noch immer an ausländische Staaten geliefert würden, ein sicheres

Zeichen dafür, dass wir mehr als genug davon hätten. In besonders großen Mengen liefern wir

in letzter Zeit Waffen an Sowjetrussland, noch und noch. Vor allem auch Flak und darüber

hinaus sogar jene „schwerste“ Flak, die vor einem Jahr in Berlin bei der Parade vor dem Führer

das ganze Ausland in Erstaunen gesetzt habe. Die Schusstafeln seien zum Teil für die ganz

erheblich gesteigerten Sprengkugeln noch nicht fertig, nach Russland aber würden schon große

Mengen davon und auch sonst modernstes Gerät geliefert, während das übrige Ausland sonst

immer nur zweite oder dritte Garnitur bekomme. (1* 65-66/390-391)

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Der Nichtangriffspakt mit Russland (Hitler-Stalin-Pakt) vom 24. August 1939 machte das

möglich. Am 22. Juni 1941 geschah der Überfall auf Russland: Kriegsbeginn.

6. Mai 1940: Vorbereitung zum Einmarsch nach Holland

Bedeutungsvoller scheint mir die Beobachtung zu sein, dass einmal Leibstandarte und SS-

Verfügungstruppen noch immer hier an der holländischen Grenze liegen und dass diese

zweitens jetzt in großem Umfang mit Amphibienfahrzeugen arbeiten, die auf dem Lande und

im Wasser gleichermaßen beweglich sind. Über den Rhein und auch bei Rheine über die Ems

werden damit täglich Übungen unternommen. Diese Fahrzeuge wären ja geradezu ideal für die

holländischen Überschwemmungsgebiete. Und auch sonst scheint mir einiges für die

Möglichkeit zu sprechen, dass es bald gegen und in Holland losgehen könnte. Immerhin würde

es schnell möglich sein, Holland zu überrennen, da man dort in größtem Ausmaße Stukas

einsetzen könnte, die z. B. wegen der für sie erforderlichen Startbahn von 3 – 5 Kilometern für

den gesamten Norwegeneinsatz noch immer im dänischen Aalborg starten müssen.

Augenblicklich müssen, damit eine Startbahn für die Stukas angelegt werden kann, beim

Flughafen Handorf noch mehrere Bauernhöfe verschwinden. Es sollen 6-8.000 Mann

eingezogen werden für die Organisation Todt, um hier schnelle Arbeit zu leisten und in

kürzester Zeit die Startbahn zu schaffen. Möglich, dass die Startbahn vor einer Holland-Aktion

fertig werden soll. Übrigens erfuhr ich heute während des Nachtdienstes, dass der Tanzabend

des Stadttheaters am 29. und 30. Mai in Den Haag gastieren soll. Ich bin mal neugierig, ob es

dazu noch kommen wird. (1* 67/401-406)

10. Mai 1940: Einmarsch in Holland, Belgien, Luxemburg

Nun ist also, genau wie ich es vermutet hatte, der entscheidende Schlag gefallen: Einmarsch in

Holland und Belgien, dazu noch in Luxemburg. Ich wurde heute in aller Morgenfrühe gegen 5

Uhr durch ein geradezu tolles und an Lautstärke nicht mehr zu überbietendes Motorengebrumm

aus dem Schlaf geweckt. Hunderte von schweren Transportflugzeugen (nach Schätzungen

Sauerlands vom Städtischen Presseamt sollen es an die 1.000 gewesen sein) brummten über die

Dächer hinweg in Richtung Holland. Dazwischen sah man Jäger fortfliegen und dann auch

wieder Bomber aufsteigen, die sich über den beiden Flugplätzen Handorf und Loddenheide sehr

hoch in die Luft schraubten und dann den Kurs gen Holland und Belgien nahmen. Der Krach

hielt so an, dass an ein Schlafen nicht mehr zu denken war. (1* 70-72/430)

10. Mai 1940: Luftschutzbereitschaft und Erfolgsmeldungen

Im Betriebe wurde inzwischen bekannt gegeben, dass erhöhte Luftschutzbereitschaft

eingetreten sei und jeder seine Gasmaske überallhin, auch auf die Straße und nach Hause,

mitzunehmen hätte. Außerdem erhielt jeder ein Verbandspäckchen als ersten Schutz gegen

Kampfstoffverletzungen. Dann kam der Setzer Waegener mit der Nachricht, dass im Hüfferstift

schon wieder Verwundete aus Holland eingeliefert worden seien. Es handelt sich um

Verwundete von der Besetzung des Flughafens Ypenburg bei Rotterdam. Die erste dort in aller

Frühe landende deutsche Maschine habe 3 Tote und 8 Verwundete gehabt. Die Toten seien

sofort wieder mit nach Münster transportiert worden. Die Toten lägen in der Leichenhalle, die

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Verwundeten seien ins Hüfferstift gekommen. Eine andere Maschine sei mit nicht weniger als

500 Durchschüssen wieder in Münster gelandet. (1* 72-73/437-439)

13. Mai 1940: Sieges-Hybris

Unsere Luftwaffe muss in einer geradezu unvorstellbaren Weise rangehen und ganz tolle

Erfolge haben. Die Tommis werden jetzt wohl langsam merken, wie der wahre Krieg mit dem

nationalsozialistischen Deutschland aussieht. Der siegreiche Vormarsch durch Holland und

Belgien übertrifft noch bei weitem den in Polen. Es sieht so aus, als ob die Entscheidung sehr

schnell, in wenigen Wochen, fallen könnte und der Krieg unter Umständen rasch beendet sein

könnte. (1* 75/ 462-463)

16. Mai 1940: Erste Bomben auf Münster

Nun hat Münster den ersten Bombenangriff hinter sich und nur die allerwenigsten Münsteraner

haben etwas davon bemerkt, als um 1:24 Uhr 5 Bomben im Winttal zwischen Hansaring und

Dortmunder Straße herunterkamen. Wir haben es auch verschlafen, trotzdem mein Fenster

offen war und die Stelle zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen ist. Ich erfuhr es erst, als ich

zur Zeitung kam und mir da der stets am besten orientierte Beckmann die Sache erzählte. Ich

habe mir dann von Zons die Anweisung des Reichspropagandaamtes geben lassen, meine Leica

geschnappt und bin dann mit einem Lieferwagen zum Hotel Haus Dorn gefahren, das schwer

mit seiner ganzen Umgebung getroffen wurde. Es hatte sich dort inzwischen eine riesige,

zumeist aus Frauen bestehende Menge, angesammelt, die von der Polizei und der SHD

(Sicherheits- und Hilfsdienst) nur mühsam zurückgehalten werden konnte. Ich ging dann in das

Lokal Haus Dorn, d.h. in den an der Dortmunder Straße angebauten Teil, der ein furchtbares

Bild der Verwüstung bot. In diesem Lokal waren der Polizeipräsident, SS-Obersturmführer

Heydrich und Polizeimajor Cyklam, den ich ja gut kannte. Vom Knipsen wollte er zunächst

unter keinen Umständen etwas wissen. Als ich den Auftrag des Reichpropagandaamtes

vorzeigte, wollte er auch noch nicht und erst beim Luftgau anfragen, aber der Polizeipräsident

erklärte dann, er wolle wohl die Verantwortung übernehmen. Ich ließ mir zur Vorsicht einen

Polizeibeamten mitgeben, was sich als sehr richtig erwies, da ich noch verschiedentlich, zum

Teil sehr energisch, angehalten wurde. Ich ging dann hinter die Häuser und bekam doch einen

ziemlichen Schrecken, als ich das ungeheure Bild der Verwüstung sah, das die Rückseite des

Hauses Dorn und die ganze Rückseite des langen Häuserblocks am Hansaring zeigte. Ebenso

die großen Lager von Stadtbäumer und Stroetmann, die je eine Bombe mitbekommen hatten,

während drei Bomben in einer Reihe hintereinander, ziemlich dicht zusammen, in den

Hofräumen heruntergekommen waren. (1* 81-83/489-494)

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Abbildung 6: Lageplan zur Kreuzung Hansaring – Hamburger Straße (1* 84/498)

Abbildung 7: Google Maps Darstellung der Kreuzung Hansaring - Dortmunder Straße im Frühjahr 2020

Abbildung 8: Links: Rückseite von Haus Dorn. Rechts: Bombentrichter vor den Garagen von Haus Dorn

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Abbildung 9: Kreuzung Hansaring - Dortmunder Straße im Frühjahr 2020

Der nächtliche Fliegerangriff

auf Münster

Fünf Bomben verursachten Sachschaden

Bei der in der Nacht zum Donnerstag gegen 1.30 Uhr

erfolgten Ueberfliegung der unverteidigten Stadt Münster

durch ein feindliches Flugzeug wurden fünf Bomben

angeworfen. Zwei Einschläge erfolgten im Hof des Hotels

„Haus Dorn“, ein dritter in einem in unmittelbarer Nähe

liegenden Schuppen und zwei weitere in die benachbarten

Hausgärten. Die Explosion der Sprengbomben richtete

Sachschäden an. Alle Garagen wurden stark beschädigt.

Die Hinterfront der Wohnhäuser, die in unmittelbarer

Nähe der Bombeneinschläge liegen, wiesen gleichfalls

beträchtliche Beschädigungen auf; es wurden sämtliche

Fensterscheiben eingedrückt, Hauswände und Dächer zum

Teil durch Sprengstücke durchlöchert. Der Schuppen ist

zerstört. Auch an den umliegenden Häusern wurden

zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert. Es wurden

mehrere Personen verletzt.

Abbildung 10: Pressebericht in Münstersche Zeitung links und Abschrift rechts

20. Mai 1940: Luftschutzkeller - nicht alle gehen hinein

Inzwischen hat es in Münster zweimal längeren Fliegeralarm gegeben. Abends hatte ich dann

den üblichen Nachtdienst. Gerade hatte der Metteur Göbel gesagt, nun würden sie wohl bald

kommen, da heulten auch schon um 24:25 Uhr die Sirenen, nicht übermäßig laut. Ich

verständigte telefonisch die Rotation und den Setzmaschinensaal und Packraum, ließ im ganzen

Hause die Maschinen abstellen und das Licht ausdrehen. Wir versammelten uns dann unten im

Hof, da außer einigen schon älteren Setzern niemand in den Luftschutzkeller wollte, der ja bei

der Münsterschen Zeitung auch die reinste Mausefalle ist. Nach etwa 10 Minuten hörten wir

den Engländer dann auch in ziemlicher Höhe herankommen und seine Kreise ziehen. Unsrer

Schätzung nach waren es 2 oder 3 Maschinen, von denen im Verlaufe der nächsten zwei

Stunden wenigstens eine sehr tief herunter kam. Dabei wurden, wie von anderer Stelle

beobachtet werden konnte, einige Leuchtkugeln in der Gegend der Schleuse an Fallschirmen

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herabgelassen. Anscheinend konnten die Engländer in Münster kein richtiges Ziel ausmachen

(die beiden Flughäfen – besonders der in Handorf – sind nachts ausgezeichnet getarnt), denn es

fielen in Münster keine Bomben. Irgendwelches Flakfeuer erfolgte nicht. Wir saßen und

standen draußen herum und machten dumme Witze und Bemerkungen. Zwischendurch habe

ich einmal einen Abstecher in den einen ausgezeichneten Eindruck machenden öffentlichen

Schutzraum in der gegenüber liegender Musikhochschule gemacht, in dem etwa 50-60

Personen waren. Insgesamt haben wir während dieses Luftalarms, der bis 2:40 Uhr dauerte,

etwa 8-10 Bombenexplosionen in sehr weiter Ferne gehört. Im Laufe des Tages stellte sich

heute heraus, dass der Engländer bei Salzbergen das Ölwerk, den Bahnhof, die Fliegerkaserne

(brennt) und ein Gefangenenlager mit Polen angegriffen und mit Bomben belegt hat. (1* 87-

88/510-513)

21. Mai 1940: Angriffe auf Industrieanlagen

In der vergangenen Nacht ist in Münster kein Luftalarm gewesen und wir waren nicht böse,

ausschlafen zu können. Man hört nun, dass in der Nacht vorher bei Salzbergen etwa 35 Bomben

geworfen wurden, unter denen mehrere Blindgänger waren. Flak ist während des Angriffs

überhaupt nicht dagewesen, erst am nächsten Tage gekommen. Die Engländer sollen bis auf 50

m heruntergekommen sein. Die Ölraffinerie ist so beschädigt, dass die Arbeit (bisher in drei

Schichten) nicht wieder aufgenommen werden kann. Inzwischen hört man auch, dass in der

Nacht zu Montag auch der „größte Gasometer Europas“ beim Hydrierwerk in Buer von

Bomben getroffen und vernichtet wurde. Er war, gottlob, wie immer am Wochenende, leer. Ich

bin gespannt, ob und wann es in Münster wieder losgeht. (1* 93/533)

Den Gasometer Oberhausen kennt heute fast jeder wegen der tollen Ausstellungen.

Mein Größenvergleich:

Gelsenkirchen-Buer:

H = 145 m; D = 81,0 m; F = 5.000 m²; Nutzbare Höhe = 120 m; V = 600.000 m³

Oberhausen:

H = 117 m; D = 67,6 m; F = 3.500 m²; Nutzbare Höhe = 99 m; V = 347.000 m³

22. Mai 1940: Münsters Flughäfen tarnen

Die Engländer sind gottlob in der letzten Nacht wieder nicht gekommen, trotzdem sie anderswo

in West- und Norddeutschland waren. Anscheinend tarnen sich unsre beiden Flughäfen mit

ihren an jedem Abend neu aufgestellten “Dörfern“ so gut, dass dem Tommy nichts aufgefallen

ist. Na, hoffentlich bleibt es dabei, wir sind nicht scharf darauf, in den Keller zu gehen. (1*

97/540)

3. Juni 1940: Engländer in jeder Nacht

Die Engländer sind übrigens in jeder Nacht da, auch über Münster. Um die Arbeitskraft der

Bevölkerung zu schonen, wird aber nur noch Alarm gegeben, wenn wenigstens 3 kommen.

Man kann sie deutlich an dem hellen Summen ihrer Motoren erkennen. (1* 100/556)

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10. Juni 1940: Italien: Kriegsteilnahme, Glocken zerschlagen

Während ich auf dem Balkon bei einer guten Tasse Kaffee diese Zeilen schreibe, hörten wir

den holländischen Sender Hilversum, der sonst immer nette Unterhaltungsmusik bringt.

Plötzlich bringt Hilversum die Lieder der Legion Condor aus Spanien, in denen dauernd von

den italienischen Kameraden die Rede ist. Und dann sagt er plötzlich, dass um 19:00 Uhr der

Duce über die italienischen Sender sprechen werde. Ich sause im Laufschritt an den Rundfunk

und schalte auf einen deutschen Sender um, bekomme gerade noch das Englandlied. Also eine

Sondermeldung! Und hinter dem Englandlied die italienische Hymne! Das kann nur Italiens

Eintritt in den Krieg sein! Da heißt es auch schon: Übertragung von der Piazza Venetia mit der

Rede Mussolinis. Das ist Italiens Eintritt in den Krieg! Schulter an Schulter geht es nun in den

entscheidenden Kampf. Pauvre France!

Die Freude ist überall, wohin man kommt, groß, weil man annimmt, dass Italiens Losschlagen

wenigstens ein Abkürzen der Kriegsdauer zur Folge haben würde.

Alles ist nun gespannt, wo Italien zunächst angreifen wird und alles fiebert den ersten

Meldungen entgegen. In Münster werden nun auch an einigen Türmen die Kirchenglocken

heruntergeholt. An der Josephs- und an der Martinikirche hat man heute mit der umständlichen

und schweren Arbeit begonnen. Die Martini-Kirche muss z.B. ihre gesamten fünf Glocken mit

einem Totalgewicht von 9 Tonnen abgeben. Um den Turm mit seinem Mauerwerk nicht zu

beschädigen, werden drei von den 5 Glocken im Turm oben zerschlagen und halbiert oder

stückweise nach unten gebracht. Verhältnis wenig Zuschauer waren dabei vorhanden, in der

Hauptsache noch dazu Kinder. Pfarrer Krick stand mit einem kleinen Fotoapparat beiseite, um

wenigstens seine Glocken noch einmal im Bilde festzuhalten. (1* 109-110/585-593)

20. Juni 1940: Bomben auf Münster

Man soll die Nacht nicht vor dem Abend loben und den Tag nicht vor der Nacht. Jedenfalls

werden die Münsteraner die Nacht auf den heutigen Tag mit ihrem massierten Großangriff

englischer Flieger so schnell nicht vergessen. (1* 118/631)

Paulheinz Wantzen war mit seiner Frau und weiteren Bekannten bei Freunden eingeladen. Sie

hatten dort allerlei Pils gezischt und manchmal aus Jux „Luftalarm“ gebrummt und allerlei

Unfug getrieben. Um 1:10 Uhr gingen sie in der herrlich hellen Vollmondnacht heim. Sie hörten

verschiedene Motorgeräusche, sahen keine Scheinwerfer. Um 1:25 Uhr waren sie müde

zuhause und lagen wenige Minute später flach. Gegen 1:33 Uhr hörten sie leichte Flakabschüsse

und deutlich 4 oder 5 etwas entfernte Bombeneischläge. Danach kam laut und deutlich

Luftalarm. Wantzen war sofort wieder angezogen, ging nach unten, traf Nachbarn und im

nächsten Augenblick hörten sie fünf weiter Bombeneinschläge, die näher waren. Sie hörten

typische Geräusche englischer Flugzeugmotoren in geringer Höhe, so niedrig wie noch nie. Zu

fünft gingen sie in den Keller, konnten Flugzeuge hören und Abwehrfeuer von leichter und

schwerer Flak, Maschinengewehre und Explosionen von Bomben. Die Jalousien und die

Haustür klirrten, ein oder zweimal wackelte das ganze Haus. Gegen 3 Uhr war plötzlich alles

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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ganz ruhig, bis dahin wurden etwa 50 Bombeneischläge gezählt. Gegen 3:57 Uhr kam

Entwarnung, Wantzen schlief sofort ein.

20. Juni 1940: Tote durch Bomben

Am Morgen, auf dem Wege zur Redaktion, erfuhr ich dann erste Einzelheiten, u.a. auch, dass

es Tote und Verletzte gegeben habe an der Oberschlesier Straße und dass irgendwo noch 2

Leute vermisst würden. In der Redaktion erfuhr ich dann schon eine ganze Menge mehr, zumal

einige unserer Setzer unmittelbar an dem am meisten getroffenen Gebiet wohnen. Alles in allem

hörte ich: An der Oberschlesier Straße wären 3 Häuser ziemlich ganz vernichtet und 10-20

weitere so schwer getroffen, dass sie wohl geräumt werden müssten, um eingerissen zu werden.

(1* 120/639-640)

Abbildung 11: Zerstörung der Häuser 86 und 88, Garten- und- Straßenansicht. Nur Reste vom Keller blieben.

Abbildung 12: Private Todesanzeige der Eheleute Wördemann

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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Maria und Ludwig Wördemann waren seit dem 20. Juni 1899 verheiratet. Er stammte aus

Glandorf, sie aus Bad Laer. Ihre zerfetzten Leichen fand man erst gegen Mittag. In der

Sterbeurkunde steht: Todesursache: Durch Volltreffer einer Fliegerbombe getötet. Sie starben

nachts um 2:10 Uhr, beerdigt wurden sie am Dienstag, den 25. Juni auf dem Zentralfriedhof,

das feierliche Seelenamt war am Mittwoch um 8 Uhr in der Heilig-Geist-Kirche.

Abbildung 13: Die Häuser Oberschlesier Straße 88 und 86, Garten- und- Straßenansicht im Frühjahr 2020

20. Juni 1940: Zerstörte Häuser

Teilweise sei die Evakuierung schon vorgenommen worden. In eine Baulücke zwischen zwei

der nur leicht und meist nur mit Schwemmsteinen gebauten Häuser sei eine schwere Bombe

gefallen, habe die Keller eingedrückt und dadurch die Häuser einstürzen lassen. Es seien dabei

im Keller 6 Personen getötet und insgesamt in den Häusern 100 verletzt worden. Es wären 16

Bomben gefallen (hinterher amtlich: fünf), die eine verheerende Wirkung gehabt hätten. Der

völlig weiß gestrichene Baublock habe aus der Luft wohl den Eindruck einer Kaserne machen

können, außerdem liegt die Schliehenkaserne in unmittelbarer Nähe. Es lägen auch noch einige

Blindgänger in der Gegend und es sei sehr viel angerichtet worden. Die Straßen hätten voller

kleiner, aber auch sehr großer Sprengstücke gelegen, die eifrigst von den Jungen eingesammelt

worden seien. (1* 120/640)

Abbildung 14: Links: 4 Tote und mehrere Verletzte in den Häusern 107 und 109.

Im Hintergrund Häuser am Sudetenweg. Rechts: Der zerstörte Keller im Haus 107

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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Abbildung 15: Die Häuser Oberschlesier Straße 107 und 109 im Frühjahr 2020.

Im Hintergrund Lärmschutzwand zur Umgehungsstraße.

30 bis 40 Verletzte wurden im Clemenshospital verbunden, ein Teil musste zur Behandlung

dort bleiben. Auch im Lazarett Franziskushospital wurden Verletzte behandelt und

untergebracht. Im Reserve-Lazarett Borromäum fand wenig später ein Konzert für Verwundete

statt. Schaulustige standen vor dem Tor; sie wollten Verwundete sehen.

Abbildung 16: Ein Militär-Sanitätsauto bringt Bombenverletzte zum damaligen Clemenshospital

Schriftsetzer Anton Friedrich Tkaczuk war 1870 in Laibach (Österreich) geboren, heiratete

1899 in Münster Sophia Drunkemöller, starb am 20. Juni 1940 um 2:10 Uhr. Als Todesursache

steht in der Sterbeurkunde: Zerreißung der Bauchorgane und Verletzungen des Schädels durch

Fliegerbombe. Auf dem Zentralfriedhof wurde er am 22. Juni 1940 um 10:45 Uhr beerdigt.

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Abbildung 17: Private Todesanzeigen von Anton Friedrich Tkaczuk und Franz Hoischen

Geboren wurde Franz Hoischen 1900 in Münster, heiratete in Münster 1924 Maria Lohkamp.

Er starb am 22. Juni 1940 um 2:10 Uhr, Todesursache: Verletzung des Kopfes und der

Halsorgane, Eröffnung der Brustorgane, durch Fliegerbombe. Beerdigt wurde er auf dem

Zentralfriedhof am 25. Juni 10:45 Uhr, das feierliche Seelenamt in der Heilig-Geist-Kirche war

um 9 Uhr. Er war Inhaber des Schutzwall-Ehrenzeichens.

Abbildung 18: Private Todesanzeigen von Hubert Lange und Heinrich Pieper

Hubert Lange wurde 1899 in Dahlhausen Kreis Hattingen geboren, 1929 heiratete er in Münster

Elisabeth Tapp, er starb am 20. Juni 1940 um 2:10 Uhr, Todesursache: Gefallen beim

feindlichen Fliegerangriff. Lange war Gefreite beim Stab des Landes-Schützen-Bataillons.

Seinen Tod meldete das Oberkommando der Wehrmacht, Wehrmachtauskunftstelle für

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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Kriegsverluste und Kriegsgefangene in Berlin, beim Standesamt Münster am 08. Juli 1940.

Hubert wurde auf dem Zentralfriedhof beerdigt am Montag, den 24. Juni 1940 um 10:30 Uhr,

das Seelenamt in der Heilig-Geist-Kirche war am Dienstag um 8:30 Uhr.

Heinrich Pieper wohnte mit seiner Frau Karoline Welker in Münster Am Schützenhof Nr. 23.

Auf der Oberschlesier Straße wurde er schwer verletzt, zum Clemens-Hospital transportiert, wo

er am 20. Juni um 20 Uhr starb. Todesursache Leber- und Nierenzerreißung infolge

Fliegerangriffs, Kreislaufschwäche. Pieper wurde 1901 in Münster geboren, er war seit 1929

verheiratet. Beerdigt wurde er am Dienstag, den 25. Juni 1940 um 12:15 Uhr auf dem

Zentralfriedhof, am selben Tag war morgens um 8:30 Uhr das Seelenamt in der St. Josef-

Pfarrkirche.

20. Juni 1940: Münsteraner neugierig

Nachmittags klärte sich dann das Bild in Einzelheiten. An der Oberschlesier Straße ist es am

tollsten hergegangen. Hier waren auch die 6 Toten und 27 ernsthaft Verletzten zu verzeichnen.

Zwei alte Leute hatte man mittags gegen 11:30 Uhr noch tot unter den Trümmern

hervorgezogen. Ich rief beim Kommandanten der Schutzpolizei an, der mir vertraulich die

amtlichen, oben angegebenen Zahlen nannte und auch bestätigte, dass rund 60 Bomben gefallen

seien. (1* 121/643)

Halb Münster ist übrigens in völlig undisziplinierter Weise auf der Straße gewesen, um etwas

von dem Bombenangriff zu sehen. Die Polizei und der SHD waren machtlos gegen diese

Mengen, deren Verhalten bei einem neuen Angriff unübersehbare Folgen hätte

heraufbeschwören können. Auch zur Oberschlesier Straße hat eine wahre Völkerwanderung

unmittelbar nach dem Bombenangriff eingesetzt. Alle wollten sehen, wie die Toten und

Verwundeten geborgen wurden. Das Schreien und Jammern sei weithin zu hören gewesen. (1*

121/644)

21. Juni 1940: Noch mehr Bomben

Kurz vor 2 Uhr hatte ich wohl ein Dröhnen gehört, aber nicht darüber nachgedacht und es für

schwere Flak gehalten. Es sind um diese Zeit aber, wieder an der gleichen Stelle in der

Oberschlesier Straße, fünf schwere Bomben – die Angaben schwanken zwischen 225 und 500

Kilo – heruntergekommen, von denen drei explodierten und schweren Sachschaden anrichteten,

aber niemand töteten oder verletzten, und zwei Meter tief im Boden unmittelbar vor einigen

Häusern als Blindgänger stecken blieben. Wieder wurden einige Männer und Frauen aus

unserem Betrieb – darunter Göbel und Böcker – unmittelbar betroffen. Göbel hatte mit seiner

Familie und den übrigen Bewohnern im Keller auf einer niedrigen Bank gesessen. Alle wurden

durch den Luftdruck in den Keller geschleudert und durcheinandergeworfen. Mit weinenden

Frauen und schreienden Kindern muss es schrecklich Szenen gegeben haben! In allen

umliegenden Häusern mussten die Bewohner – größtenteils nur mehr als notdürftig bekleidet –

wegen der Gefährdung der Häuser bis gegen 7:45 Uhr im Keller bleiben. Die ganze Gegend bis

einschließlich Lichterbeck an der Weseler Straße wurde streng abgesperrt. Die Männer und

Frauen, die unbedingt in kriegswichtige Betriebe zur Arbeit mussten, durften dann in

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Begleitung von Kräften der Polizei und des SHD sich kriechend die wichtigsten

Kleidungsstücke aus den Wohnungen unter allen nur erdenklichen Vorsichtsmaßregeln holen

und zur Arbeit gehen. Alle anderen, etwa 300, davon zwei Drittel in dünnen Nachthemden oder

Schlafanzügen, wurden, wie sie waren, evakuiert und in dem Saal der Feuerwehrschule bei Gut

Insel untergebracht. Es müssen sich dabei unglaubliche Szenen abgespielt haben und noch toller

im Laufe des Tages im Saale. Morgens haben sie zunächst alle Kaffee bekommen und Brötchen.

Alle wären fast mit den Nerven völlig herunter gewesen und das Unbekleidetsein habe sich

schließlich immer peinlicher gezeigt, zumal die Münsteraner, von anderswo evakuiert, auch

hier wohnten und mit in die Feuerwehrschule gekommen waren. Unflätige Witze und Zoten

wären an der Tagesordnung gewesen, Mütter mussten im Nachthemd vor all den Männern im

Saal ihre Kinder stillen usw. Die Situation sei immer untragbarer geworden. Gegen Mittag

entschloss man sich, die Leute in ganz kleinen Trupps unter fachmännische Aufsicht in die

Wohnungen zu lassen, damit sie wenigstens das Nötigste sich besorgen konnten. Für die Kinder

sei auch mittags ausgezeichnet gesorgt worden, für Erwachsene habe die Verpflegung nicht für

alle gereicht. (1*124/656-657)

24. Juni 1940: Unterbringung in der Feuerwehrschule

Abends um 20:30 Uhr gab es am Bahnhof und in den Krankenhäusern und Kasernen schon

wieder höchste Alarmbereitschaft, da englische Massenangriffe befürchtet wurden und

angeblich der Anflug von 150 englischen Maschinen gemeldet worden war. Zu Beginn des

Nachtdienstes erzählte mir unser Metteur Göbel von Schicksal der 560 um die Oberschlesier

Straße, die unvorstellbar gut und wie rohe Eier behandelt würden. Seine Frau mit den Kindern

sei in Drensteinfurt untergebracht, die anderen Evakuierten seinen mit Autos in die Hotels

Fürstenhof, Freudiger, evang. Gemeindehaus usw. gebracht worden und hätten Gutscheine für

Frühstück, Mittagessen und Abendessen erhalten. Er selbst, Göbel, sei im Feuerwehrheim

fabelhaft aufgenommen worden und habe kostenlos ein blendendes Essen, Bohnenkaffee, Bier

und Zigaretten erhalten. Man habe ihm auch Quartier, Geld und Brotmarken angeboten.

Abbildung 19: Provinzial-Feuerwehrschule 1937-1943.

Links: Südliche Ansicht von Gut Insel. Rechts: Haupteingang am Inselbogen

Da seit Sonntagmittag nach der Unschädlichmachung von zwei Blindgängern die Weseler und

die Oberschlesier Straße, der Kappenberger Damm und ein Teil der Weseler Straße schon

Samstagabend wieder freigegeben seien, habe er wie viele andere in die vorderen Räume der

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Wohnung wieder einziehen dürfen mit strengem Verbot, den rückwärts gelegenen Hausteil zu

betreten. Gesperrt seien noch die Rüpingstraße, Franz-Hitze-Straße, Eifelstraße und der mittlere

Teil des Kappenberger Damms, eine Bombe in der Eifelstraße, deren Uhrwerk man noch immer

ticken höre, sei nämlich in den Fließsand gerutscht. Bis Sonntagmittag habe man schon einen

fünf Meter tiefen Schacht hinter ihr hergegraben. Man wolle bis zur kritischen 72. Stunde

graben und dann die Bombe sprengen. (1* 126-127 / 671-673)

Wiederaufbau der zerstörten Häuser

Die schwer beschädigten Häuser Nr. 86 und 88 sowie Nr. 107 und 109 wurden schnellstmöglich

wiederaufgebaut. Die Gauhauptstadt Münster sollte möglichst keine Bombenschäden zeigen.

Die Arbeiten wurden ausgeführt von der Bauunternehmung Theodor Schneider, Ewaldistraße

29. Willi, 94 Jahre alt, ein Bekannter von Familie Hagedorn, hat mir erzählt, dass er als

Praktikant bei Fa. Schneider beschäftigt war und beim Wiederaufbau geholfen habe. Sein

Praktikum war erforderlich für den Besuch der Baugewerkschule in Münster, daraus wurde

später die Fachhochschule Münster.

Nach dem Wiederaufbau von Nr. 107 zog die Witwe Maria Hoischen wieder in Ihre Wohnung

ein. Die Witwe Elisabeth Lange bekam eine neue Wohnung im wieder aufgebauten Haus Nr.

86, wo das Ehepaar Wördemann umkam.

Weitere Luftangriffe

Nach dem ersten Luftangriff auf Münster am 16. Mai 1940 folgten bis Dezember 1940 weitere

23 Angriffe. Münster gehörte zu den ersten deutschen Städten, denen nächtliche

Flächenbombardements galten. Nach einem nächtlichen Großangriff am 12. Juni 1943 folgte

der erste Großangriff bei Tageslicht am 10. Oktober 1943 von 15:03 bis 16:30 Uhr. Weite Teile

der Innenstadt wurden zerstört, 473 Zivilpersonen und 200 Soldaten starben an diesem sonnigen

Sonntag.

Friedrich Sonntag, Oberschlesier Straße 74, starb am 22. Oktober 1944 gegen 14:30 Uhr beim

Fliegerangriff. Sein Wohnhaus wurde vollständig zerstört. Friedrich Sonntag wurde 1887 in

Borchertsdorf Kreis Pr. Holland geboren. Seine Eltern August Sonntag und Elisabeth Sonntag

geborene Podloch sind in Borchertsdorf beerdigt. Er heiratete Henriette Karoline Adolfine

Willberg. Haus Nr. 72 wurde beim Angriff stark, Nr. 76 weniger stark beschädigt.

Der letzte und gleichzeitig verheerendste Luftangriff verwüstete am 25. März 1945 die bereits

stark in Mitleidenschaft gezogene Altstadt. In einer knappen Viertelstunde zwischen 10:06 und

10:22 Uhr wurden 112 schweren Bombern und etwa 1.800 Spreng- und 150.000 Brandbomben

abgeworfen, insgesamt 441 Tonnen. Mehr als 700 Menschen starben bei diesem Angriff. Bei

Kriegsende lebten nur noch 17 Familien innerhalb des Promenadenrings. Am 2. April 1945

(Ostermontag) wurde Münster von amerikanischen und britischen Truppen kampflos

eingenommen.

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Gerd Enning: Tote Nachbarn 1940

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Nachwort

Schon früh gab es an der Oberschlesier Straße einen tödlichen Unfall. Ernst Franz Wilhelm

Käufer und seine Frau Agnes Katharina geb. Strohwasser zogen am 1. September 1931 in ihr

Haus Nr. 45 ein zusammen mit den fünf Kindern: Wilhelm Ernst (Erni) *1922, Katharina

Karoline (Käthe) *1923, Ernst Bruno *1925, Elisabeth Pauline (Liesel) *1926, Helmut *1928.

Käthe, 9 Jahre, konnte ihrer Mutter schon helfen: jüngere Geschwister beaufsichtigen,

einkaufen. Sie sollte am 4. August 1933 im Lebensmitteladen Rebbert, Oberschlesier Straße

62, einkaufen. Heute wohnt dort Familie Liesner. Käthes Schwester Liesel, folgte ihr, beachtete

nicht den Möbelwagen vor Nr. 45, verunglückte, kam schwer verletzt ins Clemens-Hospital,

wo sie nachmittags um sechs ein Viertel Uhr, 6 Jahre alt, verstarb. Sie war die erste Tote durch

Unfall an der Oberschlesier Straße!

Käthe (verheiratet Adorf) hat ihr ganzes Leben lang um ihre junge Schwester getrauert. Auch

im hohen Alter machte sie sich noch Vorwürfe: hatte sie nicht genügend auf ihre Schwester

geachtet?

Quellenangaben

1* Paulheinz Wantzen: Das Leben im Krieg 1939 – 1946

Verlag DAS DOKUMENT, Bad Homburg, 2000

Angaben im Text wie z.B. 52/259 bedeuten: Buch Seite 52, im Original-Tagebuch

Seite 259

2* Stadtarchiv Münster: Kriegschronik, Münster im II. Weltkrieg

www.muenster.de/stadt/kriegschronik/chronik.html

3* Stadtarchiv Münster: Zeitungen, Zeitungsausschnitte, Fotos, Sterbeurkunden

Fotos: Abb. 7: Google; Abb. 9, 13, 15: privat; alle anderen Abb.: Stadtarchiv Münster

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Danke

Schon bei „90 Jahre wohnen an der Oberschlesier Straße“ (August 2014) und bei der zweiten

Auflage „92 Jahre Wohnen an der Oberschlesier Straße“ (August 2016) sowie bei „Haus und

Park Sentmaring“ (Juni 2017), Jesuiterbrook“ (April 2018) und „St. Ignatius Kirche“ (August

2018) hat mein Nachbar Peter Büscher mir gute Hilfen gegeben, das Layout besorgt und alles

im Straßenblog veröffentlicht unter der Netzadresse http://oberschlesier.wordpress.com. Für

seine Hilfe danke ich ihm von ganzem Herzen.

Münster, im März 2020

Gerd Enning