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Was aber bleibt? Durkheim und Bergson, französische Soziologie und Philosophie Blockseminar vom 12.-14. April 2010-03-04 Ort: U2/ H 201 Veranstalter: Prof. Dr. Christian Illies (Philosophie, Uni Bamberg) Dr. Heike Delitz (Philosophie/Soziologie, Uni Bamberg) Prof. Dr. Matthew Maguire (Kenyon College/ USA). Anmeldungen sind erforderlich; bitte per email an Frau [email protected] Mit dem Franzosen Émile DURKHEIM (1858-1917) endet die Philosophie: Moral, Wissen, die Kategorien der Erkenntnis, die Religion: für Durkheim sind all dies gleichermaßen „soziale Tatsachen“. Und Soziales lasse sich nur durch Soziales erklären, bedürfe also einer soziologischen Erklärung. Damit hat sich Durkheim zu einem der Gründerväter der neuen Wissenschaft ‚Soziologie‘ gemacht - und zugleich zum Leichenprediger der Philosophie Henri BERGSON (1859-1941), der zweite große Franzose im Umbruch vom 19. ins 20. Jahrhundert, begründet zur gleichen Zeit eine neue Philosophie, die mit der Tradition des Abendlandes zu brechen beansprucht. Das Rad soll neu erfunden werden. Es geht ihm um ein modernes Philosophieren in Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften, nicht zuletzt der Evolutionsbiologie (aber auch mit Psychologie und Physik): um eine Theorie in der „Aufmerksamkeit auf das Leben“ (Bergson) und um eine „allgemeine Philosophie der Differenz“ (Deleuze zu Bergson). In seinem letzten Werk kritisiert er schließlich auch die neue Soziologie und will die soziozentrische Erklärung von Moral, Religion und Gesellschaft begrenzen. Die Philosoph schlägt also zurück und versucht wieder zu erobern, was Durkheim zuvor in den Herrschaftsbereich der Soziologie gebracht hatte. (Wobei Bergson kurioserweise selbst eine neue Soziologie entwickelt…). Die Auseinandersetzung verlief allerdings größtenteils implizit (seitens von Durkheim etwa über ‚Mystizismus‘- und Pragmatismus-Vorwürfe an die Adresse Bergsons). Aber sie bietet Anlass genug, die beiden Autoren gegeneinander antreten zu lassen. Und das lohnt; denn was hier – in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts - geschieht, ist historisch wie grundsätzlich bedeutend. Zum ersten geht es um einen vibrierenden Moment der Ideengeschichte, aus dem sich entscheidende Wege zum

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Was aber bleibt?

Durkheim und Bergson,

französische Soziologie und

Philosophie

Blockseminar vom 12.-14. April 2010-03-04

Ort: U2/ H 201

Veranstalter: Prof. Dr. Christian Illies (Philosophie, Uni Bamberg)

Dr. Heike Delitz (Philosophie/Soziologie, Uni Bamberg)

Prof. Dr. Matthew Maguire (Kenyon College/ USA).

Anmeldungen sind erforderlich; bitte per email an Frau [email protected]

Mit dem Franzosen Émile DURKHEIM (1858-1917) endet die Philosophie: Moral, Wissen, die Kategorien der Erkenntnis, die Religion: für Durkheim sind all dies gleichermaßen „soziale

Tatsachen“. Und Soziales lasse sich nur durch Soziales erklären, bedürfe also einer soziologischen Erklärung. Damit hat sich Durkheim zu einem der Gründerväter der neuen Wissenschaft ‚Soziologie‘ gemacht - und zugleich zum Leichenprediger der Philosophie

Henri BERGSON (1859-1941), der zweite große Franzose im Umbruch vom 19. ins 20. Jahrhundert, begründet zur gleichen Zeit eine neue Philosophie, die mit der Tradition des Abendlandes zu brechen beansprucht. Das Rad soll neu erfunden werden. Es geht ihm um ein modernes Philosophieren in Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften, nicht zuletzt der Evolutionsbiologie (aber auch mit Psychologie und Physik): um eine Theorie in der „Aufmerksamkeit auf das Leben“ (Bergson) und um eine „allgemeine Philosophie der Differenz“ (Deleuze zu Bergson). In seinem letzten Werk kritisiert er schließlich auch die neue Soziologie und will die soziozentrische Erklärung von Moral, Religion und Gesellschaft begrenzen. Die Philosoph schlägt also zurück und versucht wieder zu erobern, was Durkheim zuvor in den Herrschaftsbereich der Soziologie gebracht hatte. (Wobei Bergson kurioserweise selbst eine neue Soziologie entwickelt…).

Die Auseinandersetzung verlief allerdings größtenteils implizit (seitens von Durkheim etwa über ‚Mystizismus‘- und Pragmatismus-Vorwürfe an die Adresse Bergsons). Aber sie bietet Anlass genug, die beiden Autoren gegeneinander antreten zu lassen. Und das lohnt; denn was hier – in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts - geschieht, ist historisch wie grundsätzlich bedeutend. Zum ersten geht es um einen vibrierenden Moment der Ideengeschichte, aus dem sich entscheidende Wege zum

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französischen Strukturalismus einerseits (von der Durkheim-Schule aus), zum Existentialismus und zur Phänomenologie andererseits (von Bergson aus) bahnten. Zum zweiten haben wir hier eine paradigmatische Antwort auf die Frage, was eigentlich ‚Philosophie‘ ist – und worin sie ihr Erkenntnisideal gegenüber der neuen Wissenschaft Soziologie noch rechtfertigen kann (etwa gegenüber dem, was Michel Foucault dann an die Stelle der Erkenntnistheorie setzen wird: die Geschichte des Denkens). Für Philosophen bleibt die Soziologie eine ganz große Herausforderung. Moral, Religion, Wissen haben zweifellos eine soziale Geschichte und können soziologisch erfasst werden – aber ob damit das letzte Wort über sie gesagt ist, bleibt die entscheidende Frage an die Philosophie.

Lektüre: Gelesen werden Auszüge aus folgenden Texten (Die Textauswahl wird rechtzeitig mitgeteilt; ein elektronischer Reader steht zur Verfügung): Émile Durkheim (1892/1965). Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied. [Regeln] - (1893/1988). Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt/M. [AT] - (1912/1994). Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. [EF] Henri Bergson (1896/1991). Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg, Meiner. [MG] - (1907/1912). Schöpferische Entwicklung. Jena [SE] - (1932/1992). Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Frankfurt/M. [BQ] - (1930/1947). Das Mögliche und das Wirkliche, in: Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim, 110-125. [MW] Sekundärliteraturtips: Besnard, P., Ed. The sociological domain: The Durkheimians and the founding of French sociology. Cambridge 1983 Deleuze, G.. Bergson zur Einführung. Hamburg 1989 Grogin, R. C., The Bergsonian Controversy in France 1900-1914. Calgary 1988 Joas, H., Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, 76ff. (Das Problem der Entstehung neuer Moral als Leitfaden durch Durkheims Werk) - Durkheim und der Pragmatismus. Bewußtseinspsychologie und die soziale Konstitution der Kategorien, in: É. Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis. Hg. von Hans Joas, Frankfurt/M. 1993, 257-287. König, R., Émile Durkheim. Der Soziologe als Moralist, in: D. Käsler (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens 1. München: 1976, 312-364 Lukes, S., Emile Durkheim. His Life and Work. A Historical and Critical Study. Standford 1985 Merleau-Ponty, M., Bergson im Werden. In: Ders., Zeichen, Hamburg 2007 Müller, H.-P., Emile Durkheim (1858-1917), in D. Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie 1. München 2003 Termin: Sitzung Text

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12.4., 13.00 (gemeinsame Einführung; Einführung in das Verhältnis Durkheim-Bergson: Delitz)

12.4., 14:00 Durkheim, Die soziologische Erklärung [Regeln 105-114, 193-204, 218-222] 12.4., 15:00 Bergson, Erkenntnistheorie entlang der »Aufmerksamkeit auf das Leben« [MG

1-23] 12.4., 18:00 Bergson, Die ›recht verstandene‹ Zeit [durée] [ZF 75-88; SE 8-14] 13.4., 9:00 Durkheim, Sinn und Grundidee der (Religions-)Soziologie, die Zeitfrage [EF 17-

42] 13.4., 11:00 Bergson, Kritik an der impliziten antiken Metaphysik in unserem Denken [SE

50-61, 68-82, 100-103] 13.4., 14:00 Durkheim, Soziologie der Religion; Sich-Identifizieren mit dem Tier [EF 178-

187, 285-314] 13.4., 16:00 Bergson, Phil. Anthropologie: Differenz von Pflanze/Tier/Mensch [SE 104f.,

111-121, 137-140, 144ff.] 14.4., 9:00 Durkheim, Soziologie des Wissens und der Kategorien [EF 488-497, 577-597] 14.4., 11:00 Bergson, Moral- und Religionstheorie [BQ 80-103, 108ff., 207-213, 228f.] 14.4., 13:30 Durkheim, Soziologie der Moral [EF 429-446; AT 76-82; EM 44-50] 14.4., 15:30 Bergson, Kritik an Scheinproblemen [MW] Literatur Henri Bergson (1889/1994). Zeit und Freiheit. eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. Hamburg [ZF]

- (1896/1991). Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg, Meiner [MG]

- (1907/1912). Schöpferische Entwicklung. Jena [SE] - (1932/1992). Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Frankfurt/M. [BQ] - (1930/1947). Das Mögliche und das Wirkliche, in: Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim, 110-125 [MW]

Émile Durkheim (1892/1965). Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied [Regeln] - (1893/1988). Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften.

Frankfurt/M. [AT] - (1912/1994). Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. [EF] - (1919/1986). Einführung in die Moral, in: H. Bertram (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt/M., 33-53 [EM]