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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_18|2011 IV rechtliches W er nach einer Tätigkeit in ei- ner versicherungspflichtigen Beschäftigung arbeitslos wird, bekommt in der Regel Lohnersatzleistun- gen, genauer Arbeitslosengeld I von der Agentur für Arbeit. Dies ist eine Versiche- rungsleistung, auf die man Anspruch hat. Die Zahlung von Arbeitslosengeld I ist da- bei (im Gegensatz zum Arbeitslosengeld II) auch völlig unabhängig von Bedürftig- keit, von Vermögen oder von vorrangigen Unterhaltsansprüchen gegenüber An- gehörigen. Somit hat auch ein Millionär grundsätzlich einen rechtlich korrekten Anspruch auf Arbeitslosengeld I, wenn er arbeitslos wird. Dennoch – egal ob Millio- när oder mittellos – es müssen bestimm- te Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu zählt zunächst die Dauer der bisherigen Beschäftigung als Anspruchs- grundlage. Jeder, der mindestens zwölf Monate gearbeitet hat, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Neben diesen rech- nerischen Grundlagen gibt es weitere Voraussetzungen, um in den Genuss dieser Lohnersatzleistung zu gelangen. So muss der Leistungsempfänger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, darf also beispielsweise nicht arbeitsunfähig sein oder ohne festen Wohnsitz irgend- wo unerreichbar für die Arbeitsvermitt- lung in der Weltgeschichte herumreisen. Der Arbeitslose muss auch immer ein Arbeitsuchender sein und seine Wieder- eingliederung in den Arbeitsmarkt aktiv und mitwirkend betreiben. Derartige Aktivitäten muss er z.B. bei regelmä- ßig anberaumten Gesprächen mit der Arbeitsvermittlung angeben und ggfs. nachweisen können. Wenn er dies nicht hinreichend unter Beweis stellt, kann ihm die Unterstützung zumindest zeitweilig gekürzt werden. Diese Mitwirkungspflicht gehört zu den vielen Spielregeln beim Bezug von Arbeitslosengeld I, bei denen die Frage der Zumutbarkeit eine große Rolle spielt. Wer z.B. eine zumutbare Beschäfti- gung ohne wichtigen Grund aufgibt, wer eine zumutbare neue Stelle nicht antritt, die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit vereitelt, eine zumutbare Trainingsmaß- nahme abbricht oder eine zumutbare Tagespendelzeit zu einer neuen Arbeits- stelle ablehnt, hat mit Sanktionen seitens der Arbeitsverwaltung zu rechnen. Und das kann schneller gehen, als man zunächst glauben möchte. Wenn zum Beispiel einem gekündigten Re- dakteur von der Arbeitsagentur eine Stelle angeboten wird, dann kann das ein großer Segen sein, besonders wenn die- se neue Beschäftigung in wesentlichen Merkmalen wie Umfang, Tätigkeit und dem Gehalt den bisherigen Verhältnissen entspricht. Das ist der Idealfall, bei dem alle Beteiligten zufrieden sein dürften. Der Arbeitsuchende hat etwas Passendes gefunden, die Arbeitsverwaltung ist stolz auf ihre Vermittlung, und ein Arbeitgeber hat hoffentlich einen guten neuen Mitar- beiter. Die Realität sieht aber meistens etwas anders aus: Einen nahtlosen Anschluss mit einem neuen Job gibt es selten, oft gibt es – gerade für freigestell- te Journalisten – gar nichts außer freie Mitarbeit. Manchmal gibt es zwar eine neue Jobaussicht, aber nur weit weg vom Heimatort. Ebenso kommt es vor, dass der neue Job schlechter bezahlt ist und von minderer Qualität, dass es ein Teilzeitjob ist, dass er befristet ist oder .... alles zusammen. Und dann lautet die Reaktion durchaus nachvollziehbar: Nein danke! Das ist nicht zumutbar! Sperrzeit als Sanktion Die typische Sanktion der Agentur für Ar- beit gegenüber Arbeitslosengeld-I-Emp- fängern ist dann die Sperrzeit. Sie wird immer dann verhängt, wenn gegen be- stimmte Regeln verstoßen wird bzw. Empfänger von Arbeitslosengeld müssen aktiv bei der Ar- beitsaufnahme mitwirken. Was ist dabei zumutbar, um nicht die Ansprüche auf Unterstützung über Sperrzeiten zu verlie- ren? | Andreas Pallenberg Was ist zumutbar? ARBEITSAUFNAHME Foto: © Arbeitsagentur

Was ist zumutbar? - WILA Arbeitsmarkt · arbeitslos wird. Dennoch – egal ob Millio-när oder mittellos – es müssen bestimm-te Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu zählt zunächst

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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_18|2011IV

rechtliches

Wer nach einer Tätigkeit in ei-ner versicherungspflichtigen Beschäftigung arbeitslos wird,

bekommt in der Regel Lohnersatzleistun-gen, genauer Arbeitslosengeld I von der Agentur für Arbeit. Dies ist eine Versiche-rungsleistung, auf die man Anspruch hat. Die Zahlung von Arbeitslosengeld I ist da-bei (im Gegensatz zum Arbeitslosengeld II) auch völlig unabhängig von Bedürftig-keit, von Vermögen oder von vorrangigen Unterhaltsansprüchen gegenüber An-gehörigen. Somit hat auch ein Millionär grundsätzlich einen rechtlich korrekten Anspruch auf Arbeitslosengeld I, wenn er arbeitslos wird. Dennoch – egal ob Millio-när oder mittellos – es müssen bestimm-te Voraussetzungen erfüllt sein.

Dazu zählt zunächst die Dauer der bisherigen Beschäftigung als Anspruchs-grundlage. Jeder, der mindestens zwölf

Monate gearbeitet hat, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Neben diesen rech-nerischen Grundlagen gibt es weitere Voraussetzungen, um in den Genuss dieser Lohnersatzleistung zu gelangen. So muss der Leistungsempfänger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, darf also beispielsweise nicht arbeitsunfähig sein oder ohne festen Wohnsitz irgend-wo unerreichbar für die Arbeitsvermitt-lung in der Weltgeschichte herumreisen. Der Arbeitslose muss auch immer ein Arbeitsuchender sein und seine Wieder-eingliederung in den Arbeitsmarkt aktiv und mitwirkend betreiben. Derartige Aktivitäten muss er z.B. bei regelmä-ßig anberaumten Gesprächen mit der Arbeitsvermittlung angeben und ggfs. nachweisen können. Wenn er dies nicht hinreichend unter Beweis stellt, kann ihm die Unterstützung zumindest zeitweilig

gekürzt werden. Diese Mitwirkungspflicht gehört zu den vielen Spielregeln beim Bezug von Arbeitslosengeld I, bei denen die Frage der Zumutbarkeit eine große Rolle spielt.

Wer z.B. eine zumutbare Beschäfti-gung ohne wichtigen Grund aufgibt, wer eine zumutbare neue Stelle nicht antritt, die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit vereitelt, eine zumutbare Trainingsmaß-nahme abbricht oder eine zumutbare Tagespendelzeit zu einer neuen Arbeits-stelle ablehnt, hat mit Sanktionen seitens der Arbeitsverwaltung zu rechnen.

Und das kann schneller gehen, als man zunächst glauben möchte. Wenn zum Beispiel einem gekündigten Re-dakteur von der Arbeitsagentur eine Stelle angeboten wird, dann kann das ein großer Segen sein, besonders wenn die-se neue Beschäftigung in wesentlichen Merkmalen wie Umfang, Tätigkeit und dem Gehalt den bisherigen Verhältnissen entspricht. Das ist der Idealfall, bei dem alle Beteiligten zufrieden sein dürften. Der Arbeitsuchende hat etwas Passendes gefunden, die Arbeitsverwaltung ist stolz auf ihre Vermittlung, und ein Arbeitgeber hat hoffentlich einen guten neuen Mitar-beiter. Die Realität sieht aber meistens etwas anders aus: Einen nahtlosen Anschluss mit einem neuen Job gibt es selten, oft gibt es – gerade für freigestell-te Journalisten – gar nichts außer freie Mitarbeit. Manchmal gibt es zwar eine neue Jobaussicht, aber nur weit weg vom Heimatort. Ebenso kommt es vor, dass der neue Job schlechter bezahlt ist und von minderer Qualität, dass es ein Teilzeitjob ist, dass er befristet ist oder .... alles zusammen. Und dann lautet die Reaktion durchaus nachvollziehbar: Nein danke! Das ist nicht zumutbar!

Sperrzeit als Sanktion

Die typische Sanktion der Agentur für Ar-beit gegenüber Arbeitslosengeld-I-Emp-fängern ist dann die Sperrzeit. Sie wird immer dann verhängt, wenn gegen be-stimmte Regeln verstoßen wird bzw.

Empfänger von Arbeitslosengeld müssen aktiv bei der Ar-beitsaufnahme mitwirken. Was ist dabei zumutbar, um nicht die Ansprüche auf Unterstützung über Sperrzeiten zu verlie-ren? | Andreas Pallenberg

Was ist zumutbar? ARBEITSAUFNAHME

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rechtliches

wenn zumutbare Aktivitäten oder Mitwir-kungen der Arbeitslosengeldempfänger unterbleiben. In dieser Sperrzeit wird kein Arbeitslosengeld gezahlt. Zusätzlich ver-ringert sich der stets zeitlich begrenzte Anspruch auf Arbeitslosengeld mindes-tens um diese Zeit.

Sperrzeiten sind aber keine Strafen im rechtlichen und schon gar nicht im moralischen Sinn, sondern sie gehören quasi zu den Geschäftsbedingungen, wenn man Arbeitslosengeld beziehen möchte. Wenn man sich auf bestimmte „Zumutungen“ bei der Arbeitsaufnahme nicht einlassen möchte, dann kann man sich eben auch unter Berücksichtigung der Konsequenzen bewusst auf Sperr-

zeiten einlassen. Man ist anschließend kein schlechterer Kunde als vorher, muss aber aufpassen, da bei wiederholten Sperrzeitanlässen die Leistung komplett wegfallen kann. Für Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die hier nicht näher be-trachtet werden, gelten teilweise ganz andere „Spielregeln“. Sie erhalten ja keine Versicherungsleistungen, die man mal aussetzen könnte, sondern Hilfe zum Lebensunterhalt. Den kann man nicht so

einfach „sperren“, wohl aber empfindlich kürzen. Auch die Frage der Zumutbar-keit wird bei diesem Personenkreis z.T. anders bewertet (vgl. Literaturtipps für ALG-II-Bezieher).

Arbeit geht vor

Hinter der Verhängung von Sperrzeiten steckt nicht böser Wille oder Behörden-willkür, sondern – ganz positiv betrachtet – das Primat der Vermittlung in Arbeit. Erst wenn alle zumutbaren Möglichkeiten der Wiedereingliederung in den Arbeits-markt ausgeschöpft worden sind, sollen die Unterstützungsleistungen uneinge-schränkt fließen. Wer dabei nicht kon-

struktiv mitwirkt, muss eben mit entspre-chenden Nachteilen rechnen. Völlig ein-sichtig ist dies, wenn zum Beispiel je-mand seine unbefristete Arbeitsstelle von sich aus ohne wichtigen Grund kündigt und anschließend Arbeitslosengeld be-antragt, um vielleicht eine Auszeit zu nehmen. Um solche vielleicht auch leichtfertigen Spontanausstiege aus zu-mutbarer Arbeit abzubremsen, muss der dann Arbeitslose mit einer Sperrzeit von

drei Monaten rechnen, in der er ohne Bezüge zurecht kommen muss. Kritisch dagegen ist es, wenn einem Arbeitslosen schon nach wenigen Monaten eine Tätig-keit zugewiesen wird, die deutlich unter seinem Qualifikationsniveau ist, dabei schlechter bezahlt wird und dazu noch weit entfernt liegt von seinem Lebensmit-telpunkt. Das alles kann nach den Richtli-nien und Bestimmungen der Arbeitsver-waltung zumutbar sein und bei Ableh-nung mit Sperrzeiten bestraft werden. Mit der modernen Philosophie eines kun-denorientierten Dienstleistungsunter-nehmens haben solche Verwaltungsakte jedoch nichts zu tun. Sie sind eher Aus-druck einer unflexiblen und repressiven Arbeitsmarktpolitik, die von den meisten Mitarbeitern der Agentur für Arbeit auch nicht praktiziert wird. Im realen Bewilli-gungsalltag gibt es aber trotzdem immer wieder Auseinandersetzungen über die Rechtmäßigkeit von Sperrzeitverhängun-gen, und das liegt eindeutig an den un-terschiedlichen Positionen der Beteilig-ten. Ein Arbeitsuchender wird die Frage der Zumutbarkeit tendenziell immer an-ders beantworten als das vorrangig an Vermittlung interessierte Amt. Für die mit Sperrzeiten belegten Betroffenen gibt es in solchen Fällen grundsätzlich zwei mög-liche Reaktionen. Man nimmt die Sperr-zeit hin und versucht irgendwie über die Runden zu kommen, oder man legt Wi-derspruch ein und bemüht sich die Sperr-zeit abzuwenden.

Eine Zumutung

Die Zumutbarkeit ist also der Schlüssel-begriff im Zusammenhang mit Leistungs-bezug, Sperrzeiten, Arbeitsaufnahme etc. Gleichzeitig schreit dieser Begriff förmlich nach Präzisierung im Einzelfall und be-schäftigt schon deshalb immer wieder Anwälte und Gerichte.

Nicht zumutbar und damit eher eine Zumutung sind alle Fälle von Verstößen gegen geltendes Recht. Eine Arbeit ist im-mer dann unzumutbar, wenn sie gegen Vorschriften des Arbeitsschutzes, gegen

Der Besuch einer Jobmesse ist nicht nur für einen selbst eine wichtige Orientierung, son-

dern auch eine „nennenswerte Aktivität“ bei der Arbeitssuche. Foto: Archiv

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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_18|2011VI

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fall vielleicht begründbar, aber keine fes-te Richtschnur.

In der Eingliederungsvereinbarung kann eine solche Zahl festgeschrieben werden. Das liegt im Ermessen des Ver-mittlers. Ob das im Einzelfall sinnvoll ist, sollte im Gespräch geklärt werden. Dabei ist es immer wichtig, das Amt davon zu überzeugen, dass man sich aktiv um Arbeit bemüht. Das können eben auch Anrufe bei möglichen Arbeitgebern sein oder andere nicht belegbare Aktivitäten.

Wer sich die Mühe macht, über solche Gespräche und andere Aktivitäten bei der Arbeitsplatzsuche kurze schriftliche Ver-merke (Datum, Uhrzeit, Gespräch mit .... wegen ..... Ergebnis .... Verbleib ..... etc.) anzufertigen, wird auch sein Gegenüber beim Amt überzeugen. Wer allerdings im-mer nur „beabsichtigt“, solche Aktivitäten zu entfalten („morgen fange ich an!“), wird vielleicht eine handfeste Anzahl an „Beweisen“ beibringen müssen.

Solche engen Vorgaben, die der „Kunde“ ja schließlich mit seiner Unter-schrift unter den Eingliederungsvertrag akzeptiert, sind später gegebenenfalls die Grundlage für eine Sanktion bzw. Sperrzeit, wenn nämlich die geforderten Mitwirkungsbeweise nicht beigebracht

werden. Aber solche – oft als Schikane empfundenen – Zielvorgaben führen nicht selten zu Aktionismus und absur-dem Rollenspiel. Das wissen erfahrene Arbeitsvermittler ebenso wie die Betrof-fenen. Deshalb sollte man es erst gar nicht so weit kommen lassen und die Eingliederungsgespräche nicht grund-sätzlich als lästige Pflicht und überflüssig abtun, sondern erst einmal sehen, was möglich ist.

Erst wenn jemand nicht den Eindruck

vermittelt, hinreichend Eigenaktivitäten zu entwickeln und diesem Gebot auch nach mehrfachen Aufforderungen nicht nachkommt, kann mit einer Sperrzeit ge-rechnet werden. Dies ist aber immer ein Verwaltungsakt, der mit einem Bescheid schriftlich zugeht und gegen den man Rechtsmittel, in der Regel Widerspruch einlegen kann. Und diese haben ziemlich häufig Aussicht auf Erfolg, besonders dann, wenn man hinreichend Bemühun-gen nachweisen kann.

Arbeit unter Niveau

Wenn jemand von der Arbeitsagentur schon nach kurzer Arbeitslosigkeit Stellen zugewiesen bekommt, für die er über-

geltendes Tarifrecht verstößt, men-schenunwürdig oder sittenwidrig ist. Wer solche Jobs nicht annimmt, dem kann keine Sperrzeit aufgebrummt werden. Der Verstoß gegen geltendes Recht muss aber im Bedarfsfall vom Betroffenen selbst bzw. von seinem Rechtsvertreter angezeigt und belegt werden.

Schwieriger wird es, wenn es keine eindeutigen Gesetze, Fakten oder Maß-stäbe gibt, nach denen beurteilt werden kann, ob eine Arbeitsaufnahme zumutbar ist. Hinzu kommt der subjektive Faktor. Wer zum Beispiel bisher seinen Arbeits-platz am Ort, womöglich sogar fußläufig, erreichen konnte, wird eine tägliche Fahrtzeit von insgesamt 60 Minuten als unzumutbar betrachten. Das sieht die Arbeitsverwaltung aber ganz anders, denn die hat in ihren Durchführungsbe-stimmungen deutlich großzügigere Maß-stäbe der Zumutbarkeit für die maximale Tagespendelzeit festgelegt. Aber da gibt es wenigstens Richtwerte, an denen man sich abarbeiten kann.

Aktivität ist gefragt

Deutlich komplizierter wird es bei der Bewertung zumutbarer Bewerbungsakti-vitäten. Wer Arbeitslosengeld erhalten will, muss dem Arbeitsmarkt zur Verfü-gung stehen und sich aktiv um neue Ar-beit kümmern. Aber was ist hinreichend in diesem Zusammenhang. Die Antwort ist ganz klar und gleichzeitig uneindeutig: Es kommt auf den Einzelfall an. Ganz besonders auf die tatsächlichen Chan-cen auf dem jeweils aktuellen Arbeits-markt, auf die persönlichen Vorausset-zungen des Suchenden und auf qualifi-kationsadäquate bzw. branchenübliche Suchstrategien. Ein studierter Chemiker muss nicht die schwarzen Bretter in Su-permärkten nach Jobs absuchen, und ein promovierter Politikwissenschaftler muss nicht die Job-Aushänge an Werks-toren durchforsten. Ebenfalls gibt es kei-ne feste Anzahl von Bewerbungen nach-zuweisen. Die Auflage, jeden Monat fünf Bewerbungen vorzulegen, ist im Einzel-

Wird oft als lästige Pflicht angesehen – das Warten bei der Arbeitsagentur. Wer sich aktiv

auf die Gespräche vorbereitet, kann aber meistens profitieren. Foto: © Arbeitsagentur

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VIIarbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_18|2011

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qualifiziert ist, so ist dies zwar nicht gängi-ge Praxis, aber grundsätzlich möglich. Ei-nen Berufsschutz, so wie er vor einigen Jahren bei ALG-I-Beziehern noch galt, gibt es nicht mehr. Es muss grundsätzlich jede zumutbare Arbeit angenommen werden. Im Gesetz liest sich das so: „Eine Beschäftigung ist nicht schon deshalb unzumutbar, weil sie befristet ist, vorü-bergehend eine getrennte Haushaltsfüh-rung erfordert oder nicht zum Kreis der Beschäftigungen gehört, für die der Ar-beitnehmer ausgebildet ist oder die er bisher ausgeübt hat.“(§ 121 Abs. 5 SGB III) Damit ist eine Herunterqualifizierung der Arbeitsuchenden grundsätzlich und jederzeit möglich. Aber auch in diesem Zusammenhang lohnt sich fast immer das Gespräch mit dem persönlichen An-sprechpartner in der Agentur, um ihn da-von zu überzeugen, dass es für alle Betei-ligten sinnvoller ist, zunächst im ange-strebten bzw. erlernten Beruf Stellen zu suchen bzw. zuzuweisen. Auch die Ar-beitsagentur ist bei übereilten Dequalifi-zierungen zurückhaltend. Sie will ihre Kunden grundsätzlich so gut wie möglich vermitteln, um nicht Gefahr zu laufen, dass der gestern Vermittelte schon mor-gen wieder vor der Tür steht.

Wer damit keinen Erfolg hat, sollte sich nicht scheuen, Widerspruch einzulegen und sich z. B. auf die Vermittlungsgrund-sätze nach § 35 Abs. 2 SGB III berufen, nach dem die vorschnelle Herabstufung nur sehr zurückhaltend vorgenommen werden darf. (vgl. hierzu Leitfaden für Arbeitslose von 2010 S. 143 ff.).

Gehalt unter Niveau

In den ersten drei Monaten nach Eintritt der Arbeitslosigkeit müssen auch Stellen angetreten werden, bei denen man bis zu 20 % weniger verdient. Anschließend geht es dann munter weiter abwärts. Ab dem vierten Monat sind Abschläge von bis zu 30 % zu verkraften und ab dem siebten Monat heißt die Faustregel: Das Nettoeinkommen muss dem Arbeitslo-sengeld entsprechen, und schon muss

ein Job von der Einkommensseite be-trachtet akzeptiert werden.

Das mögen manche Betroffene als ungerecht oder zumindest als höchst unattraktiv betrachten, besonders ange-sichts der Tatsache, dass sie womöglich jahre- oder jahrzehntelang Zwangsbei-träge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben. Wie bei anderen Versi-cherungsverträgen ist man schnell ge-neigt, auch einmal davon profitieren zu wollen und solche Arbeitsplatzangebote als nicht zumutbar abzulehnen. Solche Härte ist aber nicht die Regel und kommt wohl eher dann zum Zuge, wenn die Mitwirkungsbemühungen generell als unterentwickelt eingeschätzt werden. Nicht zumutbar sind nach gängiger Rechtssprechung übrigens 400 Euro-Jobs. Im Gegensatz zu ALG-II-Beziehern, die diese annehmen müssen, bleiben ALG-I-Bezieher von dieser Verpflichtung verschont.

Und es lohnt sich, das erzielbare Net-toentgelt einer zukünftigen Arbeitsstelle genau zu berechnen, um die Zumut-barkeit des Stellenantritts bewerten zu können. Dabei können nämlich noch Werbungskosten (z. B. Fahrtkosten) vom erzielbaren Nettoeinkommen abgezogen werden, da diese ja bei Arbeitsaufnahme tatsächlich anfallen würden.

Vereitlung von Arbeitsaufnahme

Es gibt Vorschläge zur Arbeitsaufnahme, die die Agentur für Arbeit entsprechend dem Qualifikationsprofil herausfiltert und dem Arbeitsuchenden umgehend anbie-tet. Eigentlich der Idealfall. Aber die Rea-lität sieht manchmal etwas weniger rosig aus. Der angebotene Job ist schlechter bezahlt, weit unter der Qualifikation, weit weg und bei einem Arbeitgeber, mit dem man nicht so gut kann. Angesichts der drohenden Sperrzeiten bei Ablehnung des Jobs, kommen manche auf die Idee, sich im Rahmen des Bewerbungsverfah-rens so zu verhalten, dass der Arbeitge-ber von sich aus lieber auf die Arbeitsauf-nahme verzichtet. Er will eben auch nie-

manden, der völlig uninteressiert ist, der nur kommt, weil er das muss, aber deut-lich macht, dass er diesen Job nicht will. Dieses Spiel wird von den Arbeitgebern schnell durchschaut und ggfs. sogar offen – natürlich unter vier Augen – angespro-chen. Von solchen Fällen wird gerne be-richtet, wahrscheinlich aber öfter als sie tatsächlich passieren. Die Arbeitsverwal-tung weiß um diese Tücke und kann ein solches Verhalten, sofern es erkannt wird, auch mit Sperrzeiten wegen „Vereitlung von Arbeitsaufnahme“ ahnden. Dazu werden nicht selten die Arbeitgeber zum Verhalten der Kandidaten in den Vorstel-lungsgesprächen befragt.

Damit es gar nicht erst so weit kommt, sollte man zunächst prüfen, ob es nicht ganz akzeptable „wichtige Gründe“ für die Ablehnung eines unzumutbaren Arbeitsplatzangebotes gibt. Das können frühere arbeitsrechtliche Auseinander-setzungen mit dem potenziellen Arbeit-geber sein, vielleicht sogar unzumutbare Arbeitsbedingungen oder auch familiäre Gründe. Solche begründeten Ablehnun-gen werden vom Amt selbst bei aller Be-rechtigung natürlich nicht ohne weiteres akzeptiert, sondern bedürfen der aus-führlichen Begründung und nicht selten des Widerspruchs nach ablehnendem Bescheid. Dann aber sind meistens bes-ser geschulte Sachbearbeiter mit dem Vorgang betraut, die nicht nach Schema entscheiden, sondern mit etwas mehr Hintergrund.

Fern der Heimat

Wer einen Job zugewiesen bekommt, der deutlich weiter entfernt ist als der bisheri-ge, muss dies unter Umständen in Kauf nehmen. Was zählt, ist mal wieder die Zumutbarkeit, die in diesem Fall recht eindeutig geregelt ist. Bis zu 2,5 Stunden Tagespendelzeit gelten bei einer Beschäf-tigung von mehr als sechs Stunden pro Tag als zumutbar. Unter sechs Stunden sind es immer noch zwei Stunden. Das bedeutet für Teilzeitkräfte eine zuneh-mend unannehmbare Härte. Wer z.B. nur

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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_18|2011VIII

rechtliches

LITERATURTIPPS

Arbeitslosenprojekt TuWas (Hrsg.):Leitfaden für Arbeitslose – Der Rechtsratgeber zum SGB III . Dieser Ratgeber richtet sich an Arbeitslosen-geld-I-Bezieher. Mit zahlreichen Erläu-terungen zum Thema Mitwirkung, Zu-mutbarkeit und Sperrzeiten inkl. Mus-terbriefen für Widersprüche etc. Fach-hochschulverlag Frankfurt/M. 2010, 700 S. 15,00 EuroArbeitslosenprojekt TuWas (Hrsg.): Leitfaden zum Arbeitslosengeld II – Der Rechtsratgeber zum SGB II. Die-ser Ratgeber richtet sich an Arbeitslo-sengeld-II-Bezieher. Ebenfalls gespickt mit Fallbeispielen, Gerichtsurteilen und Tipps „von unten“. Rolf Winkel, Hans Nakielski: 111 Tipps für Arbeitslose – Arbeitslosen-geld I – BUND Verlag, 13 Auflage 2011 mit zahlreichen Geld werten TippsRolf Winkel, Hans Nakielski: 111 Tipps zu Arbeitsklosengeld II und Sozialgeld, BUND Verlag, 4. Auflage 2011, und hier die Version für Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInfo also; Informationen zum Arbeits-losenrecht und Sozialhilferecht, mit aktuellen Rechtsentscheidungen, Kommentaren und Standpunkten; er-scheint als Zeitschrift sechs mal jähr-lich im Nomos Verlag, Jahresabo: 48,00 Euro (30,00 Euro für Studie-rende)

drei Stunden am Tag auswärts arbeitet, muss dafür max. weitere zwei Stunden An- und Abfahrt auf sich nehmen. Unter bestimmten Voraussetzungen können aber zur Förderung der Arbeitsaufnahme die Fahrtkosten (max. sechs Monate) durch die Arbeitsagentur übernommen werden.

Umzug

Gibt es im Tagespendelbereich nach-weislich keine Jobs, kann ein Umzug grundsätzlich als zumutbar gelten. Aller-dings nicht bei von vornherein befristeten Beschäftigungen.

Die Kosten dafür können (also kein Anspruch!) im Rahmen der Förderung aus dem Vermittlungsbudget erstattet werden (§ 121 Abs. 4 SGB III ). Allerdings gibt es bei familiärer Bindung durchaus „wichtige Gründe“, mit denen ein Um-zug als unzumutbar abgelehnt und eine Sperrzeit abgewendet werden kann. Der Schutz von Ehe und Familie wird dabei in der Regel als das höherwertigere Gut bei der rechtlichen Abwägung eingeschätzt.

Fördern und Fordern

Im Rahmen der Vermittlungs- und Bera-tungsgespräche, besonders bei länger andauernder Arbeitslosigkeit, werden in der Regel Eingliederungsvereinbarungen geschlossen. Diese sind eine Art Vertrag auf Gegenseitigkeit und kein einseitiges Diktat. Wenn dort nur Forderungen an den „Kunden“ formuliert werden, so soll-te man als solcher vor der Unterschrift nachfragen, wie man sich seitens der Agentur die individuelle Förderung vor-stelle und um entsprechende Vorschläge und Eintragungen bitten. Dann wird ger-ne die Nutzung der gesamten Infrastruk-tur der Arbeitsverwaltung inklusive der Jobvermittlung angeführt. Da diese aber offensichtlich bisher nicht erfolgreich war – sonst säße man ja nicht mehr zusam-men –, sollte man sich damit nicht zu-frieden geben. Interessanter wären zum Beispiel gemeinsame Aktivitäten zur Po-

tenzialanalyse und zum Profiling, evtl. mit Hinweisen auf hauseigene Seminare oder externe Fortbildungen. Noch besser kann es laufen, wenn man als Betroffe-ner etwas vorrecherchiert hat und kon-krete Vorschläge unterbreitet wie z.B. die Möglichkeiten, einen Bildungsgutschein für einen selbst ausgewählten Business-English-Kurs im Sinne der Qualifizierung zu beantragen. Wer dann einen passen-den förderfähigen Fortbildungskurs vor-stellen kann, sollte seinen Vermittler da-von überzeugen. Das kann mühsam werden, denn es ist und bleibt Ermes-senssache des Vermittlers, ob er sich darauf einlässt oder nicht. Wenn man dabei trotz guter Argumente gegen Be-ton redet, sollte man sich die Ablehnung des Bildungsgutscheins schriftlich geben lassen. Dann hat man die Möglichkeit, dagegen Widerspruch einzulegen und mit ausführlicher Begründung evtl. eine neue Entscheidungsgrundlage zu schaf-fen. Also kann sich auch hier Hartnäckig-keit auszahlen.

Training ohne Wert

Wer sich dagegen wenig kümmert um die eigene weitere Qualifizierung, der läuft Gefahr, in absurden Bewerbungs-trainings zusammen mit einem Quer-schnitt der Gesamtarbeitslosen geparkt zu werden. Nicht, dass man dort nichts lernen könnte, aber die Zusammenset-zung solcher Kurse ist teilweise so haar-sträubend heterogen, dass gemeinsamer Unterricht kaum möglich ist. Und das hat System, da solche Kandidaten damit offi-ziell aus der Statistik sind, und wenn auch nur für ein paar Wochen. Und wer sich weigert an solchen Veranstaltungen teilzunehmen oder diese abbricht, der spürt schnell die Strafe in Form von Sperrzeiten. Die Unzumutbarkeit einer solchen Maßnahme nach der Ermessen-sentscheidung des Arbeitsvermittlers anzumahnen ist meistens nur mit ho-hem Aufwand möglich, aber nicht aus-sichtslos. Das Hessische Landessozialge-richt befand z.B. 2003, dass eine Trai-

ningsmaßnahme immer dann als nicht zumutbar gelte, wenn mehr als die Hälf-te des Unterrichtsinhaltes den Teilneh-menden krass unterfordere. (in info also 2004 S. 160). Besser ist es also, im Vor-feld gemeinsam geeignetere Maßnah-men zu finden oder andere Strategien vorzuschlagen. Wer dagegen passiv bleibt, findet sich eher in solchen Maß-nahmen als jemand, der Pläne mitbringt, Ideen hat und aktiv ist.