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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ (SS 2012) Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp (02.05.2012) Schwerpunkt 2: Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft (Teil 1) Begrüßung - Organisatorisches Input: Filmausschnitt „Matrix“ Arbeitsphase Aussprache („Wirklichkeitsverständnis- Arbeit der Bildungswissenschaften“) Vortrag: „Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft“ Arbeitsphase 2 Aussprache - Diskussion

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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ (SS 2012)

Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp

(02.05.2012)

Schwerpunkt 2:

Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft

(Teil 1)

• Begrüßung - Organisatorisches

• Input: Filmausschnitt „Matrix“

• Arbeitsphase – Aussprache („Wirklichkeitsverständnis-

Arbeit der Bildungswissenschaften“)

• Vortrag: „Theorien der Erziehungs- und

Bildungswissenschaft“

• Arbeitsphase 2 – Aussprache - Diskussion

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Arbeitsfragen zum Film „Matrix“:

1. Beschreiben Sie das der

Filmhandlung zu Grunde liegende

Wirklichkeitsverständnis.

...

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Arbeitsfragen zum Film „Matrix“:

2. Benennen Sie Konsequenzen, die sich

daraus für die Arbeit der

Bildungswissenschaft ergeben.

3. Benennen Sie Konsequenzen, die sich

daraus für die Arbeit in pädagogischen

Handlungsfeldern ergeben.

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Grundlagentheorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft

Wir werden uns in den nächsten beiden Sitzungen mit den

Grundlagentheorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft

auseinandersetzen:

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

Empirismus und Kritischer Rationalismus

Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft

Strukturfunktionalismus und Systemtheorie

Konstruktivismus und Pragmatismus

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Geisteswissenschaftliche Pädagogik

Die Gründerfigur der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist Wilhelm Dilthey

(1833-1911).

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In seiner Wissenschaftstheorie begründet Dilthey die

Geisteswissenschaft in Abgrenzung zur Naturwissenschaft. Er

versteht darunter alle Wissenschaften, die sich auf die Menschen und

ihre soziohistorischen Verhältnisse beziehen.

Für die Geisteswissenschaften sind die naturwissenschaftlichen

Methoden nicht passend. Sie brauchen ihre eigene

wissenschaftstheoretische Grundlegung und haben eine eigene

Methode des Erkenntnisgewinns, die Hermeneutik.

Die Naturwissenschaften verstehen es als ihre Aufgabe Verhalten zu

erklären. In den Geisteswissenschaften geht es darum, die

psychischen Zustände eines Menschen in ihrer Bedeutung zu

verstehen und sinnverstehend zu deuten.

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Klassiker der geisteswissenschaftlichen Pädagogik

Eduard Spranger (1882-1963)

Hermann Nohl (1879-1960)

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Wilhelm Flitner (1889-1990)

Erich Weniger (1893-1961)

Theodor Litt (1880-1962)

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Theoretische Grundlagen

Der Ausgangspunkt für eine allgemeingültige Theorie der

Bildung ist die Tatsache der Erziehungswirklichkeit. Sie

versteht sich als engagierte theoretische Reflektion der

pädagogischen Praxis.

Die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als

hermeneutischer Disziplin ist es dann, die Bedeutung der

Erziehungswirklichkeit zu erfassen.

Die Erziehungswirklichkeit ist das Ergebnis einer

sozialhistorischen und einer individualhistorischen Entwicklung,

die sich im Erzieher-Zögling-Verhältnis harmonisch verbindet.

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Vorgehensweisen

Teilnehmende Beobachtung konkreter pädagogischer

Erziehungssituationen

Der Rückgriff auf eigene pädagogische Erfahrungen,

um sich in jemanden hineinzuversetzen, als

„Wiederfinden des Ich im Du“

Rückgriff auf gemeinsame Erfahrungen im Kreis einer

pädagogischen Gemeinschaft, der Austausch unter

Kollegen

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Chardin: Die kleine Schulmeisterin

Was können Sie beobachten? Welche eigenen Erfahrungen verbinden Sie mit dem Bild?

Tauschen Sie sich aus.

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Folgerungen für die pädagogische Praxis

Das Ziel der Erziehung ist die Bildung, nicht die Vermittlung von

Qualifikationen.

Bildung ist historisch bestimmt entlang der grundlegenden Kenntnisse,

Fähigkeiten und Einstellungen, die für das Leben des Einzelnen

innerhalb eines spezifischen Kulturraums notwendig erscheinen.

Bildung ist daher doppelt zu sehen: einmal gesellschaftlich durch die

Vermittlung der für die jeweilige historischen Epoche bedeutsamen

Kenntnisse, Methoden und Normen und das andere Mal individuell

durch die Unterstützung des Einzelnen in seiner individuellen

Entwicklung.

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Probleme

Quantitativ-empirische Forschung hält die hermeneutische

Methode für unwissenschaftlich, da bloß subjektiv und nicht

überprüfbar.

Kritische Erziehungswissenschaft kritisiert, dass der deduktiven

Logik verhaftet bleibt und den qua Traditionsbezug

strukturellen Konservativismus.

Vor allem aber bleibt der Ansatz der geisteswissenschaftlichen

Pädagogik gegenüber der sozialen Realität abstrakt, da er von

einer idealisierten „platonischen“ Gesellschaft ausgeht, die es

durch Pädagogik zu erreichen gilt.

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

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Theoretische Grundlagen

Empiristische Pädagogik als eine Gegenbewegung zur

geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Sie richtet sich am Muster

der aufstrebenden Naturwissenschaften aus.

Die Basis der Erziehungswissenschaft sind dann die

„pädagogischen Tatsachen“, auf denen wissenschaftliche

Theorien basieren müssen.

Die Erfassung dieser Tatsachen beruht nicht auf als zufällig

angesehenen subjektiven Erfahrungen, sondern auf

methodisch kontrollierter Beobachtung und Messung von

Einzeldaten. Aus diesen Experimenten wird dann induktiv auf

generell geltende pädagogische Gesetze geschlossen.

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Probleme

Die Deskription wird unerkannt zur präskiptiv-normativen

Empfehlung für das praktische pädagogische Handeln.

Die frühe experimentelle Erziehungswissenschaft kann die verblasenen

Ideen der Pädagogik kritisieren, allerdings reduziert sie die

Komplexität pädagogischer Handlungs- und Problemfelder.

In pädagogischen Situation geht es nicht nur um objektiv messbares

Verhalten und Verhaltensänderungen, sondern um das Handeln von

Lernenden und Lehrenden.

Verzicht auf wissenschaftlich angeleitete Verbesserung der

pädagogischen Praxis.

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Hauptvertreter des kritischen Rationalismus ist Sir Karl Raimund Popper

(1902-1994)

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Hauptthesen des Kritischen Rationalismus

Reaktion auf das Problem induktiver Forschung. Gesetzesaussagen

werden als Hypothesen verstanden, die experimentell geprüft werden.

Tatsachen sind nicht objektiv gegeben, sondern beruhen auf

begrifflichen, theoretischen Unterscheidungen.

Die Erziehungswissenschaft hat die Aufgabe, Theorien zu finden, die

jeweils streng auf ihre Falsifizierbarkeit geprüft werden. Dabei muss auf

normative Wertaussagen Verzicht geleistet werden.

Empirische Wissenschaft ist eine rein theoretische Disziplin,

dennoch soll sie auch Erklärungen, Prognosen und Technologien für

praktisches pädagogisches Handeln bereitstellen.

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Wolfgang Brezinka (1928) versucht auf der Basis des Kritischen

Rationalismus von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft zu kommen.

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Thesen Brezinkas

• Erziehungswissenschaft soll sich von traditionellen, normativen Aussagen

der Pädagogik entfernen, da diese empirisch nicht abgesichert seien.

• Erziehungswissenschaft soll bestimmt sein als System von Aussagen

über den Objektbereich Erziehung.

• Die daraus gewonnenen generalisierten Gesetzesaussagen sollen in

Erklärungen, Prognosen und Technologien für praktisches

pädagogisches Handeln umgesetzt werden.

• Erziehungswissenschaft soll wertfrei sein, um intersubjektiv überprüfbar zu

bleiben. Sie soll daher deskriptiv sein, nicht normativ oder emotiv.

• Neben die Wissenschaft der Erziehung soll es eine praktische Pädagogik

geben als System von Empfehlungen für das praktische Handeln in der

pädagogischen Praxis.

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Probleme

• Die Autonomie des Einzelfall wird gestrichen. Der Maßstab ist nicht die

Wahrheit des Einzelfalls, sondern der Erfolg und die Effizienz nach dem

Gesetz der großen Zahl.

• Mentale Zustände und Prozesse wie Gedanken, Gefühle und

Empfindungen werden nicht erfasst.

• Die Festlegung von Forschungsmethoden ist nicht objektiv und wertfrei,

sondern eine normative Entscheidung und Festlegung.

• Durch das Ausblenden des Subjektbezugs muss auf Folgen der

Forschungsmethoden auf die Versuchspersonen nicht geachtet werden.

• Trotz einer großen Zahl an empirischen Untersuchungen ist es nicht

gelungen, einfache Aussagen im Wenn-Dann-Schema zu bestätigen. Denn

pädagogische Situationen sind gekennzeichnet durch Momente der

Ungewissheit, Komplexität, Instabilität, Unaustauschbarkeit und von

Zielkonflikten.

Empirismus und kritischer Rationalismus

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Gegen die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und gegen die Kritisch-

Rationalistischen Pädagogik mit ihrem Verfahren der quantitativen Empirie

richtet sich die Kritische Theorie. Die Hauptvertreter sind Theodor W. Adorno

(1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973).

Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft

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Hauptthesen

Gesellschaftliche Tatsachen sind von Menschen erzeugt und daher auch

veränderbar. Die empirischen Erfahrungen sind durch Begriffe und

Lebensweisen geprägt, die von der historischen Situationen in Sprache und

Kultur abhängen und damit auch wandelbar sind.

Das Ziel ist durch Aufklärung zu einer Veränderung der gesellschaftlichen

Verhältnisse beizutragen, so dass Menschen selbstbestimmt und frei von

Zwängen ihr Zusammenleben organisieren können.

Das bisher uneingelöste Versprechen der Aufklärung ist die Befreiung der

Menschen von überflüssig gewordenen sozialen Zwängen.

Die methodologische Grundlage der kritischen Theorie ist objektives

Sinnverstehen, wobei die Strukturen, Prozesse und Regeln angegeben

werden, die soziale Tatsachen zu erklären helfen.

Kritische Theorie und kritische

Erziehungswissenschaft

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Probleme der kritischen Theorie

• Das Forschungsprogramm einer kritischen Theorie ist

bisher nur ansatzweise eingelöst worden.

• Die methodologische Grundlage des objektiven

Sinnverstehens bleibt präzisierungsbedürftig.

• Das Fehlen konkreter Ansatzpunkte für

Veränderungsprozesse macht es schwierig, einen Weg

zu finden, der zu mehr Autonomie führt.

Kritische Theorie und kritische

Erziehungswissenschaft

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Die kritische Erziehungswissenschaft nimmt nicht die kritische Theorie Adorno

und Horkheimers auf, sondern die Theorie der erkenntnisleitenden Interessen

von Jürgen Habermas.

Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft

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Grundthesen

Habermas geht in seiner Klärung wissenschaftlicher Erkenntnis davon aus,

dass Gesellschaften sich über Sprache, Arbeit und Herrschaft organisieren.

Mit diesen drei Medien sind für ihn unterschiedliche Interessen verknüpft, die in

unterschiedlichen Wissenschaftsformen auftreten.

Mit Arbeit verknüpft ist soziales Interesse an Erweiterung technischer Verfü-

gungsgewalt. Mit Sprache verknüpft ist ein soziales Interesse an lebens-

praktischer wechselseitiger Verständigung. Mit Herrschaft verknüpft ist ein

soziales Interesse des Zwanges zur Selbsterhaltung und damit verbunden

das Interesse an Befreiung von unnötigen Zwängen.

Diesen sozialen Interessen ordnet Habermas wissenschaftliche Interessen zu.

Den naturwissenschaftlichen Theorien und den empirischen verhaltenswissen-

schaftlichen Theorien liegt ein technisches Erkenntnisinteresse zugrunde, den

hermeneutischen Theorien, die auf Verständigung zielen, ein praktisches Er-

kenntnisinteresse und den kritisch orientierten Theorien ein emanzipatori-

sches Erkenntnisinteresse.

Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft

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• Seit Mitte der 1960er Jahre wird versucht, Erkenntnisse und Argumente der

kritischen Theorie auch für die Erziehungswissenschaft fruchtbar zu

machen. Als Hauptvertreter können betrachtet werden: Klaus Mollenhauer

(1928- 1998), Herwig Blankertz (1927-1983) und Wolfgang Klafki (1927).

Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft

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Hauptthesen

Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist, ideologiekritisch die

Abhängigkeit der Erziehung von sozialen Prozessen und Strukturen

nachzuweisen.

Der Begriff Emanzipation erhält bildungstheoretisch zentralen Stellenwert

in einer doppelten Wendung: Emanzipation von Herrschaft und

Emanzipation zu Mündigkeit und Selbstbestimmung.

Bildung wird dabei an einem emphatischen Begriff von Emanzipation

orientiert, der allerdings in den Niederungen des pädagogischen

Alltagsgeschäfts kaum noch gefunden, denn verkörpert werden kann.

Kritische Theorie und kritische

Erziehungswissenschaft

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Folgen für die pädagogische Praxis

• Schulkritik unter dem Anspruch der Emanzipation

• Entwicklung von Erziehungszielen unter dem Anspruch

von Emanzipation

• Emanzipatorischer Unterricht

Kritische Theorie und kritische

Erziehungswissenschaft

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Probleme

• Pädagogische Praxis weitgehend routinisiert, daher auf Dauer gestellte

Reflektion kaum durchhaltbar.

• Die kritische Erziehungswissenschaft hat keine eigene Methode

entwickelt, sie verbindet im Sinn der Sachgerechtigkeit quantitative und

hermeneutische methodische Verfahren und nimmt zur Lösung praktischer

pädagogischer Probleme Bezug auf die Handlungsforschung

• Emanzipation kann nicht nur als die Autonomiewerdung eines Einzelnen

verstanden werden, sondern der Einzelne wird auch dann erst wirklich

emanzipiert sein, wenn die gesamte Weltgesellschaft emanzipiert ist.

• Im Rahmen kritischer Erziehungswissenschaft ist das empirische Wissen

über den Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft weitgehend auf

den Bereich historischer Studien beschränkt.

Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft

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Abstimmung von Arbeitsmarkt und Schule

im Zeitalter der großen Industrie

Merkmale

industrieller

Arbeitsorganisation

Erwünschtes

Arbeits- und

Sozialverhalten

Merkmale

schulischer

Organisation

Innerbetriebliche

Hierarchisierung der

Funktion und

Funktionäre

Unterordnung,

Gehorsam

Innerschulische

Hierarchisierung der

Lernstufen

Innerbetrieblicher

Bewährungsaufstieg

Aufstiegsorientierung Sitzen bleiben und

versetzt werden

Rigide Arbeitsplanung

und Arbeitskontrolle

Pünktlichkeit Bürokratisierung der

Lernzeiten

(Stundenplan, 45

Minuten Takt)

Akkordentlohnung nach

produzierter Stückzahl

Regelmäßigkeit Schulzensur als

Belohnungs- und

Bestrafungsinstrument

Welche Umstellungen können Sie in der gegenwärtigen Umstellung

auf Eigenverantwortung und Flexibilisierung erkennen?

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Impulsfrage:

• „Heraus aus der Welt der Schatten“ –

Wirklichkeit oder Utopie in der Welt der

Bildungswissenschaften?