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Kürzlich steckte mir ein guter Bekannter den Artikel „Physik aus der Gottesperspektive“ aus der Zeit vom 30. Dezember 2010 zu (http://www.zeit.de/2011/01/P-Hawking). Im Untertitel dieses Auf- satzes wurde schon deutlich, was der Autor Eduard Kaeser mit dem Artikel bezweckte, nämlich Klage darüber zu führen, dass Stephen Hawking mit seinen Büchern – insbesondere mit seinem letzten Buch Der große Entwurf (Hawking, 2010) Wissenschaft als „Religionsersatz“ verkaufe. Ich habe den Artikel mit gemischten Gefühlen gelesen: Einerseits war vieles, was sich auf die Physik, ihre Geschichte, ihre Begriffe und Erfolge bezog, treffend und sachgerecht dargestellt, andererseits konnte ich mich nur wun- dern über den Furor, den Hawking mit seinem „Entwurf“ selbst bei einem solchen, offensichtlich der Physik nahe Stehenden, an- gefacht hatte. Was hat Herr Hawking getan? Er hat in guter Tradition und mit der ihm eigenen Könnerschaft ein kosmologisches Modell entwickelt, das mit Hilfe aktuellster Modelle für fundamentale Wechselwirkungen erklären soll, wie es zu jenem Zustand unseres Universums gekommen ist, den wir – etwas missverständlich und auch häufig missverstanden – den Urknall nennen. Er nennt die- ses Modell einen „Entwurf“, sogar einen „großen Entwurf“ – nun ja. Es gibt auch andere solche Versuche, zum Beispiel von denen, die an der Schleifengravitation arbeiten; in dem Buch von Mar- tin Bojowald (Bojowald, 2009) sind z. B. solche Modelle und 42 Physik aus der Gottesperspektive? J. Honerkamp, Was können wir wissen?, DOI 10.1007/978-3-8274-3052-6_42, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Was können wir wissen? || Physik aus der Gottesperspektive?

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Page 1: Was können wir wissen? || Physik aus der Gottesperspektive?

Kürzlich steckte mir ein guter Bekannter den Artikel „Physik aus der Gottesperspektive“ aus der Zeit vom 30. Dezember 2010 zu (http://www.zeit.de/2011/01/P-Hawking). Im Untertitel dieses Auf-satzes wurde schon deutlich, was der Autor Eduard Kaeser mit dem Artikel bezweckte, nämlich Klage darüber zu führen, dass Stephen Hawking mit seinen Büchern – insbesondere mit seinem letzten Buch Der große Entwurf (Hawking, 2010) Wissenschaft als „Religionsersatz“ verkaufe. Ich habe den Artikel mit gemischten Gefühlen gelesen: Einerseits war vieles, was sich auf die Physik, ihre Geschichte, ihre Begriffe und Erfolge bezog, treffend und sachgerecht dargestellt, andererseits konnte ich mich nur wun-dern über den Furor, den Hawking mit seinem „Entwurf“ selbst bei einem solchen, offensichtlich der Physik nahe Stehenden, an-gefacht hatte.

Was hat Herr Hawking getan? Er hat in guter Tradition und mit der ihm eigenen Könnerschaft ein kosmologisches Modell entwickelt, das mit Hilfe aktuellster Modelle für fundamentale Wechselwirkungen erklären soll, wie es zu jenem Zustand unseres Universums gekommen ist, den wir – etwas missverständlich und auch häufi g missverstanden – den Urknall nennen. Er nennt die-ses Modell einen „Entwurf“, sogar einen „großen Entwurf“ – nun ja. Es gibt auch andere solche Versuche, zum Beispiel von denen, die an der Schleifengravitation arbeiten; in dem Buch von Mar-tin Bojowald (Bojowald, 2009) sind z. B. solche Modelle und

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J. Honerkamp, Was können wir wissen?, DOI 10.1007/978-3-8274-3052-6_42,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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entsprechende Versuche beschrieben. Alle diese versuchen, eine Erklärung für die Existenz unseres Universums zu geben, und es ist eigentlich selbstverständlich, dass ein Begriff wie „Gott “ da-bei nicht vorkommen kann. Wäre es so, hätte man wirklich die Grenzen der Naturwissenschaft übertreten und ihre spezifi schen Methoden ignoriert. Dann könnte man in einer Art „Rollback“ auch in einfacheren Naturphänomenen „Gott“ als Ursache oder „Movens“ einführen und wäre wieder im Mittelalter.

Naturwissenschaft und die „letzten Dinge“

Hawking unterscheidet sich nun von den anderen Wissenschaft-lern dadurch, dass er dieses direkt ausspricht. Er hätte sich besser an seinen großen Vorgänger Newton gehalten, der vieles nicht in der Öff entlichkeit aussprach, um nicht der Häresie verdächtigt zu werden. Nun ist das mit dem Häresieverdacht heute nicht mehr so schlimm, man wird nicht mehr verbrannt, hat nicht mal mehr fi nanzielle oder berufl iche Nachteile zu fürchten – dafür gibt es große mediale Aufmerksamkeit und zuhauf Anfeindungen aus manchen Kreisen der Religiösen. Immer wird dann behauptet, eine Grenze würde überschritten oder verwischt, aus dem Vortrag von Hypothesen wird ein Versuch eines Beweises von Dingen ge-macht, die mit der Wissenschaft grundsätzlich nicht zu beweisen sind, das „Erklärungskonto der Disziplin wird überschritten“. Mag ja sein, dass Hawking nicht an einen Gott irgendeiner Reli-gion glaubt, in seinem Entwurf hat er ihn lediglich nicht nötig – und das sagt er.

Ich fürchte, die Verwischung passiert hier an einer ganz ande-ren Stelle. Es wird die Frage nach dem „Wie“ mit der Frage nach dem „Warum“ verwechselt und nicht wirklich Ernst gemacht mit der Erkenntnis der modernen Th eologen, dass man die Bi-bel nicht wortgetreu verstehen soll, dass alle ihre Aussagen aus

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dem Wissen und den Vorstellungen der damaligen Zeit zu ver-stehen sind. Die Bedeutung dieser historisch-kritischen Methode wird jedem vorgehalten, der sich über die Schöpfungsgeschichte und manche moralischen Vorstellungen wie die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Bibel mokiert. Hinter den Zufällen des Lebens sieht mancher, der sich als moderner aufgeklärter Christ versteht, kein Wirken einer äußeren Macht mehr, in der Justiz wird so etwas schon viel länger nicht mehr akzeptiert, die Ur-knalltheorie hat man auch schon irgendwie verdaut, aber – ganz am Anfang – da muss es doch einen ersten Beweger geben. Die Idee von einem Schöpfer haben wir so verinnerlicht, dass sich alles dagegen sträubt, ja, dass wir genervt sind – wie der Autor zugibt – von solchen Vorstellungen à la Hawking.

Da haben es die Buddhisten leichter: Sie wachsen damit auf, dass es eine Art Urwelt gibt, die schon immer da war und immer da sein wird. Unsere empirische Welt ist danach die der „relativen Wahrheit bzw. Realität“. Im Entwurf von Hawking gibt es auch so etwas wie eine Urwelt, die er das frühe Universum nennt und die zeitlos ist. Unser empirisch erfahrbares Universum ist danach durch eine Quantenfl uktuation entstanden. Ich habe dieses Mo-dell nicht genau studiert und könnte diese Ansicht auch nicht überzeugend vertreten, aber interessant fi nde ich sie allemal und sehe nicht den geringsten Grund, dagegen zu wettern und Haw-king unlautere Absichten zu unterstellen. Und dass ich nun auch nicht den Buddhismus gegen das Christentum ausspielen will, kann man an meinem Beitrag „Realität und Nichtseparabilität in Quantenmechanik und Buddhismus“ erkennen (Kapitel  5 ).

Die „letzte Theorie“ versus Komplexität der Welt

Der Autor des Artikels kann sich nur helfen, indem er das Projekt „letzte Th eorie“ als nicht wissenschaftlich, als verkappte religiöse

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Idee, als fundamentalistisch zurückweist, und er fi ndet auch einen Vertreter der Physik, der – allerdings aus anderen und durchaus vernünftigen Gründen – an der Möglichkeit einer „Th eorie für Alles“ zweifelt. Dabei ist solch eine vereinheitlichte Th eorie für alle Wechselwirkungen noch einmal zu unterscheiden von einem kosmologischen Modell , das die Entstehung der Zeit zu erklären versucht. Der Autor behauptet, viele Physiker und Philosophen sähen die Zeit angebrochen, das Projekt „letzte Th eorie“ „abzu-blasen“, die Welt sei zu komplex, dass es nicht genüge, zu wissen, wie die Welt „im Prinzip“ funktioniere, sondern dass man mit diesen Prinzipien auch erklären können müsse, „wie sie im Be-sonderen und Konkreten funktioniere“. Dieser Schlenker zum Th ema „Komplexität der Welt“ zeigt schließlich ganz deutlich, wie Emotionen den klaren Blick verstellen können. Kein Phy-siker geht davon aus, dass man komplexen Systemen mit ver-einheitlichten Th eorien und ihren Prinzipien beikommen kann. Und wie sollte man sich dieses „Abblasen“ denn auch vorstellen? Als Denkverzicht oder gar Denkverbot, nach dem Motto: Bis zum Urknall, aber nicht weiter! Selbst wenn eine Überprüfung durch Beobachtungen noch lange auf sich warten lässt oder gar vorerst gar keine Hoff nung darauf besteht, liegen Fragen, wie die Existenz des Universum s auf der Basis des zeitgenössischen Wis-sens über die Natur erklärt werden kann, in der Natur des Men-schen. Die Antworten werden immer interessant und aller Ehren wert sein, auch wenn sie nicht mit dem sonst üblichen Grad der Verlässlichkeit ausgezeichnet sind. Dies ist kein Versuch, gegen-über der Welt eine „Gottesperspektive“ einzunehmen.

Gerade ein Physiker weiß, dass er die Welt nur von innen her-aus erklären kann und dabei nur mit einem Erkenntnisvermögen ausgestattet ist, das sich durch Evolution entwickelt hat. In sol-chen Entwürfen wird nur ausgelotet, wozu eine bisher höchst er-folgreiche Methode im Verein mit verlässlichem Wissen über die Natur führt, wenn man sie auf alte Th emen der Menschheit nach und nach ausdehnt. Diese Fragen werden also im Lichte zeit-

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genössischen Hintergrundwissens behandelt, eben so, wie unsere Vorfahren das auch taten. Warum sollen wir diese Th emen heute mit den Vorstellungen von gestern diskutieren? Und wenn man sich über die Festigkeit ärgert, mit der Hawking seinen Entwurf verkündet? Gab und gibt es nicht viele, die noch entschiedener auftreten und viel weniger Grund dazu haben.

Wenn schließlich die vom Autor eingefl ochtene Erwähnung des Phänomens der Emergenz die Bedeutung der Komplexität unterstreichen soll, rennt er off ene Türen ein. Dieser Begriff ist in der Physik schon länger bekannt als der Autor glaubt (s. a. die Beiträge „Emergenz“ und „Emergente Phänomene“). Für die Frage nach dem Sinn von „Th eorien für alles“ ist das aber völlig irrelevant.

Man gewinnt den Eindruck, dass hier Motive im Hintergrund sind, die nicht ausgesprochen werden. Ich würde gerne wissen, wie der „große Entwurf“ in den Kreisen derer, die glauben, die Religion verteidigen zu müssen, aufgenommen worden wäre, wenn Hawking als gläubiger Christ gelten würde.

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