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WAS MACHT DER BLOSS DA OBEN? Der neue Lockruf der Wildnis und was er über unsere Zeit aussagt. Von  Carole Koch Bilder  Bruno Augsburger Linke Seite: Mann im Adlerhorst! Das Bild wurde in Yukon, Kanada, gemacht. Diese Seite: Zum niedergegarten Reh Kastanien aus dem Feuer.

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WAS M ACHT DER BLOSS DA OBEN?

Der neue Lockruf der Wildnis und was er über unsere Zeit aussagt.

Von  Carole KochBilder  Bruno Augsburger

Linke Seite: Mann im Adlerhorst! Das Bild wurde in Yukon, Kanada, gemacht. Diese Seite: Zum niedergegarten Reh Kastanien aus dem Feuer.

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Wintercamping in Yukon, Kanada.

Ein Grizzlybär in den Nordwest-Territorien Kanadas.

Die Jagd ist eine blutige Angelegenheit.

Der Salmon-Gletscher bei Hyder, Alaska.

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Diese Seite: Es war einmal ein Reh, es lebte im Kanton Freiburg.Rechts: Dusche für echte Kerle – am Round Lake, Yukon, Kanada.

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Die Inselgruppe Haida Gwaii liegt vor der Pazifikküste Kanadas. Sie besteht aus rund 200 Inselchen, der Süden ist quasi unberührt – die beste Gegend, um zwei Wochen lang per Kajak

unterwegs zu sein und keinen Menschen zu sehen, dafür aber Wale und Bären.

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Macfarlane denkt nach. Er kennt diesen Drang, beschreibt ihn als «Ziehen» im Bauch, das gefangen nehmen und hin-auszwingen kann, in Höhen und Weiten. Lange bevor er selbst aufgebrochen ist, hat er sich in diese Welten gelesen. Als Bub war er mit Erstbesteigern und Entdeckern unterwegs, Mallo-ry am Everest, Scott am Südpol. Er zog Schlitten durch den Po-larschnee, stand auf hohen Gipfeln und kam dabei mindes-tens zehnmal ums Leben.

«Je komfortabler der Alltag, desto mehr Mühen betreiben wir, ihn unkomfortabler zu machen», sagt er. Im durchgetak-teten Alltag kann sich Leere einstellen. Lust am Abenteuer ist immer auch eine Lust an Situationen, die sich jeglicher Kon-trolle entziehen. Aus dieser «Leere» sei Mitte des 19. Jahrhun-derts der Alpinismus entstanden. In einer privilegierten Klas-se englischer Adliger und Akademiker, die Berge zu besteigen als neue Form des Glücksspiels entdeckten.

Landschaft formt GedankenDas Zeitalter der letzten imperialen Abenteuer ist jedoch schon lange vorbei. Natur als unbeeinflusstes System gibt es auch nicht mehr, «nicht einmal in der entlegenen Arktis, wo das Eis durch die menschengemachte Erwärmung der Erde schmilzt». Darum will Macfarlane nicht länger von Natur sprechen, son-dern von Landschaft und der weiss schimmernden Rinde der Äste oder den Blütenständen, die wie kleine Lampions von Za-ckenblättern hängen – Kleinstigkeiten, die auch zu diesem Er-lebnis beitragen, das alle haben, wenn sie spazieren, joggen, walken, wandern, biken, klettern oder der unabenteuerlichs-ten und scheinbar unnützesten aller Tätigkeiten nachgehen wie Macfarlane jetzt: unter diesem Baum sitzen.

«Viele meinen, Landschaft biete nur Anmut und Wunder. Natürlich tut sie das. Ihre Schönheit kann trösten und Hoff-nung geben. Landschaft ist jedoch mehr Medium als hübsche Szenerie. Sie formt Stimmungen, Fantasien und Gedanken, sie kann relativieren, beruhigen oder befreien. Wir denken mit ihr und lernen von ihr. Jetzt spüre ich den Wind im Gesicht oder rieche den Regen. Das sind simple, aber kraftvolle Erfah-

farlane könnte ihn blind gehen. 200-mal pro Jahr kommt er an diesen Gewächsen vorbei, denen er Spitznamen gibt, als wären sie seine Freunde: die enorme «Queen-Buche» oder die leuchtende «Flammenweide».

DER Baum jedoch hat keinen Spitznamen, es ist Macfar-lanes Lieblingsbaum. Seine Äste bohren sich wie Korkenzie-her in die Erde. Es ist eine Morgenländische Platane. Etwa 25 Meter hoch, ebenso breit. Diese Zahlen sagen natürlich nichts da rüber aus, was der Baum sonst noch sein könnte, mit etwas literarischer Fantasie: eine Art Urviech aus der Tiefe. Es ist die-se Art von Wildnis, über die Macfarlane in «Karte der Wild-nis» schreibt, sie strahle ebenso in die Zukunft hinaus, wie sie aus der Vergangenheit nachhalle. «Das Efeu wird wie eine Krake unsere Häuser und Terrassen überkommen und zerle-gen, wie einst die römischen Villen. Der Sand wird in unsere Geschäftszentren wehen ... Unsere Strassen werden im Land versinken.»

«Well», sagt Macfarlane jetzt und holt tief Luft: «Vielleicht ist diese Platane der Mount Everest unter den Bäumen.»

Vielleicht. Mit Sicherheit würde der Baum in diese Maga-zine passen, die eineinhalb Bahn- und Tubestunden südlich in den Szeneläden von London Shoreditch liegen. Sie heissen «Oak» oder «The Plant», und auf ihren matt bedruckten Sei-ten werden wattierte Welten präsentiert. Es ist Eskapismus pur, er soll einem helfen, die Bilder der im Mittelmeer Ertrun-kenen aus dem Kopf zu bringen oder den Schrecken, den die wild gewordenen Irren des Islamischen Staates verbreiten.

Macfarlanes Platane würde sich auch in «The Great Wide Open» sehr gut machen, dem Fotobuch von Jeffrey Bowman. Der Grafiker ist ein geschicktes Sprachrohr des Outdoorfim-mels.

Auf seiner Website inszeniert er sich bald als Trapper im Schnee, bald als Blockhütten-Eremit. Dabei verbringt Bow-man viel Zeit in Städten wie Berlin, wo der Gestalten Verlag seine Bücher verlegt.

Sogar Macfarlane findet sie ein bisschen «crazy», «diese Wurzeln, die Landschaft in unsere Kultur schlägt». Sie sind auch an ihm nicht vorbeigegangen. Auf der Website «Caught by the River» ersetzen Musikproduzenten Gitarrensound durch «nature writing». Punksängerin Patti Smith improvisiert an Konzerten manchmal zu «Nach der Natur» von W. G. Sebald. Die tiefste Furche zwischen Macfarlanes Brauen gräbt sich je-doch bei einem Satz, auf den er mal in der «Times» gestossen ist: «Natur ist der neue Rock ’n’ Roll.»

Wenn Rock ’n’ Roll bedeute: «Hipster meets Schäfer meets Rockmusiker meets Schriftsteller» , dann sei auch er Teil da-von. Obwohl: Er trägt viel zu hohe Jeans und erzählt mit mehr Stolz in der Stimme von den Komplimenten eines Biologen als von seiner Zusammenarbeit mit Stanley Donwood, dem Haus-Künstler der Kultband Radiohead. Am liebsten führt er sowie-so hinein in diesen Wald von Baum, diesen «Petersdom aus Blättern». Im Sommer, sagt er, ist es hier wie in einem Dschun-gel – so glühend wie kein anderes Grün, «und der Rest der Welt verschwindet».

Aber was ist das genau, dieses Gefühl, für das es im Deut-schen dieses schöne Kompositum «Naturerlebnis» gibt?

Plötzlich ist da diese grosse Sehnsucht nach der Natur. Es wird gewandert und gegärtnert wie kaum je zuvor; es spriessen die Bärte und funkeln die Lagerfeuer; es wird geangelt und das Überleben in der Wildnis trainiert, ganz so, als habe der mo-derne Mensch in den Spiegel geschaut und gemerkt, dass er sich vielleicht zu sehr entfremdet hat von dem grossen Ding da unter seinen Füssen namens Mutter Erde. Erneuerung sucht er jetzt offenbar in der Natur.

Und das geniale System namens Kapitalismus bedient die-se grosse Sehnsucht mit den passenden Produkten. Die Out-doorläden sind die Kuriositätenkabinette der Jetztzeit, vom Rucksack bis zur Insektenlupe, von Feuerstein bis zum Harz-deo – egal welches Bedürfnis unter freiem Himmel entsteht, zu kaufen gibt es alles.

Diese Sehnsucht nach der Natur braucht wenige Worte, aber viele Bilder. Netzseiten wie maptia.com zeigen Fotoge-schichten von den Enden dieser Welt mit Ortsnamen, die wie Versprechen klingen: Franz-Josef-Land, Vanuatu. Einer reitet drei Jahre lang durch die mongolische Steppe. Ein anderer be-sucht die Ureinwohner der indonesischen Insel Siberut. Ein Dritter verbringt einen Winter in einer Blockhütte am Baikal-see. Selbst User-Bilder der aktuellen iPhone-Kampagne füt-tern dieses Gefühl. Da blickt etwa diese Frau über den Rocky Mountain National Park wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Man kann sich vorstellen, wie sie Kaffee aus einer Emailtasse trinkt, während sie in Büchern blättert, die «Hide and Seek» heissen oder «The New Nomads» und von Zeiten «on the go» erzählen, in Zelten oder Campervans, wo das Leben leiser ist und vor allem einfach.

Es sind diese Freizeitabenteurer, die das deutsche Out-doormagazin «Walden» erreichen will. Seinen Namen hat es vom amerikanischen Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau, der ein Buch über das einfache Leben an ei-nem Waldsee schrieb. Der Aussteiger Christopher McCand-less inspirierte mit seinem Verschwinden in Alaska ein Buch und einen Film: «Into The Wild» – In die Wildnis. Fast scheint es, als ob man die Natur erst wahrnehme, seit sie in Magazinen und Filmen abgebildet wird.

Wenn das einer verstehen kann, dann der Brite Robert Macfar-lane. Er tat schon immer, was heute viele wollen: hinausgehen. Der Schriftsteller hat Siebentausender bestiegen und ist Hun-derte von Tagen nur gegangen. Bald will er in eine Höhle im Südosten Frankreichs steigen, 1122 Meter tief.

Heute geht Macfarlane nur dem übellaunigen Wind ent-gegen und, immerhin, einer «wilden Präsenz» auf dem Cam-pus des Emmanuel College in Cambridge. In dieser Stadt mit ihren Universitäten und Parks wohnt und lehrt der Literatur-wissenschaftler seit zwölf Jahren. Hier steht auch sein Baum, DER Baum, den er schon Tausende Male besucht hat.

«Mein Kumpel, der Baum»Macfarlane hat einige Bücher darüber geschrieben, was Land-schaft ist und was sie mit Menschen macht. «The Wild Pla-ces» ist nun unter dem Titel «Karte der Wildnis» auf Deutsch erschienen, und das neuste, «Landmarks», stand auf dem ers-ten Platz der Bestsellerliste der «Sunday Times». Abgelöst wurde es danach von einer weiteren Fernab-Erzählung, «The Shep herd’s Life», aus dem Alltag eines Schäfers. Noch länger zu reden gab in diesem Frühjahr das Buch «H is for Hawk». Darin beschreibt die Autorin Helen Macdonald, wie sie die Trauer über den Tod ihres Vaters mithilfe eines Wanderfalken verarbeitet. «Nature writing» schrieb der «Guardian», sei das neue literarische Gold.

Macfarlane sieht zivilisierter aus als auf dem Foto der College-Website. Der Dreitagebart ist weg und das Haar länger als damals, als er «Gipfel konsumierte und sie ihn», wie er schrieb. Er hat unter Wurzelstöcken geschlafen und in Schnee-wechten. Er kennt die Taubheit abgefrorener Fingerkuppen. Er weiss, dass Nachthimmel eine Tiefe haben können, in die man hineinzustürzen glaubt. Er weiss auch, dass Wildnis kein dauerhaftes Merkmal von Grösse oder Weite ist, sondern ein Gefühl, das sich einstellen kann, im Dunkeln zum Beispiel.

Jetzt geht Macfarlane an dem akkurat getrimmten Rasen entlang, vorbei an gebürsteten Büschen und einem künstlich angelegten Ententeich. «Wir werden ihn einfach wirken las-sen», sagt er, als sich der Kiesweg nach links schlängelt. Mac-

Die Outdoorläden sind die Kuriositätenkabinette der Jetztzeit, vom Rucksack bis zur Insektenlupe, vom Feuerstein bis zum Harzdeo – es gibt alles zu kaufen.

«Es ist doch keine Überraschung, dass man in schwierigen Zeiten das einfache Leben in der Natur sucht, oder?» Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Robert Macfarlane.

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Also alles ein Wohlstandsphänomen? Macfarlane weigert sich, ein negatives Urteil zu fällen. Er steht auf und kramt aus einer Holzkiste einen schwarzen Stein, tennisballgross und angenehm kühl in der Hand. Er hat ihn auf einer Insel an der nordwestlichen Küste Englands aufgelesen. Ynys Enlli lautet ihr walisischer Name, «Insel der Strömungen». Sie liegt im wilden Wasser. Hinüberzurudern ist sehr gefährlich. Trotz-dem sind die «Peregrini» dieses Risiko eingegangen, die ers-ten Pilger, Eremiten oder Mönche, die zwischen 500 und 1000 nach Christus wilde Orte aus ganz anderen Gründen aufsuch-ten, als nur um Lücken des Alltags zu füllen. Sinnsuchende Westler tun es ihnen heute nach, auf den Pilgerwegen dieser Welt. «Der Stein erinnert mich daran, dass Naturliebe etwas viel Tieferes und Älteres sein kann.»

Macfarlane sagt von sich selbst, er sei weder religiös noch spirituell. Schon gar nicht esoterisch.

Und dieser Baum, DER Baum seines Lebens, hat der nicht doch so etwas wie eine Seele? Nein, sagt Macfarlane entschie-den. Und doch muss er zugeben, auch schon mal daran ge-dacht zu haben.

Pult zum Beispiel. Macfarlane meidet ihn wie ein Tier das Feuer. Es kann länger als eine Woche dauern, bis er eine Mail beantwortet. Seit drei Monaten hat er keine Zeitungen mehr gelesen, das ist ihm alles zu viel, zu schnell, «so ablenkend, you know».

Schon wieder fällt ein schönes deutsches Kompositum ein, es heisst «Weltflucht». Normalerweise wird sie jüngeren Ge-nerationen vorgeworfen. Sie verbringen die meiste Zeit in kli-matisierten Räumen und virtuellen Welten, spüren nichts, rie-chen nichts, stehen in ihren Jobs unter Strom und sind dauer-bedroht von dieser Welt da draussen, die am Bildschirm so ganz nah scheint. Die wollen nun raus aus ihrer Plastikwelt und wieder etwas spüren, was Echtes, was Ehrliches.

Heute haben die Leute Mühe mit dem schnellen Leben, um die Wende zum 20. Jahrhundert waren es die rauchenden Fabriken und die stinkenden Städte. Damals gab es die jungen Wandervögel, heute die Outdoorliebhaber. Lebensreformer begannen sich vegetarisch zu ernähren, ihre Nachkommen heissen heute Veganer. Die Gartenstadtbewegung forderte um 1900 grüne Flächen, die moderne Version heisst urbane Landwirtschaft. In den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts flüchteten die Empfindlichen aus Angst vor Neur-asthenie, dieser zivilisationsgemachten Nervenkrankheit, in heilende Bergwelten und Alpensanatorien. Heute schickt man Burn -out-Geplagte in die Natur.

rungen. Je wilder eine Landschaft, ein Berg oder ein Baum, desto überwältigter bin ich von der Grösse und Kraft, die mir da gegenübersteht. Und umso stärker spüre ich jede Zelle meines Körpers und komme mir selbst näher. Doch das Wichtigste, was ich lerne, ist Bescheidenheit.»

In seinem Buch «Berge im Kopf» klingt ein solches Erleb-nis dann so:

Und die grossen, schweren Flocken, die vom Himmel fielen, wehte der Wind auf mich. Sie trafen fast lautlos auf meine Be-kleidung, und auf meiner dem Wind zugewandten Seite bildete sich ein dünner Pelz aus Schnee. Es schien, als watete ich in ei-nem wilden weissen Fluss stromaufwärts. Ich konnte in jede Richtung nicht weiter als etwa fünf Meter sehen, und ich fühlte mich vollkommen und auf erregende Weise allein. Die Welt jen-seits des wirbelnden Schnees wurde unbedeutend, beinahe un-vorstellbar. Ich hätte der letzte Mensch auf diesem Planeten sein können.

Inzwischen entleert sich eine Regenwolke über Cambridge. Wir sitzen nun in der Landschaft von Macfarlanes Büro, seiner «Wunderkammer». Der Raum erinnert mehr an ein Herren-zimmer, dick gepolsterte Sessel, ein Kaminfeuer, in der Luft liegt nicht der Rauch von Zigarren, sondern jener der «zwei-ten Liebe» in seinem Leben: der Literatur. Das Wunder ist die Fülle von Geschichten im Raum. Die Bücher an drei von vier Wänden erzählen sie. Ebenso die Steine, Federn oder Holz-stücke, die Macfarlane auf seinen Reisen gesammelt hat. Die Erzählungen teilen sich in zwei Versionen Wildnis: In den ers-ten ist sie ein Zustand, der bezwungen werden muss. In der zweiten einer, der in Ehren zu halten ist. Im 17. Jahrhundert,

erzählt Macfarlane, wurde die Landschaft noch als gefährli-che Kraft empfunden, die sich dem Nutzen widersetzte und geordnet werden musste. Berge waren unbrauchbar für die Landwirtschaft und hässlich, Warzen der Erde, beunruhi-gend für die Seele. Der Legende nach konnte schon ein Hüs-teln eine Lawine auslösen. In jedem Fall waren Berge eine Landschaftsform, die es zu meiden galt.

Die Natur als ästhetisches Erlebnis jedoch sei eine bürger-liche Idee. Die Aufklärung sah in ihr die gute Gegenwelt zum bösen Adel mit seinen gekünstelten Sitten und Welteinteilun-gen – wir oben, ihr unten. Natur hingegen sei demokratisch, für jeden zu haben und in jedem vorhanden. So entwickelte sich ein Bewusstsein für ihre Schönheit und positive Wirkung. Das Spazieren wurde erfunden, die Naturschwärmerei.

«Oft ist die Natur die Antwort auf irgendeine Form von Krise, auf soziale Instabilität, wirtschaftliche Not oder Krieg», sagt Macfarlane und steht auf, um ein Buchbeispiel aus dem Regal zu ziehen: «Tarka the Otter». Autor Henry Williamson kehrt schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurück, zieht in eine Hütte, benimmt sich wie ein Otter und schreibt sein er-folgreichstes Buch darüber. «Es ist doch keine Überraschung, dass man in schwierigen Zeiten das einfache Leben in der Na-tur sucht, oder?»

Nein. Aber Macfarlane selbst braucht diese Natur ja auch – was ist denn seine Krise?

Er sagt, dass er ein sehr glückliches Leben führe, seinen Beruf liebe, drei gesunde Kinder habe und eine Frau, die ebenfalls Autorin ist. Sein Probleme sind wohl die typischen Nichtprobleme der Städter. Das Monstrum von Apple auf dem

C A ROL E KO C H ist freie Journalistin; [email protected] Fotograf BRU NO AUG SBU RGER lebt in Zürich; www.brunoaugsburger.com

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