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VP VOODOO PRESS Aus dem Amerikanischen von Verena Hacker

VP - voodoo-press.de file7 21 Kilometer ostsüdöstlich von Dateland Sonora - Wüste Arizona Der grün-weiße Ford Explorer rast durch das Wüsten-gebiet, zieht dabei einen

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VPVOODOO

PRESS

Aus dem Amerikanischen von Verena Hacker

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Sunblind«

bei DarkFuse

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlich-keiten mit lebenden oder verstorbenen Perso-nen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmi-

gung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektroni-scher Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Voodoo Press www.voodoo-press.de

© 2014 by Michael McBridePublished by arrangement with the author

© für die deutschsprachige Ausgabe 2016 by Voodoo PressTitelbild: © Voodoo Press

Lektorat: Scriptmanufaktur.de ISBN: 978-99957-56-04-8 (Print)

ISBN: 978-99957-56-23-9 (E-Book)

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Auszug aus einem Zeitungsartikel:

»Arizonas düsteres Fundbüro: Ein gewagtes Projekt ana-lysiert Besitztümer in dem Versuch, die sterblichen Über-reste von Migranten zu identifizieren, die in Arizonas So-nora Wüste gefunden wurden.« Von John M. Glionna, Los Angeles Times (17. Oktober 2012)

»Die Leichen werden unter Bäumen, in der Nähe von Fel-sen, im Gebüsch oder auf freiem Feld gefunden«, sagt Gre-gory Hess, Prima Countys leitender Gerichtsmediziner. »Oft sterben die Leute in unmittelbarer Nähe der Straße, die sie zu erreichen versuchten.«

»Seit 2001 wurden mehr als 2035 Leichen illegaler Grenzgänger in der Wüste südlich von Tucson ent-deckt. Die Höchstzahl wird im Sommer erreicht, wenn die Temperaturen 48 Grad Celsius überschreiten und nicht weniger als 60 Leichen pro Monat aus den Sträuchern und dem Sand gezogen werden. Manche sterblichen Über-reste liegen erst einige Tage dort; andere sind bereits ske-lettiert.«

An Hyperthermie zu sterben, ist qualvoll: Die Opfer würden verwirrt und paranoid, so Hess. Manche Grenz-gänger bestehen womöglich ihren Gefährten gegenüber stur darauf, nicht mehr weitergehen zu können. Einige rei-ßen sich die Kleider vom Leib, bevor sie zusammenbre-chen. Oft findet man nur noch die Gegenstände, die sie in ihren Hosentaschen trugen.

Über 700 Leichen können nicht identifiziert werden. [Robin] Reineke [Koordinator des Prima Countys Projekt Vermisste Migranten] und andere durchwühlen die Hab-seligkeiten und versuchen, die Toten den 1300 Vermiss-tenanzeigen zuzuordnen, die aus Zentralamerika und Mexiko von Familien und Menschenrechtsgruppen an die örtlichen Konsulate weitergegeben werden.

22. SEPTEMBERHEUTE

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21 Kilometer ostsüdöstlich von DatelandSonora - Wüste

Arizona

Der grün-weiße Ford Explorer rast durch das Wüsten-gebiet, zieht dabei einen Rattenschwanz aus Staub hin-ter sich her, der sich im Nachthimmel auflöst. Zahlrei-che Sterne sind heute Nacht am Himmel zu sehen, aber mit dem Mond als abnehmende Sichel stellen sie kaum mehr als eine Ablenkung von der Dunkelheit dar. Links und rechts der frisch aufgeschütteten Schotterstraße kau-ern gekrümmte Silhouetten von Parkinsonien, dazwischen vereinzelt mistgabelförmige Saguaro-Kakteen. Nur die Scheinwerfer erzeugen etwas Licht, jedoch ist das Fahr-zeug so schnell, dass es sie beinahe überholt. Der Fahrer hält auf dem Schotter Ausschau nach irgendeiner Spur, ob jemand versucht hat, die Straße zu überqueren – Spu-ren, die er mittlerweile im Schlaf lesen kann –, während er die Schatten auf jeder Straßenseite aus dem Augenwin-kel genau beobachtet.

Christian Rivera, Agent des Veganza Grenzschutzes, ist die Straße öfter gefahren, als er zählen kann, seit der Zeit als Neuling, als er jeden Morgen das Gitter gezogen hat, bis zu seiner jetzigen Aufgabe als Spurenleser, der ei-nen einzigen Fußabdruck bei 128 Stundenkilometern er-kennen kann.

Im Inneren des Fahrzeugs unterdrückt Agent Rivera ein Gähnen und lauscht dem Stimmenchaos aus seinem Sen-deempfänger. Im Südwesten, in der Nähe des Lukeville-Grenzübergangs, waren Kollegen in eine Verfolgungsjagd eines Toyota Tacoma durch die offene Sonora Wüste ver-wickelt, während andere Agenten auf Quads eine Gruppe UDAs – illegale Einwanderer – im Organ Pipe Cactus Nati-onal Monument einfingen. Für seine Begriffe scheint er je-doch die einzige lebende Person auf dem Planeten zu sein.

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In einem Versuch, die Langeweile zu bekämpfen, dreht er das Radio auf. Alles oder nichts, das gilt hier draußen. Entweder verbringt man seine ganze Schicht damit, Nasse – ein Begriff seiner Kollegen in Texas, die ihre Beute re-gelmäßig aus dem Rio Grande schleiften – zu verhaften und mit einer vollen Ladung nach Achselhöhlen und Hin-tern stinkender Leichen immer wieder zur Ajo Station zu gondeln, oder man fährt mit dem Daumen im Arsch in der Dunkelheit diese Straßen entlang, während man den an-deren bei ihren Abenteuern zuhört.

Heute Nacht würde es wohl so eine Nacht für ihn wer-den. Allein und mitten im Nirgendwo mit einer Slim Jim Zigarette, die ihm wie eine Zigarre aus seinem Mundwin-kel hängt, und einer Kühltasche voller Monster-Energy-drinks, leistet ihm niemand anderer außer den Jungs von Avengend Sevenold Gesellschaft.

Es sind Nächte wie diese, in denen er zu viel Zeit al-lein mit seinen Gedanken hat, in denen er anfängt, sich zu fragen, ob alles, was sie tun, nicht ein einziges Puppen-theater ist, das für die Politiker in D.C. aufgeführt wird …

Zwei runde Lichtblitze.Er tritt scharf auf die Bremse und gerät zur Melodie

der Kieselsteine, die am Fahrgestell und den Radkästen abprallen, ins Schleudern. Der Explorer dreht sich und kommt zum Stehen. Rivera schaut sich die Reflexion seiner Scheinwerfer in den Augen eines Kojoten genau an, bevor sich die Staubwolke, die ihn verfolgt, über seinen Wagen legt.

Der Motor brummt im Leerlauf. Rivera schaltet die Scheibenwischer ein, die in großen Bögen den Staub en-tfernen, sodass er den verdammten Köter sehen kann, der immer noch mitten auf der Straße steht. Er besteht aus Haut und Knochen und sein Fell ist stellenweise von Mil-ben befallen. Er senkt den Kopf, stellt die Nackenhaare auf und fletscht die Zähne. Sein Maul ist blutverschmiert.

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Riveras Bremslichter lassen die belaubten Äste der Parkisonien in seinem Rück- und Seitenspiegel schar-lachrot erscheinen. Der Käfig hinter ihm ist sichtbar leer. In einer stressigen Nacht würde er wahrscheinlich einfach hupen und den Bastard von der Straße vertreiben.

Aber heute ist keine stressige Nacht.Die Anzeige auf der Armatur verrät, dass es immer

noch über vier Stunden bis zum Sonnenaufgang und zum Schichtwechsel sind. Es herrschen bereits über 32 Grad Celsius.

Er dreht das Radio leiser und beobachtet den Kojoten, der weiterhin seine Mahlzeit verteidigt, die Rivera aus die-sem Winkel nicht sehen kann. Die rechte Straßenseite ist mit den Spuren des Tieres übersät, sie führen hauptsäch-lich zu einer Lücke zwischen zwei Bäumen.

Man kann gar nicht so viel Zeit wie er in dieser Wüste verbringen, ohne eine empathische Beziehung mit ihr aufzubauen. Die Sonora ist einer der schönsten und atem-beraubendsten Plätze auf der Erdoberfläche, aber sie ist auch eine mitleidlose, mörderische Bestie, deren Sand die Knochen zahlloser Generationen bedeckt, die sich auf den Weg gemacht hatten, sie zu bezwingen. Nicht zuletzt sen-det sie genügend Warnzeichen, wenn etwas nicht stimmt, solange man weiß, wie ihre Signale zu deuten sind.

Die Haare auf seinem Oberarm richten sich auf. Etwas stimmt definitiv nicht.

Rivera schaltet den Motor ab und jongliert mit dem Schlüssel auf der Handfläche, bevor er ihn schließlich einsteckt. Der Kojote starrt ihn im Licht der Scheinwer-fer noch einen Moment an, bevor er zu den Bäumen trottet und verschwindet.

Rivera hat eine halbautomatische Heckler & Koch P2000 Pistole, .40 Kaliber, im Halfter an seiner rechten Hüfte, entscheidet sich aber stattdessen für die .12 Kaliber Remington Pumpgun, die aufrecht auf seinen Rücken

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geschnallt ist. Wenn er schon im Dunkeln ein Tier er-schießen muss, will er den Vorteil der großflächigen Streu-ung der Schrotkugeln nutzen, den sie bietet. Er öffnet die Tür, und die Innenbeleuchtung strahlt auf den Schotter, der unter seinen Schuhsohlen knirscht, als er vorsichtig aussteigt. Er läuft vorn um den Explorer und schaut über die Scheinwerfer hinaus zu den Bäumen, wo er die auf den Ästen hockenden Truthahngeier schnaufen und knur-ren hört. Weitere kreisen fast unsichtbar über ihm, ihre dunklen Umrisse verschmelzen mit dem Nachthimmel.

Er zieht das Walkie-Talkie aus dem Halfter an seinem Gürtel und hält es vor seinen Mund.

»Zentrale, hier India Mike Vier - Eins - Neun. Seht ihr irgendeine Aktivität auf der Venganza- Straße in der Nähe von Oscar 22? Ende.«

»Negativ, Rivera. Keiner der Bewegungsmelder ist aus-gelöst worden, und sie pendeln wieder zurück, sobald ich sie teste. Ende.«

Er tauscht das Funkgerät gegen seine Mini-Maglite Taschenlampe aus, die an seinem Waffengurt hängt, und befestigt sie an der Unterseite des Schrotflintenlaufs. Dann stemmt er den Schaft gegen die Schulter und richtet den Lichtstrahl auf die Bäume.

Ein Rascheln, und die Blätter wackeln. Im Licht der Taschenlampe funkeln sie wie die Schuppen einer Klap-perschlange. Dann das schnaubende Geräusch eines Bus-sards, der über das Geröll hüpft.

Rivera dringt vor, die Scheinwerfer strahlen seine tan-nengrüne Einsatzbekleidung an und werfen seinen verlän-gerten Schatten auf die Straße.

Die Spuren des Kojoten sind überall. Wie auch die winzigen Blutstropfen, die aus seinem Maul getropft sein müssen.

Rivera kämpft sich mit der Schulter voran durch die Büsche und schwenkt den Lichtstrahl von links nach

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rechts, ein Labyrinth aus Parkinsonien zum Vorschein bringend, das sich schier unendlich über die Fläche er-streckt.

Ein grauer Schleier, als der Kojote aus dem Licht huscht.Ein Bussard flieht von der Baumkrone, auf der er sich

niedergelassen hat, und erhebt sich aufgebracht schnaubend in die Lüfte. Ein anderer breitet seine Flügel aus, hüpft außer Sichtweite und lässt …

Rivera greift zum Funkgerät.»India Mike Vier – Eins - Neun. Ich habe eine Leiche.

Ende.«Er geht neben dem auf dem Bauch liegenden Körper

einer Frau in die Hocke. Die Spuren deuten an, dass sie sich nicht bemüht hat, aufzustehen, nachdem sie schlicht vor-wärtsgetaumelt ist, bis sie zusammenbrach. Ihre schwarzen Haare sind verfilzt und mit Kletten gespickt. Ihre nackten Füße schauen an den Stellen heraus, wo die Schuhsohlen abgenutzt sind.

»Einheiten Vier – Drei - Sechs und Zwei – Neun - Acht unterwegs. Voraussichtliche Ankunftszeit zwanzig Minuten. Ende.«

Der rechte Arm der Frau ist ausgestreckt, als greife sie nach irgendetwas. Das Muskelfleisch an Hand und Un-terarm ist ausgezehrt und von zahlreichen Pfotenspuren umgeben. Das blutige Gewebe schillert im Schein der Taschenlampe. Ebenso die amöbenartigen Formen auf ihrem Rücken und ihren Oberschenkeln, wo die Aasgeier sie mit ihren scharfen Schnäbeln untersucht haben.

Erschrocken stellt Rivera fest, dass sie als Reaktion auf den Versuch der Vögel sie zu fressen immer noch blutet …

»Herrgott … sie ist noch am Leben.« Und dann in sein Funkgerät: »Ich brauche einen Rettungshubschrauber zu diesen Koordinaten! Sofort, verdammt!«

Er löst die Maglite vom Gewehrlauf und wirft die Schrotflinte beiseite. Dann dreht er die Frau um. Erde klebt

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an ihrem Gesicht, das verbrannt und beinahe schwarz ist. Ihre Lippen sind spröde und schälen sich, ihre Zunge ist angeschwollen. Ihre Augenlider sind so trocken, dass sie knacken, als er sie hochzieht und mit dem Lichtstrahl in die Augen leuchtet, die eine verschwommene pinke Fär-bung angenommen haben. Die Pupillen sind ungleichmä-ßig und reagieren nicht auf das Licht. Er hält sein Ohr an ihre Lippen und tastet nach der Halsschlagader. Falls sie atmet, kann er es nicht fühlen, und ihr Puls ist so schwach, dass er sich fragt, ob er ihn sich einbildet.

Von weitem hallt das Dröhnen der Hubschrauberrotor-blätter über die Wüste.

Er hat hier draußen in der Sorona schon früher Leichen gefunden, und diese Frau sieht nicht anders aus als die an-deren. Selbst wenn sie durch außerordentliches Glück über-lebt, bis der Rettungshubschrauber eintrifft, ist er sicher, dass man sie niemals rechtzeitig zur Unfallklinik der Uni-versität von Arizona bringen wird.

Er nimmt ihre Hand und flüstert: »Mayo tu muerte ser pacifico. Möge dein Tod friedlich sein.«

Er beobachtet ihre Brust, unfähig zu erkennen, ob sie noch atmet. Ihr Top ist zerrissen und ihr weißer BH ist mit brauner Erde beschmutzt. Der Sonnenbrand und die Bla-sen auf ihrer Haut sind mit Erde verkrustet.

Das Geräusch des näherkommenden Hubschraubers wird lauter, und die Äste der Bäume beginnen zu wackeln und verteilen Blätter um sich herum. Der Wind wird zu-nehmend stärker, bis der Hubschrauberabwind die Haare über das Gesicht der Frau peitscht und nicht die eiternden Verbrennungen dritten Grades zum Vorschein bringt, die er erwartet hat, sondern eine Reihe zerklüfteter Fleischwun-den, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Stadiums der De-hydrierung kaum geblutet haben. Die Ränder haben sich lediglich abgelöst und sind jetzt mit Dreck gefüllt, was ihre Muster noch offensichtlicher macht.

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Ein heller Scheinwerferstrahl streift über sie, und der orkanartige Sturm droht die Bäume zu entwurzeln. Das mechanische Donnern wird zu einem schrillen Jaulen, als der Rettungshubschrauber auf der Straße neben dem Ex-plorer landet. Rivera hört Stimmen. Rufe.

Er starrt weiterhin die Fleischwunden auf ihrer Brust an, von einer wackeligen Hand in ihr Muskelfleisch ge-ritzt, die ihre eigene war, wie er vermutet. Die Risse bil-den Worte. Deutlich. Unmissverständlich. Zwei Worte nebeneinander, eines unterhalb jedes Schlüsselbeins. Ein Drittes über ihren Brüsten.

TODOS MUERTOSCÁMARA

»Alle tot? Welche Kamera?«Sie drückt seine Hand fester, wenn auch immer noch

schwach.Er schaut ihr ins Gesicht und glaubt fast, Lippenbewe-

gungen zu sehen. Ein weiteres kaum zu spürendes Drücken seiner Hand, dieses Mal ist er sicher, dass sie zu sprechen versucht. Er beugt sich näher heran und hält sein Ohr an ihren Mund. Sein anderes Ohr hält er sich zu, als die Sani-täter sich durch die Zweige der Parkinsonien kämpfen und näherkommen. Das rote und blaue Licht der eintreffen-den Bodeneinheiten erleuchtet den Himmel. Ihre Stimme ist so schwach, dass er nicht ganz sicher sein kann, ob sie überhaupt gesprochen hat.

Die Sanitäter schubsen ihn beiseite, und er landet auf dem Hintern. Er kann nur hilflos mit ansehen, wie sie die Frau auf eine hellorange Schaufeltrage schnallen, ihre Worte hallen in seinem Kopf wider.

»… matarte a ti tambien.«… tötet dich auch.

17.SEPTEMBER ERSTER TAG

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I

Altar, SonoraMexiko

Altar, Sonora, war eine Stadt des Bösen, ein Ort, den Träume zum Sterben aufsuchten und an dem sie in an-onymen Gräbern in der Wüste begraben wurden. Sie er-streckte sich über vier Blocks am Federal Highway 2 und hatte eine Bevölkerung, die sich wegen des Kommens und Gehens der Busse und Lieferwägen, vollgestopft mit Män-nern und Frauen, deren Augen vor Verzweiflung schwel-ten, die verschwindende Glut von etwas, das einst das Feuer der Hoffnung gewesen war, von einer Stunde auf die andere änderte.

Im Herzen von Altar stand die Nuestra Señora de Gu-adalupe Kirche, eine spanische Missionsstation, die im Gegensatz zu den verwitterten Bauten in ihrer Umgebung entlang der Straße in trügerisch gutem Zustand war. Die Kirche wurde vom wunderschönen Hof des Plaza de Al-tar mit seinen blühenden Palmen, dem verzierten Brunnen und einem goldenem Pavillon umgeben. Die Kirchenglo-cken läuteten auf die Tausenden herab, die, ausgespuckt von den Fahrzeugen, die nur so lange am Bordstein hiel-ten, dass die Passagiere lediglich herausstolpern konnten, bevor sie wieder dorthin zurückkehrten, wo immer sie her-gekommen waren, um weitere Personen abzuholen, jeden Tag den Platz überfluteten. Diese Leute zerstreuten sich in der Menge und liefen scheinbar orientierungslos um-her, obwohl sie alle das gleiche Ziel hatten.

Manche schlenderten über die Straße, um sich die Wa-ren der Straßenverkäufer in Zelten und unter mit Planen behangenen Aluminiumgestellen genau anzusehen, wo sie Kleidung jeden Stils – von tarnfarben bis rabenschwarz – finden und sich mit passenden Rucksäcken und Sturm-

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hauben ausstatten konnten. Ein Lebensmittelgeschäft hatte Wasserbehälter und Regale mit abschwellenden Mitteln und Diätpillen ganz vorne neben den Energydrinks und Augentropfen aufgestellt. Auf der Straße verkauften Ein-heimische Tamales und Tacos von den Ladeflächen ih-rer Lastwagen, wo sie mit ihren Servierlöffeln die Flie-gen von den Fleischtöpfen verscheuchten. Kinder boten Flaschen mit Bleich- und Antifrostschutzmitteln, die mit braunem Fluss- und Brunnenwasser gefüllt waren, und Teppichfetzen und Schaumstoffabfälle, die man sich un-ter die Schuhe klebte, zum Verkauf an.

Die ganze Stadt hatte sich dem Geschäft des Menschen-schmuggels verschrieben.

Für die Mehrheit dieser Männer und Frauen war das hier nur ein weiterer Halt an einer scheinbar endlosen Straße. Manche waren von so weit her wie aus Peru oder Bolivien gekommen, Reisen, die Monate gedauert hatten, um zu die-sem Ort, 100 Kilometer von der amerikanischen Grenze entfernt, vorzudringen. Die meisten hatten ihre ganzen Er-sparnisse für den Transport ausgegeben, während andere taten, was sie tun mussten, um die Fahrt zu bezahlen. Und das alles, damit sie sich auf dem rot angestrichenen Beton-hof drängen und auf die Bordsteine, die Stufen oder den Brunnenrand setzen und beobachten konnten, wie Frisch-fleisch ankam und sich ihnen wortlos anschloss, während Kojoten – Menschenschmuggler – ihre Dienste mit einem räuberischen Grinsen im Gesicht anboten. Einige schliefen direkt auf dem Boden, sie warteten auf den Einbruch der Nacht, wenn sich der Platz leerte und die Reisenden Un-terkunft in den hopidajes – Gästehäusern – suchten, wo sie sich für einen absurden Preis ein Zimmer mit 20 Gleich-gesinnten teilen und in ungepolsterten Stockbetten schla-fen konnten, die an Regale erinnerten. Vor jedem stand ein verrosteter Eimer als Toilette, den sie dann auf dem Geh-steig ausleeren konnten, wenn er voll war.

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Bis der Morgen anbrach und diejenigen, die es sich leisten konnten, den nächsten Schritt der Reise zu unter-nehmen, es taten. Sie ließen jene zurück, die einen wei-teren Tag damit verbringen würden, in der prallen Sonne herumzulungern, den Zustrom von neuen Gesichtern zu beobachten und auf die unvermeidliche Kontaktaufnahme der Kartellvertreter zu warten, die ihnen sicheres Geleit anboten, wenn sie im Austausch dafür 45 Kilogramm Ma-rihuana wie burreros auf dem Rücken über die Grenze trugen.

Ich heiße Mayra Itzel Argueta Visari und war genau wie alle anderen, die sich in der pinkfarbenen Morgen-dämmerung auf dem Platz einfanden. Nicht besser oder schlechter. Ich war eine Frau, die letzte Nacht auf ei-nem Holzbrett in einem Gästehaus zu schlafen versucht hatte, während die Männer um mich herum wimmerten und weinten und für die Kraft beteten, die Überschrei-tung einer Grenze zu überleben, die von Tag zu Tag ge-fährlicher wurde. Ich war eine 26-jährige Frau, die sich weigerte, einzuschlafen, aus Angst, dass eine Hand, die ihren Mund umschloss, während eine andere in ihre Hose rutschte, sie aufweckte. Stattdessen hörte ich den Män-nern zu, die sich auf der anderen Seite der Holzfaserwände stritten, den Frauen, die sich in aller Öffentlichkeit pro-stituierten, und dem Knurren und Bellen von Hunden, die zur Unterhaltung sadistischer Männer, deren betrun-kenes Gelächter ich immer mit dem hörbaren Ausdruck des Bösen gleichsetzen würde, gegeneinander kämpften.

Hätte ich nur vermutet, was der folgende Tag brin-gen würde, hätte ich mich zum Schlafen gezwungen. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass es für fünf Tage meine letzte echte Chance gewesen war.

***

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Binnen Stunden nach meiner Ankunft in Altar traf ich ei-nen Kojoten namens Ochoa. In seinem Westernhemd mit Perlmuttknöpfen, den engen Jeans und Schlangenhaut-stiefeln sah er wie ein Filmstar aus. Den Stetston tief ins Gesicht gezogen lehnte er an einem Palmenstamm, das Knie angewinkelt, sein Stiefel zu einem Rhythmus wip-pend, den nur er hören konnte. Als ich auf dem Weg zur Plaza an ihm vorbeilief, lächelte er an seiner Marlboro vorbei. Ich hörte das Schlurfen seiner Stiefel, und auf ein-mal stand er neben mir.

Er war charmant und hilfsbereit, zumindest nach au-ßen hin. Er erklärte mir, wie der Hase in Altar lief, wie ich mich frei für irgendeine Kojoten-Organisation entschei-den könne, welche auch immer es sein sollte, aber auch, dass nicht alle von ihnen gleich wären. Er wies auf Ko-joten hin, die angeblich ihre Kunden mitten in der Wüste im Stich gelassen hätten, und auf andere, die sie für ei-nen Teil der Beute in die Fänge von Banditos geführt hät-ten. Wieder andere wären dafür bekannt, nachlässig ge-worden zu sein, und ihre Gesichter wären jetzt an jedem Checkpoint und Grenzübergang von San Diego bis El Paso ausgehängt. Er sagte mir unmissverständlich – versprach mir –, dass er mich sicher in die Stadt der Engel bringen würde, wenn ich ihm dreitausend Pesos zahlte.

Gott möge mir helfen, ich glaubte ihm.Ich hatte keinen Grund, es nicht zu tun. Er erklärte

nämlich mehrmals, dass er seinem Job nicht weiterhin frei nachgehen könnte, wenn er nicht gut darin wäre. Zwi-schen den Kartellen und La Migra – der Grenzpolizei – würde ihn jeder Fehler umbringen oder ins Gefängnis brin-gen, ein Schicksal, das schlimmer wäre als der Tod. Dass er nicht viel älter als 22 Jahre gewesen sein konnte, kam mir zu diesem Zeitpunkt nicht seltsam vor, auch nicht die Tatsache, dass ich keine anderen Kojoten sich potenziel-len Kunden nähern sah, sie warteten eher darauf, dass die

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Verzweifelten zu ihnen kamen. Ich hätte ihn direkt durch-schauen müssen, aber ich tat es nicht. Ich war von seinem guten Aussehen hingerissen und vertraute ihm aus keinem anderem Grund als dem, dass er die erste Person in Altar war, die Interesse an mir zeigte.

Diese eine Entscheidung führte mich auf einen Weg, von dem es kein Zurück gab, ein Weg, der letztend-lich zum Tod von mehr als 20 Leuten führen würde.

***

Ich sah zu, wie die Sonne die Wüste zum Bluten brachte, als sie den Horizont durchbrach. Ich wünschte, ich hätte sie für ihre Schönheit geschätzt; stattdessen konnte ich sie nur als böses Omen betrachten. Genau so war die Sonne an dem Tag aufgegangen, an dem sie die Leiche meiner Zwillingsschwester in der Nähe unseres Hauses in Tapa-chula im Soconusco gefunden hatten, dem üppig bewach-senen tropischen Regenwald zwischen dem Pazifik und den Sierra Madra de Chiapas Mountains. Diese Beobach-tung änderte jedoch nichts. Heute würde ich zum ersten und letzten Mal den Sonnenaufgang über dieser verfluch-ten Stadt erleben. Es war mir egal, wenn ich mich zu Fuß auf den Weg machen musste; ich würde heute aufbrechen und nie mehr zurückkehren. Ich hatte bereits begonnen, die Erinnerung, dass ich überhaupt jemals hier gewesen war, zu verdrängen.

Ich überquerte den Platz mit den anderen, die entweder den Kampf für sich entscheiden würden oder ansonsten nie von hier fortkämen. Hunderte Leute kamen aus den hospe-dajes und Seitengassen und tauchten überall am Stadtrand auf. Ein stetiger Strom von Bussen und Lieferwagen traf ein, und sie luden jeweils Dutzende Männer und Frauen ab, die in ihren Augen die gleiche Hoffnung und Angst trugen wie ich in meinen, als ich angekommen war. Ich

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versuchte, nicht über meine Naivität nachzudenken. Das war alles, was ich tun konnte, um nicht in die Gesichter der Leute schauen zu müssen, die sich um mich herum versammelten. Ich wollte keinerlei Bezug zu irgendjeman-dem, nichts, das mein Schicksal mit ihrem verband. Vor allem wollte ich nicht, dass irgendjemand mein Gesicht in Amerika wiedererkannte, damit derjenige meine Ver-haftung gegen seine Freiheit eintauschen konnte.

Ich schlenderte am Stadtrand entlang, als die Sonne endlich den Horizont durchbrach und der Himmel sich von rot zu rosa verfärbte. Bis dahin hatte ich die Fotos nicht bemerkt, die an die hölzernen Kioske und Telefonmasten getackert waren. Bilder von Männern und Frauen, die je-der von uns hätte sein können. In die Kamera lächelnd, so voller Leben. Bei einigen handelte es sich um Origi-nalfotos, bei anderen um Computerausdrucke. Die meis-ten waren Fotokopien. Man hatte unter jedes einzelne Bild leidenschaftliche Bitten geschrieben, gefolgt von einer Telefonnummer und einer Adresse. Es waren Hunderte, übereinander getackert. Einige waren zerknittert und vom Regen gewellt oder von der Sonne ausgebleicht; andere schienen erst über Nacht angebracht worden zu sein. Sie waren die Gesichter der Verlorenen, derer, die genau wie ich zu dieser Reise aufgebrochen waren, aber ihr Ziel nie erreichten und Familien zurückließen, die mehr Fragen als Antworten hatten und sich weigerten, die Hoffnung aufzugeben, dass ihre Lieben immer noch irgendwo dort draußen waren, selbst wenn sie sich damit die Erlaubnis vorenthielten, angemessen um sie zu trauern.

Das kannte ich nur zu gut. Die Ungewissheit konnte ei-nen verrückt machen, und man hatte keine andere Chance, als sie zuzulassen. Die Alternative war zu grausam, um sie in Erwägung zu ziehen.

Ich war sicher, sie waren mir zuvor nicht aufgefallen, weil ich mich in einer gewissen Weise dafür entschieden

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hatte, sie nicht zu sehen. Jetzt sah ich sie aber überall. Fo-tos waren auf die Schaufenster der umliegenden Geschäfte geklebt, an Häuserwände, sogar an Bäume genagelt, mit Nachrichten von Müttern und Vätern, Ehemännern und Ehefrauen verziert, die um die sichere Rückkehr ihrer Lie-ben oder um irgendeine Information zu ihrem Verbleib ba-ten. Diese Leute waren die Ärmsten der Armen, die Sorte, die es sich nicht leisten konnten, irgendeine Art von Be-lohnung aufzubringen, aber auf die Holfsbereitschaft der Männer und Frauen vertraute, die in die Fußstapfen ihrer vermissten Verwandten treten würden, wenn auch nur in der Hoffnung, dass jemand das Gleiche für sie tun würde, falls sie die Reise nicht überlebten.

Erst jetzt realisierte ich, dass die Möglichkeit bestand, ich würde nicht überleben. Ich wusste, die Chance, dass ich von La Migra verhaftet werden könnte oder dass ich Drogenkurieren und Erpressern und allen möglichen Kri-minellen und Tieren begegnen würde, war groß, aber ich hatte mir wahrhaftig kein einziges Mal die Realität vor Au-gen gehalten, dass ich sterben könnte, dass in den nächsten Tagen mein Leben zu Ende sein und es niemanden geben würde, der meiner zurückgelassenen Familie – dem Rest, der noch übrig war – die Nachricht überbringen würde.

Ich blickte auf diese Gesichter und tat mein Bestes, sie mir einzuprägen. Das Problem war nur, dass es so viele waren. Zu viele. Wie viele von diesen Leuten hatten auf diesem Platz gestanden, sich Bilder genau wie jene ange-sehen und dann genau das getan, was ich vorhatte?

Die Motorengeräusche von Autos brachten mich wie-der zurück. Eine Prozession von Lieferwagen und Last-wagen aller Arten und Größen tauchte am Stadtrand auf. Diejenigen, die sich um mich herum versammelt hatten, wurden still, als wir die Fahrzeuge, die eine Staubwolke hinter sich herzogen, auf uns zurasen sahen. An ihren Fens-terscheiben waren von Hand geschriebene Kartonschil-

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der angebracht, die ihr Ziel angaben. Ich las sie so schnell ich konnte, als sie vorbeirasten. Sasabe. Douglas. Tucson. Phoenix. Pueblo. Los Angeles. Die Fahrzeuge fuhren an der Kirche vorbei und hielten am nächsten Block neben dem Highway an. Sie parkten nebeneinander auf einem Acker unter den tief hängenden Telefonleitungen und in-mitten der schnell aufgebauten Holzbuden, an denen man Last Minute Proviant kaufen konnte.

Die Kirchenglocken begannen zu läuten.Ich schaute zur campanario auf und sah den drei Glo-

cken beim Schwingen zu. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob sie heute für mich läuteten.

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II

Ochoas Lieferwagen war ein älteres Modell eines Ford Econoline. Die Reifen waren abgefahren, und stellenweise schauten die Gürtelreifen durch den Gummi. Die Radkäs-ten waren verrostet und voller Dreck. Der Wagen war in verschiedenen Brauntönen in einem Muster angemalt, das wie Tarnfarbe aussehen sollte. Abgesehen vom Fahrersitz war alles andere herausgerissen worden. 25 von uns waren hinten in diesen Lieferwagen gestopft, halb stehend oder in die Hocke gehend kämpften wir um Platz und Luft, als er die schmale Erdstraße in Richtung Sasabe in einer Ge-schwindigkeit entlangbretterte, die für uns alle bei einem Unfall den sicheren Tod bedeuten würde.

Der Staub der Straße wehte durch die geöffneten Hin-tertüren, wo zwei Männer mit ihren Stiefeln über der Straße baumelnd saßen und sich zwei weitere an den of-fenstehenden Türen festhielten, die bei jeder Kurve wild hin und her schwenkten. Hinten gab es keine Fenster, und die Windschutzscheibe war so staubig, dass ich kaum glau-ben konnte, dass Ochoa gut genug hindurchsehen konnte, um zu fahren. Die Scheibenwischer flatterten wie die Flü-gel eines Dodos, gebracht hatte es aber nichts. Mindestens fünf Autos waren vor uns und noch mehr hinter uns. Sie alle rasten auf die Grenze zu. Ich fragte mich in dem Au-genblick, ob sie, welche Barrikade auch immer auf der Straße errichtet war, diese zu durchbrechen beabsichtigten.

Ich wollte sitzen, aber es war nicht genug Platz. Selbst wenn, ich bezweifle, dass es genügend frische Luft zum Atmen gegeben hätte. Es fühlte sich jedenfalls so an, als nähme ich mit jedem Atemzug genauso viel Dreck wie Luft zu mir, und mit all dem Husten um mich herum vielleicht sogar Schlimmeres. Jedoch war ich sogar für diese Menge Luft dankbar, da sie half, den Gestank nach schlechtem Atem und Körpergeruch zirkulieren zu lassen,

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Gerüche, die mich in der Zusammensetzung an Tiere er-innerten, die in ihrem eigenen Dreck eingepfercht waren. Ich schätze, in gewissem Sinne waren wir genau das.

Bei jedem Schlagloch stießen wir aneinander. Ein äl-terer Mann fiel schreiend zu Boden, irgendetwas knackte, was ich einem gebrochenen Knochen in seinem deform-ierten Handgelenk zuschrieb. Ich drehte mich weg und klammerte mich enger an meine Umhängetasche, in der sich meine letzten irdischen Besitztümer befanden: drei Plastikflaschen mit Wasser, eine Folienpackung Thun-fisch, zwei grüne Sapotefrüchte und mein Rebozo. Ich schätze, das stimmte nicht ganz. Meine letzten 1000 Pe-sos hatte ich auf die Innensohle meines linken Schuhs geklebt.

Sicher hatten wir alle Geheimnisse, die wir mit uns trugen, Dinge, die wir aufgrund der damit verbundenen Erinnerungen nicht zurücklassen konnten. Für mich war das der Ring meiner Schwester Violeta. Das Gold war gefälscht und beschädigt, aber wir hatten sie damals in Tapachula zusammen als passendes Set gekauft, und es war das Einzige, das ihr Mörder an ihrem Körper zurück-gelassen hatte, als er ihre Leiche wegwarf.

Plötzlich drehte der Lieferwagen nach links ab, holp-erte über den unebenen Seitenstreifen und raste in die Wüste. Ich hörte einen Schrei und drehte mich recht-zeitig nach hinten, um zu sehen, wie einer der Männer, der auf dem Rand gesessen hatte, in den Staub fiel. Sein Schrei hörte abrupt auf, stattdessen ertönte das Geräusch von eingedelltem Aluminium der Motorhaube des Lief-erwagens hinter uns. Er bremste nicht einmal ab. Und dann waren die Karawane und die Straße hinter uns ver-schwunden.

Niemand sprach, nicht einmal der Mann, der neben ihm gesessen hatte. Er setzte sich lediglich die Kapuze seines blauen Sweatshirts auf und versuchte, sich eine

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weitere Zigarette anzuzünden, die Hände schützend an den Mund gelegt.

Der Lieferwagen schwankte und federte auf dem wel-ligen Boden. Die Äste der Mesquitebäume und Hainbu-chen krächzten, als sie am Lack kratzten. Blätter von Fei-genkakteen und Teile von Cylindropuntias flogen über die Motorhaube und über das Dach, bis sie in der Staubwolke verschwanden, die sich hinter uns auftat. Einer der Män-ner, der sich an den Hintertüren festhielt, deren Scharni-ere quietschten und jeden Moment abzubrechen drohten, schrie auf, als ihn ein Kaktusbüschel an der Wange er-wischte. Das Risiko, seinen Griff zu lockern, um ihn aus seinem Gesicht zu entfernen, wagte er nicht einmal eine Sekunde lang einzugehen. Ich konnte es nicht ertragen, ihm dabei zuzusehen, wie er versuchte, den Kaktus an der Kante der Tür abzukratzen, während sie ins Nichts schwang und ihm das Blut über sein Gesicht strömte.

Ich wusste, ich hätte ihm helfen können, aber ich tat es nicht. Schlimmer, ich wusste, ich hätte ihm helfen sollen. Stattdessen schaute ich weg. Wie die anderen. Die Meh-rheit schloss die Augen und betete leise – zu Gott, zu Je-sus Christus, zum Heiligen Toribio Romo, zu jedem Hei-ligen, der zuhören würde – während wir aneinander und gegen die Wände des Lieferwagens geschleudert wurden. Während die Dornenbüsche an der anderen Seite kratzten, der Boden wackelte, die Aufhängung stöhnte und tobte, die Hitze unerträglich wurde und der Schweiß mir in den Augen brannte. Bis der Lieferwagen endlich – endlich – polternd zum Stehen kam.

Der Staub überholte uns von hinten, und an den geöff-neten Hintertüren tauchte ein Schatten auf.

»Alle aussteigen!« Ochoa schlug mit der weichen Seite seiner Faust auf eine der Türen. »Wir müssen schnell sein!«

Der Motor ratterte und brummte noch.

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Wir traten immer noch vor Anspannung zitternd in die pralle Sonne, auf Beinen, die uns während der schreckli-chen Fahrt aufrecht gehalten hatten. Mit unseren ersten zögerlichen Schritten gingen wir in die Wüste. Wir waren gerade alle herausgeklettert, als Sand von den Reifen des Lieferwagens spritzte und auf uns alle prasselte. Ich bekam Ochoa noch ein letztes Mal kurz durch das Fenster auf der Fahrerseite zu sehen und dann schlängelte sich der Lief-erwagen durch die Bäume; er verschwand einfach so und wirbelte eine Staubwolke auf, die sich wie Schnee auf den Blättern niederließ.

Wir alle standen schockiert eng beieinander, fast so eng wie im Lieferwagen, keiner von uns sagte ein Wort, aus Angst, die Realität dessen auszusprechen, was uns gerade passiert war, aber ich konnte die Wahrheit in den Augen der anderen sehen. Wir waren in die Wüste gefahren und mit-ten im Nirgendwo ausgesetzt worden.

Ein Junge trat hervor. Er war vielleicht höchstens 18, die Haare an der Seite abrasiert und oben zu einer glatten Welle gegelt. Seine Ohrringe waren doppelt so groß wie seine Läp-pchen und man konnte klar durch sie hindurchblicken. Eine Tätowierung von La Santa Muerte – der verehrten Person-ifikation des Todes, die ihren Anhängern eine sichere Reise ins Jenseits versprach – kroch an der Seite seines Halses hinauf, als würde das schwarz umhüllte weibliche Skelett den Kragen seines weißen T-Shirts umschlagen. Seine Chi-nohose hing schlabberig an den Hüften und war mit einem absurd langen Gürtel festgeschnallt, dessen Ende fast bis zu den Knien hing. Er lächelte und schob sich den schwarzen Rucksack mit einem Achselzucken höher auf die Schultern.

»Ich heiße El Bufón. Ihr folgt mir zu Fuß durch die Berge. Am Highway 86 wartet ein Lkw auf uns. Der bringt uns von dort zu einem sicheren Unterschlupf in Tucson. Da-nach seid ihr euch selbst überlassen.«

Ich schaute dieses … dieses Kind an, das sich selbst

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»Der Hofnarr« nannte, wie es mit einem arroganten Grin-sen im Gesicht vor uns stand und von uns verlangte, ihm durch Berge zu folgen, die wir nicht einmal am Horizont sehen konnten, und ich erkannte, dass mein Leben – unser aller Leben – jetzt in seinen jungen Händen lag.

Er war ein Pollero – ein Hühnerhirte – ein Handlanger. Ein Tagelöhner. Ochoa nahm unser Geld und bezahlte die-sem Jungen den kleinsten Anteil davon, uns über die Grenze zu führen, während er zum Marktplatz zurückkehrte, um weitere Idioten wie uns anzuwerben.

»Hast du diese Reise schon einmal unternommen?«, fragte einer der Männer mit einem Akzent, den ich kaum verstehen konnte. Um seine breite Taille hatte er sich ein langärmeliges Flanellhemd gebunden und trug ein ärmel-loses T-Shirt. Er hatte fette Wangen und einen dicken Ober-lippenbart, mit dem Rücken seines fleischigen Unterarms musste er sich kontinuierlich den Schweiß aus den Augen wischen.

»Natürlich, mein Freund. Dutzende Male. Ich kenne diese Wüste wie meine Westentasche.« Sein Lächeln mochte eine Lüge gewesen sein, aber ich betete, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. »Also, was meint ihr, ge-hen wir los, bevor unsere Füße hier Wurzeln schlagen? Wir haben einen langen Weg vor uns.«

»Wie lange?«, wollte ein Mann Anfang 20 wissen. Er war mit einem schwarzen Footballtrikot mit dem Logo der MX Pumas und einer weißen Baseballmütze bekleidet, die er hoch auf dem Kopf trug.

»Ein Tagesmarsch. Nicht mehr. Ein Spaziergang.«Das blöde Lächeln verschwand nie aus El Bufóns Ge-

sicht. Trotz seiner jugendlichen Prahlerei konnte ich erken-nen, dass er nervös war. Sein rechter Daumen blieb an sei-nem Hosenbund eingehakt, in der Nähe der Ausbeulung unter seinem weiten Hemd, die wie der Griff einer Pistole geformt war.

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»Wenn wir also genug Zeit verschwendet haben, müs-sen wir uns jetzt auf den Weg machen. Lasst mich der Erste sein, der euch auf dem Amnesty Trail willkommen heißt.«

Und damit drehte er uns den Rücken zu und marschi-erte nach Norden, während wir absolut keine Ahnung hat-ten, welches Grauen uns erwartete.

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III

In dem Jahr, bevor ich Tapachula verließ, wurden nahezu 100 Frauen im Dschungel in der Umgebung meines Zu-hauses enthauptet aufgefunden. Und niemanden küm-merte es. Ohne ihre Köpfe waren sie nur Leichen, was sie auch nur für die Männer waren, die sie umbrachten, sogar vor ihrem Tod.

Früher einmal konnten wir die Schuld für solche Gräu-eltaten den wachsenden Rängen des Mara Salvatrucha Kartells zuschreiben, das die Stadt terrorisierte, aber Ge-walt erzeugt Gegengewalt, und die einheimischen Män-ner lernten von ihnen, wie man ohne Verpflichtungen Sex hatte, wie man sich ohne das Wissen der Ehefrauen eine Geliebte zulegte, wie man sich nahm, was man wollte, ohne die Konsequenzen zu tragen. Und die Polizei ver-weigerte die Ermittlungen, da es unmöglich war, die Ta-ten der Drogendealer von denen der Trittbrettfahrer zu unterscheiden. Die Polizei gehörte den Kartellen, die in aller Öffentlichkeit taten, was immer sie wollten. Außer-dem hingen die Behörden immer noch 20 Jahre hinterher. Sie besaßen nicht die technischen Mittel, um DNA-Pro-ben zu nehmen oder auch nur eine Datenbank für Finger-abdrücke einzurichten. Ohne Gesichter und Zähne gab es wenig Hoffnung, dass die Leichen identifiziert wur-den, also wurden sie einfach aufgesammelt und wie Müll weggeworfen, während die Familien Kerzen anzündeten und für die Rückkehr von Töchtern beteten, von denen sie in ihrem Herzen wussten, dass sie sie nie mehr wie-dersehen würden.

Der Fall meiner Schwester Violeta verlief anders. Als die Polizei mich zur Fundstelle ihrer Leiche führte, ausge-streckt auf dem Erdboden liegend, mit Blutergüssen und Blättern übersät, die der Regen auf sie gespült hatte, war mir nicht nur beim ersten Anblick klar, dass sie es war, ich

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konnte es beweisen. Zumindest was die Polizei betraf. Ich erinnere mich, dass ich auf das starrte, was von der Per-son übriggeblieben war, die mir am meisten auf der Welt etwas bedeutet hatte, auf die Haut, die so blass war, dass ich fast durch sie hindurchsehen konnte, auf ihre nackten Brüste und den aufgeblähten Bauch, auf ihre ausgestreckte Hand mit dem Ring, der zu dem an meinem Finger passte. Ich erinnere mich an das Gefühl überwältigender Hilflo-sigkeit, die nur von dem Polizisten verschlimmert wurde, der sich über die Lippen leckte, als er mir erklärte, wie sie vorhatten, die sterblichen Überreste meiner Schwes-ter eindeutig zu identifizieren.

Als ich nackt auf dem Boden neben der kopflosen Lei-che meiner Zwillingsschwester lag und die Polizisten vor-gaben, unsere Züge zu vergleichen, während sie ihre Waf-fengurte ablegten, traf ich eine Entscheidung, von der ich wusste, ich würde sie eines Tages treffen, und während mir ein Mann, den ich nicht kannte, den Namen meiner Schwester ins Ohr grunzte und sein Partner sich für sei-nen Auftritt bereit machte, entschied ich, dass der Teil von mir, der sich darum scherte, was mit jedem anderen in die-ser gottverlassenen Welt passierte, starb.

Ich hatte mich abgewandt, damit ich ihre Gesichter nicht sah oder nicht in ihre Augen blickte, stattdessen hatte ich Mauerschwalben beobachtet, wie sie in die Höh-len hoch oben an den Steinklippen über uns hinein und wieder hinaus flitzten, ich lauschte dem widerhallenden Klicken, das sie als eine Form der Echoortung benutzten, um ihre Nester zu finden, die von gummiartigen Fäden ih-res eigenen Speichels an den Höhlenwänden in absoluter Finsternis zusammengehalten wurden. Ich hatte gebetet, mich ihnen auf ihren sensenförmigen Flügeln anzuschlie-ßen, mit ihnen in die Dunkelheit emporzusteigen, wo sie nichts sehen und nichts fühlen konnten, weit über dem, was hier unten als Menschlichkeit angesehen wurde. Ich

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war von Tieren umgeben. Nicht von Menschen. Nicht von Männern. Beastia. Kreaturen ohne Mitgefühl, die so we-nig vom Leben hielten – sogar von ihrem eigenen –, dass sie den Tod überall mit sich herumtrugen, wohin sie auch gingen. Genau wie dieser Junge El Bufón, der mit seiner Tätowierung von La Santa Muerte prahlte, als wäre sie ein Ehrenabzeichen.

Mein Geburtsland war nicht mehr meine Heimat. Es war ein Schlachtfeld. Das Land, in dem ich von Eltern großgezogen wurde, die von Sonnenaufgang bis Sonnen-untergang auf Plantagen Kaffeebohnen ernteten und 45 Kilogramm schwere Bohnensäcke auf ihren Rücken die steilen Abhänge hinuntertrugen und jeden letzten Peso sparten, um mir und meiner Schwester ein besseres Leben bieten zu können, gab es nicht mehr. Meine Eltern hatten sich zu Tode gearbeitet, um uns auf das College Ameri-cano de Tapachula zu schicken, wo Violeta eine Lehrer-lizenz erwarb und ich Krankenschwester wurde. Ich bin froh, dass sie nicht mehr am Leben waren, um die Früchte zu sehen, die die Samen ihre Aufopferungen hervorbrach-ten. Das bessere Leben, das sie sich ausgemalt hatten, en-dete für uns beide direkt hier auf dem Boden im schwar-zen Herzen eines Dschungels, in dem wir einst Blumen gesammelt hatten, um sie in unsere Haare zu flechten, und in dem La Santa Muerte jetzt den Schatten nachstellte, mit einem Skelettfinger winkend und einem gemeinen Lächeln auf ihrem fleischlosen Gesicht.

Diese Erinnerungen schwirrten mir im Kopf herum, als ich dem Jungen mit ihrem Ebenbild, das mir unter seinem Kragen hervor lüsterne Blicke zuwarf, durch eine bewal-dete Schlucht folgte, auf einen Zaun mitten im Nirgendwo zu. Verrostete Metallpfosten so breit wie Palmenstämme waren circa alle eineinhalb Meter in den Boden gerammt worden. Ohne ersichtlichen Grund hatte man zwischen ei-nen Meter zwanzig und einen Meter achtzig hohen Pfos-

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ten abgewechselt und sie mit Stacheldraht verbunden. El Bufón stand einfach am untersten Draht und hob den mittleren an.

»Jetzt bist du Amerikaner«, verkündete er jedem Ein-zelnen, als wir nacheinander hindurchkrochen.

***

Niemals hätte ich geglaubt, dass ein Ort wie dieser exis-tieren könnte. Die Sonne brannte intensiv, ich konnte nicht verhindern, dass sie mir in die Augen schien. Nicht ein-mal, indem ich sie schloss. Die Hitze kam nicht nur von oben, sondern auch von unten. Der Sand brachte die Un-terseite meiner Schuhe zum Schmelzen und meine Fuß-sohlen taten weh, sogar als meine nackte Haut unter der klebrigen Schweißschicht zu brennen anfing, die mei-nen Körper jede letzte Unze Flüssigkeit entzog. Mehrere Männer trugen jetzt ihre Hemden auf dem Kopf, um den Schweiß daran zu hindern, in ihre Augen zu tropfen, wo-hingegen andere ihre extra Kleidungsschichten während des Gehens einfach wegwarfen. Ich sah Leute, die ganze Wasserflaschen in einem Zug leer tranken oder sich über den Kopf schütteten, Diätpillen schluckten, die ihre Pu-pillen weiteten, sie unruhig machten, und Dosen Red Bull leerten, die sie anschließend ins Gras schleuderten.

»Ihr müsst eure Getränke einteilen«, sagte ich laut, zu niemandem speziell.

Die Frau neben mir gab vor, mich nicht gehört zu ha-ben, obwohl sie mich vorsichtig aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie war ungefähr in meinem Alter und trug eine Carmenbluse mit taschenlosen lilafarbenen Jeans. Sie lief langsamer und fiel zurück, um sich der Gruppe anzus-chließen, die sich hinter mir durch das Unterholz kämpfte.

Ich besann mich darauf, dass ich nur für mich selbst verantwortlich war und all die anderen meinetwegen auf-

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grund der Dehydrierung Krämpfe und Kopfschmerzen be-kommen sollten. Wir gingen vielleicht zusammen, aber wir waren alle auf uns allein gestellt. Und nicht nur hier draußen unter der gnadenlosen Sonne.

Nur wenn es absolut notwendig war, nahm ich aus meiner Wasserflasche einen kleinen Schluck und tat mein Bestes, meine Kerntemperatur zu überwachen. Sie musste gut über siebenunddreißig Grad Celsius betragen, und die Luft flimmerte bei der Hitze.

Unsere Gruppe spaltete sich auf. Zuerst langsam. Die Leute in der besten körperlichen Verfassung bleiben nahe bei El Bufón an der Spitze, während die älteren und weni-ger fitten immer weiter zurückfielen. Manchmal konnte ich weder den Anfang noch das Ende unserer Prozession sehen. Dornige Äste, die bei der letzten Sturzflut von den Mesquitebäumen gerissen worden waren, blockierten die Schlucht und trieben uns aus dem bisschen Schatten, den die Bäume boten, in die pralle Sonne hinaus. Hosen waren bereits zerfetzt und nackte Beine so schlimm aufgeris-sen, dass Blut von oben in die Socken tropfte. Eine Frau trug ein Strandkleid und Sandalen. Sie zuckte bei jedem Schritt zusammen und versuchte, nicht auf ihre mit Bla-sen bedeckten Füße hinabzusehen oder die winzigen Ka-ktusstacheln wahrzunehmen, die sie nicht aus ihren gep-flegten Fußnägeln entfernen hatte können.

Das Flachland wich schroffem Vorgebirge, bespickt mit Parkinsonien, Consoleas und Riesenkakteen. Der Sand wurde zu Schotter und zerklüfteten Felsen, die Knöchel verstauchten und Knie aufschlugen. Terpentinbüsche und mexikanisches Büschelgras versteckten Klapperschlan-gen, die eine rasselnde Warnung aussprachen. Immer häufiger fielen Leute hin und wischten sich die blutigen Handflächen an ihren Jeans ab. Die vereinzelten matten Messinghülsen erinnerten uns daran, dass nicht alle Ge-fahren hier draußen natürlichen Ursprungs waren.

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Wir gingen um die Berge herum, nutzten das mit Kreo-sotbüschen und Traubenkraut überwucherte Tiefland, um unsere Sichtbarkeit aus der Luft zu minimieren. El Bufón gab die Geschwindigkeit vor und legte eine Pause ein, wann immer ihm danach war, aber wartete nur so lange, bis die Nachzügler sich näherten, bevor er wieder losmarschierte. Schließlich arbeiteten wir uns in einen Arroyo, einen tro-ckenen Flusslauf vor, wo ein Steilhang gerade hoch ge-nug nach Osten emporstieg, um ein Scheibchen Schatten zu spenden. Wir nutzen die Gelegenheit uns abzukühlen in vollem Umfang aus, auch wenn es nur ein Grad war, und gönnten unseren müden Beinen etwas Ruhe. Ein Mann mit sonnengegerbter Haut, engen Wranglers und Stiefeln mit nach oben gerichteter Spitze urinierte vor uns allen auf den Boden. Ich lief bergaufwärts nach Westen und hockte mich außer Sichtweite hinter eine Anhöhe, die von einem Ocotillo mit blutroten Blüten gekrönt war. Mein Urin war dunkel-gelb, fast orange. Ich wusste, das bedeutete, dass ich mehr Flüssigkeit zu mir nehmen musste, wenn auch vorsichtig.

Auf meinem Weg bergab rannte ich beinahe eine Frau um, die auf dem Boden kniete. Oder zumindest dachte ich, es handelte sich um die Rückenansicht einer Frau. Sie trug einen schwarzen Schal, der ihren Kopf bedeckte und über ihren Rücken bis auf den Boden hing. Bei dem zerfetzten Gewand kam mir die Tracht einer Nonne in den Sinn. Ich erinnerte mich nicht, irgendwen mit so einem Kleidungs-stück gesehen zu haben.

Ich schaute ihr über die Schulter; dort hinunter, wo die anderen unten im Tal im Schatten saßen, sie aßen, tranken und wühlten in ihren Rucksäcken herum.

Die Frau vor mir bewegte sich nicht, ich fragte sie auch nicht, ob es ihr gut ginge.

Ich wollte gerade einen Bogen um sie machen, als sich etwas Knollenförmiges unter ihrem Schal bewegte, als mas-siere es langsam ihre Kopfhaut. Ich blieb stehen und sah

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die hellen Vorderbeine einer Tarantel unter dem Stoff her-vorlugen. Ich musste mich zusammenreißen, nicht loszu-schreien. Ich schlug nach ihr und fegte so der Frau den Schal vom Kopf.

Ich schnappte nach Luft und taumelte weg. Meine Ferse blieb an einem Stein hängen. Ich landete auf meinem Hin-tern und entfernte mich durch den Schotter strampelnd so schnell ich konnte.

Die schwarzen Haare der Frau waren so spröde wie Stroh und mit abgestorbenen Gräsern und Spinnennetzen verfilzt. Ihre Haut so verrunzelt und trocken, dass sie wie mumifi-ziert aussah. Durch ihre eingefallenen Wangen und Augen konnte ich jedes Detail ihres Schädels erkennen. Sie war auf ihrer linken Hüfte und ihrem Ellbogen liegend gestor-ben, die Beine unter ihr, Oberkörper und Kopf nach rechts geneigt, als wäre sie auf Händen und Knien zum Gipfel dieses Hügels gekrochen, nur um in Sichtweite des Schat-tens zusammenzubrechen. Im Erdboden neben ihrer geöff-neten Hand, die mit dem Rücken nach unten lag, hatten die Naturgewalten ein Stück eines Rosenkranzes vergraben.

Ich starrte in ihr lebloses Gesicht, während die Spinne ihren Schal über die Erde schleppte, und fragte mich, wie es dazu gekommen war, dass sie ganz allein hier draußen gestorben war und wo sich der Rest ihrer Begleiter be-fand. Und wie es zu einem derartigen Zustand ihres Kör-pers kommen konnte.

Bei meinem Abstieg ins Tal schaute ich über meine Schulter zu ihr zurück. Aus der Ferne sah es beinahe aus, als kniete ihre eingesunkene Gestalt und betete. Ich stellte mir vor, dass sie wie ein verschleiertes skelettartiges Wesen von dort oben über uns wachte, während wir ihr Tal pas-sierten. Keiner der anderen schien sie wahrgenommen zu haben. Der Gedanke, dass La Santa Muerte an diesem Tag über mich allein wachte, war für mich kein Trost.

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IV

Je mehr sich die Sonne dem Horizont näherte, desto ner-vöser wurde ich. Und das ging nicht nur mir so. Ich sah die anderen, wie sie ihre Augen vor dem grellen Licht schützten und nach links blickten, als die Sonne mit der Kammlinie flirtete und Formationen von Schichtgestein und Riesenkakteen in Silhouetten verwandelte, die aussa-hen, als würden sie Feuer fangen. Bisher hatte noch nie-mand die Worte laut ausgesprochen, aber es wurde immer offensichtlicher, dass wir unser Ziel auf keinen Fall vor Einbruch der Nacht erreichen würden. Es sei denn, das Gebirge endete abrupt und gewährte uns den Durchgang zu dem scheinbar mystischen Highway, den El Bufón uns versprochen hatte.

Augenscheinlich unzählige Gipfel, durch die sich La-byrinthe aus Schluchten identisch zu dieser schlängelten, blockierten unsere Sicht nach Norden.

Selbst als die brutale Nachmittagshitze glücklicher-weise nachzulassen begann, knisterte die Luft um uns mit einer nervösen Energie. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich wusste nicht, dass es möglich war, dass es irgendwo auf der Erde so heiß werden konnte. Es handelte sich um die Art von Hitze, die in dich eindrang, die dein Blut er-wärmte und dir den Schweiß aus den Poren trieb, bis dein Gehirn anschwoll, sodass es sich zu groß für deinen Kopf anfühlte. Was mit einem dumpfen Pochen an deinem Hin-terkopf anfing, entwickelte sich zu richtigen Kopfschmer-zen, die anschwollen, bis es sich anfühlte, als versuchten sie, dir die Augen aus den Höhlen zu drücken. Schlim-mer waren die Gedanken, die der Quelle der Schmerzen in Form einer Stimme entsprangen, anders als die, die man gewöhnt war. Leg dich hin, hier auf den Boden, und schließ die Augen! Nur für eine Minute. Nur lange genug, um dich auszuruhen. Es wird nicht lange dauern. Eine

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Stimme, die ich mich zwang, sie zur Kenntnis zu nehmen und zu schwören, ihr niemals zu gehorchen, obwohl ich wusste, dass sie mir genau das sagte, was ich hören wollte.

Die Trockenheit war sogar noch unerträglicher als die Hitze. Kaum hatte der Schweiß die oberste Hautschicht erreicht, verdunstete er zu einer salzigen Kruste. Die bloße Haut trocknete aus und verbrannte dann. Auf den Schultern von einigen der Männer, die ihre Hemden weggeworfen hatten, bildeten sich jetzt Blasen, und die Krankenschwes-ter in mir konnte nicht anders, als festzustellen, dass et-was, das als einfacher Sonnenbrand begonnen hatte, sich in Verbrennungen zweiten Grades verwandelt hatte. Ich zog mir den Rebozo über die Stirn, und trotz der Tatsache, dass ich mich fühlte, als kochte ich in meinen schweiß-durchtränkten Klamotten, weigerte ich mich, eine ein-zige Schicht abzulegen. Vielleicht war es nicht viel, aber sie halfen, die Geschwindigkeit zu drosseln, in der meine wertvolle Körperflüssigkeit verdunstete.

Ich dachte an die tote Frau an dem Berghang, die Wüste hatte ihr jeden einzelnen Tropfen Blut und Schweiß ge-stohlen, und ich fröstelte trotz der Hitze.

Ich hatte es geschafft, dass die erste Wasserflasche fast einen ganzen Tag gereicht hatte und bewahrte die Flasche in meinem Rucksack auf, für alle Fälle. Die anderen konnte ich bereits hören, wie sie darüber klagten, dass ihnen der Proviant ausging. Manche hatten darauf zurückgegriffen, die Flaschen aufzuheben, die andere weggeworfen hatten, und versuchten Tropfen herauszuschütteln, die vielleicht übersehen worden waren. Wieder andere hatten begon-nen, diejenigen neidisch zu beäugen, die besser vorbe-reitet aufgebrochen waren. Ich umklammerte mit beiden Armen die Tasche vor meiner Brust und hoffte, dass aus den Augen wirklich aus dem Sinn war. Theoretisch war das Rationieren meines Proviants eine gute Idee, zumin-dest bis all die anderen ihren aufgebraucht hatten. Wenn

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es ums Überleben ging, würde der Mensch alles Nötige tun, und einige dieser Männer hatten bereits angefangen, die Leute, die schwächer als sie waren, unverhohlen mit den Blicken eines Raubtieres anzustarren, man konnte es nicht anders beschreiben.

Die Sonne war gerade im Westen hinter dem Berg-hang verschwunden und ließ diesen in einem blutroten Licht erscheinen. Während wir durch das ausgetrock-nete Tal liefen, warf dieser seinen Schatten auf uns, als jemand hinter mir vor Schmerzen aufschrie.

Ich blieb stehen und drehte mich nach Süden um, während der Schrei durch das Tal hallte. Durch die Palo verde und das Hitzeflimmern, das sie zum Zittern brachte, konnte ich nichts erkennen.

Ich wollte mich gerade wieder umdrehen und weiter-laufen, als Schreie ertönten und ich plötzlich verstand, dass etwas Schreckliches passiert war.

***

»Wir lassen ihn zurück«, sagte El Bufón. »Er wird uns zu sehr aufhalten.«

»Wir können ihn nicht im Stich lassen«, widersprach ein Mann, der eine Baseballmütze mit dem Logo der Tigres de Quintana Roo, der mexikanischen Baseball-liga, trug. Auf seinem gestreiften Polohemd wand sich ein Muster aus Schweißflecken von seinen Achseln bis zu dem seltsamen Abdruck, den sein Bauch und seine schlaffe Brust bildeten. »Allein wird er hier draußen sterben.«

»Wer trägt ihn, gordo? Du? Schau dich an! Du schwitzt jetzt schon wie ein Spanferkel.«

»Ich kann es schaffen.« Der gestürzte Mann blickte verzweifelt vom Boden auf. Er trug sein kurzärmeliges Button-Down-Hemd bis zum Bauchnabel geöffnet, und

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seine Jeans waren so geschnitten, dass sie über seine Cowboystiefel passten. »Bitte! Lasst mich nicht zurück!«

Er stand mühsam auf und hüpfte auf einem Fuß.»Du kannst auf diesem pinche Bein nicht mal stehen,

oder?«Das Gesicht des Mannes war kreidebleich, in Tränen

und Schweiß gebadet. Er atmete schnell.»Natürlich kann ich das.«Die Angst in seinen Augen verriet seine Antwort. Er

trat einen Schritt nach vorn, und sein rechter Knöchel knickte nach außen. Er stürzte – schwer – und brüllte vor Schmerzen.

»Pah! Du kannst keinen einzigen Schritt laufen. Wie denkst du, diese komplette Strecke zu schaffen?«

»Es ist nicht richtig, ihn zurückzulassen«, mischte sich eine Frau in den Fünfzigern ein. Sie war mit einer schmut-zigen Jogginghose und einem blaugrünen T-Shirt beklei-det, ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebun-den, der an der Wölbung an ihrem Nacken klebte. »Das könnte jedem von uns passieren. Will jemand von euch zurückgelassen werden?«

Die Mehrheit schaute weg, als die Frau sich mit ih-rem vorwurfsvollen Blick im Kreis drehte. Die Leute, die sich um sie versammelt hatten, begannen auseinanderzu-gehen, egal welche dünnen Fäden ihr Schicksal mit dem des Mannes mit dem gebrochenen Knöchel verband, der erneut aufstand und auf einem Fuß hüpfte.

»Ich brauche nur etwas, um ihn zu schienen. Zwei Holzstöcke und einen Strick. Ein Gürtel geht.« Seine Stimme legte eine Oktave zu und er fing an zu schluch-zen. »Um Himmels willen, ihr könnte mich hier draußen nicht im Stich lassen! Bitte! Ich flehe euch an! Ich mache alles! Alles, was ihr wollt!«

»La Migra wird Sie bald finden, mein Freund«, sagte ein Mann, der mit einer schwarzen Cargo-Hose und einem

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schwarzen T-Shirt bekleidet war. Seine Wanderstiefel wa-ren teuer, aber gut eingelaufen, und er trug sein schwarzes, fast bis auf die Kopfhaut geschorenes Haar unter einem tarnfarbenen Fischerhut, dessen Rand Gesicht und Ohren Schatten spendete. »Die werden Ihr Bein versorgen und Sie zurück nach Mexiko bringen. Wenn Sie wieder gesund und auf die Wüste besser vorbereitet sind, können Sie es noch mal versuchen. Wir lassen Ihnen alle etwas von un-serem Essen und Wasser …«

»Spinnst du, cabrón?«, unterbrach ihn der Mann im blauen Kapuzenpullover, der hinten im Lieferwagen ge-raucht hatte. »Ich habe nicht einmal genug für mich üb-rig, und du schlägst vor, dass …«

»Es reicht«, sagte El Bufón. »Wir haben schon zu viel Zeit vergeudet. Ich werde es euch allen einfach machen.«

Er zog seine Pistole unter dem Hemd hervor und drückte sie an die rechte Schläfe des humpelnden Man-nes, der die Augen aufriss, welche dann in einer Wolke aus Blut verschwanden. Der Knall des Schusses war oh-renbetäubend. Ich schlug mir die Hände über die Ohren, als das Echo wie ein Donner durch das Tal rollte.

Der Körper des Mannes kippte zur Seite und fiel zu Boden, wo das Blut ungehindert aus seinem zerstörten Schädel in den Sand floss, der zweifelsohne schon mehr als genug davon gekostet hatte.

Ich blickte auf seinen deformierten Knöchel und wusste zweifellos, dass ich die Fähigkeit besaß, ihn zu fixieren. Stattdessen sagte ich nichts, und jetzt war der Mann tot.

Der Mann mit dem schwarzen Outfit und Tarnhut starrte El Bufón mit Wut in den Augen an. Der Pollero grinste und drehte die verchromte Halbautomatik, bis die Sonne sich unter dem Hutrand und im Gesicht des Man-nes spiegelte.

»Willst du auch was davon, mamon?« Lange schaute er stirnrunzelnd und herausfordernd den älteren Mann an,

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bevor er plötzlich anfing zu lachen. »Dachte ich mir. Jetzt lauf entweder los oder geh mir mit deinem hässlichen Ge-sicht aus den Augen, verflucht noch mal!«

Er drehte sich um und ging wortlos davon. Die meis-ten anderen beeilten sich, zu ihm aufzuschließen, hielten aber einen größeren Abstand als zuvor.

Ich konnte nur zusehen, wie sich die untergehende Sonne im Blut spiegelte, als es in die gierige Erde si-ckerte, wie wohl auch an dem Tag, als die Leiche meiner Schwester mitten im Nirgendwo zurückgelassen worden war, genau, wie wir es mit diesem Mann vorhatten, des-sen Leben von einem umgeknickten Knöchel abgehangen hatte und dessen Namen ich nie hatte erfahren wollen. Und jetzt auch niemals würde. Ich hob einen schweren Stein auf und legte ihn auf seine Brust.

»Bitte helft mir, ihn zu begraben«, sagte ich zu jedem, der zuhören würde.

Der Mann mit dem Fischerhut nahm eine Digitalka-mera aus dem Rucksack und schoss schnell ein Bild von dem, was vom Gesicht des toten Mannes übrig war, dann verstaute er sie wieder. Als er mir und einem halben Dut-zend anderer half, den Mann mit Steinen zu begraben, schimmerten Tränen in seinen Augen, ob vor Trauer oder Wut, konnte ich nicht sagen.

***

Gerade als es langsam dunkel wurde, hatten wir die ande-ren eingeholt. Das Schwarz des Himmels im Osten hatte bereit das Blau nach Westen vertrieben, wo es zur grau-pinken Abenddämmerung verblasste. Sterne waren schon zu sehen, sie wirkten nahe genug, um sie zu berühren. Der Mond, eine sehr dünne Sichel, spendete nur wenig Licht. Weniger Leute scharten sich jetzt um El Bufón, dessen wiederholte Versprechen, unseren Highway-Treffpunkt

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vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, nun unglaub-würdig klangen, aber niemand wagte, es ihm gegenüber zu erwähnen, selbst als uns die verzweifelte Realität un-serer Situation bewusst zu werden begann. Bei den meis-ten waren die Wasservorräte bis auf die letzten Tropfen in ihrer letzten Flasche geschrumpft, falls sie überhaupt noch eine besaßen, und die Leute, die ihre Schritte mit Pseudoephedrin und übermenschlichen Mengen an Kof-fein beschleunigt hatten, erlitten aufgrund der Dehyd-rierung Krämpfe und Schmerzen. Die wenigen, die Es-sen hatten, sonderten sich von den Leuten ab, die keines mehr hatten, einige davon fingen bereits an, nach Kaktus-feigen zu suchen, in der Hoffnung, damit beide körperli-chen Bedürfnisse auf einmal zu stillen. Die Haut an ihren Händen und Lippen war von den winzigen splitterartigen Stacheln gekräuselt, die bei Tageslicht fast unmöglich zu entfernen gewesen wären, ganz zu schweigen unter dem pechschwarzen Himmel. Sie taten mir leid, aber ich lernte auch von ihnen. Es würde nicht sehr lange dauern, bis ich mich in der gleichen Situation befand.

Niemand sprach davon, was dem Mann mit dem geb-rochenen Knöchel widerfahren war. Sie erkannten es auch denen von uns nicht an, die zurückgeblieben waren, um ihn unter einem Haufen Steinen und zwei Stöcken zu be-graben, die ich problemlos hätte benutzen können, den Bruch zu stabilisieren, die sich jetzt aber stattdessen als schiefes Kreuz über seinem Grab befanden.

So rapide die Hitze auch anstieg, bei Sonnenuntergang sank sie noch schneller. Es mussten immer noch um die 27 Grad Celsius sein und dennoch kam es mir vor, als hätte ich meinen Atem sehen sollen. Der Schweiß fühlte sich kühl auf meiner Haut an, die von einer Gänsehaut bedeckt war, und ich musste an meinen Armen reiben, um nicht zu schlottern. Wir konnten kein Feuer machen, um an ihm unsere Körpertemperaturen zu stabilisieren. Wir würden

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weiterlaufen und El Bufón jedes Mal glauben, wenn er verkündete, dass der Highway gleich hinter dem näch-sten Hügel oder am Ende des nächsten Tals käme. Wir alle suchten den Himmel nach den Lichtern einer Stadt oder sogar nur nach dem Hauch von Scheinwerferlichtern ab, doch die Dunkelheit blieb vollkommen, egal wie sehr wir es uns wünschten oder beteten.

Kojoten jaulten und heulten, gelegentlich traten sie mit einem kurzen Aufleuchten ihrer reflektierenden Augen oder als Silhouetten oben auf den umliegenden Hügeln aus den Büschen hervor. Ich zog sie jedoch den Skorpionen und Klapperschlangen vor, die nur darauf warteten, dass man auf die falsche Stelle trat. Trotz ihrer Größe schienen sie wesentlich ungefährlicher, oder vielleicht war weni-ger tödlich zutreffender.

Sie folgten uns aus dem Hochland, während wir mit einer Geschwindigkeit gingen, die sich aufgrund der Dun-kelheit und unserer wiederholten Stürze erheblich ver-langsamt hatte. Einmal hörten wir das entfernt Whupp – Whupp – Whupp eines Hubschraubers und warfen uns ins Gebüsch, aber das Geräusch verschwand so schnell, wie es ertönt war. Die Tatsache, dass es das einzige An- zeichen von Menschen war, dem wir an einem ganzen Tag begegnet waren, verriet mir alles, was ich darüber wis-sen wusste, wie nahe wir unserem Ziel wirklich waren.

Wir stürzten immer öfter, und das konstante Wimmern und Weinen der Verletzten brachte mich dazu, dass ich mir uns alle als Geister vorstellte, die durch das Land der Toten schwebten. Wären die brennenden Schürfwunden an meinen Händen und Knien, die Stacheln und das Ge-strüpp in meinen Socken und das Stechen durch meine Schuhsohlen nicht gewesen, hätte ich vielleicht wirklich glauben können, dass ich tot war und durch die unendli-chen Wüsten des Fegefeuers marschierte.

Ich genoss jeden Bissen Sapote, ließ ihn in meinem

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Mund schmelzen, bis nur noch die faserigen Reste des Fruchtfleisches und der harten Haut übrig waren, und dann schluckte ich, ohne zu kauen, damit keiner der an-deren mich in der Dunkelheit essen hören konnte. Ich ges-tattete mir nur die Hälfte und hob mir den übrigen Teil auf. Wenn ich recht hatte, musste der Ursprung des He-likoptergeräusches einen Tagesmarsch von hier entfernt sein, und es könnte am äußersten Rand dieser Reichweite gewesen sein. So viel musste ich zumindest annehmen. Ich beobachtete auch die Sterne und versuchte durch sie meinen Standort abzuschätzen. Ich konnte mir nur vor-stellen, wie einfach wir in diesen endlosen Schluchten die Orientierung verlieren konnten und uns planlos in dieser schrecklichen Wüste umherwandernd vorfanden, bis un-ser Proviant zu Ende ging und unsere Beine endgültig aufgaben. Soviel ich wusste, hatten wir bereits kehrtge-macht und bereiteten uns sogar jetzt darauf vor, wieder zurück nach Mexiko zu gehen. Mir machte zu schaffen, dass ich realisierte, wie sehr ich mich zu meiner Orien-tierung auf die Sonne verließ, und ich beschloss, dies zu ändern. Wenn wir unser Ziel nicht rechtzeitig am näch-sten Tag erreichen würden, fürchtete ich, dass wir keine andere Chance hätten, als die restliche Strecke nachts zu laufen und uns während der Hitze am Tag auszuruhen.

Ich hörte, wie Schritte über den Schotter schlurften. Die unvorhersehbare Akustik der Schlucht machte es un-möglich zu erkennen, ob sie von vor mir oder hinter mir oder sogar oben vom Hügel kamen, wo ich vereinzelte Zweige wackeln und Blätter zittern sah, die das Mond-licht reflektierten.

Ich blieb stehen und überschaute den Arroyo in der Dunkelheit. Das Jaulen der Kojoten hörte ich zwar nicht mehr, jedoch schwankten die Äste der Bäume immer noch leicht hin und her. Ich spürte keine Brise. Keinerlei Be-wegung der Luft. Ich beobachtete, wie die Bäume in der

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Nähe des trockenen Flussbetts mehr und mehr schwank-ten, wo ich gerade noch den schemenhaften Umriss eines Mannes sehen konnte, der vor mir lief. Er duckte sich unter den Ästen eines Mesquitebaumes hindurch, die über dem trockenen Flüsschen hingen, und wich einem umgestürz-ten Baumstamm nach links aus.

Im Unterholz krachte etwas.Ein dumpfer Schlag und ein Stöhnen.Etwas Warmes in meinem Gesicht.Etwas Nasses.Ich schloss die Augen. Wischte die Flüssigkeit aus ih-

nen heraus.Der Geschmack. Auf meinen Lippen. Ein Geschmack,

der so im Widerspruch zu meiner Umgebung stand, dass ich nicht sofort in der Lage war, ihn zu identifizieren. Ein Hauch von Metall, wie eine elektrischen Ladung. Biolo-gisch, wie der Geschmack im Rachen, wenn man Nasen…

Hinter mir krachte es wieder.Ich warf mich auf den Boden und hielt die Hände schüt-

zend über den Kopf. Das Gefühl, wie das Blut auf meinen Wangen abkühlte, in meinen Wimpern gerann, in mei-nem Mund verschwand … es war unerträglich für mich.

Ich sprang auf und rannte. Geradewegs den Hügel hi-nauf, was ich für Westen hielt. Ich krabbelte und stieß mit den Händen gegen Yucca-Palmen. Fiel in Kakteen. Kämpf- te mich durch Mesquitebäume mit angelhakenähnlichen Dornen, die sich unter meine Haut gruben und wieder abrissen. Sprang in einen Terpentinbusch und kniff meine Augenlider zusammen, so fest ich konnte.

Ich horchte.Stimmen.»… Was zum Teufel war das?«Das Geröll knisterte nicht.»Ich habe nichts gesehen …«Zweige knickten nicht.

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»… kam aus den Bäumen.«Nur das Knirschen von Schritten auf dem Schotter

direkt unter mir.»… gleich dort vor mir, eine Sekunde da und dann

wieder weg.«Und wieder dieses Flüstern im Geäst, welches den

Hügel hinauf nach Osten ganz leicht im Mondlicht schwankte.

»… einfach verschwunden.«Mein Herz klopfte so fest und schnell, dass es mit mei-

nem Sehvermögen spielte, als ich die Augen aufschlug.Unten in der Schlucht flackerte ein Licht auf und

strahlte das Gesicht und den Oberkörper des Mannes an, der die Hände schützend um die Flamme legte. Er drehte sich im Kreis, um ins Gebüsch auf beiden Seiten des Pfades zu schauen. Ich erkannte ihn vage als den Mann, der das blaue Trikot mit den weißen Sternen auf den Ärmeln getragen hatte, obwohl er jetzt mit einer Ka-puzenjacke mit einer langen Kordel bekleidet war. Die Flamme warf einen langen Schatten, der die umliegen-den Bäume zum Leben zu erwecken schien und die Män-ner und Frauen um ihn herum rot anleuchtete.

Ich warf wieder einen Blick auf die Berge im Osten. Wenn sich in den Bäumen irgendetwas bewegte, konn- te ich es nicht sehen. Ich kroch aus dem Unterholz und rutschte die losen Steine und die Böschung hinunter.

So ungern ich auch zuvor in der Nähe der anderen sein wollte, konnte ich die Aussicht, so weit von ihnen entfernt zu sein, jetzt nicht ertragen.

Ein weiteres Feuerzeug gesellte sich zum ersten, als ich in das Flussbett sprang. Es gehörte einem Mann mit ei-nem Cowboyhut aus Stroh und spindeldürren Beinen. Auf seinem Unterarm befand sich eine verblasste Tätowie- rung, die entweder eine Rose oder die Lippen einer Frau dargestellt haben könnte. Seine breite Brust wölbte sich

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aus seinem geöffneten Hemd, aus dessen Tasche eine Packung Alas Zigaretten herausragte.

Eine Frau in einer weit ausgeschnittenen Bluse, aus der ihre Brüste herausquollen, um den Bauch zu verbergen, der über ihrem Hosenbund hing, hielt ihr Handy hoch. Ein leichter Blauschimmer erfüllte die Lichtung.

»Was macht ihr da?« El Bufón schlug das Feuerzeug aus der Hand des Mannes mit den spindeldürren Beinen, der wiederum aufschrie und sich danach suchend auf den Boden warf. »La Migra kann eure pinche Lichter kilo-meterweit sehen. In den Bergen wimmelt es nur so von Gringos. Habt ihr irgendeine Ahnung, was die mit Leu-ten wie euch …?«

Er drehte den Kopf zur Seite und starrte lange auf den Boden, bevor er ein vergoldetes Zippo aus seiner Tasche nahm. Mit einem Schnippen seines Handgelenks erblühte die Flamme aus dem Gehäuse, und er ging in die Hocke, um besser betrachten zu können, was seine Aufmerksam-keit erregt hatte.

Ein einzelner weißer Tennisschuh lag auf dem Boden vor ihm, umgeben von Schotter, der aussah, als wäre er beiseitegetreten worden. Ein Blutspritzer überzog das Flussbett und führte das westliche Ufer hinauf. Es han-delte sich nicht um eine Blutspur, die man auf einem Op-erationstisch oder sonst irgendwo in einem Krankenhaus vorfinden würde. Es handelte sich um eine Art Hoch-geschwindigkeitsspritzer, der aus der Austrittswunde einer Kugel oder aus der klaffenden Wunde einer Machete ex-plodierte. Nur in diesem Fall fehlte definitiv etwas.

»Wo ist sein Körper?«, flüsterte ich.El Bufón schaute mich mit einem Gesichtsausdruck

an, der mich daran erinnerte, wie jung er in Wirklichkeit war. Keiner der anderen sagte ein Wort. Ich starrte auf den Schuh, konnte mir aber nicht den Mann vorstellen, der ihn getragen hatte.

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»Hier drüben ist noch mehr Blut!«, rief ein Mann von der Stelle, an der ich das zweite Knacken hinter mir ge-hört hatte.

Die Szenerie war fast identisch. Die Steine lagen so ver-streut, dass ich mir fast ausmalen konnte, wie der Körper auf dem Boden aufgeschlagen war. Das Blut schimmerte im flackernden Licht des Feuerzeugs, als es sich an den Spitzen der Mesquitenblätter sammelte und dann auf den Boden tropfte.

Platsch.Platsch.Ich drehte mich nach Osten. Die Bäume waren wie-

der ruhig.Platsch.Platsch.Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, um nicht

zu schaudern. Sehen konnte ich dort oben zwar nichts, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass mich irgendetwas beobachtete.