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VRi BAG Franz Josef Düwel l 1 Die Rezeption des SGB IX in der Rechtsprechung Arbeits- und Verwaltungsgerichte

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Die Rezeption des SGB IX in der Rechtsprechung

Arbeits- und Verwaltungsgerichte

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Terminologie

• „leidensgerecht“ = falsch, weil sbM nicht an einer Krankheit leiden müssen, z.B. Kleinwüchsiger!

• „behindertengerecht“ = falsch, weil es keinen typischen sbM gibt, sondern viele unterschiedliche Behinderungen!

• „behinderungsgerecht“ = richtig, denn Arbeitgeber muss die individuelle Behinderung des sbM berücksichtigen! So § 81 Abs.4 SGB IX

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Prävention im Arbeitsrecht

Das Prinzip des Vorrangs der Eingliederung vor Ausgliederung findet sich im Arbeitsrecht wieder:

• als mittelbare Folge des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Kündigungsrecht

• Unmittelbar in Eingliederungspflichten im Schwerbehindertenrecht.

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Änderungskündigung vor Beendigungskündigung

• Es kommt eine Beendigungskündigung als letztes Mittel (ultima ratio) erst dann in Betracht, wenn zuvor der Arbeitgeber von sich aus dem Arbeitnehmer eine beiden Parteien zumutbare Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz auch zu geänderten Bedingungen angeboten hat.BAG 27. September 1984 - 2 AZR 62/83 - BAGE 47, 26 = NJW 1985, 1797.

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Prognose bei Krankheitskündigung

• Auf Betriebs- und Arbeitsunfälle beruhende Fehltage werden nicht berücksichtigt.BAG 24.11.2005 - 2 AZR 514/04

• Das entspricht der Anschauung, auf einmalige Ursachen und nicht wieder zu erwartenden Ursachen beruhende Fehlzeiten nicht zu berücksichtigen. BAG 06.09.1989 - 2 AZR 19/89

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Ultima ratio bei Krankheitskündigung

• Bei der Kündigung wegen lang anhaltender Krankheit kommt als letztes Mittel (ultima ratio) die Kündigung erst dann in Betracht, wenn dem Arbeitgeber die Durchführung von Überbrückungsmaßnahmen (zB Einstellung von Aushilfskräften, Durchführung von Über- oder Mehrarbeit, personelle Umorganisation, organisatorische Umstellungen) nicht möglich oder nicht mehr zumutbar ist.BAG 24.11.2005 - 2 AZR 514/04

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Zumutbarkeitsgrenze

Der Arbeitgeber hat bei einem langjährig beschäftigten Arbeitnehmer einen längeren Zeitraum für geeignete und zumutbare Überbrückungsmaßnahmen hinzunehmen als bei einem nur kurzfristig tätigen Arbeitnehmer.

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Freimachen durch Versetzung

Falls ein gleichwertiger oder jedenfalls zumutbarer Arbeitsplatz zwar vorhanden ist aber nicht frei wird, soll der Arbeitgeber dann, wenn der Arbeitnehmer für die dort zu leistende Arbeit geeignet ist, den besetzten Arbeitsplatz durch Ausübung seines Direktionsrechts frei machen müssen.

BAG 29.01.1997 - 2 AZR 9/96

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Leidensgerechter Arbeitsplatz

• Dafür, dass eine solche Maßnahme einerseits auf Grund der betrieblichen Strukturen und Abläufe überhaupt nicht möglich oder nur mit großen Schwierigkeiten umsetzbar wäre oder andererseits keinen Erfolg für eine leidensgerechte Weiterbeschäftigung des Klägers hätte, hat die Beklagte bisher nichts dargetan.

• BAG, Urteil vom 12.07.2007 – 2 AZR 716/06 -

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Arbeitsplatzwechselempfehlung

• Auf Grund des nur empfehlenden Charakters der ärztlichen Bescheinigung liegt es im Verantwortungsbereich des Arbeitnehmers, für die Erhaltung seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit Vorsorge zu treffen oder eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes auf dem ungeeigneten Arbeitsplatz in Kauf zu nehmen.

• BAG, Urteil vom 17.02.1998 – 9 AZR 130/97 -

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Fürsorge und Arbeitsplatzwechsel

• Die dem Arbeitgeber nach § 618 Abs. 1 BGB obliegende Fürsorgepflicht berechtigt ihn nicht, entgegen dem erklärten Willen des Arbeitnehmers dessen Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz zu verweigern, wenn der Arbeitgeber dies als für den Arbeitnehmer gesundheitlich gefährdend ansieht.

• LAG Hessen, Urteil vom 27.11.2006 – 16 Sa 360/06 -

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Eingliederungspflichten im Schwerbehindertenrecht

Begünstigte Personen:

• schwerbehinderte Menschen, § 2 Abs. 2 SGB IX: ab GdB 50,

• von der Bundesagentur für Arbeit gleichgestellte behinderte Menschen, § 68 Abs.2, § 2 Abs. 3 SGB IX,

• soweit sie „Beschäftigte“ sind = Arbeitnehmer, Beamte und Richter.

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Arbeitgeberpflichten

die vertraglichen Arbeitsbedingungen den nachlassenden Fähigkeiten anpassen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX),

die Arbeitsstätten behinderungsgerecht einrichten und unterhalten (§ 81 Abs.4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX),

unter Berücksichtigung der Behinderung und ihrer Auswirkung auf die Beschäftigung das Arbeitsumfeld, die Arbeitsorganisation und die Arbeitsabläufe so umgestalten, dass der schwerbehinderte Beschäftigte entsprechend seinen Fähigkeiten und Kenntnissen arbeiten kann und auch noch die Chance hat, sich weiter zu entwickeln (§ 81 Abs.4 Satz 1 Nr.1 und 4 SGB IX),

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§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX

• Es genügt, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigt, die seinem infolge der Behinderung eingeschränkten Leistungsvermögen und seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechen. Der Arbeitgeber hat sich hierauf substantiiert einzulassen und Tatsachen vorzutragen, aus denen sich ergibt, dass solche behinderungsgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten nicht bestehen oder deren Zuweisung ihm unzumutbar ist. Hierzu gehört auch die Darlegung, dass kein entsprechender freier Arbeitsplatz vorhanden ist und auch nicht durch Versetzung freigemacht werden kann.

• BAG, Urteil vom 10.05.2005 – 9 AZR 230/04 – sowie Urteil vom 14.03.2006 – 9 AZR 411/05 -

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Arbeitgeberpflichten

den Arbeitplatz so mit erforderlichen technischen Hilfen ausstatten, dass der Arbeitnehmer seine behinderungsbedingten Leistungseinschränkungen ausgleichen kann (§ 81 Abs.4 Satz 1 Nr. 5 SGB IX).

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BAG 14.03.2006 -9 AZR 411/05„Flachschleifer “

„Kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer die ihm zugewiesenen Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dieser Verlust nach der Konzeption der §§ 81 ff SGB 9 nicht ohne weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruches. Der sb AN kann Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht abdeckt, auf eine entsprechende Vertragsänderung.

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Arbeitszeitverringerung

soweit der Arbeitnehmer wegen Art und Schwere der Behinderung nur weniger als vertraglich vereinbart arbeiten kann, kann er verlangen, mit entsprechend verringerter Wochenstundenszahl beschäftigt zu werden (§ 81 Abs.5 Satz 3 SGB IX).

Anders als nach § 8 TzBfG werden weder Wartezeit noch Ankündigungsfrist vorausgesetzt.

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Unzumutbarkeit als Grenze

• Die Eingliederung hat Vorrang! • Nur soweit die Erfüllung dieser

Eingliederungspflichten unzumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden ist, wird nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX der Arbeitgeber von der Erfüllung dieser Pflichten befreit.

• Betriebswirtschaftliche Optimierung muss zurück treten!

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Wirtschaftliche Zumutbarkeit

• Die finanzielle Unterstützung durch die BA und das Integrationsamt aus Mitteln der Ausgleichsabgabe sind zu berücksichtigen.

• Dennoch kann z. B. bei einer Befristung des Arbeitsverhältnisses, des baldigen Erreichens der Altersgrenze, der Gefährdung anderer Arbeitsplätze oder der unzumutbaren Belastung anderer Arbeitnehmer die Eingliederungsmaßnahme unzumutbar sein.

• LAG Stuttgart, Urteil vom 22.06.2005 – 2 Sa 11/05 -

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Stufenweise Wiedereingliederung

Obwohl das Instrument der stufenweisen Wiedereingliederung seit langem in § 74 SGB V geregelt ist und mit In-Kraft-Treten des SGB IX eine Ausweitung auf das Rehabilitationsrecht durch Übernahme in den § 28 SGB IX erfahren hat, bestehen hinsichtlich der konkreten Umsetzung im Arbeitsverhältnis noch große Unsicherheiten.

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Stufenweise Wiedereingliederung

Obwohl das Instrument der stufenweisen Wiedereingliederung seit langem in § 74 SGB V geregelt ist und mit In-Kraft-Treten des SGB IX eine Ausweitung auf das Rehabilitationsrecht durch Übernahme in den § 28 SGB IX erfahren hat, bestehen hinsichtlich der konkreten Umsetzung im Arbeitsverhältnis noch große Unsicherheiten.

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Stufenweise Wiedereingliederung für SbM

• Für schwerbehinderte Arbeitnehmer hat das BAG jetzt Klarheit geschaffen. Sie können nach § 81 Abs 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX die Beschäftigung zur stufenweisen Wiedereingliederung verlangen.

• Der Arbeitgeber hat eine Mitwirkungspflicht.

• BAG 13.06.2006 - 9 AZR 229/05- Behindertenrecht 2006, 147

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Ziffer 14.4 der Richtlinien zum SGB IX des Landes Nordrhein-Westfalen • Ist nach längerer Erkrankung die

Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess auf ärztliches Anraten nur stufenweise möglich, soll dieses im Einvernehmen mit dem zuständigen Reha-Träger vereinbart werden. Während des Wiedereingliederungsverfahrens besteht für Arbeitnehmer weiterhin Arbeitsunfähigkeit.

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§ 45 Abs. 1 LBG NRW

• Der Beamte auf Lebenszeit oder auf Zeit ist in den Ruhestand zu versetzen, wenn er wegen seines körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflicht dauernd unfähig (dienstunfähig) ist. Als dienstunfähig kann der Beamte auch dann angesehen werden, wenn er infolge Erkrankung innerhalb von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat und keine Aussicht besteht, dass er innerhalb weiterer sechs Monate wieder voll dienstfähig wird.

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Klärungsverfahren nach § 84 Abs.1 SGB IX

• Es bedarf keiner Aufforderung des Arbeitgebers an den behinderten Beschäftigten, sein Einverständnis zu erklären. Er ist an der Erörterung zu beteiligen.

• Da die Schwerbehindertenbeschäftigung auch im öffentlichen Interesse liegt (vgl. § 71 SGB IX), hat die Einschaltung der Integrationshelfer auch dann zu erfolgen, wenn der schwerbehinderte Beschäftigte sie ablehnt.

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Klärungsbedarf:

Welche betrieblichen Möglichkeiten bestehen zur Herstellung der verhaltens-, personenbezogen und betrieblichen Voraussetzungen für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit trotz aufgetretener Schwierigkeiten/Störungen?

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möglichst frühzeitig

• Eine gesetzliche Definition des Begriffs „möglichst frühzeitig“ fehlt.

• Da nach § 95 Abs.2 Satz 1 der Arbeitgeber die SBV vor jeder Entscheidung in einer Angelegenheit, die einen schwerbehinderten Beschäftigten berührt, „unverzüglich“ zu unterrichten hat, darf die möglichst frühzeitige Einschaltung nach Abs.1 jedenfalls nicht später als „unverzüglich“ nach Erkennen der Schwierigkeiten stattfinden.

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Unverzüglich

• Unverzüglich bedeutet nach § 121 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“.

• Die Rechtsprechung geht allgemein davon aus, dass ohne schuldhafte Verzögerung handelt, wenn die geschuldete Handlung binnen ein bis drei Tagen erfolgt

• vgl. OLG Koblenz 18.09.20031 Verg 4/03- IBR 2003, 695

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Einschalten

• Daraus folgt, der Arbeitgeber muss sofort tätig werden, sobald er Kenntnis von einen Sachverhalt erhält, der zu einer Gefährdung führen kann

• Er darf nicht warten, bis er eine zweifelsfreie Kenntnis über Umfang und Auswirkungen der Schwierigkeiten besitzt.

• Er muss die Arbeitnehmervertretungen und das IA einschalten, wenn er die Möglichkeit einer Gefährdung des Beschäftigungsverhältnisses erkennt.

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Nur vor Kündigungsreife?

• Nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats des BAG liegen bereits dann keine “Schwierigkeiten” iSv. Abs. 1 vor, wenn es sich um „Unzuträglichkeiten“ handelt, die noch nicht den Charakter von Kündigungsgründen aufweisen (BAG 07.12.2006 -2 AZR 182/06-).

• Nach dessen Vorstellung vom Präventionsverfahren iSv Abs.1 sollen die präventiven Maßnahmen eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses verhindern, also der Gefährdung und damit dem Entstehen von Kündigungsgründen zuvorkommen. Seien solche Gründe bereits entstanden, so könnten sie nicht mehr verhindert werden.

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Kritik

• BAG: Prävention bedeute Vorbeugung: Diese könne es bei Kündigungsreife nicht mehr geben.

• Diese Vorstellung ist verfehlt: Sie berücksichtigt nicht den Zusammenhang mit § 85.

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Klärung durch Vorverfahren

• Nach dem Kontext von §§84,85 bedarf es stets bevor der Arbeitgeber berechtigt sein soll, einen Antrag nach § 87 bei dem Integrationsamt zu stellen, der Durchführung des präventiven Erörterungsverfahrens nach Abs.1.

• Der Arbeitgeber soll durch die Pflicht zur Einschaltung des internen und externen Sachverstands nicht allein die „Kündigungsreife“ feststellen können. Er soll gemeinsam mit den Vertretungen der Beschäftigten und mit dem Integrationsamt die Möglichkeit prüfen und erörtern müssen, ob die aus einer Sicht aufgetretenen Schwierigkeiten beseitigt werden können, ohne das Beschäftigungsverhältnis zu beenden.

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Bereichsausnahme für ao Kündigungsgründe

• Die in Abs.1 aufgezählten Schwierigkeiten entsprechen den Voraussetzungen einer sozial gerechtfertigten ordentlichen Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG.

• Daraus wird gefolgert, dass der Gesetzgeber dieses neue Vorverfahren nicht auf wichtige Gründe im Sinne von § 626 Abs.1 BGB ausdehnen wollte.

• Die im Rahmen von Abs. 1 anzustellende Prüfung der Möglichkeiten zur Erhaltung des Arbeitsplatzes wäre mit den engen zeitlichen Vorgaben zur Beantragung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung in § 91 Abs.2 nicht vereinbar.

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Nicht durchgeführtes Präventionsverfahren

• Ordnungswidrigkeit ? Keine Aufnahme der Präventionspflichten aus § 84 in den Bußgeldkatalog § 156 Abs.1!

• Aber: Vor der Entscheidung, kein Präventionsverfahren durch zu führen, ist die SBV nach §95 Abs.2 Satz 1 SGB IX anzuhören.

• Daher: Owi § 156 Abs.1 Nr. 9, § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX !

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Ultima ratio für Kündigung?

• Das ergebnisoffene Klärungsverfahren ist kein milderes Mittel als eine Kündigung. Es soll erst klären, ob mildere Mittel zu Verfügung stehen.

• Die trotz unterlassenen Klärungsverfahren erteilte Zustimmung des Integrationsamtes bindet die Gerichte für Arbeitssachen nur hinsichtlich der Bestandskraft der Zustimmung. Keine Bindung, ob alle Klärungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Dennoch Arbeitsgerichte orientieren sich bisher daran.

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BAG

• Die Einhaltung des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen gegenüber Schwerbehinderten.

• Kann das Präventionsverfahren im Arbeitsverhältnis des Schwerbehinderten auftretende Schwierigkeiten beseitigen, so kann die Unterlassung des Verfahrens zu Lasten des Arbeitgebers bei der Bewertung des Kündigungsgrundes Berücksichtigung finden. BAG 7. Dezember 2006 - 2 AZR 182/06 – Pressemitteilung Nr. 78/06

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Verschiebung der Darlegungs- und Beweislast

Hat der Arbeitgeber seine Klärungs- und Erörterungspflichten nach § 84 Abs. 1 SGB IX verletzt, muss er darlegen und beweisen, dass auch unter Berücksichtigung der besonderen Arbeitgeberpflichten nach § 81 Abs. 4 SGB IX eine zumutbare Beschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers nicht möglich oder unzumutbar gewesen sei.

BAG, 04. 10. 2005 -9 AZR 632/04- Müllwerker

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BAG

• Die Einhaltung des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen gegenüber Schwerbehinderten.

• Kann das Präventionsverfahren im Arbeitsverhältnis des Schwerbehinderten auftretende Schwierigkeiten beseitigen, so kann die Unterlassung des Verfahrens zu Lasten des Arbeitgebers bei der Bewertung des Kündigungsgrundes Berücksichtigung finden. BAG 7. Dezember 2006 - 2 AZR 182/06 – Pressemitteilung Nr. 78/06

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§ 85 SGB IX: Verbot unter Erlaubnisvorbehalt

• Eine ohne verwaltungsrechtlichen Zustimmungsbescheid des IA ausgesprochene Kündigung ist nach § 134 BGB unwirksam !

• Der Zustimmungsbescheid ist als belastender Verwaltungsakt mit Drittwirkung vom schwerbehinderten AN anfechtbar, Frist: 1 Monat.

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Auswirkung der Anfechtbarkeit

• Die verwaltungsrechtliche Anfechtbarkeit des Zustimmungsbescheids des Integrationsamtes bewirkt, dass der vom Kündigungsverbot des § 85 SGB IX ausgehende Schutzschirm weiter gespannt ist als der nach § 1 Abs. 2 KSchG.

• Dieser Schutz erfasst auch schwerbehinderte Arbeitnehmer in Kleinbetrieben; denn in § 90 Abs. 1 SGB IX wird zwar die kündigungsschutzrechtliche Wartezeit, aber nicht die kündigungsschutzrechtliche Mindestbetriebsgröße vorausgesetzt.

Düwell in: Schmidt, Jahrbuch des Arbeitsrechts Band 43

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Anfechtbarkeit des Zustimmungsbescheids

• Unterlassenes Präventionsverfahren ist ein Verfahrensfehler.

• Er führt zur formellen Rechtswidrigkeit.

OVG Mecklenburg-Vorpommern,

09. 1. 2003 -2 M 105/03-

Behindertenrecht 2005, 143

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BayVGH

• Die Annahme, dass einem zulässigen Antrag auf Zustimmung das Verfahren nach § 84 vorausgehen müsse, hat keine Stütze im Gesetz!

• BayVGH 14.11.2006 -9 BV 06.1431

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BVerwG

• Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist zurückgewiesen worden.

• Die Rechtsfrage ist klar und eindeutig zu beantworten: Keine Verknüpfung zwischen § 84 und § 85.

• BVerwG 29.08.2007 – 5 B 77/07

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BAG - BVerwG

• Das BVerwG nimmt auf BAG Bezug: Keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, so wie BAG entschieden hat!

• Aber BAG hat entschieden: Keine Wirksamkeitsvoraussetzung im Sinne von ultima ratio.

• Verwaltungsgerichte müssen über Anfechtung wegen eines Verfahrensfehlers entscheiden, weil Klärungsverfahren Vorverfahren ist.

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Stellungnahme zum unterlassenen Klärungsverfahren für IA

• Dem Antrag auf Zustimmung zur Kündigung darf nicht stattgegeben werden!

• Grund: In dem gesetzlich vorrangigen Verfahren ist nicht festgestellt worden ist, ob der Arbeitgeber alle zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hat.

• Entscheidung des IA: Entweder wird wegen des Vorrangs des durchzuführenden Präventionsverfahrens der Antrag des Arbeitgebers zurückgewiesen oder das Zustimmungsverfahren bis zur Nachholung des Verfahrens nach § 84 Abs.1 SGB IX ausgesetzt. Bei a.o.Kündigung wegen Beschleunigung Nachholung durch IA ?

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Hochschätzung des IA

• Im Verfahren vor dem Integrationsamt spielen insbesondere die Möglichkeiten, den Arbeitnehmer auf einem anderen, behindertengerechten Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen, eine entscheidende Rolle. Hat eine solche Prüfung mit der gebotenen Sorgfalt stattgefunden und ist das Integrationsamt nach eingehender Prüfung unter Hinzuziehung des Betriebsrats, der Schwerbehindertenvertretung und der sonstigen Beteiligten zu dem Ergebnis gelangt, eine solche Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bestehe nicht, so darf das nicht unberücksichtigt bleiben.

• BAG, Urteil vom 22.09.2005 – 2 AZR 519/04 -

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Klärung bei Arbeitsunfähigkeit

Seit 1. Mai 2004 besteht für Arbeitgeber Verpflichtung, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) für Beschäftigte mit lang anhaltender oder wiederholter Arbeitsunfähigkeit einzuführen (§ 84 Abs. 2 Sozialgesetzbuch IX).

Beschäftigte = AN, Beamte und Richter

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Klärung bei Arbeitsunfähigkeit

Seit 1. Mai 2004 besteht für Arbeitgeber Verpflichtung, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) für Beschäftigte mit lang anhaltender oder wiederholter Arbeitsunfähigkeit einzuführen (§ 84 Abs. 2 Sozialgesetzbuch IX).

Beschäftigte = AN, Beamte und Richter

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BEM

• Beschäftigte länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig

• Arbeitgeber klärt mit BR oder PR – bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit

Schwerbehindertenvertretung• mit Zustimmung und Beteiligung des Betroffenen

– wie Arbeitsunfähigkeit überwunden– mit welchen Hilfen Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt– Arbeitsplatz erhalten werden kann

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BEM für alle?

• klarer Wortlaut des § 84 Abs. 2 SGB IX: Alle Beschäftigte!

• SGB IX Teil 2 enthielt und enthält Bestimmungen, die weitere Adressaten als schwerbehinderte Beschäftigte Menschen betreffen.

• § 68 Abs.1 beschränkt Teil 2 nicht nur auf Schwerbehinderte.

• Das wurde während Gesetzgebungsverfahrens gesehen und teilweise kritisiert, z.B. BDA

• geltender Text von BT und BR in Kenntnis - und Ablehnung - dieser Kritik beschlossen

• Ziel gilt für alle Beschäftigten, weil sie a.u.krank sind, nicht weil sie behindert sind!

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Für alle!

• BAG hat entschieden: für alle Beschäftigte!

• BAG 12. Juli 2007 - 2 AZR 716/06 – Pressemitteilung 54/07

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Rechtsfolgen bei Nichtdurchführung

• Nach 2. Senats des BAG ist die Durchführung des BEM zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine personenbedingte Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen.

• Die gesetzliche Regelung wird aber nicht als ein bloßer Programmsatz angesehen.

• Er ist Ausprägung des das Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

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Erweiterung der Darlegungslast

• Der Arbeitgeber hat darzulegen, dass die unterlassene Durchführung des BEM unerheblich war, weil auch bei seiner Durchführung keine Möglichkeit bestanden hätte, eine personenbedingte Kündigung wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden.

• Ein solcher Fall mag vorliegen, wenn feststeht, dass die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit eines Arbeitnehmers völlig ungewiss ist (vgl. LAG Hamm 29.03.2006 -18 Sa 2104/05- LAGE § 1 KSchG Krankheit Nr 39).

• Es ist darauf zu achten, dass das Gericht keinen unzulässigen Ausforschungsbeweisantritten nachgeht.

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LAG Nürnberg21.06.2006- 4 (9) Sa 933/05

• § 84 Abs. 2 SGB IX kann „auch außerhalb des vorgesehenen Verfahrens“ seitens der Arbeitgeberin Rechnung getragen werden. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte ausreichend geprüft, ob dem Kläger durch einen anderweitigen Einsatz im Betrieb sein Arbeitsplatz erhalten werden kann. Diesem Zweck dient auch das vorgeschriebene Zustimmungsverfahren beim IA.

• Wenn sich schon das IA veranlasst sehen musste, die beantragte Zustimmung zu erteilen, kann davon ausgegangen werden, dass auch ein betriebliches Eingliederungsmanagement im konkreten Fall keine Möglichkeiten aufgezeigt hätte, den langzeiterkrankten schwerbehinderten Mitarbeiter seinen Arbeitsplatz zu erhalten.“

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LAG Hamm 29.03.2006 -18 Sa 2104/05, Revision -2 AZR 716/06

• Ziel der Regelung des § 84 Abs. 2 SGB IX ist es, durch betriebliche Prävention die krankheitsbedingte Kündigung bei den Arbeitnehmern nach dem Grundsatz "Rehabilitation statt Entlassung" zu verhindern.

• Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht überzeugt, dass auch bei der Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements im Fall des Klägers eine Kündigung nicht zu vermeiden gewesen wäre.

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Darlegungslast

• Führt der Arbeitgeber kein betriebliches Eingliederungsmanagement durch, so hat das Folgen für die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der Prüfung der betrieblichen Auswirkungen von erheblichen Fehlzeiten.

• Der Arbeitgeber kann sich nicht pauschal darauf berufen, ihm seien keine alternativen, der Erkrankung angemessenen Einsatzmöglichkeiten bekannt.

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§ 84 Abs. 2 SGB IX

• Hat der Arbeitgeber seine Erörterungspflichten nach § 84 Abs. 1 SGB IX verletzt, trifft ihn die sekundäre Darlegungslast dafür, dass ihm auch unter Berücksichtigung der besonderen Arbeitgeberpflichten nach § 81 Abs. 4 SGB IX eine zumutbare Beschäftigung nicht möglich war.

• BAG, Urteil vom 04.10.2005 – 9 AZR 632/04 -

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Zweiter Senat schließt sich an

• Führt der Arbeitgeber kein BEM durch, so hat dies Folgen für die Darlegungs- und Beweislast.

• Er muss darlegen, das BEM nichts gebracht hätte.

• BAG 12.07.2007 -2 AZR 716/06

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§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• Wird der Betriebsrat im Rahmen des BEM nicht ordnungsgemäß beteiligt und hätte bei seiner ordnungsgemäßer Beteiligung die Aussicht auf ein Gelingen des gescheiterten BEM-Verfahrens bestanden, muss sich der Arbeitgeber im Rahmen der Interessenabwägung die Nichtbeteiligung des Betriebsrates zu seinen Lasten anrechnen lassen.

• ArbG Marburg, Urteil vom 11.04.2008 – 2 Ca 466/07 -

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Anrufung der Einigungsstelle

Einigungsstelle ist nach § 98 ArbGG bereits dann zu bilden, wenn Mitbestimmung nach § 87 BetrVG möglich ist. Dies gilt auch bei BEM, denn „…durchaus denkbar, dass der gesamte Ablauf des betrieblichen Eingliederungsmanagements, vom ersten Anschreiben über das Informationsgespräch, die Datenerfassung und –auswertung bis hin zur späteren Umsetzung in einen einheitlichen Rahmen mit kollektiven Charakter gegossen werden kann und muss.“

ArbG Dortmund 20. Juni 2005 - 5 BV 48/05

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Einigungsstellenvorsitzender wird bestellt

• Die Einigungsstelle ist nicht offensichtlich unzuständig i. S. v. § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, wenn eine strittige Mitbestimmungsfrage noch nicht höchstrichterlich entschieden wurde und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung Das Mitbestimmungsrecht noch umstritten ist.

• 2. Hieran gemessen hat die Einigungsstelle in eigener Kompetenz zu prüfen, ob bei der Aufstellung eines formalisierten Verfahrens für das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG in Betracht kommt, d. h. ob die Einigungsstelle zuständig ist.

• LAG Schleswig-Holstein12.2006 – 6 TaBV-

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Erzwingbarkeit einer Integrationsvereinbarung ?

• Wenn es in § 83 Abs 1 S 1 SGB 9 heißt, der Arbeitgeber treffe mit den dort genannten Stellen eine verbindliche Integrationsvereinbarung, kann daraus nicht im Umkehrschluss zwingend ein entsprechender Anspruch der Schwerbehindertenvertretung abgeleitet werden.

• Landesarbeitsgericht Hamm 19.01.2007- 13 TaBV 58/06

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VRi BAG Franz Josef Düwell 63

§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• „Sie (die zuständige Interessenvertretung im Sinne des § 93 sowie bei schwerbehinderten Menschen die Schwerbehindertenvertretung) wachen darüber, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfüllt.“

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§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• Aus der Aufgabe (§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX) folgt die Befugnis bzw. Verpflichtung des Arbeitgebers zur Übersendung der erforderlichen personenbezogenen Daten!

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VRi BAG Franz Josef Düwell 65

§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• Dem Personalrat ist auch ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Beschäftigten mitzuteilen, welche Beschäftigten der Dienststelle innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren. Das Erfordernis einer Zustimmung bezieht sich auf die Klärung mit dem Betroffenen, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden, mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.

• VG Hamburg, Beschluss vom 10.11.2006 – 23 FB 17/06 -; rechtskräftig

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§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• Es wird festgestellt, dass der Beteiligte dadurch das Beteiligungsrecht des Antragstellers gemäß § 84 Abs. 2 i.V.m. § 93 SGB IX verletzt hat, dass er Beschäftigte aufgefordert hat mitzuteilen, ob sie einem betrieblichen Eingliederungsmanagement zustimmen würden, ohne dass der Antragsteller vorher beteiligt worden ist.

• Es wird festgestellt, dass der Beteiligte verpflichtet ist, dem Antragsteller unverzüglich mitzuteilen, ohne vorherige Zustimmung des jeweils Betroffenen, welche Beschäftigten der Dienststelle innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren, und das Anschreiben an die Betroffene und ggfs. deren Antwort zur Kenntnis zu geben.

• VG Berlin, Beschluss vom 04.04.2007 – 61 A 28.06 -; nicht rechtskräftig

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§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• In Nordrhein-Westfalen sind derzeit zwei Verfahren vor den Verwaltungsgerichten anhängig:

• - VG Düsseldorf – 34 K 3001/08.PVL

• - VG Köln – 34 K 4172/08.PVL

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§ 84 Abs. 2 Satz 7 SGB IX

• In Nordrhein-Westfalen sind derzeit zwei Verfahren vor den Verwaltungsgerichten anhängig:

• - VG Düsseldorf – 34 K 3001/08.PVL

• - VG Köln – 34 K 4172/08.PVL