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Tagungsbericht Berlin 8. November 2007 Was ist sozial? Dimensionen der Gerechtigkeit 2 Prof. Dr. Michael Eilfort Einführung 5 Anthony de Jasay Equality and Equalities in Social Justice Doctrine Besteht ein Zusammenhang zwischen Umverteilung und Gerechtigkeit? 7 Pater Dr. Hans Langendörfer Soziale Gerechtigkeit – Wessen Auftrag? Die Teilhabe an der Gesellschaft ist allen Menschen zu eröffnen. 10 Prof. Dr. Klaus Schroeder Zu Begriff und Bedeutung Sozialer Gerechtigkeit Fehlwahrnehmungen bei Einkommen und Vermögen 17 Prof. Dr. Johann Eekhoff Soziale Marktwirtschaft – ein Widerspruch? 21 Politische Diskussion mit Niels Annen MdB (SPD) und Philipp Mißfelder MdB (CDU/CSU) von rechts nach links: Eekhoff, Annen, Mißfelder, de Jasay, Schroeder und Eilfort.

Was ist sozial? Dimensionen der Gerechtigkeit · Etikett benutzten Begriff blieben schon bei Homer offen: Auf welchem Weg gelangt man am besten ans Ziel? Welche Art von Gerechtigkeit

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Tagungsbericht

Berlin 8. November 2007

Was ist sozial?Dimensionen der Gerechtigkeit

2 Prof. Dr. Michael Eilfort Einführung

5 Anthony de Jasay Equality and Equalities in Social Justice DoctrineBesteht ein Zusammenhang zwischen Umverteilung und Gerechtigkeit?

7 Pater Dr. Hans Langendörfer Soziale Gerechtigkeit – Wessen Auftrag?Die Teilhabe an der Gesellschaft ist allen Menschen zu eröffnen.

10 Prof. Dr. Klaus Schroeder Zu Begriff und Bedeutung Sozialer GerechtigkeitFehlwahrnehmungen bei Einkommen und Vermögen

17 Prof. Dr. Johann Eekhoff Soziale Marktwirtschaft – ein Widerspruch?

21 Politische Diskussion mit Niels Annen MdB (SPD) und Philipp Mißfelder MdB (CDU/CSU)

von rechts nach links: Eekhoff, Annen, Mißfelder, de Jasay, Schroeder und Eilfort.

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Was ist sozial?02

Homer hat einst unterstrichen „wie viel besser es sei, ge-recht als böse zu handeln.“ Nun – das Ziel, gerecht zuhandeln und zu mehr Gerechtigkeit beizutragen, dürftealle hier Versammelten und fast die ganze Gesellschafteinen. Insofern würde es zur Versachlichung mancherDebatte schon viel beitragen, spräche dies keiner demanderen ab.

Für die Stiftung Marktwirtschaft ist Gerechtigkeit einezentrale Voraussetzung des Funktionierens wie der Ver-mittlung unserer Sozialen Marktwirtschaft. Auch deswe-gen wollen wir hier ein offenes Diskussionsforum bieten,um einen Beitrag zu mehr Klarheit in der öffentlichen De-batte und zu mehr Gerechtigkeit oder vielleicht besser,zu größerer Fairness in unserem Land zu leisten. Die ent-scheidenden Fragen hinter dem leicht zustimmungs-

fähigen, emotional gut besetzten und deshalb gern alsEtikett benutzten Begriff blieben schon bei Homer offen:Auf welchem Weg gelangt man am besten ans Ziel?Welche Art von Gerechtigkeit ist eigentlich gemeint?Und wer handelt „gerechter“? Derjenige, der im Regel-fall auf Kosten anderer gut gemeinte und staatlich orga-nisierte Verteilungsgerechtigkeit propagiert? Oder der-jenige, der im eigenen Umfeld für andere sorgt, alsoselbst Beispiel gibt und gegebenenfalls den einen oderanderen bequemen Mitmenschen auch kritisch ermutigt?

Oder ist derjenige sozial besonders gerecht bzw. zumin-dest effektiv, der aus eigener Anstrengung und natürlichauch aus eigenem Gewinnstreben heraus Arbeit schafft?Sprechen wir eigentlich über Chancen- und Leistungsge-rechtigkeit, also über Gerechtigkeit im Verfahren? Odergehen wir von Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit aus,also von Gerechtigkeit im Ergebnis?

Der Bundeswirtschaftsminister hat in einem Zeitungs-beitrag zum Thema im vergangenen Jahr bezüglich dersprachlichen Dimension die weiße Flagge gehisst: „Defi-nieren lässt sich soziale Gerechtigkeit nicht. Letztendlichentscheiden hierüber politische Mehrheiten.“ Diese Aus-sage stimmt mich angesichts des derzeitigen politischenTrends eher besorgt. Deutlich ist der Liberale FriedrichAugust von Hayek in seiner Kritik an dem für ihn inhalts-leeren Schlagwort: „Soziale Gerechtigkeit“, spottete er1981, „ist einfach ein quasi-religiöser Aberglaube, denwir bekämpfen müssen, sobald er zum Vorwand wird,gegen andere Menschen Zwang anzuwenden. Der vor-herrschende Glaube an ,soziale Gerechtigkeit’ ist ge-genwärtig wahrscheinlich die schwerste Bedrohung dermeisten anderen Werte einer freien Zivilisation.“

Richtig dürfte daran sein, dass die Art von „Sozialer Ge-rechtigkeit“, mit der aktuell vornehmlich beim Wählergepunktet werden soll, in der Folge ihrer staatlich vorge-nommenen Umsetzung Einschränkungen der Freiheit(z.B. Vertragsfreiheit, Antidiskriminierungsgesetz), desWettbewerbs, wirtschaftlicher Dynamik und vielleichtsogar Ungerechtigkeit anderer Art mit sich bringt (Ar-beitslosengeld). Mindestens widersprechen sich einzel-ne Facetten der Gerechtigkeit: Ergebnisgerechtigkeitinsbesondere als tendenzielle Gleichheit kann z.B. nurdurch eine eingeschränkte Verfahrensgerechtigkeit er-reicht werden. Das gilt materiell wie bei der Teilhabe u.a.an politischen Ämtern durch Quotenregelungen (Frauen-förderung).

Einführung

Prof. Dr. Michael Eilfort

Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft

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Dimensionen der Gerechtigkeit 03

Hayek trifft also des Pudels Kern, trotzdem sollte mannicht bei ihm stehen bleiben. Für die Stiftung Marktwirt-schaft ist Freiheit mehr als die Abwesenheit von staatli-chem und politischem Zwang. Der Markt kann sehr, sehrvieles und darf in Deutschland derzeit eher weniges.Aber er kann auch nicht alles. Natürlich hat eine solidari-sche Gesellschaft zu berücksichtigen, dass, wie der in-dische Nobelpreisträger von 1998 Sen formuliert, Frei-heit auch eine materielle Grundlage haben kann. EchteBedürftigkeit macht unfrei. Daraus sollte aber nicht derSchluss gezogen werden, die ohnehin überstrapazier-ten Sozialbudgets noch weiter auszudehnen.

Muss es nicht vielmehr darum gehen, die in Markt undWettbewerb liegende Kraft zuzulassen und effektiv zunutzen? Mithin Anreizmechanismen so auszugestalten,dass sie, wie die drei amerikanischen Nobelpreisträger(Maskin, Hurwicz, Myerson) 2007 beschrieben, sogar inSituationen wirken können, in denen Märkte weniger gutfunktionieren? Wir brauchen keine neue soziale und wol-len nicht zurück zur alten – unsozialen? – Marktwirt-schaft der 1950er Jahre. Wir setzen auf eine faire Markt-wirtschaft, der, wenn sie richtig und im Sinne der geisti-gen Väter der Sozialen Marktwirtschaft funktioniert, das

Soziale im Verfahren und der „Wohlstand für alle“ im Er-gebnis innewohnt. Dabei muss auch klar sein: Die Wirt-schaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.Genau-so sind Reformen kein Selbstzweck, sie sollen mehrMenschen in Deutschland materiell breiten Wohlstandund eine gute Zukunft sichern und ihnen darüber hinausdie Chance zu persönlicher Erfüllung bieten: Der ver-diente Euro befriedigt mehr als jeder zugewendete Euro.Dagegen hat sich mit dem Ausweiten der Sozialleistun-gen für alle Bürger ein Leviathan entwickelt, der in alleBereich des Gemeinwesens vordringt und regelrechteAbhängigkeiten von seinen Wohltaten schafft. Diese wer-den teilweise als wohlig empfunden, basierend auf derirrigen Annahme, dass im Prinzip alle in der Gesellschaftvorhandenen Ungleichheiten kompensiert werden kön-nen.

Dabei sind es gerade die Ungleichheiten, die Menschenzu Höchstleistungen und Innovationen antreiben, die Ver-änderungswillen und damit Dynamik erzeugen. „Wo istder Wille zum Aufstieg?“ hat Kurt Beck zu Recht vor ei-nem Jahr gerufen. Vielleicht hat gerade die Verwechs-lung von Gleichheit mit Gerechtigkeit zuviel lähmendeWirkungen entfaltet. Der deutsche Staat gibt in etwa ein

Welche Art von Gerechtigkeit ist eigentlich gemeint, fragen sich auch die Zuhörer der Veranstaltung in der Katholischen Akademie.

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Was ist sozial?04

Drittel des im Land erwirtschafteten Bruttosozialproduk-tes für Sozialleistungen aus: Jeder der über 82 MillionenMenschen in diesem Land erhielt im Jahr 2005 durch-schnittlich 8.426 Euro und 85 Cent. Gleichzeitig betrugdie Höhe öffentlicher Schulden pro Person 17.558 Euro.

Das könnte man noch eher verstehen, wenn denn alleMenschen glücklich wären in unserem Land. Sind sieaber nicht: So viel Umverteilung und Absicherung wie niesteht so viel Klagen wie nie gegenüber. Viele empirischeUntersuchungen belegen, dass die allgemeine wirtschaft-liche Zufriedenheit bei steigendem Wohlstand eher sinkt:Ist also Gleichheit in Ärmlichkeit besser zu ertragen alsAusdifferenzierung im Wohlergehen, also größere Unter-schiede auf für alle höherem Niveau? (Nostalgie aufDDR-Grau und die 50er Jahre) Zudem drängt sich ange-sichts der verbreiteten Unzufriedenheit mit den Ergeb-nissen unseres überteuren Sozialstaats (in Art. 20 GG istübrigens vom „sozialen Staat“ die Rede, nicht vom Sozi-alstaat) zum einen die Frage auf, ob nicht viel zu viel derfür „soziale Gerechtigkeit“ eingesetzten Mittel zielunge-nau gestreut werden, unerwünschte Verhaltensanpassun-gen und Mitnahmeeffekte geradezu provozieren. Ver-schwinden sie nicht in viel zu hohem Maße in einer So-zialindustrie, deren hauptberuflich sozial Engagierteunter falscher Flagge der Herstellung von Gerechtigkeitvor allem das eigene Auskommen sichern und an man-cher Problemlösung gar kein Interesse haben können?

Noch mehr aber, zweitens, sollten wir überdenken, obeine ganze Reihe der Maßnahmen im Dienste angeb-licher „sozialer Sicherheit“ für zu viele von uns nicht ehereine Gewissensberuhigung für eigene Bequemlichkeitdarstellen. Kurz: Lähmt wohlfahrtstaatliche Aktivität nichtoft geradezu den Gemeinsinn wie den Leistungswillender Bürger und damit die Selbsthilfekräfte der Gesell-schaft? Müssen wir darum in Deutschland nicht wiederstärker auf Verfahrens-, also Chancen- und Leistungs-gerechtigkeit setzen und mehr Ungleichheit im Sinne der„Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls akzeptie-ren? Für ihn haben die Grundfreiheiten (Freiheit, Leben,Eigentum) Vorrang vor sozialer Gerechtigkeit, die aberwiederum nicht der Effektivität ökonomischen Gewinn-strebens nachgeordnet sei: „Soziale und wirtschaftlicheUngleichheit ist zulässig, wenn sie sich zumindest auchfür die am wenigsten Begüterten in der Gemeinschaftzum Vorteil auswirkt“.

Einprägsam hat es John F. Kennedy ausgedrückt:„Wenn die Flut steigt, steigen mit ihr alle Boote auf demWasser“. Geschieht nicht genau das im aktuellen Auf-schwung? Wachstum bleibt der Schlüssel zu breitemWohlstand. Wachstum muss aber, um nachhaltig zuwerden, nun für neue Reformen und die Haushaltssanie-rung genutzt werden. Es kann weder sozial noch gerechtsein, jungen Generationen immer weiter neue Schuldenaufzubürden. Es gilt auf vielen Seiten, die Moral oderbesser, das Maß in der Marktwirtschaft wieder zu finden.Das gilt für mehr Eigenverantwortung aller Bürger, dasgilt für oft nicht wirklich derart bedürftige Transferemp-fänger, das gilt für Manager. Würde Gerechtigkeit zudemmehr im Sinne von Subsidiarität verstanden, könntenstaatliche Zuwendungen wieder mehr Zielgenauigkeiterreichen.

Nach wie vor bedarf es vor allem der Aufklärung bezüg-lich der Wirkung einer funktionierenden, fairen Markt-wirtschaft: Letztlich ist sie für alle Bürger segensreichund – wenn Sie so wollen – in vielem – nicht in allem –„sozial gerechter“ als es der Staat je sein kann. War dasbegründete, aber vielfach auf falschen Wegen verfolgteAnliegen der „Sozialen Gerechtigkeit“ nicht der Treibsatzfür die jahrzehntelange Schuldenexplosion und Zinslas-ten, die uns schon heute als Klotz am Bein hängen?Hemmt das Streben nach vermeintlicher Gerechtigkeitin Form von Nivellierung und Absicherung nicht wirt-schaftliche Dynamik? Besteht nicht schon lange diedrängende Gefahr, dass sich der Sozialstaat selbst auf-frisst, wenn immer mehr Leistungsempfänger immerweniger Leistungsträgern gegenüberstehen? Die Refe-renten sollen Licht in das Dickicht der immer verwirren-deren Auslegungen von „Sozialer Gerechtigkeit“ werfenund aus verschiedenen Perspektiven Antworten auf die-se Fragen geben.

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Dimensionen der Gerechtigkeit 05

Generally spoken there are two justices: First, the ordi-nary-language justice. This kind of justice has rules.Among them, the rules of property and contract directthe distribution of wealth and income. The state under-takes to enforce these rules, thus protecting the distri-bution they help to generate.

Second, the justice of involuntary transfers. The statealso enforces involuntary transfers in a competitivedemocracy. It cannot stay in power if it does not. This isself-contradictory. To resolve this self-contradiction,something must be found that trumps “ordinary” justiceand gives redistribution a stronger legitimacy than therespect of the rules of justice can give to the originaldistribution.

Equality is therefore a moral imperative to create the“trump” that overrules ordinary justice. And it is a tauto-logy. It is stated as self-evident that inequality is unjust.To balance injustice, equality must be brought aboutand social justice established. Inequality is simply madesynonymous with injustice and equality with justice, – aremarkably popular gambit. Social justice is the trans-formation of inequalities into equalities. It is tautologi-cally true that it is just to do this.

From the Kantian point of view “Equal treatment” is amoral axiom. “Treat like cases alike” is translated into

the command. Here the function of social justice is toensure that “like cases” are “treated alike”. Further theAristotelian equality is the most basic product followingthis command.

But what is the problem of “like cases”? By definitionthere are never two cases alike, since a case is a per-son and his circumstances. They are made alike bystripping them of all characteristics that make them un-like. In any chosen universe of “cases”, we retain onlyone common characteristic. That means each case de-scribes the circumstances of one human being, and allhuman beings are comparable to each other; or a humanbeing needs the same daily calorie intake of food ineach case; or a fiscal household has the same taxableincome in each case. Selecting the characteristic inwhich each case is like every other in the chosen uni-verse, is an essentially subjective move. There are norules dictating or regulating the selection.

The equal treatment principle is characterized by certainlooseness. One example is the distribution of the taxburden, since there are three different ways: Firstly aprogressive tax, secondly a flat tax and thirdly a poll tax.Each satisfies the equal treatment principle. None is“more equal”. Choosing one is a purely subjective exer-cise with no rules. The deductive, a-priori-approach toequality is indeterminate.

Equality andEqualities

in Social JusticeDoctrine

Anthony de Jasay ist gebürtiger Ungar.Nach Studienjahren in Österreich, Aus-tralien und Großbritannien sowie einem

Berufsleben als Investmentbanker inParis, widmet er sich seit 1979 aus-

schließlich seiner Leidenschaft, der poli-tischen Philosophie. Seine Studien

betreibt er im Städtchen Cany in derfranzösischen Normandie.

De Jasays Bücher (z.B. „Der Staat“,„Justice and its surroundings“) und seineAufsätze wurden in viele Sprachen über-

setzt und gelten weltweit als wegweisendfür die logisch-geistige Analyse von

Staat, Freiheit und Politik.

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Was ist sozial?06

What could be an inductive approach to finding equa-lities? A distribution of benefits, burdens etc. is equal, ifit shows regularity. An example could be the payroll ofa firm: If a worker is paid 30 euros for two hours, andanother 60 euros for four hours, we can infer that in anequal distribution the worker who works for three hourswill be paid 45 euros. In an equal distribution, there is avery close fit to a function, which may be linear, increa-sing or decreasing, and which permits to predict the de-pendent variable, e.g. each worker’s pay, from the inde-pendent variable, e.g. the number of hours he has worked.

A distribution that fits a single function displays simpleequality. Consider a payroll of a firm where one functionclosely predicts the pay most of the workers receive,but fails to predict the pay of some others. Simpleequality is violated.

Regression analysis may reveal that the pay of theseother workers is closely predicted by another function,where both hours worked and some other datum figureas independent variables. Skill, age, seniority, respon-sibility may be found to play such roles. Property mayobviously be such an independent variable and wouldcertainly figure prominently in certain distributive univer-ses. Equalities depending on a single variable are sim-ple, those depending on several variables are com-pound. The great majority of distributions in a society are

likely to be compound. Regression analysis may fail toexplain all of a distribution, since there may be a resi-dual element that shows no correlation to any function.This is to be called residual chaotic. It would be myguess that chaotic distributions figure mainly in disor-derly societies built on the ruins of an earlier order likethe Yeltsin Russia, Somalia, Nicaragua, Iraq or societiesthat grow very fast like the Gilded Age America, today’sIndia and China. Settled societies are likely to be domi-nated by compound equalities.

We witness now the destruction of Compound Equali-ties. Social justice seeks to replace apparent inequalitiesby simple equalities. This alternative is rarely available.The attempt fails and results in the destruction or defor-mation of a compound equality, which is widely mista-ken for an inequality. It is to be noted that compoundequalities normally result from operation of classicaldistributive mechanism of marginal factor productivities.Destroyed or deformed, the efficiency of marginal pro-ductivity equilibria is also destroyed or distorted.

Are there any policy implications? I cannot see any po-licy implication, unless it is to confess that redistributionis done for reasons that have little to do with justice. Itmay be useful, however, to deflate social justice rheto-ric, if this could be done by creating a clearer under-standing of what is meant by equality and equalities.

Der Philosoph Anthony de Jasay (links, hier mit Pater Dr. Hans Langendörfer) warnt vor der Dominanz eindimensionaler Gleichheit.

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„Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damitbefasst, den Sinn des Begriffs soziale Gerechtigkeit her-auszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser ge-sagt, ich bin zu dem Schluss gelangt, dass für eine Ge-sellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinenSinn hat“. So äußerte sich 1977 der Ökonom und Nobel-preisträger Friedrich August von Hayek (1899–1992)1.

Auf den ersten Blick ist die These sicher nicht unplausi-bel, jedenfalls solange man den Begriff „soziale Gerech-tigkeit“ in Frage stellt, weil er geradezu inflationär ver-wendet werde. Doch von Hayeks Kritik geht über denVorwurf der Ungenauigkeit hinaus. Denn der Begriff so-ziale Gerechtigkeit ist für ihn nicht nur inhaltlich schwerfassbar, sondern er lehnt auch ein Bemühen um sozialeGerechtigkeit ab, da sie seiner Ansicht nach der ökono-mischen und individuellen Freiheit entgegensteht.

Zu einem anderen Ergebnis kommt man, wenn man beider Befassung mit dem Begriff der sozialen Gerechtig-keit das christliche Menschenbild zum Ausgangspunktnimmt. Dreh- und Angelpunkt ist dabei ein inhaltlich sehrumfassendes Verständnis vom Menschen, welches in derÜberzeugung gipfelt, dass der Mensch Gottes Ebenbildist. Darin gründet seine unveräußerliche Würde, die imBegriff der „Person“ enthalten ist. In der Person verbin-den sich Individualität und soziale Ausrichtung, die beide

gemeinsam die Grundlage verantwortlicher und freierEntfaltung des Menschen sind. Es handelt sich also umeinen Freiheitsbegriff, der in sich die Sozialität mit um-fasst. Dabei geht es nicht nur um die Beziehung zu ein-zelnen Anderen, sondern auch um eine Ausgestaltungder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in einer Artund Weise, dass sie das Streben nach sozialverant-wortlicher Freiheitsentfaltung nicht behindern, sondernbefördern.

Der große Theologe und Nationalökonom Oswald vonNell-Breuning SJ formuliert in diesem Zusammenhang,zum „Vollbegriff“ der Person gehöre gleichzeitig „Selbst-stand des Einzelnen und Mit-Sein mit anderen“2. Diemenschliche Person ist frei und trägt als FreiheitswesenVerantwortung für sich selbst ebenso wie für den ande-ren und die Gesellschaft insgesamt. Das fasst die En-zyklika Mater et Magistra (1961) in den Satz, dass derMensch selbst „Träger, Schöpfer und das Ziel aller ge-sellschaftlichen Einrichtungen sein“ (Nr. 219) müsse.Dementsprechend verlangt auch der Bereich der Wirt-schaft eine Ordnung, bei der das Wohlergehen der Men-schen im Mittelpunkt steht. Wer sich im Rahmen derchristlichen Anthropologie bewegt, kommt im Ausgangvon der Würde des Menschen zum Begriff der mensch-lichen Person (Personalität), deren Handeln unlösbar andie Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit gebunden ist.Vor diesem Hintergrund hat die kirchliche Sozialverkün-

SozialeGerechtigkeit –

Wessen Auftrag?

1 F.A. von Hayek, Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und So-zialismus, Tübingen 1977, S. 23.

2 Ausführlich stellt Nell-Breuning diesen Zusammenhang zum Beispiel darin: Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg 1968, S. 20ff.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskon-ferenz, Prof. Dr. Karl Kardinal Lehmann, war auf-grund einer kurzfristigen Verpflichtung in Rom ver-hindert.

Pater Dr. Hans Langendörfer SJ, Sekretär der Deutschen Bischofs-konferenz, vertrat den Vorsitzenden Kardinal Lehmann..

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Was ist sozial?08

digung auch die konkreter gefasste Ausprägung des Ge-rechtigkeitsbegriffs stetig vorangetrieben und vertieft.Was meint also die katholische Kirche näherhin, wennder Begriff soziale Gerechtigkeit fällt? Ich lasse mich vonÜberlegungen Oswald von Nell-Breunings leiten, ver-schiedene Dimensionen im Verständnis der sozialenGerechtigkeit zur Geltung bringen. Danach ist sozialgerecht ein Gemeinwesen, wenn es den Menschen hilftund es ihnen ermöglicht, durch ihr eigenes Handeln ihrWohl zu erreichen. Menschen handeln sozial gerecht,wenn sie nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten darumbemüht sind, in das Gemeinwesen ihrerseits das einzu-bringen, was zur Verwirklichung des Gemeinwohls not-wendig ist – ob es recht-lich vorgeschrieben istoder über diesen Bereichhinausgeht. Dabei gilt,dass soziale Gerech-tigkeit nichts Statischesist. Eine Gesellschaftmuss sich vielmehr im-mer wieder vergewissern,was hier und jetzt ge-recht ist.

Zunächst einmal enthältdieses Verständnis so-zialer Gerechtigkeit das,was wohl die meisten unter ihr verstehen: SozialeGerechtigkeit ist eine Art Eigenschaft eines Gemein-wesens. Doch geht es nicht um Leistungen allein desGemeinwesens. Wesentlich ist, dass das Gemeinwesenan die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit desBürgers rückgebunden ist. Die Leistungen des Gemein-wesens unterstützen den Einzelnen und ermöglichenihm, selbst dafür tätig zu werden, sein Wohl zu erlangen(Subsidiarität). Den bereits angestellten Überlegungenentsprechend geht es um das Wohl des Einzelnen alsPerson, auf welches das Gemeinwohl hingeordnet ist.Damit ist nochmals der Bezug zum Menschen als Personhergestellt.

Die zweite Aussage thematisiert das sozial gerechteHandeln des Menschen: Soziale Gerechtigkeit ist nichtnur das Merkmal eines Gemeinwesens, sondern schließtauch das Handeln von Menschen ein. Wie das Gemein-wesen ist auch der Einzelne gefordert, nach seinen Mög-lichkeiten zum Gemeinwohl und auf diese Weise auchzum Wohl der anderen beizutragen – mit anderen Wor-ten: Solidarität zu üben.

Drittens: Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Es istfür das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zentral,dass die konkretere Bestimmung dessen, was sozial ge-recht ist, niemals abschließend erfolgen kann, sondern

kontinuierlich und situationsbezogen vorgenommen wer-den muss. Dies führt zur Notwendigkeit einer fortlaufen-den Bewertung der sozialpolitischen Bemühungen undzur dauerhaften Bereitschaft zu Veränderung und Ver-besserung. Gerade um der angemessenen Verwirklich-ung von sozialer Gerechtigkeit, von Solidarität und Sub-sidiarität willen, darf man sich Reformen des Sozialennicht verschließen.

Reformen des Sozialstaates und die konkrete Bestim-mung dessen, was heute sozial ist, fallen auch deshalbso schwer, weil ein Konsens darüber, was unter sozialerGerechtigkeit konkret zu verstehen ist, kaum oder gar

nicht besteht. Der Kirchewird diesbezüglich eine be-sondere Einseitigkeit nach-gesagt. Sie verwende denBegriff sozialer Gerech-tigkeit einseitig im Sinnevon Verteilungsgerechtig-keit. Danach gebe es An-sprüche des Menschen, inBezug auf deren Befrie-digung und Verwirklichunges Gleichheit geben müs-se. Man argumentiert ge-gen diese angebliche Ein-seitigkeit der Kirche mit

dem Hinweis darauf, dass es bei sozialer Gerechtigkeitnicht nur um eine Umverteilung vorhandener Güter odergar um eine Gleichverteilung gehen könne. Der Verfas-sungsrichter Udo Steiner spricht in diesem Kontext so-gar von einer „Gleichheitskrankheit“3. Sie bestehe darin,augenblicklich von Ungerechtigkeit zu sprechen, wennsich bei einem Gegenüber auch nur entfernt ein „mehr“an Gütern vermuten lasse. Diese Sicht stelle das Eigen-handeln der Menschen zurück und manifestiere eineunzulässige Engführung des Begriffs der sozialen Ge-rechtigkeit, weil das Subsidiaritätsprinzip nicht beachtetwerde.

Die Wirklichkeit katholischer Lehre ist hingegen anders.So stellen z.B. die US-Bischöfe in ihrem sog. Wirtschafts-hirtenbrief von 1986 klar, „dass die Menschen die Pflichtzu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschafts-leben haben und dass die Gesellschaft die Verpflichtunghat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen“.4

Dieses Verständnis sozialer Gerechtigkeit schließt we-sentlich die Teilnahme des einzelnen bzw. Teilgabe durchStaat und Gesellschaft ein. Teilnahme und Teilgabe be-

3 „Verfassungsrichter: Die Deutschen sind gleichheitskrank“, FrankfurterAllgemeine Zeitung, 14. März 2005.

4 Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle: Hirtenbrief über die katholische So-ziallehre und die amerikanische Wirtschaft, Bonn 1987, Nr. 71.

Die Würde des Menschen gründet in seinem Ebenbild Gottes. Er ist „Person“ und damit zu sozialer Ausrichtung verpflichtet.

Sozial gerecht ist ein Gemeinwesen, das denEinzelnen unterstützt und es ihm ermöglicht, für sein Wohl selbst tätig zu werden.

Den Menschen muss die Chance zur Teilhabe eröffnet werden, statt sie lediglich finanziell abzusichern.

Negative Beschäftigungseffekte durch einen Mindestlohn können die Teilnahme an der Gesellschaft und die volle Entfaltung der Person verhindern.

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Dimensionen der Gerechtigkeit 09

ziehen sich auf vielfältige wirtschaftliche wie auch allge-mein gesellschaftliche Prozesse und Einrichtungen, dieim Dienst einer Lebensform stehen, wie sie der Würdeder menschlichen Person entspricht. Auch die deutschenBischöfe haben ein entsprechendes Verständnis sozialerGerechtigkeit entwickelt, das nicht enggeführt ist auf dieVerteilungsgerechtigkeit. […] Um der Freiheit der Men-schen willen komme es aus Gerechtigkeitsgründen dar-auf an, allen – je nach ihren Fähigkeiten und Möglichkei-ten – Chancen auf Teilhabe zu eröffnen, statt sich damitzu begnügen, Menschen ohne echte Teilhabe lediglichfinanziell abzusichern.

Auf ein weiteres wichtiges Moment der Frage nach so-zialer Gerechtigkeit hat Papst Johannes Paul II. in seinerEnzyklika Dives in misericordia (1980) hingewiesen. Esbetrifft den Bereich des rechtlich nicht Vorschreibbaren,auf den Oswald von Nell-Breuning anspielt. Danach er-fährt die Gerechtigkeit eine zentrale Justierung durch dieTugend der Liebe. […] Das Ringen um eine gerechte Ge-sellschafts- und Staatsordnung ist im Sinne gelebterNächstenliebe auch eine grundlegende menschliche Auf-gabe.

Diese fundamentalen Begriffsklärungen müssen ihre Leis-tungsfähigkeit in einer Durchdringung aktueller politi-scher Handlungsfelder erweisen, die im engen Rahmendieses Vortrags nicht mehr möglich ist. Ich nenne als ein-ziges Beispiel nur den Arbeitsmarkt. Seit Monaten ver-zeichnet die Bundesagentur für Arbeit eine stetige Ent-spannung auf dem Arbeitsmarkt. Dies ist eine erfreulicheEntwicklung. Dennoch sind noch über drei MillionenMenschen ohne Erwerbsarbeit.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist besonders für ältereArbeitnehmer und Personen mit geringen Qualifikationenimmer noch überaus schwierig, wie auch die Diskussionum die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosen-geldes I für ältere Arbeitnehmer zeigt. Die Situation istweder für die betroffenen Menschen noch für den sozi-alen Rechtsstaat hinnehmbar, sind doch die Teilhabe-chancen in vielen Lebensbereichen faktisch an die Er-werbsarbeit geknüpft. Es ist ein Postulat der Gerechtig-keit im hier beschriebenen Sinn, die Chancen auf Betei-ligung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Vor dem Hintergrund des sozialethischen Maßstabes,wonach der Mensch Träger, Schöpfer und Ziel aller ge-sellschaftlichen Einrichtungen ist, bedarf es zielführenderAnstrengungen, um dauerhafte Arbeitsplätze auf demersten Arbeitsmarkt zu schaffen, wenngleich für beson-ders benachteiligte Gruppen auch öffentlich geförderteArbeit notwendig bleibt. Ich nenne die Stichworte ‚Kombi-lohn‘, ‚negative Einkommensteuer‘ und ‚Dritter Arbeits-markt‘. Amartya Sen, der Nobelpreisträger für Ökonomie,

macht deutlich, eine bloße materielle Alimentierung seinicht ausreichend, da die Menschen einen großen Teilihrer Selbstachtung aus der aktiven Beteiligung an ihremGemeinwesen beziehen. Es steht in Spannung bzw. imWiderspruch zur Gerechtigkeit, wenn Menschen, die zuarbeiten in der Lage sind, längere Zeit und ohne Aus-sicht auf Besserung der Zugang zum Arbeitsmarkt ver-sperrt bleibt und ihnen so die Möglichkeit genommen ist,selbst für den Unterhalt zu sorgen. Diese These decktsich mit der sozialethischen Erkenntnis, dass der Menschzu einer ihm entsprechenden Teilnahme berechtigt undaufgefordert ist, dass aber zugleich die Gesellschaft prin-zipiell die Pflicht zur Teilhabe hat. Hier sei auch an die ak-tuelle Debatte zur Einführung eines gesetzlichen Mindest-lohnes und möglichen negativen Beschäftigungseffektenerinnert.

Erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang auch nocheinen Satz zur Anhebung des Renteneintrittalters. DieRente mit 67 wird oft nur unter dem Aspekt einer Kürzungdes Rentenniveaus gesehen. Unbeachtet bleibt dabei,dass sie zur Verhinderung einer übermäßigen Belastungder nachfolgenden Generationen beiträgt.

Die Idee sozialer Gerechtigkeit zielt darauf ab, jedem zuermöglichen, dass er als anerkanntes Mitglied der sozi-alen Gemeinschaft ein Dasein führen kann, das seinerPersonalität entspricht. Zu ihrer Realisierung bedarf esentsprechender Wegweiser, zu denen besonders die So-zialprinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiari-tät zählen. Erst im Zusammenspiel ermöglichen sie einegerechte und zukunftssichere soziale Ordnung und die-nen so der vollen Entfaltung der Person in der Gemein-schaft.

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der letzten Konsequenz natürlich, wer die absolute Gleich-heit herstellt, ist der Gerechteste. Der amerikanische Phi-losoph John Rawls ist als Gerechtigkeitstheoretiker auchein Gleichheitstheoretiker und lässt nur Ausnahmen vonder Gleichheit zu, wenn es auch den Ärmsten besser geht.Also Ungleichheit nur dann, wenn dies auch den Ärmsteneiner Gesellschaft zugute kommt. Aber warum ist es ei-gentlich begründungsbedürftig, dass es soziale Ungleich-

heit gibt, und warum ist esnicht begründungsbedürf-tig, dass es Gleichheit gibt?Begriffslogisch scheint mirGleichheit mit Gerechtig-keit nicht viel zu tun zu ha-ben, denn gleich sind dieMenschen, weil sie Men-schen sind und so müssensie auch als menschen-gleich behandelt werden.Das ist die Rechtsgleich-heit. Das zweite ist, waswir „Politik der Menschen-würde“ nennen. Den Men-

schen ein Leben in Würde zu gestatten, ist das, was ichunter Gerechtigkeitsgesichtspunkten bezogen auf dieGleichheit erwähnenswert finde.

Zur Thematik der Sozialen Gerechtigkeit bin ich durchStudien zum Vereinigungsprozess gekommen. Ich warüberrascht, dass eine breite Mehrheit der ostdeutschenBevölkerung schon Mitte der 1990er Jahre Ungerechtig-

Was ist sozial?10

Mir geht es ähnlich wie Friedrich August von Hayek: Mitdem Begriff „Soziale Gerechtigkeit“ kann ich nichts an-fangen. Er ist eine politische Allerweltsformel, die belie-big eingesetzt werden kann. Sie hat den Vorteil, dass sienahezu alle anspricht, weil jeder darunter etwas anderesversteht. Politiker überbieten sich daher gerne in SozialerGerechtigkeit. [...] Vor lauter Gerechtigkeit wird nicht ge-fragt, wie dies eigentlich operationalisiert werden kann.Wie wird operationalisiert,was in der philosophischenDiskussion seit der Antikediskutiert wird?

„Soziale Gerechtigkeit“ istals Begriff erst im 19. Jahr-hundert mit dem Aufkom-men der sozialen Frageentstanden. Vorher, seitAristoteles, haben wir unterGerechtigkeit die Bezie-hung der Einzelnen zuein-ander und die Beziehungdes Einzelnen zum Gemein-wesen verstanden. Die Forderung nach Rechtsgleichheitund die Forderung, ein Leben in Menschenwürde zu füh-ren, sind erfüllt. Deshalb kommt jetzt der „Sozialen Ge-rechtigkeit“ eine besondere Dimension zu. Im Wesent-lichen ist die Soziale Gerechtigkeit heute fokussiert aufsoziale Gleichheit. Insofern heißt „Soziale Gerechtigkeit“in der Meinung der meisten „mehr soziale Gleichheit“. Weralso mehr Gleichheit herstellt, ist gerechter. Dies heißt in

Zu Begriffund Bedeutungvon SozialerGerechtigkeit

Prof Dr. Klaus Schroeder

Freie Universität BerlinLeiter SED-Forschungsverbund

„Soziale Gerechtigkeit“ meint heute zumeist„mehr soziale Gleichheit“.

Starke Fehlwahrnehmungen der Bevölkerung bei Einkommen, Armut und Umverteilung.

Deutliche Vermögens-Ungleichverteilungin der DDR.

Fehlwahrnehmungen werden heute zur Grundlage politischer Ziele. Zunehmend führt „mehr Gleichheit“ zur Einschränkung der Freiheit.

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Dimensionen der Gerechtigkeit 11

keit beklagte, obschon es in diesen ersten fünf Jahrendes Vereinigungsprozesses in Ostdeutschland einen ma-teriellen Wohlstandssprung gegeben hat, der in der Welt-geschichte in Friedenszeiten einmalig ist. Dieser Wohl-standssprung hat in Westdeutschland 15 bis 20 Jahregedauert. Trotzdem sind die Ostdeutschen immer unzu-friedener geworden. Die Untersuchungen haben ergeben,dass die Ostdeutschen nicht vergleichen, wie es ihnenfrüher ging oder wie es derzeit den Brüdern und Schwes-tern in den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaatengeht, sondern sie messen sich an dem, was ihrer Mei-nung nach der westliche Durchschnitt ist. Hier ist festzu-stellen, dass die Verteilung des Reichtums von Ostdeut-schen, aber auch von Westdeutschen vollkommen über-schätzt wird. Viele rechnen die Spitzengehälter einigerweniger hoch und glauben, dass sie selber ungerecht be-handelt werden. Die Politik lebt von der Messung des Ge-rechtigkeitsempfindens. Weil sich philosophische Kon-zepte nicht einfach in Politik umbrechen lassen, gehen

Parteien und Regierung von dem aus, was die Menschenals ungerecht empfinden. In Westdeutschland meintenim Jahr 2004 39% der Bevölkerung, sie hätten wenigerals ihnen zusteht. In Ostdeutschland ist dieser Anteil er-heblich höher. Der neueste Wert liegt bei 46% in West-deutschland, die Zahl ist also gestiegen, während sie inOstdeutschland etwas gesunken ist, auf 62%. Generellgilt für den Vereinigungsprozess, dass die Angleichungvon Werten und Vorstellungen nicht mehr die Anpassung

Fehlwahrnehmung besonders bei älteren Menschen im Osten Deutschlands

„Glauben Sie, dass Ihre Rente der Arbeitsleistung Ihres Lebens entspricht/entsprechen wird?“ nach Region und Altersgruppe – 2005 (in Prozent)

des Ostens an den Westen ist, sondern sich inzwischenviele Vorstellungen im Westen in Richtung Osten bewe-gen oder in der Mitte zusammentreffen. Das bedeutet,die veränderte Republik ist nicht mehr die alte westdeut-sche Republik, sondern eine von den Wertvorstellungender Menschen, durch die Vereinigung und durch denOsten bestimmte Republik. Folgende Grafik drückt dieFehlwahrnehmung der Menschen im Osten besondersaus. Von den 50- bis 59-Jährigen sind es nur 4%, vonden 60- bis 85-Jährgen in den neuen Bundesländernsind es nur 11%, die sagen: „Ja, die Rente entsprichtmeiner Lebensleistung“. Wenn man weiß, dass die Rentein der DDR, jedenfalls abgesehen von einigen hohenRenten Privilegierter der SED und des Ministerium fürStaatssicherheit sowie anderer staats- und parteinaherInstitutionen, kläglich war (die Durchschnittsrente er-reichte nicht einmal 40% des Durchschnittseinkom-mens) und die gesetzlichen Renten in Ostdeutschlandheute über denen im Westen liegen, dann muss man fra-

gen, warum jemand, der einen solchen Wohlstands-sprung hinter sich hat, trotzdem meint, er würde unge-recht behandelt? Es scheint also tatsächlich etwas in Be-wegung zu sein, was eine subjektive Ungerechtigkeitausdrückt. Verantwortlich gemacht wird dafür die Politik,aber noch viel stärker das Wirtschaftssystem. Seit derVereinigung hat es im Vertrauen der Menschen zum Wirt-schaftssystem einen fast katastrophalen Einbruch gege-ben, nicht nur in den neuen, sondern auch inzwischen in

ab 18 Jahre 50 bis 59 Jahre 60 bis 85 Jahre

NeueBundesländer

AlteBundesländer

NeueBundesländer

AlteBundesländer

NeueBundesländer

AlteBundesländer

Ja 7 10 4 10 11 21

Nein 71

18 19 11 24 18 13

4 4 5 – 13 11

67 80 66 58 55

Ichweißnicht

ohneAntwort

Datenbasis: Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum 2005 (gew.)

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Positive Antworten auf die Frage: „Haben Sie eine gute oder keine gute Meinung zum Wirtschaftssystem in der Bundesrepublik?“ Für Westdeutschland

keine Zahlen vor 1994 verfügbar. Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach.

Die Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft sinkt.

den alten Bundesländern. Die Ergebnisse deuten daraufhin, dass die Soziale Marktwirtschaft nicht angenommenwird. Stattdessen betonen die Menschen die Rolle desStaates wieder stärker. Dieser soll mehr umverteilen, umsoziale Gleichheit, respektive Gerechtigkeit herzustellen.Ich komme nun zu einem weiteren Fehlurteil bei der Fra-ge, wie viel Haushaltseinkommen monatlich notwendigist, um nach den neuesten Zahlen des Mikrozensus desStatistischen Bundesamtes (2005) zu den einkommens-reichsten 5,7% der Bevölkerung in Deutschland zugehören. Die Oststudenten sagen meistens 25.000 bis30.000 Euro. Die Weststudenten meinen bei 15.000 bis20.000 Euro. Tatsächlich reichen laut Statistischem Bun-desamt 5.000 Euro aus, um zur einkommensreichstenGruppe zu gehören. Mehr als 10.000 Euro haben nur0,6% der Haushalte. Bei einer Befragung der Bevölke-rung käme heraus, dass 10% bis 20% mehr als 10.000Euro im Monat haben. Das bedeutet, der Reichtum in derVerteilung der Breite wird völlig überschätzt.

Kommen wir nun zur Verteilung. Gemeinhin glauben dieMenschen, die Armen werden immer ärmer, die Reichenimmer reicher. Kein Mensch weiß jedoch, wann Reichtumoder wann Armut beginnt. Der Gini-Koeffizient oder auchGini-Index misst Einkommensungleichheiten (Null stehtfür eine vollständige Gleichverteilung, der Wert „1“ steht

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Die Einkommenskonzentration (sogenannter Gini-Index) in Deutschland bleibt konstant.

Bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen (neue OECD-Skala); 1990 Ost berechnet auf der Basis von DDR-Mark.Datenbasis: SOEP, Quelle: ZUMA-Soziale Indikatoren

für eine extreme Ungleichverteilung). Er ist von 1991 bis2005 konstant. Seine Schwankung ist sehr gering; er liegtderzeit wieder dort, wo er 1991 war. Im Jahr 2006 ist erwieder etwas angestiegen, 2007 wird er wieder etwasheruntergegangen sein. Würde man eine lange Reihe seitden 1960er Jahren für Westdeutschland ziehen, würdeman sehen, dass die Ungleichverteilung in etwa konstant

geblieben ist. Dies ist eine Tatsache, die viel zu wenigberücksichtigt wird. Die Entwicklung zeigt, dass die Re-gularien der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepu-blik sehr wohl funktionieren und stets um einen Mittelwertschwanken. Bei Betrachtung der west-/ostdeutschen Ent-wicklung wird der Anpassungsprozess der Verteilung vonOst nach West deutlich. Da die Jauchs und Joops nun

Ostdeutschland passt sich der westdeutschen Verteilung an.

Gini-Index:Der Wert Null steht für eine vollständige Gleichverteilung,der Wert „1“ steht für eine extreme Ungleichverteilung.

Gesamtdeutsche Verteilung

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Was ist sozial?14

nach Potsdam ziehen, ist dies auch kein Wunder. Inso-fern könnte sich diese Entwicklung noch fortsetzen. Dernächste Punkt ist das Verhältnis von Markt zu tatsäch-lichem Einkommen, zur Rolle des Staates und zur kon-stanten Umverteilung. Das Äquivalenzeinkommen ist dasgewichtete Haushaltseinkommen. Es wird berücksichtigt,wie viele Personen in einem Haushalt leben. Parallel ist dasNettoäquivalenzeinkommen dargestellt. Hier sehen Sie dieUmverteilungsfunktion des Staates: Bei den obersten zehn,Einkommensreichsten‘, die einen Anteil von knapp 29%hätten, wird das Nettoäquivalenzeinkommen auf gut 21%gedrückt. Umgekehrt wird das Einkommen angehoben.Beim 6. Dezil bricht die Verteilung: Die eine Gruppe be-kommt Einkommen durch die Umverteilung, die andereGruppe zahlt. Selbstverständlich heißt Umverteilung nichtnur, dass die Obersten 0,1% betroffen sind – ab dem 6.Dezil sind alle betroffen. Die Forderung nach mehr Umver-teilung träfe nicht nur einige wenige sehr Reiche, sondernsehr viele Menschen im mittleren Einkommenssegment.Wir sehen, dass seit der Vereinigung die Belastungen derArbeitnehmer gestiegen sind und dass die realen Netto-einkommen gefallen sind. Das bedeutet also, dass dieje-nigen, die tatsächlich Leistungen erbracht haben, nichtbesser gestellt worden sind. Im Gegenteil hat der Umver-teilungsmechanismus dazu geführt, dass diejenigen, dieeinen relativen Wohlstand haben, weniger haben.

Zum Gerechtigkeitsempfinden gehört auch, dass Men-schen eine Ahnung haben müssen, wer die Umverteilungeigentlich bezahlt. Daher wende ich mich nun der popu-lären Frage zu, „wer zahlt zu wenig, wer zahlt zu viel Steu-

Die Einkommensumverteilung erfolgt von oben nach unten.10 gleichgroße Bevölkerungsgruppen (Dezile) nach Größe ihres Anteils am Gesamteinkommen geordnet

ern?“ Hier wird bei Umfragen meistens nach Manager-und Hilfsarbeitergehältern gefragt. Naheliegend sind dieAntworten: Die Manager bekommen zu hohe und dieHilfsarbeiter zu niedrige Gehälter. Ein interessantes Er-gebnis dieser Befragung war, dass 80 bis 90% der Be-fragten meinten, die einfachen Arbeiter zahlten zu vielSteuern. Schaut man sich aber den Beitrag der Steuer-pflichtigen an, stellt man fest, dass die unteren 50% derEinkommensteuerpflichtigen nur 6,8% zu den direktenSteuern und zum Aufkommen beitragen, die obersten5% dagegen 42,4%. Dies bedeutet, es ist im Bewusst-sein überhaupt nicht verankert, dass diejenigen, diegerne als übermäßig Bezahlte auf die Anklagebank ge-setzt werden, auch diejenigen sind, welche für die ganzeProzedur aufkommen.

Jetzt komme ich zur Armutsdefinition. Viele wissennicht, wann Armut beginnt. Dies sind 974 Euro. In Euroklingt der Betrag nach wenig, wenn man ihn nun in DModer auch in Dollar umrechnet, dann sieht er wesentlichhöher aus. Und wenn er bedarfsgewichtet für eineFamilie mit zwei Kindern über 14 Jahre hochgerechnetwird, dann kommt man auf 2.400 Euro. Wer also 2.400Euro und weniger verdient, ist arm. Ich habe Problememit diesem relativen Armutsbegriff. Ich würde den Ar-mutsbegriff danach definieren, was Haushalten zur Ver-fügung steht. Man käme dann auf eine Armutsquotevon 5 bis 7%. Der relative Armutsbegriff ist im wahrstenSinne des Wortes relativ. Wenn beispielsweise Zuzügeund Fortzüge nach Deutschland seit 1998 in den Blickgenommen werden, ist festzustellen, dass über 10 Mil-

Datenbasis: Amtliche Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS) 2003

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Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach

lionen Menschen nach Deutschland gekommen sind.Diese Menschen, Deutschstämmige als auch andereAusländer, müssen erst einmal sozial und materiell inte-griert werden. Bei vielen Statistiken ist es bisher nichtmöglich, Personen mit Immigrationshintergrund heraus-zurechnen. Es würde sonst deutlich werden, dass einGroßteil der Armut vorrübergehende Armut ist. Wir müs-sen uns hingegen auf die dauerhafte Armut konzentrierenund hier ist der Ansatz „Fordern und Fördern“ richtig.Allerdings glaube ich, dass er besser umgesetzt werdenmuss. Ich komme jetzt zu Freiheit und Gleichheit. Ichglaube, dass sich diese beiden Ziele ausschließen. Ineiner Allensbach-Umfrage wird gefragt: „Wenn ich michentscheiden müsste, was ist mir im Zweifel lieber,Freiheit oder Gleichheit?“ Im Ergebnis ist ebenfalls einAnpassungsprozess zwischen Ost und West sichtbar. ImOsten Deutschlands ist bis auf das erste Jahr die For-derung nach Gleichheit weitgehend konstant dominant.Im Westen war stets die Forderung nach Freiheit domi-nant. Seit der Jahrtausendwende hat der Wunsch nachFreiheit gegenüber Gleichheit jedoch abgenommen. Zu-letzt ist er wieder etwas angestiegen.

Es kommt zu Fehlwahrnehmungen, wenn entweder keineInformationen vorhanden sind oder wenn Informationenselektiv geboten werden. Die Bundesbank hat zum Um-tausch der DDR-Sparkonten eine Statistik veröffentlicht,die aufgrund ihrer Brisanz in der DDR in nur vier Exem-plaren existierte. Sie zeigt die Verteilung der Vermögenin der DDR. Wenn heute auf der Straße gefragt werdenwürde: „Waren die Vermögen in der DDR gleich verteilt?“,dann würde alle Befragten mit „ja“ antworten. Weil fürdie DDR nur die Sparvermögen, für die Bundesrepublikjedoch die gesamten Nettovermögen aufgeteilt sind,können die Zahlen nur bedingt verglichen werden. Je-doch wird die Tendenz deutlich. Gleichwohl stellt dernaive Betrachter mit Erschrecken fest, dass die Ungleich-

heit in der DDR bei den Vermögen größer war, als in derBundesrepublik. Trotzdem wird bei allen Umfragen durch-gängig gesagt: „Die DDR war sozial gerechter“. Die Ur-sache liegt auch bei mangelnden Informationen.

In der Tabelle auf Seite 16 ist zu sehen, dass im Jahr 198910% der Konteninhaber 60% Anteil am Guthaben inder DDR besaßen. Ich hatte eine kleine Kontroverse mitChrista Luft, der letzten SED-Wirtschaftsministerin, dieden Westen aufgrund der Vermögensverteilung in derBundesrepublik als „Raubtierkapitalismus“ bezeichnete.Ich ziehe nun die Analogie und spreche vom „Raubtier-sozialismus“, denn die Ungleichverteilung war in der DDRgrößer. Fehlwahrnehmungen werden heute zur Grund-lage von Politik und deren Ziele gemacht. Sie werden al-lerdings zum Gegenteil des Angestrebten führen. Indemmehr Gleichheit nicht nur gefordert, sondern auch pro-duziert wird, schränken wir die Freiheit ein.

Abschließend möchte ich einen Philosophen undSchriftsteller zitieren, nämlich Camus. Camus hatte eineKontroverse mit Sartre über die Einschätzung von Frei-heitsberaubung und Einschränkungen in den beiden to-talitären Systemen. Sartre vertrat die These, wir dürfenden Sozialismus in der Sowjetunion nicht kritisieren, weilwir dann den Feinden des Sozialismus in die Hände spie-len. Camus beharrte jedoch auf seinem Freiheitsver-ständnis, wurde geächtet und ausgeschlossen und wirdbis heute nicht so wahrgenommen, wie er es verdient.Ich zitiere: „Ein einziges Gut wird unablässig vergewaltigtund prostituiert: die Freiheit. Und dann wird man gewahr,dass zugleich mit ihr überall auch die Gerechtigkeit inden Dreck getreten wird. Für uns alle kann heute nureine einzige Parole gelten, in nichts nachgeben, was dieGerechtigkeit betrifft und auf nichts verzichten, was dieFreiheit angeht.“ Insofern ist für mich mehr Gerechtigkeitmehr Freiheit.

„Wenn ich mich entscheiden müsste, ist mir die Freiheit / Gleichheit wichtiger“

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Anteil Konten

Anteil Guthaben

Anteil Konten

Anteil Guthaben

Anteil Konten

Anteil Guthaben

1 – 5.000 91,65 40,82 71,08 12,92 68,88 10,01

Mehr als 5.000 8,35 59,18 28,92 87,08 31,12 89,99

Mehr als 20.000 0,60 14,54 8,27 48,97 10,57 59,33

Mehr als 50.000 0,06 4,73 1,51 17,05 2,11 23,21

1984 1989DDR-Mark

1964

Das Sparvermögen in der DDR war konzentriert auf wenige Konten …

Quelle: Schwarzer 1999, Sozialreport 1992

Die Grundlage der Daten der DDR ist das Sparvermögen 1984. Die Daten der BRD sind auf das Nettogesamtvermögen 1983 bezogen. Angaben in %.Quelle: M. Szydlik 2001; M. Schwarzer 1999

Ungleiche Vermögensverteilung in DDR und BRD 5 gleichgroße Bevölkerungsgruppen (Quintile) nach Größe ihres Anteils am Gesamtvermögen geordnet

Anteil der Konten in der DDR miteinem Guthabenvon über20.000 Mark

Quellen: Schwarzer 1999, Sozialreport 1992

…und die Ungleichheit nahm zu.

0%

20%

40%

60%

80%

Anteil amGesamtspar-vermögen

Anteil amGesamtspar-vermögen

Anteil amGesamtspar-vermögen

14,54% 48,97% 59,33%

0,6

8,27 10,57

1964 1984 1989

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Dimensionen der Gerechtigkeit 17

Ich möchte die Frage nach der Interdependenz von markt-wirtschaftlichem System und dem, was wir als „SozialeMarktwirtschaft“ bezeichnen, aufnehmen. Ist es nicht ei-gentlich ein Widerspruch in sich, wenn man von „SozialerMarktwirtschaft“ spricht? Der Zusatz „sozial“ ist eine Er-gänzung des marktwirtschaftlichen Systems. Er ist nichtBestandteil, sondern seine Flankierung. Ein marktwirt-schaftliches System ist im Grunde kein Sozialsystem. MitSozialpolitik oder aber auch mit Umverteilung, Abbauvon Ungleichheit, hat ein Marktsystem nichts zu tun. Ichbezeichne es als ein Instrument, als ein Werkzeug, dasman nutzen kann.

Doch wie kann man es sinnvoll nutzen? Nutzt man es wieeinen Hammer oder eine Beißzange? Es hat sich über dieJahrzehnte herausgestellt, dass dieses System der Infor-mationsverarbeitung und der Steuerung über Preise allenanderen Systemen überlegen ist. Churchill hat einmal et-was zur Demokratie gesagt, was man für die Marktwirt-schaft übersetzen kann: „Die Marktwirtschaft ist dasschlechteste System, das ich kenne – mit Ausnahme alleranderen“.

Dies bedeutet, wir lösen mit der Marktwirtschaft nicht alleProbleme, aber wir lösen sehr effizient den wirtschaft-lichen Austausch. Darauf kommt es an: Es ist ein System,

das auf Leistung und Gegenleistung basiert. Hier ist nochnichts an Sozialem enthalten, sondern es ist der schlichteAustausch auf freiwilliger Basis. Die Menschen könnenselber frei entscheiden, mit wem sie tauschen wollen.

Es gelten allerdings Voraussetzungen. Die beste Voraus-setzung ist eine weltweit gültige Rechtsordnung sowieSanktionsformen, für den Fall, dass jemand Geschäfteschließt und sich nicht an die Regeln hält. Es ist eine Auf-gabe des Staates, darauf zu achten, dass Regeln einge-halten werden.

Was ist daran eigentlich sozial? Sozial ist an diesem Sys-tem das Freiwillige, die Eigenverantwortung, der Minder-heitenschutz. In einer solchen Gesellschaft können sicheinige auf Güteraustausch oder Produktion verständigen.In einem zentral gelenkten System sind sie auf einen zen-tralen Plan angewiesen. Die Wahlmöglichkeiten sind eineArt von Minderheitenschutz. Wer in einem sozialistischenStaat eine Wohnung haben will, ist von einer Person in ei-nem Wohnungsamt abhängig. Diese Freiheit verkennenwir häufig: In einem marktwirtschaftlichen System erge-ben sich immer Alternativen.

Doch was ist mit Monopolen? Natürlich müssen wir daraufachten, dass ein solches marktwirtschaftliches System

SozialeMarktwirtschaft – ein Widerspruch?

Prof. Dr. Johann Eekhoff

Universität zu Köln und Kronberger Kreis

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vernünftig funktioniert. Der Mensch muss selber ent-scheiden können, was er machen möchte. Aber er trägtauch die Verantwortung für den Misserfolg. Man kannnicht die Möglichkeiten annehmen und dennoch sagen:Wenn es schief geht, ist der Staat dran.

Was heißt nun „Soziale Flankierung“? Sie ist eine Art derZielsetzung für eine Gesellschaft, die eine soziale Min-destsicherung will. Sie ist eine Mindestsicherung fürMenschen, die aus eigener Kraft ihren Lebensunterhaltnicht verdienen können. Dies ist die klassische Auffas-sung, die in der Sozialhilfe hervorragend definiert ist undnun mit dem ALG II erheblich verwischt wurde. SozialeSicherung „in einer überschaubaren Solidargemein-schaft“ bedeutet, dass eine soziale Mindestsicherungam besten in der Familie organisiert werden kann. DieIdee der Familie kann man auch auf größere Gemein-schaften übertragen. Aber es wird schwierig, wenn mansich das für die Europäische Union und unmöglich, wennman sich das für die gesamte Welt vorstellt. Wer will dieNormen festlegen, wer fühlt sich noch solidarisch?

Solidarisch heißt imGrunde, dass Menschenaufgefangen werden.Diese Solidarität ist hiergefordert und sie erfor-dert auf der anderen Seiteauch eine Gegenleistung.Jeder hat das einzubrin-gen, was er leisten kann.Jeder hat sich erst einmalselber anzustrengen underst dann greift die Soli-dargemeinschaft. Dasgeht nur mit sozialer Kon-trolle. In der Familie weiß jeder, wie das ist, wenn jemandein paar Tage den Mülleimer nicht hinausgebracht hat.Dann gibt es vorsichtige Anmerkungen und Ermahnun-gen. Man unterliegt einer sehr harten sozialen Kontrolle.

Ich bin in einem kleinen Dorf groß geworden, da geht diesoziale Kontrolle sehr weit. Meine Mutter sagte einmal zumir: „Du kannst ja ruhig morgens länger schlafen, aberziehe wenigstens die Rollläden hoch“. Man erwartet, dasssich die Menschen auch anstrengen. Diese soziale Kon-trolle brauchen wir in Gesellschaften, wenn wir Solidaritätwollen und wünschen.

Das Prinzip der Gegenseitigkeit wurde in die Sozialhilfeeingebracht. Im Sozialhilfegesetz bzw. jetzt im Sozialge-setzbuch steht dieses „Fordern und Fördern“. Es ist ge-setzlich verankert und eine gute Regelung, die übrigensbeim ALG II wieder eingeführt worden ist. Bei der Flan-kierung von Marktwirtschaft durch Sozialmaßnahmen

muss man gut aufpassen, wie man es macht. Man sollteSozialmaßnahmen vom wirtschaftlichen System tren-nen. Das heißt: Erst das marktwirtschaftliche System wir-ken lassen und Leistungen erbringen und dann fragen, werdamit nicht zurecht kommt. Sozialmaßnahmen solltennicht in das marktwirtschaftliche System integriert wer-den, weil dieses das nicht verkraftet. Es wird in die Markt-aktivitäten, also in die wirtschaftliche Selbständigkeit, indas Preissystem eingegriffen und damit die Eigenverant-wortung verfälscht. Die Funktionsfähigkeit des Markt-systems darf jedoch nicht durch Sozialpolitik zerstörtwerden. Ein Solidar-, ein Sozialsystem ist darauf ange-wiesen, dass das System leistungsfähig bleibt.

Es wurde auf das Recht auf eine Wohnung in der ehema-ligen DDR hingewiesen. Als damals die Grenze aufging,habe ich eine Rentnerin aus Thüringen gefragt: „Sie ha-ben doch in Ihrer Verfassung das Recht auf Wohnung. Washaben Sie denn für eine Wohnung?“ „Ja“, sagt sie, „ichhabe mit meinem Mann auf dem Land gewohnt, wir ha-ben zwei Kinder und wir hatten eine 1-Raum-Wohnung

ohne Innen-WC.“ Das wardas Recht auf Wohnung.Es hängt von der Leis-tungsfähigkeit der Gesell-schaft ab. Leistungsfähig-keit ist nur erzielbar, wennwir das System nichtselbst zerstören. Es istdarauf zu achten, dass einmarktwirtschaftliches Sys-tem arbeiten kann.

Es gibt jedoch einen Miss-brauch des Preissystems.Sobald man versucht, über

Preise Sozialpolitik zu machen, verstößt man gegen dasEffizienzprinzip. Vielmehr braucht man zwei Instrumente.Wenn jemand mit dem Bus von Berlin nach Dresdenmöchte, ein anderer aber nach Hamburg, dann sollte manmöglichst zwei Fahrzeuge einsetzen. Man könnte diesauch mit einem machen. Allerdings leidet die Effizienz da-runter etwas, wenn derjenige, der nach Hamburg möchte,erst einmal mit nach Dresden fahren muss. Das heißt:Zwei Ziele – möglichst auch zwei Instrumente.

In der Krankenversicherung gibt es die „Solidarische Ver-sicherung“, also die gesetzliche Krankenversicherung.Hier soll ein Ausgleich zugunsten der Armen stattfinden.Warum machen wir das nicht anders? Trennen wir docheinmal zwei Dinge. Das eine ist die Erbringung von Ge-sundheitsleistungen, die können wir über ein Marktsystemmachen. Dort können wir risikoäquivalente Preise verlan-gen und risikoäquivalente Versicherungen abschließen.Das heißt nicht, dass Menschen unter die Räder kom-

Trennung des Sozialen vom Markt. Subsidiäre und solidarische Hilfe für diejeni-gen, die Mindestschwellen nicht erreichen.

Das Sozialsystem ist auf einen leistungsfähi-gen Markt angewiesen. Eingriffe in die Preisezerstören den Marktmechanismus.

„Soziale Gerechtigkeit“ wird heutzutage zur „Immunisierung“ von Klientelforderungen missbraucht.

Sozialversicherungen müssen zur „Versicherungsidee“ zurückkehren.

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men. Dann kann man anschließend fragen: Gibt es Men-schen, die das nicht bezahlen können? Daraus ergibt sichder große Vorteil, dass das System vernünftig arbeitenkann.

Die soziale Seite funktioniert häufig nicht. Wer die Pflege-versicherung und Krankenversicherung anschaut, der er-kennt, dass dies keine Sozialsysteme sind. Hier ist nichtdie Gesamtgesellschaft in ein System eingebunden unddie Schwächsten werden nicht aufgefangen. Wer wenigerals 400 Euro verdient, kommt in keine dieser Versiche-rungen hinein und wird nicht versorgt. Der Staat muss sieversichern und zwar nicht zu den niedrigen Tarifen, dieden Einkommen entsprächen, sondern zu Durchschnitts-tarifen. Deshalb das Plädoyer: Trennt diese Systeme!

Man versucht in der Politik häufig, aus sozialpolitischenGründen über die Preise einen Markt zu regulieren. Manhört in letzter Zeit gelegentlich: „Wer Vollzeit arbeitet, dermuss mindestens so viel verdienen, dass er und seineFamilie davon leben können“. Und nun stellen Sie sich einUnternehmen vor, das einen ledigen Geringqualifiziertenund einen Familienvater mit zwei Kindern beschäftigt.Beide sind etwa gleich tüchtig. Der Ledige mag noch inder Lage sein, so viel zu verdienen, dass er davon lebenkann. Aber schwierig wird es für einen Familienvater,

noch drei weitere Personen zu ernähren, wenn er keinebesondere Qualifikation hat. Was passiert? Er wird aus-geschlossen. Leider geht dies im Wettbewerb nicht an-ders, andernfalls machen wir das Wettbewerbssystemkaputt. Dann müssten wir anfangen, die Unternehmen zuentschädigen. Viel zu oft werden soziale Anliegen an derfalschen Stelle zu lösen versucht. Auch bei landwirtschaft-lichen Preisen geht die Politik in diese Richtung. Man zer-stört die Steuerungsfunktion eines Marktes. Bei Hartz IVwurde nun folgendes gemacht: Es gibt ja für einen Indivi-dualhaushalt unendlich viele Bedingungen, die wir allenicht kennen, auch nicht kennen müssen. Deshalb versu-chen wir zu pauschalieren und sagen, die Empfänger vonHartz IV bekommen einen bestimmten Betrag. Wofür siedas ausgeben – ob für die Wohnung, für Fahrtkosten oderfür Lebensmittel – das müssen wir nicht wissen.

Dieses Prinzip wurde jetzt massiv durchbrochen, indemdie Wohn- und Heizkosten vollständig erstattet werden.Jetzt brauchen wir ein neues Zuteilungssystem, denn esbestehen Anreize, eine besonders schöne und teure Woh-nung zu suchen. Nun kommt die nächste Frage: Wie ra-tionieren wir und wie können wir Grenzen einziehen? EinerPerson stehen 45 qm zu, zwei Personen schon 60 qm.Das mag für viele unangemessen sein. Diese Menschensagen sich eventuell, so viele Quadratmeter brauche ich

Der Sprecher des Kronberger Kreises, Prof. Dr. Johann Eekhoff, der Vorsitzende des Stiftungsrates der Stiftung Marktwirtschaft,Prof. Dr. Theo Siegert, sowie Stiftungsrat Dr. Ulrich Weiss (von links).

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nicht; das Geld hätte ich lieber, um meinen Kindern eineNachhilfestunde zu ermöglich. Dem Einzelnen ist die Ver-antwortung nicht mehr überlassen, wofür er sein Geldausgibt.

Soziale Gerechtigkeit wird im Grunde benutzt, um Dingefür die eigene Gruppe durchzusetzen. Sie wird zur Immu-nisierung bestimmter Forderungen missbraucht. Lohn-forderung werden etwa mit sozialer Gerechtigkeit ge-rechtfertigt. Und wer will schon sozial ungerecht sein?Die Rente im Umlageverfahren ist ein weiteres Beispiel.Wie wollen wir sie bemessen? Für die Bemessung gibt esim Umlageverfahren keine Basis. Im Kapitaldeckungsver-fahren hat man noch die Grundlage des Angesparten.Wir können im Anschluß die Frage stellen, welche Perso-nen übrig bleiben und wie man ihnen helfen kann. Im Um-lageverfahren sind wir ziemlich hilflos, weil wir uns anGrößen orientieren, die im Zeitablauf nicht mehr stimmen.Alles hängt von der Generationenfolge ab.

Auch beim Arbeitslosengeldbezug wäre es sozial gerecht,wenn diejenigen, die länger eingezahlt haben, mehr be-kommen, als solche, die nur kurz eingezahlt haben. Wenndie Älteren, die weniger Chancen haben, mehr bekommenals die Jüngeren, dann ist das eine Verkennung der Ver-sicherungsidee. Die Versicherungsidee bedeutet, es istauch gerecht, das ich keinen Cent herausbekomme, weil ichdas Glück hatte, nie arbeitslos gewesen zu sein. Vergleich-bar ist es bei der Unfall- oder jeder anderen Versicherung.Diese Versicherungsidee wird nicht Ernst genommen.

Wenn die Auszahlung an die Dauer der Einzahlung ge-bunden ist, dann gibt es auch keinen Bezug zu Armutoder Wohlstand. Was ist daran sozial gerecht? Man solltedeshalb an jeder Stelle fragen, in wie weit wir unser funk-tionsfähiges Marktsystem zerstören. Und wie können wireine Mindestsicherung schaffen? Die erste Regel für dieSolidargemeinschaften muss immer „Bedürftigkeitsprin-zip“ heißen.

„Wer arbeitet, der soll mehr haben, als derjenige, der nichtarbeitet“. Vorsicht mit diesem Satz! Er darf nicht bedeu-ten, dass ein ALG II-Bezieher, der nun arbeitet, auch mehrbekommen muss. Die Idee ist vielmehr, dass jeder An-spruch auf genügenden Verdienst hat, wenn er sich selberanstrengt: Er bekommt soviel dazu, dass er diese Min-destgrenze erreicht. Derjenige, der wenig arbeiten kann,bekommt mehr dazu. Derjenige, der mehr arbeiten kann,bekommt etwas weniger dazu. Und derjenige, der nochmehr verdient, bekommt nichts mehr. Dies ist die Ideeunserer Solidargemeinschaft. Falsch ist hingegen dieAussage: „Ich bekomme schon ALG II. Wenn ich arbeite,muss ich mehr bekommen.“

Die Gesellschaft in Deutschland sperrt die Arbeitslosenweitgehend aus dem Arbeitsmarkt aus. Durch Mindest-löhne und Tariflöhne geben wir ihnen nicht einmal mehrdie Chance, in der Marktwirtschaft zu arbeiten. Das Wortdafür ist „Zusätzlichkeitskriterium“. Diese Menschen dür-fen nur dann wieder arbeiten, wenn ihre Leistung sonstnicht gemacht würde. Ich finde dies unwürdig.

In Deutschland gibt es verschiedene Verteilungsprinzi-pien. Zum einen das Rechtmäßigkeitsprinzip, das mit So-zialpolitik nichts zu tun hat. Das zweite ist das Marktprin-zip. Es funktioniert nach der Grenzproduktivität, genauer,nach der Knappheit. Die Knappheit ist hier die Bewertungder Grenzproduktivität. Sodann haben wir ein Mischprin-zip, für das ich hier sehr werbe. Es sieht zunächst die Ver-teilung nach dem Marktprinzip vor; subsidiäre Hilfe kommtdenjenigen zugute, die eine bestimmte Mindestschwellenicht erreichen können. Dazu gibt es keine Alternative,denn diese hieße auf Dauer Zentralverwaltungswirtschaft,in welcher Sozialpolitik aber letzten Endes nicht mehrmöglich ist. Lasst uns daher das freiheitliche System er-halten. Eine sozialistische Verteilungsnorm führt mit derOrientierung am Durchschnitt zu reiner Willkür.

Mein Fazit ist folgendes: Die marktwirtschaftliche Ord-nung braucht eine soziale Flankierung. Aber sie ist eineErgänzung des Marktsystems durch soziale Maßnahmenund keinesfalls eine Integration in dieses System. Die So-lidarsysteme können nur dann funktionieren, wenn sich dieMenschen einer Gesellschaft zu ihnen bekennen könnenund solidarisch diejenigen unterstützen, die zu wenig zumLeben haben.

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NIELS ANNEN: Ich möchte gerne aufnehmen, was HerrProfessor Eekhoff gerade vorgetragen hat und vielleichtden Punkt herausgreifen, mit dem ich einverstanden ge-wesen bin. Sie haben gesagt, das System muss leis-tungsfähig sein, wenn auch soziale Leistungen finan-ziert werden sollen; da bin ich ganz bei Ihnen. Es gab inden letzten Jahrzehnten gegenüber der Sozialdemokra-tie und der politischen Linken eine latente Unterstellung,es ginge uns nur „um die Umverteilung und um den so-zialen Aspekt“. Ich bin davon überzeugt, dass wir eineleistungsfähige und wettbewerbsfähige Wirtschaft brau-chen. Ich glaube auch, dass meine Partei in den letztenJahren sehr viel dazu beigetragen hat, diese Wettbe-werbsfähigkeit zu steigern. Und Sozialdemokraten sindimmer dann auf der Höhe der Zeit gewesen, wenn siesich Gedanken um die Frage gemacht haben: Wo musseigentlich investiert werden? In welchen Bereichen solleigentlich unsere Wirtschaft wachsen und wo könnenArbeitsplätze entstehen? Aber dies nicht nur unter demWachstumsdiktum, sondern auch unter der Frage: Wasbedeutet dies auch unter ökologischen und sozialen

Bedingungen für unsere Gesellschaft? Das Stichwort„erneuerbare Energien“ ist in jeder Hinsicht eine Erfolgs-story. Mir ist wichtig, dies deutlich zu machen. Auch dieDebatten um unser Grundsatzprogramm, das wir jetzt inHamburg verabschiedet haben, wurde von der Frage be-stimmt: Wie bleiben wir eine Wohlstandsgesellschaft?

Ich erlaube mir aber, in einigen Punkten zu widerspre-chen. Dies ist auch ein Hinweis zur Debatte in meinerPartei bezüglich Sozialer Gerechtigkeit. Wenn wir überSoziale Marktwirtschaft reden, dann ist dies in meinemVerständnis nicht nur Flankierung. Ich glaube, die Effi-zienz von Marktmechanismen und die innovativen Po-tenziale sind wichtig. Aber Gerechtigkeit und sozialerAusgleich werden durch Marktmechanismen nicht pro-duziert. Deswegen brauchen wir, um auf Dauer erfolg-reich zu sein, einen sozialen Ausgleich. Der ungezügelteKapitalismus produziert Ungleichheit. Natürlich produ-ziert er auch enormen Reichtum und globale Verwer-fungen. Die Probleme, die diese Verwerfungen mit sichbringen, können Sie in den 10 Millenniumszielen derVereinten Nationen nachlesen. Probleme, vor denen wirnicht mehr die Augen verschließen können. Die Stärkeunseres Systems in den letzten Jahrzehnten war auchder Ausgleich in der Gesellschaft.

Ich komme aus Hamburg. Mein Wahlkreis ist extremdavon abhängig, dass Deutschland wettbewerbsfähigist. Der Hafen ist das Herz unserer Stadt. Wenn wir je-doch keinen sozialen Frieden in diesem Land haben,dann können Sie alle Fragen von Effizienz, von Rendite-erwartungen, von in sich funktionierenden Märkten, indie man nicht eingreifen sollte, vergessen. Ich glaubenicht daran, dass man in Märkte nicht eingreifen sollte.Dies funktioniert vielleicht in der Theorie, in der Praxisjedoch nicht, weil alles Wirtschaften unter politischenRahmenbedingungen stattfindet. Wenn staatliches Ein-greifen in der Vergangenheit erfolgreich war, dann wirddarüber kaum gesprochen. Und wenn staatliches Ein-greifen erfolgreich war, es aber dann ein Problem gibt –so wie jetzt bei Airbus – dann sagen die Manager desKonzerns: „Die Politik sollte sich mal raushalten, dieverstehen ja nichts von der Wirtschaft.“ – Dies ist keinehrlicher Diskurs.

Politische Diskussionmit Niels Annen MdB (SPD-Bundestagsfraktion)

und Philipp Mißfelder MdB (CDU/CSU-Bundestagsfraktion)

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Wenn wir über die Frage des Sozialstaates und der so-zialen Marktwirtschaft in Deutschland diskutieren, danndürfen wir nicht nur über die Wettbewerbsfähigkeit re-den, sondern auch über die Frage, wie wir einen Teil deserarbeiteten Wohlstandes verteilen müssen. Wir disku-tieren über die Grundlagen unserer Demokratie, denn diedemokratischen Rechte, die Freiheitsrechte reichen fürden Zusammenhalt der Gesellschaft nicht aus, wennsie nur auf dem Papier stehen. Ich halte den Satz „Jederhat das Recht auf Arbeit zu Marktbedingungen“ fürfalsch. Er bedeutet, jeder hat das Recht, egal ob Millio-när oder Tagelöhner, unter der Brücke schlafen zu dür-fen. Diese Logik sprengt die Gesellschaft. Eine Gesell-schaft, die in der Wohlstandsverteilung immer weiterauseinander driftet, erhöht vielleicht die ökonomischenChancen für einige wenige. Sie stellt uns aber auf Dauervor ein Problem, das wir nicht lösen können. Denn eineSache steht fest: Der Kapitalismus funktioniert auch ohneDemokratie und das kann nicht unsere Zukunft sein.

PHILIPP MIßFELDER: In den vergangenen Monaten,aber auch in den vergangenen Jahren der Großen Koa-lition, haben wir uns weniger in Richtung „Mehr Markt-wirtschaft“ entwickelt, sondern mehr in Richtung „Um-verteilung“. Dies hat sich in den letzten Wochen, zudemmit dem SPD-Parteitag, sehr zugespitzt; leider auch mitDiskussionen, die in meiner eigenen Partei stattfinden.

Aus meiner Sicht ist es aber tatsächlich so, dass dieUmverteilungsdiskussionen wieder stark zugenommenhaben und dies betrifft fast alle Bereiche. Nehmen Sieeinfach die vergangenen Verlautbarungen der Union,

sei es die Frage „Schutz vor ausländischem Kapital“,Arbeitslosengeld, aber auch die Frage um dem Post-mindestlohn. Hier hat man von der Union keineswegsdie Antworten gehört, die man vielleicht noch auf demLeipziger Parteitag erwartet hätte, zumindest was denTon angeht. Insgesamt hat sich der Ton verändert unddas liegt einzig und allein an parteipolitischen Diskussi-onen. Es liegt nicht daran, dass auf einmal die Sehn-sucht nach sozialer Gerechtigkeit in der Bevölkerungstärker geworden wäre. Sondern es liegt an der Verän-derung des Parteienspektrums. Wir haben eine Links-partei und mit ihr wird die SPD nicht fertig. Nach derGründung der Grünen hatte sich ja schon eine dauer-hafte Kraft entwickelt, aber nun hat der SPD-Vorsitzen-de entschieden, eine neue Strategie einzuschlagen. Ermöchte versuchen, sich auf dem Feld der sozialenWohltaten zu schlagen.

Es wurde in dieser Woche im Kabinett über die Pflege-reform diskutiert und niemand hat sich aufgeregt. Eswurde einfach mal so beschlossen, dass man Pflege-stützpunkte einrichtet; man weiß jedoch weder, wie dasauf Dauer bezahlt werden soll, noch, was die überhauptmachen sollen. Es wird beschlossen, die Leistungen derPflegeversicherungen auszuweiten. Es ist zwar in derSache richtig, die Demenzkrankheit endlich hereinzu-nehmen. Die entscheidende Frage nach der Generatio-nengerechtigkeit und Demografiefestigkeit wird jedochnicht angegangen. Die Große Koalition muss tun, wasim Koalitionsvertrag verabredet worden ist. Eine GroßeKoalition muss große Lösungen präsentieren.

Trotzdem hat man sich mit der verhältnismäßig kleinenFrage der Verlängerung der Bezugsdauer von ALG I –das Volumen beträgt zwischen 800 Millionen Euro und2 Milliarden Euro – wochenlang beschäftigt. Sie ist zueiner Symbolfrage geworden. Ich glaube, dass sie derAuftakt für weitere Debatten sein wird. Der Rubikon isteinmal überschritten. Damit verbinde ich auch die Be-fürchtung, dass die Reformagenda der Großen Koali-tion nicht unbedingt an allen Stellen fortgesetzt wird.Beide großen Volksparteien sind generell für Sozialde-batten anfällig. Das Unwohlsein und die Unsicherheit, diein der Bevölkerung aufgrund von Veränderung und Glo-balisierung vorhanden ist, kann vermeintlich am bestendurch diese „Wohltat-Debatten“ bedient werden. Ob dasfür die CDU unter rein strategischen Gesichtspunkten vonVorteil sein kann? Die Junge Union hält dies für falsch.

Ich greife nun das Thema „Mindestlohn“ auf. Wenn dieUnion beim Mindestlohn zu Konzessionen bereit ist,dann wird sie sich auch über die Höhe dieses Mindest-lohns unterhalten müssen. Es werden nicht die 9,80Euro wie bei der Post sein. Aber es muss jenseits vonsittenwidrigen Löhnen liegen. Man wird sich wahrschein-

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lich dem annähern, was die Gewerkschaften fordern:7,50 Euro. Ich versichere Ihnen, diese Diskussion wirdweder für die Union noch für die SPD durchzuhalten sein.Die Diskussion wird nämlich bei der nächsten Wahl undbei der übernächsten Wahl fortgesetzt. Dann heißt es:„Von 7,50 Euro kann ja auch keiner leben, sondern dasmuss gerechter Lohn für gerechte Arbeit sein.“ Die „Er-höhungsdiskussion“ wird immer weiter gehen. DieseDiskussion wird also von ganz wichtiger strategischerBedeutung sein. Wir eröffnen der Linkspartei damit einneues Feld des Sozialpopulismus und deshalb rate ichmeiner eigenen Partei und auch der SPD dazu, beimThema „Mindestlohn“ standhaft zu sein.

Nun eine generelle Anmerkung zu dem, was sozial ist: Esist sehr unterschiedlich. Ich denke, es hängt von den so-zialen Gruppierungen ab. Derjenige, der eine Familie hatund seine Steuern bezahlt, empfindet die hohe Steuerlastals besonders unsozial. Der Einzahler in die Rentenver-sicherung aus den Jahrgängen nach 1965 weiß schonheute, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nichts her-ausbekommen wird; er wird das auch als unsozial emp-finden. Diese Diskussion ist natürlich sehr plakativ. Trotz-dem muss man auch kontroverse Diskussionen führen,um den Kurs unseres Land zu bestimmen.

Dazu gehört auch die besonders wichtige Frage nachder Generationengerechtigkeit. Mittlerweile wird ernst-haft über dieses Thema und über die Rentenlüge ge-genüber den Jungen diskutiert. Ich glaube, es lohnt sich,weiter zu streiten und weiter zu kämpfen. Man darf sichnicht darauf verlassen, dass die kurzzeitige konjunktu-relle Erholung, von deren Fortdauer keiner weiß, unsereProbleme lösen wird. Sie wird es nicht tun, sondern dieGroße Koalition muss endlich große Reformen an-packen. Sie darf nicht so tun, als ob die Legislaturperi-ode schon nach zwei Jahren vorbei wäre.

PROF. DR. JOHANN EEKHOFF: Man muss sehr vorsich-tig sein, wenn jemand im Sinne einer Sozialen Gerech-tigkeit stärker in die Märkte eingreifen möchte. Wer in dieMärkte eingreift, greift häufig in die Preise ein, und zwardurch Höchstpreise, Mindestpreise oder Mindestlöhne.

Herr Annen, Sie haben gesagt, der Begriff „Recht auf Ar-beit zu Marktbedingungen“ könne nur von Marktradika-len kommen. Ich meine damit Folgendes: Ich möchte,dass jemand die Erlaubnis erhält, jedwede Arbeit anzu-nehmen. Ansonsten werden Niedrigqualifizierte aus demArbeitsmarkt ausgesperrt. Ich möchte, dass jeder seineFähigkeiten einbringen kann. Wenn dann festgestellt wird,dass jemand davon nicht leben kann, dann muss er etwasdazu bekommen. Sie können aber keinen in unserer Ge-sellschaft zwingen, ein Unternehmen zu gründen undMenschen zu beschäftigen, die am Markt ein gewisses

Gehaltsniveau nicht verdienen können. Sie müssen die-se Menschen dann staatlich beschäftigen. Also lassenwir die Menschen in dieser Gesellschaft doch erst einmalihre Chancen nutzen und sorgen dann dafür, dass sie ge-nug haben, um eine Familie ernähren zu können.

Außerdem haben Sie Airbus genannt: Wir können unsnicht noch eine zweite Airbus-Industrie leisten, die sovielöffentliches Geld verschlingt. Zur Wahrheit dieser Ge-schichte: Als die Entscheidung gefallen war, dass derAirbus in Europa gebaut würde, wurde gleichzeitig ge-nehmigt, dass McDonnell Douglas und Boeing fusionie-ren durften. Wir haben den Wettbewerb auf staatlicheKosten bekommen. Wir wissen gar nicht, ob hier nichtandere Firmen, ob nun Kanadier, Engländer oder Fran-zosen, auch noch etwas gebaut hätten. Wir wissen nur,dass dieses Experiment mit staatlicher Industriepolitikrelativ teuer geworden ist.

MICHAEL TRAPP: Ich habe einen Betrieb mit 20 Mitar-beitern in der Kunststoffindustrie und, Herr Annen, eineFrage umtreibt mich bei der Mindestlohndiskussion: Wiewollen Sie mich als Unternehmer zwingen, eine Leistungeinzukaufen, die zu teuer ist? Nehmen wir einmal denPostmindestlohn. Ich kann ausweichen, ich muss dieBriefe nicht mehr wegbringen, wenn ich elektronischeAlternativen habe. Mit dem preistreibenden Instrumentdes Postmindestlohnes motivieren Sie mich, nach Aus-weichmöglichkeiten zu suchen. Sie schließen damit ei-nen Teil der Postbeschäftigten von ihrer Tätigkeit aus.Was ist daran sozial?

PETRA PISSULLA: Wie wollen Sie das Problem der Ge-nerationengerechtigkeit lösen? Es gibt ja nicht nur dasProblem, dass die jungen Menschen für zu viele Altezahlen müssen. Sondern die Alten zahlen auch für dieJungen. Viele junge Menschen sind nicht ausbildungs-fähig, viele jungen Menschen bleiben ohne Berufsaus-bildung. Das Durchschnittsalter unserer Studenten istsehr hoch, wenn sie anfangen zu arbeiten.

PHILIPP MIßFELDER: Generationengerechtigkeit ist einBegriff, der in beide Richtungen geht. Die Rentner habenes auch nicht als besonders generationengerecht emp-funden, dass sie in diesem Jahr eine so geringe Renten-steigerung bekommen haben. Sie empfinden auch dieStrompreisentwicklung dieser Tage als nicht besondersgenerationengerecht. Ich glaube jedoch, dass der Zusam-menhalt zwischen den Generationen an sich ganz gutfunktioniert. Ich glaube, dass gerade auch viele Jüngerevon den Älteren profitieren: Nehmen Sie allein die Trans-ferleistungen, die innerhalb von Familien stattfinden, indem Großeltern ihren Enkelkindern Geld zur Verfügungstellen. Gleichzeitig muss man natürlich zur Kenntnis neh-men, dass die Zahl der Familien und auch der Bindungen

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immer kleiner wird. Es gibt viele Senioren-Singles, fürwelche die Pflegeversicherung eine ganz neue Bedeu-tung gewinnt, weil es keinen Familienrückhalt gibt.

Vor dem Hintergrund muss man sich fragen: Was ist Ge-nerationengerechtigkeit? Wie ist der Zusammenhalt inunserer Gesellschaft über die Familie und über das reineUmverteilungssystem hinaus? In Hinsicht auf die steigen-den Beiträge der jüngeren Generation haben wir schwie-rige Diskussionen vor uns. Man darf sich deshalb nichtauf den Holzweg begeben und jetzt, wenn die konjunk-turelle Entwicklung etwas besser wird, den Menschenutopische Dinge versprechen. Die Rentenversicherungwird in Zukunft ein Mindestschutz vor Altersarmut sein.Deshalb sind die Reformen, die wir in dem Bereich durch-geführt haben, richtig.

NIELS ANNEN: Ich glaube, Herr Eekhoff, dies ist nicht derRahmen, um über die theoretische Frage zu diskutieren,ob es wirklich Märkte gibt, die eingriffsfrei sind. Ich glaubenicht, dass es so etwas gibt. Ganz praktisch gesprochenhaben wir das sogenannte „Aufstockerphänomen“. Dasheißt, es arbeiten in diesem Land viele Menschen, davonnicht wenige in Vollzeit, bei Unternehmen, die ihnen nichtausreichend zahlen, um davon den Lebensunterhalt be-streiten zu können. Das ist aus meiner Sicht ein morali-sches Problem, denn wenn man den ganzen Tag arbeitet,dann muss man dafür auch seine Familie ernähren kön-nen, ohne dass man dann noch aufstockend ALG II bean-tragt.

Im Grunde genommen läuft Ihre Logik, Herr Eekhoff, aufzwei völlig voneinander getrennte Systeme hinaus: Esgibt das Marktsystem, da kümmert sich der Staat nicht

drum und für diejenigen, die herausfallen, muss sich dieSolidargemeinschaft etwas einfallen lassen. Das ist nichtmein Verständnis. Wir dürfen nicht über die Solidarge-meinschaft die Dumpinglöhne einiger – ich sage aus-drücklich einiger – Unternehmer finanzieren. Denn dannkönnten Unternehmen mit einem Niedrigstlohn kalkulie-ren, weil man die Sicherheit hat, dass entsprechend auf-gestockt wird.

Herr Trapp, wenn Sie einen Teil Ihrer Produktion oder Ih-rer Leistungen ins Ausland verlagern können, dann werdeich Sie nicht daran hindern können. Wenn aber die elek-tronische Alternative für Sie effizienter ist, dann wird daseine Überlegung sein, die Sie irgendwann ohnehin an-stellen werden. Das ist in unserem marktwirtschaftlichenSystem, wenn ich das einmal paraphrasieren darf, nichtsNeues. Das ist ein Teil der Entwicklung, die wir in der in-dustriellen Produktion oder in der IT-Branche gesehenhaben. Wenn dieser Schritt für Sie vernünftig ist, davonbin ich überzeugt, dann werden Sie ihn irgendwann tun.Daraus mache ich Ihnen auch keinen Vorwurf.

Wenn Sie sich in Europa umschauen, werden Sie in fastallen Mitgliedstaaten inzwischen Systeme staatlich fi-xierter Mindestlöhne vorfinden. Die Branchen in Deutsch-land stellen sich mittlerweile darauf ein. Ich persönlichakzeptiere nicht, dass sich ein größer werdender Teil derGesellschaft mit Jobs durchschlagen muss, von denenman nicht leben kann. Deswegen ist der vernünftigsteWeg, Rahmenbedingungen zu setzen. Wir werden denWeg jetzt Stück für Stück, Branche über Branche gehen.Die Wählerinnen und Wähler entscheiden dies irgend-wann. Ich bin nicht glücklich darüber, dass wir währendder nächsten zwei Jahre vermutlich ständig Debatten überdie Situation in der Zeitarbeitsbranche oder im Fleischer-handwerk haben werden. Es wäre besser gewesen, manhätte eine Grundsatzdebatte geführt und sich auf einegesetzliche Regelung verständigt, aber dafür gibt esderzeit keine Mehrheit. Der britische Labour-Premier hatin Großbritannien Mindestlöhne eingeführt, und das hatnicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt. Man sollte versu-chen, diese Diskussion ein wenig unideologischer zuführen.

PHILIPP MIßFELDER: Ich befürchte, dass beim Mindest-lohn jetzt Branche für Branche aufgerufen wird. In einemGespräch mit dem Postarbeitgeberverband, und zwarder Verband mit nur einem Arbeitgebermitglied, wurdegesagt, 9,80 Euro stellten doch einen gerechtfertigtenLohn für eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit dar:Den Brief und die Adresse identifizieren und den Brief or-dentlich zustellen. Es wurde nicht mehr gefragt, ob derMarkt diesen Lohn hergibt, sondern es wurde nur nochaufgrund des Schutzwunsches des Unternehmens ar-gumentiert. Diese Schutzfunktion des Mindestlohns wird

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sich auf Dauer nicht halten können, denn Wettbewerb fin-det europaweit statt. Man muss der Ehrlichkeit halberauch sagen, Niels, dass beim Mindestlohn in anderenLändern natürlich die Sozialleistungen integriert sind. Inmanchen Ländern gibt es z.B. keine Parität bei der Fi-nanzierung der sozialen Sicherungsleistungen. Der Min-destlohn in Europa ist teilweise ein ganz anderer, als derhier geforderte. Unter der Bedingung der Tarifautonomiekönnte ich mir allerdings vorstellen, dass man über die-ses Thema redet. Wenn man aber den allgemeinen Min-destlohn will, dann braucht man in Zukunft auch keineTarifverhandlungen mehr. Wenn schon Großbritannien alspositives Beispiel angeführt wird, dann können wir gerndie Marktwirtschaft von Großbritannien nach Deutsch-land importieren. Ich bin dann bereit, einen Mindestlohnmitzutragen.

DR. ULRICH WEISS: Herr Annen und Herr Mißfelder, ichfinde es schade, dass die Politik jetzt wieder in Richtung„mehr Staat“ geht. Dies gilt für beide Parteien, weil siezusammen in einer Großen Koalition sind. Es wird in derpolitischen Diskussion zu selten der Satz erwähnt, der,wie ich glaube, der Kanzler-Eid ist und auch für die Re-gierung gilt: „Den Nutzen zu mehren und Schaden abzu-wenden von unserem Volk.“ Es ist fast tragisch, dass derWeg der „Agenda 2010“ zumindest zum Teil nun zurück-gegangen wird. Pater Langendörfer hat die Soziale Ge-rechtigkeit an der Würde des Menschen aufgehängt. DieWürde des Menschen ist eigentlich ein archimedischerPunkt, an dem man sehr viel festmachen kann. Davonabgeleitet findet sich im Subsidiaritätsprinzip der Satz,die Gemeinschaft habe die Bedingung zu schaffen, dassder Einzelne seine Fähigkeiten zu seinem eigenen Wohleinbringen kann. Ich füge in Klammern an: Es ist selbst-verständlich, dass keine Würde in Armut möglich ist.

Zum Subsidiaritätsprinzip passt auch der Satz: „Sozialgerecht ist, was Arbeitsplätze schafft“. Soziale Gerechtig-keit sollte also schwerpunktmäßig nicht bei der Umver-teilung, sondern bei den Bedingungen, Arbeitsplätze zuschaffen, festgemacht werden. Und das geht natürlichohne einen Mindestlohn besser, auch wenn daraus einKombilohn wird. Dieser Begriff ist übrigens eine großeChance, denn die Bürger haben in der Vergangenheitunserer Republik immer gemerkt, wenn es einer Parteigelungen ist, eine griffige Formulierung zu finden.

PROF. DR. KLAUS SCHROEDER: Wer ansagt, dass dieseMindestlöhne auch noch daran gebunden sein müssen,dass eine Familie davon ernährt werden kann, muss sichverdeutlichen, dass die offizielle Armutsgrenze für eineFamilie mit zwei Kindern bei über 2.000 Euro liegt. Mankann sich also ausrechnen, wie hoch der Mindestlohnsein müsste, um auf 2.300 bis 2.400 Euro netto zu kom-men. Hier würde eine sozial gemeinte Leistung in das Ge-genteil umschlagen: Beim nächsten Abschwung würdenein bis zwei Millionen Arbeitslose produziert. Wenn wirin die Geschichte schauen, sehen wir diesen Prozess. Inden 1970-er Jahren haben die Gewerkschaften massiveLohnerhöhungen gerade für die unteren Lohngruppen er-streikt. Als es 1974 wirtschaftlich bergab ging, entstandin diesen Bereichen eine Massenarbeitslosigkeit, von dersich das Land nicht mehr erholt hat. Insofern scheint mirdie Einführung einer negativen Einkommensteuer als dersinnvollste Weg.

Warum eigentlich beteiligt man die Arbeitnehmer nichtam Produktivvermögen? Die Gewerkschaften haben diesseit Jahrzehnten verhindert. Wir hätten schon längst an-dere Vermögensverhältnisse, wenn wir diese Beteiligun-gen eingeführt hätten.

Der Unternehmer Michael Trapp (re.) vom Sattler KunststoffWerk in Mühlheim am Main hinterfragt die Anreizsetzung beim Mindestlohn.

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BÄRBEL NEHRING-KLEEDEHN: Herr Annen, muss dieGesellschaft nicht insgesamt weg von der sogenannten„Verteilungsgerechtigkeit“ und hin zu einer „Leistungsge-rechtigkeit“ kommen? Sollten wir nicht eigentlich vomSchulkind an Leistung erwarten und sie auch einfordern?Uns fehlen heute qualifizierte Mitarbeiter im Technikbe-reich. Dies sind Versäumnisse in der Vergangenheit, weilwir den Leistungsgedanken nicht in den Vordergrund ge-stellt haben und weil Leistung vielfach auch verpöntwurde. „Leistung muss sich lohnen“ gilt nicht nur für die-jenigen, die es im Leben weit gebracht haben. Im Bereichder Sozialhilfeempfänger in zweiter oder dritter Genera-tion besteht mittlerweile eine Anspruchshaltung: „Dassteht mir an Sozialhilfeleistung zu“. Man muss für Sozial-hilfeleistung eine Gegenleistung erwarten dürfen, nichtnur das Bemühen, sondern auch eine Leistung.

NIELS ANNEN: Herr Dr. Weiss, ich glaube an die Würdedes Menschen. Wie gesagt, ist es von meiner Grundüber-zeugung her nicht akzeptabel, dass es eine größer wer-dende Anzahl von Personen in Deutschland gibt, die denganzen Tag arbeiten und die sich davon nicht ernährenkönnen. Das hat auch etwas mit Würde zu tun. Den Satz„Sozial ist, was Arbeit schafft“ kenne ich natürlich vonvielen Wahlplakaten. Es ist unter professionellen Gesichts-punkten ein guter Slogan. Inhaltlich teile ich ihn natürlichüberhaupt nicht. Denn für mich ist sozial, was würdevolle,würdige Arbeit schafft.

Wir diskutieren im Moment in unserer Partei die Frage„Arbeitsgesellschaft/Arbeitswelt“ unter dem Stichwort„gute Arbeit“. Damit sind die Arbeitsbedingungen und diewürdige Entlohnung gemeint, so dass sich die Menschenmit ihrer Arbeit identifizieren. Deshalb ist sozial, was guteArbeit schafft, aber nicht, was irgendeine Arbeit schafft.Das Problem ist, dass in einer Situation, in der immernoch Massenarbeitslosigkeit herrscht, gestattet wird,dass ein bestimmter sozialer Standard unterlaufen wird.

PROF. DR. JOHANN EEKHOFF: Der soziale Standardder Gewerkschaften bedeutet, dass die Mehrheit der Be-schäftigten diejenigen vom Arbeitsmarkt ausschließt,welche die anderen in ihrer Würde gefährden könnten.Das ist heute sozialer Standard und heißt Zusätzlichkeit.Die Geringqualifizierten kommen unter diesen Bedingun-gen nie wieder auf den Arbeitsmarkt.

NIELS ANNEN: Ich stimme Ihnen da nicht zu. Aber ichwollte den Gedanken der Würde des Menschen aus-drücklich aufgreifen, denn darum geht es letztlich in un-serer Gesellschaft. Und deswegen glaube ich auch nicht,Herr Schroeder, dass Mindestlöhne schädlich sind. Ichnehme einen enormen Widerstand wahr, fast schon eineinstinktive Abwehrhaltung allein schon gegenüber demWort „Mindestlohn“. Dass wir in Deutschland über Min-

destlöhne diskutieren, hat nichts damit zu tun, dass wirjetzt auf einmal mehr Staat wollen. Es hat vielmehr etwasmit den sozialen Realitäten in diesem Land zu tun. Ich binein großer Verteidiger der Tarifautonomie und deswegenmische ich mich auch nicht in die Frage ein, ob im Post-bereich etwas für 9,80 Euro abgeschlossen wird oder für7,50 Euro. Aber wir müssen doch zur Kenntnis nehmen,dass die Gewerkschaften durch die Globalisierung, zumTeil auch durch eigene Fehler schwächer geworden sind.Wir haben deswegen nicht mehr die Schutzfunktion desFlächentarifvertrags für die unteren Einkommensgruppen.Die Schuld der Gewerkschaften an der Massenarbeits-losigkeit halte ich übrigens für eine Legende. Wir setzenmit dem Mindestlohn einen Mindeststandard, aber diePreisbildung und die tarifvertraglichen Freiheiten werdendavon nicht in Mitleidenschaft gezogen.

Ich will noch etwas zur Leistung sagen. Die Geschichteder SPD ist die Geschichte einer Partei, der Arbeiterbe-wegung in Deutschland, die das Leistungsprinzip immerin den Mittelpunkt gestellt hat. Mein Parteivorsitzenderwendet sich heute mit einem alten Spruch von LudwigErhard an die Öffentlichkeit: „Leistung muss sich wiederlohnen.“ Das ist der Kern auch des – etwas pathetischgesagt – sozialdemokratischen Versprechens: Wenn Ihreuch anstrengt, wenn Ihr etwas leistet, dann habt Ihr indiesem Land auch die Möglichkeit, etwas zu werden.

Dieses Versprechen ist in den letzten Jahren zumindestin großen Bereichen zerstört worden, und es gibt vieleLeute, die weniger als das, was wir als Mindestlohn an-streben, verdienen. Sie leisten etwas in diesem Land,aber kommen nicht mehr nach oben. Weil der Schulab-schluss fehlt, weil die Zugangschancen fehlen, weil auchdie Jobs in diesem Bereich fehlen, weil es an Ausbil-dungsplätzen mangelt. Das ist nicht nur die Schuld desStaates. Deswegen: Leistung muss sich wieder lohnen –da bin ich ganz bei Ihnen. Aber warum das nun gegenMindestlöhne sprechen sollte, sehe ich nicht.

PHILIPP MIßFELDER: Diese Diskussion kann man sicherspannend weiterführen; wir werden das im Wahlkampfvoraussichtlich auch tun. Der Kürze der Zeit geschuldetmöchte ich nur sagen, dass sich diese Ausführungenzwar wunderbar anhören, und es steht zu befürchten,dass sie in der Bevölkerung auch große Unterstützungfinden, denn natürlich möchte jeder einen würdevollenArbeitsplatz haben, was auch immer das heißen mag.Und natürlich möchte sich auch jeder mit seiner Arbeitidentifizieren können. Nun ist es leider so, dass es dasParadies hier im Diesseits nicht gibt. Als gläubiger Ka-tholik glaube ich natürlich, dass es im Jenseits existiert,aber ich denke nicht, dass es Aufgabe der Politik ist, denMenschen paradiesische Zustände zu versprechen. Dasist blanker Populismus, der leider sehr gut ankommt.

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Ich glaube nicht, dass jeder von dem, was er mit seineneigenen Händen an Arbeit verdient, auch zwangsläufigseine Familie ernähren muss, so wünschenswert das auchwäre. Aber wir brauchen einen Niedriglohnsektor, der alle-mal günstiger für die Solidargemeinschaft ist als die reineAlimentierung. Wir brauchen einen Niedriglohnbereichund vielleicht auch Lohnzuschüsse, um dann tatsächlicheine Familie vernünftig versorgen zu können. Ich glaubenicht, dass es Aufgabe der Politik sein muss, dies zu or-ganisieren. Meine Kopfrechenkünste reichen gar nichtaus, um die Höhe des Mindestlohns zu berechnen. Des-halb meine Frage: Von 7,50 Euro wird eine vierköpfigeFamilie nicht leben können – wie hoch muss der Min-destlohn letztendlich sein?

NIELS ANNEN: Natürlich ist es heute schon so, dassLeute, die deutlich mehr als 7,50 Euro verdienen und eineFamilie ernähren müssen, zusätzliche Hilfen und Unter-stützung bekommen. Hinsichtlich des Wahlkampfes ha-ben wir uns große Mühe gegeben, keine Zahl zu nennen.Die SPD hat einen Vorschlag gemacht, der sich an Groß-britannien orientiert: Dort gibt es eine „Low-Pay-Com-mission“ mit Vertretern aus Wissenschaft, Arbeitgebernund Arbeitnehmern. Die Zahl orientiert sich an 7,50 Euro,8 Euro. Es gibt bisher aber keine konkrete Forderung.

PROF. DR. KLAUS SCHROEDER: Es ist nicht sinnvoll,aus anderen Staaten eine spezielle Sache herauszugrei-fen, wie jetzt den Mindestlohn in Großbritannien. Warumübernehmen wir dann nicht das ganze Sozialsystem ausGroßbritannien? Wir versuchen Dinge miteinander zu ver-einbaren, die vor einem anderen Hintergrund gewachsensind. Unseren beiden Hoffnungsträgern in den Volkspar-teien möchte ich sagen: Wir müssen einmal über einengroßen Wurf, über eine große Reform diskutieren, so etwaden Umstieg zur Steuerfinanzierung des Sozialbereichs.Wir denken immer in diesen geordneten Bahnen, immernur in kleinen Schritten. Einen großen Wurf zu riskieren,dazu, habe ich eigentlich gedacht, ist die Große Koalitionda. Leider ist ein großer Wurf bisher in keinem Bereichsichtbar.

PROF. DR. THEO SIEGERT: A question to Mr. de Jasay:You spoke much about equality and liberty. You haveshown, that the demand for liberty has decreased inGermany. Is this situation comparable to the situationin France?

ANTHONY DE JASAY: The question is: What is the ba-lance, the “Zeitgeist” between equality and liberty. With

special reference to the country of France: I think, equa-lity in France is absolutely sacrosanct. It always haspriority over any other value. But there is also very bigunderstanding, that Equality and Liberty are antago-nistic principles. There is a believe, that there is no con-tradiction between egalitarians and libertarians. The twoare compatible, so it’s not surprising that somebody,who says “I love liberty”, will also say “But I am a egali-tarian” and vice versa. A final thing, which to my under-standing clears much in this confusion, is that peopledon’t distinguish between liberty and rights. When theysay “I want liberty”, they mean “I want rights for my-self”. The right holder has a claim for the society. Thesociety owes him something and adds his liberty.

PROF. DR. MICHAEL EILFORT: Wir konnten zu keinemZeitpunkt davon ausgehen, dass wir die Frage „Was istsozial?“ abschließend klären, aber wir nehmen dochviele interessante Nachfragen, viele Anstöße und vieleneue Einblicke mit. Die Stiftung Marktwirtschaft wirdsich auch in den nächsten Jahren intensiv mit dem Be-griff der „Sozialen Gerechtigkeit“ beschäftigen und fürdie Verbreitung dieses Hinterfragens sorgen.

Susanna Hübner (v.i.S.d.P.) ++++ Stiftung Marktwirtschaft ++++ Charlottenstr. 60 ++++ 10117 Berlin ++++ Tel: (030) 206057-33 ++++www.stiftung-marktwirtschaft.de

Impressum

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Entsprechend der enormen Bedeutung für dasFunktionieren und für die Akzeptanz der Sozia-len Marktwirtschaft hat die Stiftung Marktwirt-schaft das Thema „Gerechtigkeit“ in denMittelpunkt einer öffentlichen Fachtagunggestellt. Das gezielte Hinterfragen des diffusenBegriffs dient dem Ziel, Klarheit in die Debat-ten zu bringen und zu größerer Fairness inunserem Land beizutragen.

Der Begriff „Soziale Gerechtigkeit“ ist sympa-thisch besetzt und als politisches Instrumentbeliebt. Er taucht vor allem zu Wahlkampf-zeiten auf, wenn Parteien nach Wegen suchen,um den von Bürgern empfundenen Gerechtig-keitsdefiziten zu begegnen oder diese Empfin-dungen überhaupt erst zu wecken. Dabei wirdzu Recht über Chancengerechtigkeit und dieAbsicherung sozial Schwacher gesprochen.

Zu Unrecht aber wird Leistungsgerechtigkeitaußer Acht gelassen und Verteilungsgerechtig-keit als populistischer Traum verkauft, wenn vonder mangelhaften Verteilung der „Früchte ge-sellschaftlicher Zusammenarbeit“ die Rede ist.Die Wirtschaft funktioniert nicht als Kollektiv,dessen Einkommen zur Aufteilung unter allenBeteiligten zur Verfügung steht. Die Erträge desMarktes sind vielmehr Ergebnis aus vielfältigmiteinander verflochtenen Einzeltransaktionen(Friedrich August von Hayek), die ohne indivi-duelle Leistungsanreize nicht zustande kämen.Wollte man das Volkseinkommen vollständigumverteilen, müsste grundsätzlich auf Wohl-stand verzichtet und der gemeinsame Weg derArmut gewählt werden.

Die Einkommensstatistik zeigt ein durchge-hendes Anwachsen der Steuerlast bis in dieSpitzen der Erwerbseinkommen. Höhere Haus-haltseinkommen gehen zudem mit insgesamthöheren Sozialabgaben einher, hervorgebracht

durch eine steigende Erwerbstätigkeit der Per-sonen in den einkommensstarken Haushalten.Bezieher hoher Einkommen werden in Deutsch-land also nicht privilegiert, sondern beteiligensich überdurchschnittlich an den Steuer- undSozialabgaben, während sie unterdurchschnitt-lich von staatlichen Transferzahlungen profi-tieren (Statistisches Bundesamt, IW-Trends4/2007).

Richtig ist, dass der Sozialstaat dem Einzelnendiejenigen Risiken abnehmen muss, die er nichtalleine tragen kann. Er muss aber auch seineGrenzen erkennen. So darf die Volkswirtschaftnicht überfordert und Eigeninitiative, Eigenver-antwortung und das Leistungsprinzip nicht aus-geschaltet werden. Wer mehr leistet und bereitist, ein höheres Risiko einzugehen, muss dasRecht auf ein höheres Einkommen behalten. Da-raus ergeben sich Ungleichheiten, die im Sinneeines insgesamt hohen Wohlstandsniveausnicht nur sozial gerecht, sondern ihrerseitsTriebfeder für Dynamik sind.

Der Schlüssel zu Sozialer Gerechtigkeit liegt inder Chancengerechtigkeit. Diese muss im be-sonderen Maße im Bildungsbereich verwirklichtwerden. Bildung ist die Grundlage einer selbst-ständigen Existenz; daher sind Bildungsange-bote staatlicher Alimentierung stets vorzuziehen.

Derzeit sinkt die Zustimmung zur SozialenMarktwirtschaft, während die Marktmechanis-men im Zuge der Digitalisierung und Globali-sierung komplexer werden. Es liegt nun in derVerantwortung der Politik, anstelle von rituellenBeschwörungen der „Sozialen Gerechtigkeit“den Gerechtigkeitsempfindungen der Bürgermit beständiger Aufklärung und dem Werbenfür die Soziale Marktwirtschaft zu begegnen.Dabei kann sie sich auf die Unterstützung derStiftung Marktwirtschaft verlassen.

Was ist sozial?