6
Die Erfolge der Naturwissenschaften werden heute allgemein an- erkannt, zu deutlich zeigen sie sich im täglichen Leben, und auch in unseren Denkvorstellungen und Erwartungen haben sie tiefe Spuren hinterlassen. Aber es wird auch immer wieder von den Grenzen der Methode der Naturwissenschaften geredet, davon, dass es „für den Menschen mehr gibt, als was man messen und wä- gen“ kann, und es wird davor gewarnt, auch die heiligsten Gefüh- le durch rationale Erklärungsversuche „banalisieren“ zu wollen. Die moderne Hirnforschung steht heute im Zentrum dieser Dis- kussion, insbesondere ihre Arbeitshypothese, dass unser Bewusst- sein und damit unsere geistige Tätigkeit auf den Eigenschaften der Neuronen und ihrem Zusammenspiel in unserem Gehirn beruht, somit eine emergente Fähigkeit eines sehr komplexen Organs ist (s. Kapitel 10 „Emergenz“). Bewusstsein und die Fä- higkeit zu geistiger Tätigkeit ergeben sich nach dieser Vorstel- lung, wenn das Gehirn eines Lebewesens im Zuge der Evolution eine gewisse Komplexität erreicht. Die Paläoanthropologie zeigt verblüffend, auf wie viel verschiedenen Stufen geistige Fähigkei- ten in höher entwickelten Tieren schon vorhanden sind. Diese Hypothese der Hirnforscher über die natürliche Her- kunft des Geistes überrascht kaum einen Naturwissenschaftler, stößt aber auf heftigste Kritik bei manchen Philosophen und bei vielen eologen. Sie vermissen bei all diesen Bemühungen, den 31 Keine Angst vor neuen Deutungsversuchen J. Honerkamp, Was können wir wissen?, DOI 10.1007/978-3-8274-3052-6_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Was können wir wissen? || Keine Angst vor neuen Deutungsversuchen

  • Upload
    josef

  • View
    213

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Die Erfolge der Naturwissenschaften werden heute allgemein an-erkannt, zu deutlich zeigen sie sich im täglichen Leben, und auch in unseren Denkvorstellungen und Erwartungen haben sie tiefe Spuren hinterlassen. Aber es wird auch immer wieder von den Grenzen der Methode der Naturwissenschaften geredet, davon, dass es „für den Menschen mehr gibt, als was man messen und wä-gen“ kann, und es wird davor gewarnt, auch die heiligsten Gefüh-le durch rationale Erklärungsversuche „banalisieren“ zu wollen.

Die moderne Hirnforschung steht heute im Zentrum dieser Dis-kussion, insbesondere ihre Arbeitshypothese, dass unser Bewusst-sein und damit unsere geistige Tätigkeit auf den Eigenschaften der Neuronen und ihrem Zusammenspiel in unserem Gehirn beruht, somit eine emergente Fähigkeit eines sehr komplexen Organs ist (s. Kapitel 10 „Emergenz“). Bewusstsein und die Fä-higkeit zu geistiger Tätigkeit ergeben sich nach dieser Vorstel-lung, wenn das Gehirn eines Lebewesens im Zuge der Evolution eine gewisse Komplexität erreicht. Die Paläoanthropologie zeigt verblüff end, auf wie viel verschiedenen Stufen geistige Fähigkei-ten in höher entwickelten Tieren schon vorhanden sind.

Diese Hypothese der Hirnforscher über die natürliche Her-kunft des Geistes überrascht kaum einen Naturwissenschaftler, stößt aber auf heftigste Kritik bei manchen Philosophen und bei vielen Th eologen. Sie vermissen bei all diesen Bemühungen, den

31 Keine Angst vor neuen

Deutungsversuchen

J. Honerkamp, Was können wir wissen?, DOI 10.1007/978-3-8274-3052-6_31,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Menschen allein als Wesen der Natur zu betrachten und damit unser Erleben und Fühlen neurobiologisch verstehen zu wollen, die angemessene Achtung vor etwas, was nach ihrer Meinung unverzichtbar zum Menschen gehört: Die subjektive Seite der Erfahrung von Wirklichkeit, sei es im Gefühl der Freiheit oder eines freien Willens, sei es in Anerkennung von Werten oder in der Erkenntnis eines Sinns des Lebens in Form einer Religion . Man könne nie wissenschaftlich objektiv beschreiben, „wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein“. Alles auf Stoff wechselvorgän-ge im Gehirn zurückzuführen, würde somit das „Menschliche“ abschaff en. Eine Gesellschaft ohne Moral, Verantwortungsgefühl und Kooperation würde entstehen. Dies ist ein immer wieder-kehrender Vorwurf, heute und auch bei ähnlichen Diskussionen wie etwa beim Materialismus-Streit in der Mitte des 19. Jahr-hunderts (Bayertz, 2012).

Ich unterstelle keinem Hirnforscher, dass er sein eigenes Er-leben und Gefühl für unwichtig hält und sein Leben für eine Illusion. Und dass die Frage, wie die Erste-Person-Perspektive und diejenige einer „dritten Person“ zusammenhängen, höchst interessant ist, aber noch in keiner Weise geklärt, wird wohl auch von keinem bestritten. Auch kann man wohl nicht behaupten, dass all die Hirnforscher und die anderen Naturalisten schlech-tere Menschen sind, dass es z. B. in der Gemeinschaft solcher moralisch „drunter und drüber“ gehen würde.

Dass es mit der Autonomie in Bezug auf unsere Gefühle nicht so weit her ist, weiß jeder. Man „fällt in Liebe“, man spürt, ob „die Chemie stimmt“. Aber unsere Gefühle sind nicht nur „ein Spiel von jedem Hauch der Lüfte“, sondern sie können auch be-wusst von außen gesteuert werden. Man braucht ja nur ein Glas Wein zu trinken, und schon sieht die Welt ganz anders aus; es gibt Stimmungsaufheller und Medikamente gegen Depressio-nen. Auch diese künstlich erzeugten Gefühle nehmen wir an und zählen sie zu unserem Leben. Kennen wir nicht aus der Litera-tur und Oper genügend Beispiele, in der ein „Fläschchen“ mit

252 Was können wir wissen?

einer Droge „sehnende Liebe“ oder „Vergessen“ erzeugt und die Handlung entscheidend voranbringt. Kein Mensch stört sich an der biochemischen Erzeugung einer Liebe im „Tristan“; man ge-winnt im 2. Akt wahrlich nicht den Eindruck, Richard Wagner wollte den Einfl uss von Chemikalien auf Hirnprozesse darstellen.

Ein Blick in die Geschichte

Andererseits, die Warnung vor Früchten vom Baum der Er-kenntnis ist ja schon so alt wie die Geschichte der Menschen und immer prophezeit man, dass mit dem Neuen ein Verlust einher-gehen wird, sei es an Mitmenschlichkeit, an rechtem Glauben, an einem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft oder gar an Menschlichkeit überhaupt. Man braucht dazu nicht nur an den Sündenfall im Paradies oder andere Mythen erinnern. Auch in der Renaissance, als Descartes begann, die Lehren des Aristote-les in Zweifel zu ziehen und als Galilei zu einer eigenen Meinung über die Auslegung bestimmter Stellen der Heiligen Schrift kam, gab es Warnungen und Verbote derer, die die Deutungshoheit be-anspruchten. Um in einem solchen Zusammenhang nicht immer Stimmen aus der katholischen Kirche zu zitieren, folgt mal ein Zitat von einem reformierten Th eologen, Gijsbert Voetius, einem Gegenspieler von Descartes in Utrecht (zitiert nach F. Cohen, Die zweite Erschaff ung der Welt , 2010): „Wenn einmal das Wesen und das Dasein ihrer substanziellen Formen beraubt sind, dann ist der menschliche Geist in seiner Zügellosigkeit […] auf eine abschüssige Bahn geraten, und nichts hält ihn dann noch davon ab zu behaupten, dass es keine Seele gibt, […], keine Fleischwer-dung Christi, keine Erbsünde, keine Wunder, […], kein Wirken von Dämonen im Körper des Menschen und in seinem Geist.”

Aus der jüngeren Vergangenheit ist der Kampf der römischen Kirche gegen den „Modernismus “ im frühen 20. Jahrhundert zu nennen, der dazu führte, dass ab 1910 alle Kleriker einen so ge-

31 Keine Angst vor neuen Deutungsversuchen 253

nannten Antimodernisteneid schwören mussten. In diesem war u. a. zu bekennen, dass Gott mit Sicherheit erkannt und bewie-sen werden kann, oder auch, dass Wunder und Prophezeiungen äußere Beweismittel sind. Die Darwinsche Th eorie wurde in die-sem Modernismus-Streit vehement bekämpft. Auch hier war die Sorge um die Relativierung kirchlicher Glaubensinhalte groß, und immer ist es die moralische Keule, die da geschwungen wird, immer wird vor einem Zusammenbruch der Ordnung und des mitmenschlichen Zusammenlebens gewarnt.

Natürlich ist das Erkennen von neuen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten eine Sache, eine andere deren Interpretation und Konsequenz für das Weltbild . Dabei kann es auch Irrtümer und Übertreibungen geben: So glaubte man nach den großen Er-folgen der Newtonschen Mechanik , die ganze Welt bestünde aus Körpern und deren Wirkung aufeinander durch Kräfte. Diese Einstellung zur Wissenschaft über die materielle Welt wurde spä-ter als Mechanisierung des Weltbildes (Dijksterhuis, 1956) oder als mechanizistische Weltanschauung bezeichnet. Sie erwies sich bald als falsch, als man die elektrischen und magnetischen Eff ek-te genauer untersuchte und verstehen lernte. So ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass die heutigen Interpretationen der Er-kenntnisse der Hirnforschung in 20 oder 50 Jahren als nicht an-gemessen – in welchem Sinne auch immer – angesehen werden. Das Wesentliche und Gleichbleibende an der Naturwissenschaft ist ja ihre Methode, Einordnungen der Ergebnisse in größere Zu-sammenhänge können sich wandeln, entwickeln sich stets weiter.

Folgen der Erkenntnis

Aber muss man dabei um das „Menschliche“ fürchten? Schauen wir uns doch einmal an, was jeweils passiert ist nach den War-nungen, man braucht da gar nicht ins Detail zu gehen. Das In-teressante ist: Viele befürchtete Entwicklungen sind in der Tat

254 Was können wir wissen?

eingetreten, aber – das war gar nicht schlimm, im Gegenteil, man ist dabei klüger geworden:

In der Ansprache von Johannes Paul II. an die päpstliche Aka-demie der Wissenschaften am 31.10.1992, in der erklärt wird, wie die Kirche das „schmerzliche Missverständnis im Fall Galilei“ überwunden habe, lautet das so: „Die Mehrheit der Th eologen vermochte nicht formell zwischen der Heiligen Schrift und ihrer Deutung zu unterscheiden, und das ließ sie eine Frage der wis-senschaftlichen Forschung unberechtigterweise auf die Ebene der Glaubenslehre übertragen“ und etwas weiter wird auf eine Enzy-klika von Papst Leo XIII. hingewiesen, in der von zwei Wahrhei-ten geredet wird, die sich unmöglich widersprechen können, so dass ein Widerspruch nur auf einem Irrtum in der Deutung der heiligen Worte beruhen könne. Papst Johannes XXIII. hat 1962 im Vatikanischen Konzil das Aggiornamento, die Anpassung an die moderne Welt gefordert. Der Modernismus -Streit war somit längst entschieden, als 1967 endlich der Antimodernismus-Eid abgeschaff t wurde. Die historisch-kritische Exegese in Bibelausle-gung und Dogmengeschichte ist heute allgemein anerkannt und die Evolutionstheorie ist seit 1996 auch für die katholische Kir-che mehr als nur eine Hypothese unter anderen.

Zwar ist ein einheitliches, alles beherrschendes Weltbild nicht mehr möglich, jeder legt sich seine Religion selbst irgendwie zu-recht oder er legt sie sogar beiseite, aber dem Zusammenleben tut es keinen Abbruch.

Keine Angst

Natürlich haben sich auch unsere moralischen Einstellungen ge-ändert. Wenn man sich heute daran erinnert, was vor 50 Jahren noch Sitte und Anstand erforderten, dann sieht man, wie schnell sich die Ansichten wandeln. Aber, ist dadurch „das Menschliche“ auf der Strecke geblieben?

31 Keine Angst vor neuen Deutungsversuchen 255

Unser säkularer demokratischer Rechtstaat funktioniert doch recht gut, auf jeden Fall besser als all die anderen Staatsformen, die man aus unserer Geschichte oder heute aus anderen Ländern kennt. Und er ist menschlicher, der Einzelne kann sich besser entfalten, hat mehr Möglichkeiten und mehr Rechte. Von einer Idealvorstellung ist die Wirklichkeit immer noch weit entfernt, aber was kann man erwarten? Maßstab für eine Deutung der Erkenntnisse, wenn sie das Menschenbild berühren, kann ja nur sein, wie sich diese Deutung sich für das Zusammenleben auswirkt. Darüber muss rational unter Berücksichtigung al-len verfügbaren Wissens diskutiert und nach den Regeln eines Rechtsstaats entschieden werden. Unsere demokratische Gesell-schaft hat schon oft gezeigt, dass sie sich die Entscheidung in solchen Fragen nicht leicht macht.

Liebe, Treue, Freundschaft und Verlässlichkeit, Hilfsbereit-schaft und soziales Engagement wird es immer geben, einfach, weil das Leben lehrt, dass es gut tut und langfristig zu einem glücklicheren Leben führt.

256 Was können wir wissen?