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A7: Helden und so …. Beispiel: Nibelungenlied itm5-Klasse; SJ 2017/18 Das Nibelungenlied. Nacherzählt von Michael Köhlmeier 1 Die Story im Original 1. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen. 2. Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn daz in allen landen niht schœners mohte sîn Kriemhilt geheizen: si wart ein scœne wîp. dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp. 3. Ir pflâgen drî künege edel unde rîch: Gunther unde Gêrnôt, die recken lobelîch, und Gîselher der junge, ein ûz erwelter degen. diu frouwe was ir swester. die fürsten hetens in ir pflegen. 4. In disen hôhen êren tróumte Kríemhíldè, wie si züge einen valken, stárc schœne und wíldè, den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen! ir enkúnde in dirre werlde leider nímmér geschehen. Ein Comic … 2 Die Nacherzählung bei Michael Köhlmeier: Es war einmal vor achthundert Jahren. Aber es ist nicht wichtig, wann es war. Es war. Die Zigeuner beginnen ihre Geschichten mit: Es war, weil es nicht war. Das ist ein guter Anfang … Am Hof zu Worms im Land der Burgunden regierten König Dankwart und seine Frau Ute. Sie hatten drei Söhne, Gunther, Giselher und Gernot, und eine Tochter, Kriemhild. Der König war der Ansicht, dass langweilig allemal das menschlichste Beiwort für einen Regierungsstil ist, und daran hielt er sich, und diese Ansicht gab er an seine Söhne weiter. »Nur wenn nichts passiert«, pflegte er zu predigen, »kann man hinterher sagen: Es ist nichts passiert.« Dann starb König Dankwart, und Gernot, Giselher und Gunther übernahmen die Regierungsgeschäfte. Sie regierten zu dritt. Sie teilten sich die Bereiche auf und taten nicht viel. Denn sie meinten, wenn man nichts tut, passiert auch nichts. So interpretierten sie den Wahlspruch ihres Vaters. Ganz verstanden hatten sie ihn nicht. Gunther, der Älteste, war ein Zauderer. Entscheidungen zu fällen fiel ihm schwer. Aber zu dritt gelang es den Brüdern meistens, eine Formulierung zu finden, an der nichts auszusetzen war, und sei es auch nur deshalb, weil sie nichts besagte. 1 https://www.youtube.com/watch?time_continue=4&v=IDVGZnJjQeI (eine weitere Nacherzählung) 2 Alle Comics: Heiko Sakurai; http://www.burg-prunn.de (NL, für Kinder nacherzählt; man kann auch das gesamte Comic herunterladen)

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A7: Helden und so …. Beispiel: Nibelungenlied itm5-Klasse; SJ 2017/18

Das Nibelungenlied. Nacherzählt von Michael Köhlmeier

1Die Story im Original1. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.

2. Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn daz in allen landen niht schœners mohte sîn Kriemhilt geheizen: si wart ein scœne wîp. dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.

3. Ir pflâgen drî künege edel unde rîch:Gunther unde Gêrnôt, die recken lobelîch,und Gîselher der junge, ein ûz erwelter degen.diu frouwe was ir swester. die fürsten hetens in ir pflegen. 4. In disen hôhen êren tróumte Kríemhíldè,wie si züge einen valken, stárc schœne und wíldè,den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen!ir enkúnde in dirre werlde leider nímmér geschehen.

Ein Comic … 2

Die Nacherzählung bei Michael Köhlmeier:

Es war einmal vor achthundert Jahren. Aber es ist nicht wichtig, wann es war. Es war. Die Zigeuner beginnen ihre Geschichten mit: Es war, weil es nicht war. Das ist ein guter Anfang …

Am Hof zu Worms im Land der Burgunden regierten König Dankwart und seine Frau Ute. Sie hatten drei Söhne, Gunther, Giselher und Gernot, und eine Tochter, Kriemhild. Der König war der Ansicht, dass langweilig allemal das menschlichste Beiwort für einen Regierungsstil ist, und daran hielt er sich, und diese Ansicht gab er an seine Söhne weiter. »Nur wenn nichts passiert«, pflegte er zu predigen, »kann man hinterher sagen: Es ist nichts passiert.« Dann starb König Dankwart, und Gernot, Giselher und Gunther übernahmen die Regierungsgeschäfte. Sie regierten zu dritt. Sie teilten sich die Bereiche auf und taten nicht viel. Denn sie meinten, wenn man nichts tut, passiert auch nichts. So interpretierten sie den Wahlspruch ihres Vaters. Ganz verstanden hatten sie ihn nicht. Gunther, der Älteste, war ein Zauderer. Entscheidungen zu fällen fiel ihm schwer. Aber zu dritt gelang es den Brüdern meistens, eine Formulierung zu finden, an der nichts auszusetzen war, und sei es auch nur deshalb, weil sie nichts besagte.

A1: Wie unterscheiden sich die drei Erzählungen? Inwiefern sind alle drei Texte Nacherzählungen? Woran merkt man, dass auch das mittelalterliche Nibelungenlied bereits eine Nacherzählung ist?

A2: Warum gibt es heute noch (neue) Nacherzählungen von dieser Geschichte (während viele andere Geschichten mehr oder weniger vergessen worden sind)?

A3: In allen drei Texten wenden sich Erzähler-Figuren an LeserInnen. Was sagen sie ihnen? Und warum? [Fachbegriff: Adressatenbezug)

Der Hintergrund 1 https://www.youtube.com/watch?time_continue=4&v=IDVGZnJjQeI (eine weitere Nacherzählung) 2 Alle Comics: Heiko Sakurai; http://www.burg-prunn.de (NL, für Kinder nacherzählt; man kann auch das gesamte Comic herunterladen)

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Die Story, die ein unbekannter Dichter um 1200 in 2380 Strophen (das sind 9520 Zeilen oder Verse) verpackt, kann mit jedem modernen Krimi leicht mithalten.

Eigentlich sind es ja sogar zwei Kriminalfälle, mit denen wir es hier zu tun haben:

Einerseits geht es um den Mord an einem gewissen Siegfried. Den Mörder kennen wir. Es handelt sich dabei um einen gewissen Hagen, der ein Dienstmann Gunthers und Brunhilds ist. Und weil Siegfried ja mit der schönen Kriemhild verheiratet ist …

Und andererseits geht es um Kriemhilds Rache, also um das Massaker, das die Witwe Siegfrieds, eben besagte Kriemhild, Jahre später anzettelt, um den Tod ihres Mannes zu rächen. Jahrelang arbeitet sie an ihrem Ziel, alle, die sie für den Tod ihres Mannes verantwortlich macht, allen voran natürlich Hagen, in eine Falle zu locken und umzubringen. Und mit viel Ausdauer und List erreicht sie dieses Ziel. Dass sie selbst dieses Gemetzel auch nicht überlebt, ist quasi eingeplant. Es handelt sich also gewissermaßen um das erste Selbstmordattentat, das in der deutschen Literatur beschrieben wird.

Natürlich ist das Genre des Krimis im Mittelalter noch nicht so entwickelt wie heute. Deshalb könnte man vermuten, dass unser unbekannter Dichter ziemlich dilettantisch arbeitet, wenn er gleich erklärt, wer die Täter sind und uns – oder seinem ursprünglichen Publikum – so gleich die ganze Spannung nimmt.

Doch Achtung, mit solch vorschnellen Urteilen sollten wir vorsichtig sein.

Vielleicht geht es dem Dichter ja gar nicht darum, auf diese Weise Spannung zu erzeugen. Vielleicht will er die Akzente auf etwas ganz Anderes legen. Zum Beispiel geht es vielleicht eher um die Frage nach dem Tatmotiv: „Warum ermordet dieser Hagen Siegfried, den großen Helden, den Strahlemann und Traum aller Schwiegermütter?"

Oder es geht dem Dichter um die Darstellung der politischen Situation seiner Zeit. So nach dem Motto „Leben wir wirklich in einer Zeit des Verfalls und des Niedergangs? Gibt es denn kein Recht und keine Ordnung mehr auf dieser Welt?“

Oder es geht dem Dichter darum, dem Publikum ein paar richtige Helden vorzustellen, von denen man in dieser neuen Zeit nur noch träumen konnte? So nach dem Motto: „Das waren noch richtige Männer damals …“ ?

Oder der Dichter möchte zeigen, was passiert, wenn man – um an sein Ziel zu gelangen – grundlegende moralische Prinzipien über Bord wirft; z. B. indem man vorgibt, jemand zu sein, der man nicht ist; oder indem man trickst und betrügt, um ans Ziel zu kommen.

Oder vielleicht geht es dem Dichter darum aufzuzeigen, wie es ist, wenn Frauen auf Rache sinnen. Wenn sie – wie Brunhild – entdecken, dass sie betrogen worden sind. Oder wenn sie – wie Kriemhild – meinen, dass ihrem Göttergatten oder einem sehr geliebten Menschen großes Unrecht widerfahren ist. Wie kann ein „minnigliches Mädchen“, das vor allem schön ist und schön zu sein hat, zu einer solchen Furie werden?

Oder vielleicht geht es dem Dichter auch darum, die schrecklichen möglichen Folgen bestimmter menschlicher Schwächen wie z. B. Intrigantentum, Größenwahn, Fanatismus und Unehrlichkeit aufzuzeigen?

Oder vielleicht geht es ihm darum, ältere ethische Begriffe wie „triuwe“ (Treue) oder „ere“ zu problematisieren?

Oder ….?

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A4:

Themen im Nibelungenlied

Kurze Erklärung dazu. Beispiele. Inwiefern geht es darum im NL?

Aktualität / Zeitlosigkeit

Liebe Leid Lug, Trug und VerratMacht Das Leben der Reichen und SchönenGroße FesteGroße Helden und ihre Schwächen Schöne Frauen und ihre anderen SeitenFemme fataleMärchenhaftes / Science Fiction Anderes

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A7: Helden und so …. Beispiel: Nibelungenlied itm5-Klasse; SJ 2017/18

Hintergrund: Literatur im Mittelalter und das Nibelungenlied ...

Vieles wissen wir über die Entstehung des Nibelungenliedes und über dessen Autor nicht. Das hat verschiedene Ursachen, über die wir uns hier im Detail nicht allzu viele Gedanken machen können.

Was wir über das Nibelungenlied wissen …

Der Dichter …

Wir vermuten, dass das Nibelungenlied (NL) so um 1200 von einem uns unbekannten Verfasser aufgeschrieben wurde; wahrscheinlich im Raum Passau; wahrscheinlich im Auftrag des damaligen Passauer Bischofs Wolfger (der ein Faible für Bücher hatte).

Dass wir den Namen des Dichters nicht kennen, sollte uns nicht erstaunen. Den eigenen Namen anzuführen und sich so als Autor zu "outen", ist für Dichter im Mittelalter noch nicht unbedingt üblich. Außerdem hat man aus dieser Zeit noch nicht viele Quellen, weil einerseits nach wie vor vieles mündlich geregelt wird, wofür wir heute einen schriftlichen Vertrag oder eine Urkunde brauchen würden. Und andererseits ist natürlich im Laufe der Zeit auch viel schriftliches Material verloren gegangen.

Von anderen Dichtern aus dieser Zeit kennen wir wenigstens den Namen (z. B. Wolfram von Eschenbach oder Walter von der Vogelweise), weil sie diesen Namen irgendwo in ihrem Werk erwähnen; sehr viel mehr wissen wir meistens aber auch nicht.

Der Stoff

Wir wissen, dass das NL auf älteren, wahrscheinlich mündlich tradierten Sagenstoffen aufbaut. Diese Sagekreise dürften lange Zeit unverbunden nebeneinander existiert haben. Spätestens der NL-Dichter bringt sie miteinander in Beziehung.

Dazu zählen die Geschichten um die sagenhafte nordische Königin (oder war sie doch eine Walküre?) Brunhild, die über übermenschliche Kräfte verfügt und jeden Mann, der sie zur Frau möchte, in einen Kampf zwingt. Und wehe, er verliert. Dann muss er sich seine nächste Frau nämlich ohne Kopf suchen.

Dazu zählen die Geschichten um den starken und nahezu unbesiegbaren Königssohn Siegfried aus der nieder-rheinischen Stadt Xanten, der den Drachen Fafnir erschlagen und im Drachblut gebadet hat und dadurch (bis auf eine klitzekleine Stelle, auf die ihm blöderweise ein Lindenblatt gefallen ist) eine „hürnerne“ Haut, die von keinem Schwert durchdrungen werden kann, bekommen hat. Außerdem hat er den Zwerg Alarich erschlagen, ihm seine Tarnkappe abgenommen, die ihm später gute Dienste leistet, und ihm vor allem seinen unermesslich wertvollen Nibelungen-Schatz gestohlen.

Dazu zählen Geschichten um eine germanische Prinzessin (Hildiko), die den Hunnenkönig Etzel geheiratet hat. Anscheinend hat Etzel die Hochzeitsnacht nicht überlebt und ist an einem Blutsturz gestorben.

Dazu zählen weitere Geschichten aus der germanischen Völkerwanderungszeit.

Dazu zählen Geschichten um andere Helden und Ritter, wie zum Beispiel Rüdiger von Bechlearen, Hildebrand oder Dietrich von Bern, die am Schluss der Story dann grad auch noch rechtzeitig zum großen Show-Down in Etzles Burg erscheinen.

Wir dürfen ruhig davon ausgehen, dass diese Geschichten über Jahrhunderte mündlich weitererzählt werden. Dabei werden sie sich wohl auch verändert haben. Aber aufgeschrieben worden sind sie wohl kaum.

Warum jetzt jemand um 1200 die Monsteraufgabe übernimmt, alle diese Sagenstoffe zu EINER Geschichte zu verknüpfen und diese auch noch aufzuschreiben und das auch noch in gebundener Sprache, ist eine spannende Frage, die wohl offen bleiben wird. Aber ein paar Gedankenansätze gibt es immerhin.

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Figurengestaltung im NibelungenliedAllgemeines:

Für die Frage, welche Funktion Handlungsfiguren für die Handlung und für die Aussage einer Geschichte haben, sind u. a. die Figurenkonzeption und die Figurenkonstellation interessant:

Die Figurenkonzeption

Eine der zentralen Aufgaben eines Erzählers ist es, den RezipientInnen die Figuren als HandlungsträgerInnen näher zu bringen. Eine Figur kann nach ganz grundsätzlichen Kriterien gestaltet oder angelegt sein, zum Beispiel:

statisch oder dynamisch: Statische Figuren verändern sich im Laufe der Handlung nicht, das heißt, was auch immer passiert und wieviel Zeit auch immer im Laufe der Handlung vergeht: die Figur bleibt sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrem Charakter gleich, sie verändert sich durch das Geschehen nicht. Dynamische Figuren verändern sich im Laufe der Handlung, sie altern, sie verändern sich in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Charakter durch die Erfahrungen, die sie machen, ...

Typus oder Individuum: Typisierte Figuren sind auf einige wenige, meist für die Figur typische Merkmale reduziert. Sie verhalten sich - im Unterschied zu realen Personen, die sich immer auch widersprüchlich und nicht-einheitlich verhalten - in allen sozialen Situationen ihrem Typus entsprechend. Individuell gestaltete Figuren sind wesentlich näher an der Realität. Wie reale Personen sind sie nicht eindeutig "gut", "böse", "mutig", "feige", ..., sondern vielschichtig und oft auch widersprüchlich.

geschlossen oder offen: Eine geschlossen gestaltete Figur ist für einen Leser vollständig durchschaubar. Er kennt ihre Charaktereigenschaften und ihre Handlungsmotive und kann daher ihr zukünftiges Verhalten prinzipiell auch vorhersehen. Eine offen gestaltete Figur ist so angelegt, dass sie für den Erzähler und für den Leser nur teilweise durchschaubar ist. Er kennt nur einen Teil ihrer Handlungsmotive, ihres Charakters, ... In Teilen bleibt sie ihm rätselhaft und erscheint ihm mehrdeutig.

typisiert oder psychologisch: Eine typisierte Figur handelt nicht (oder nur scheinbar / nur oberflächlich) nach psychologisch plausiblen Motiven und Verhaltensmustern, sondern so, wie es für Spannungsaufbau oder Handlungsverlauf notwendig ist. Eine psychologisch gestaltete Figur ist in ihrem Verhalten und ihrem Erleben so gestaltet, dass sie psychologisch glaubwürdig und - mehr oder weniger - vielschichtig erscheint.

Die Hauptfigur in einem erzählenden Text - der Protagonist / die Protagonistin - ist die Figur, der der Erzähler besonders nahe steht und die häufig auch ein Identifikationsangebot für den Leser / die Leserin darstellt. Sie ist v. a. an folgenden Merkmalen zu erkennen:

Der Erzähler weiß besonders viel über sie Der Erzähler stellt sie in besonders differenzierter Weise vor. Sehr häufig wird nicht nur ihr

Äußeres (Verhalten, Aussehen), sondern auch ihr Inneres (Erleben, Denken, Fühlen, Wahrnehmen, ...) zum Gegenstand des Erzählens

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Sie kommt in der Handlung sehr häufig vor, vor allem an den zentralen Stellen (Höhepunkt, Wendepunkt) einer Handlung

Ihr sind die für den Fortgang der Geschichte entscheidenden Handlungen vorbehalten Sie unterhält Beziehungen zu vielen anderen Figuren in der Geschichte

Interessant ist, dass im NL mehrere praktisch gleichrangige ProtagonistInnen nebeneinander vorkommen:

Siegfried Kriemhild Brunhild Hagen, obwohl er nur an zwei Stellen (Siegfrieds Ermordung, Schlusskampf in Etzels Burg)

eine ganz zentrale Rolle spielt und weniger differenziert dargestellt ist als die drei erstgenannten

Gunther. Ob Gunther wirklich als Protagonist angelegt ist, ließe sich diskutieren. Er ist auf jeden Fall schwächer gestaltet als die vier bereits genannten Figuren.

Die Figurenkonstellation:

Die Frage, wie die Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander gestaltet sind, lässt sich quantitativ und qualitativ ermitteln.

Eine quantitative Analyse der Figurenkonstellation macht man, indem man nach der Zahl der Figuren in einem Text und nach dem Anteil, den eine Figur im Vergleich zu anderen Figuren im Text hat. Im Zentrum stehen dabei natürlich vor allem die ProtagonistInnen. Ihre Beziehung untereinander, aber auch ihre Beziehung zu Nebenfiguren werden in einer quantitativen Analyse untersucht.

In einer qualitativen Figurenanalyse untersuchen wir, nach welchen Merkmalen die Figuren einander zugeordnet sind. Solche qualitativen Merkmale können zum Beispiel sein:

die familiäre Zugehörigkeit die Geschlechtszugehörigkeit die soziale Zugehörigkeit die emotionale Zugehörigkeit die Generationenzugehörigkeit die Wertorientierung u.a.m.

Hintergrundinformation: Quellentexte

Quellentext 1: Dietrich Scheler: Die Stellung der Frau in der höfischen Gesellschaft3

Die Wandlung des Frauenbildes markiert die entscheidende Zäsur zwischen vorhöfischer und höfischer Zeit. Sahen wir die Frau in früheren Werken als leidenschaftlich begehrten, unter großen Mühen zu erreichenden Preis einer Brautwerbung, und war mit ihrer Gewinnung ihr besonderer Part eigentlich abgeschlossen, so tritt sie uns nun als Angelpunkt und Hauptfigur der Gesellschaft entgegen. Ihr vertraute man die jungen Pagen, Söhne benachbarter oder befreundeter Geschlechter, im Alter von sieben Jahren zur Erziehung an, durch die sich "zuht" und "site", gutes Benehmen in der

3 Vgl.: https://www.leben-im-mittelalter.net/gesellschaft-im-mittelalter/frauen/gesellschaftliche-stellung.html

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Gesellschaft und die Grundlagen des Wertesystems, lernen sollten. Die feinsinnige, kluge und äußerlich schöne Frau - und jede Frau, die die höfischen Tugenden verkörperte, war schön - erhielt den Ehrennamen "frouwe" und belebte durch ihre Anwesenheit die ritterlichen Gesellschaften und Feste. Wo sie war, gab es für den Ritter "froide", sie weckte deren "hohen muot", gab ihnen die in einer reinen Männergesellschaft ihren Bewährungsproben ("aventiuren") ausgesetzt waren, das Gefühl der Anerkennung, des Lebenssinnes - da ja ritterliche Taten ihrem Schutz und Frieden dienten - und die Hoffnung auf Zuneigung und Belohnung. Zwar war die als sittlich reines Geschöpf idealisierte Frau in der Regel verheiratet, so dass die Erfüllung der sehnsuchtsvollen Wünsche von vornherein aussichtslos erschien, doch gerade dies spornte den Ritter an, sich durch wohlgefälliges Verhalten und das Bestehen gefährlicher "aventiuren" der Frau so wert zu machen, dass sie ihn nach Jahren des "dienestes" doch noch erhörte und sich ihm hingeben würde. Er sah sich der "frouwe" gegenüber als der Lehensmann, der die Wünsche seiner "herrin" so treu wie seinen Dienst erfüllte. Ein Blick, ein Gruß, ein Lächeln waren ihm beglückender Lohn und nährten seine Hoffnung, so dass er sich, in seinem Selbstwertgefühl bestärkt, in neue "aventiuren" stürzte und sein Leben für die Angebetete aufs Spiel setzte. Merkwürdig an diesem Frauenkult, der "minne", ist, dass die von der Kirche als Fleischeslust und Sünde verdammte weltliche Liebe einerseits als eigenständige, belebende und alles beherrschende Macht akzeptiert und gepriesen, andererseits aber durch bewusste Unterwerfung unter gesellschaftliche Regeln und durch literarische Formung sublimiert wird. Diese Minne wird, wie alle irdischen Güter und Werte, als ein vom Absoluten, vom "summum bonum" her erfasstes Phänomen gedeutet, ja als allumfassende Daseinserfüllung mit dem "summum bonum" identifiziert. Sie wird zur "hohen minne", und durch ihre Erhöhung ins Transzendente wird die sie vermittelnde irdische Person, die "frouwe", zum Symbol dieses absoluten Wertes. Damit verliert die Frau den Charakter des Persönlichen und Einmaligen.

Quellentext 2: Carl-Heinz Mallet: Die Macht des weiblichen Zaubers

Mit dem Traumpaar der deutschen Sage, mit Kriemhild und Siegfried, hat der Dichter des Nibelungenliedes nicht nur ein neues Frauenbild und eine neue Art von Liebe dargestellt, sondern auch weiblichen Zauber und dessen unvergleichliche Wirkung auf Männer. Kriemhilds jungfräuliche Scheu, ihr zartes Erröten, ihre liebevollen Blicke und der auf Siegfrieds Stirn gehauchte Kuss wecken bei Männern starke Wünsche und bei Siegfried die große Liebe. Was Kriemhild hier macht und wie sie es macht, mag uns vertraut erscheinen - für damalige Verhältnisse war es etwas noch nie Dagewesenes, eine neue Form weiblichen Verhaltens, eine neue Art weiblichen Zaubers. In der gesamten antiken Welt sucht man Vergleichbares vergebens. [...]. Man schwärmte [...] nicht von der Schönheit der weiblichen Seele, sondern von der Schönheit der weiblichen Seele, sondern von der Schönheit des weiblichen Körpers, von Wangen wie frisch erblühte Rosen, von feuchtsamtenen Gazellenaugen, von schwanengleichen Hälsen und von der Wonne zärtlicher Umarmungen. [...] Das ist eine andere Welt, und mit der war es nun vorbei. Das Nibelungenlied und die Ritterminne setzten ganz andere Akzente. [...] Die Liebe wurde der Sinnlichkeit beraubt. [...] Was blieb, was bleiben durfte, war der von Unschuld geprägte ätherische Charme einer Kriemhild. sie war die Vorbotin eines neuen Frauenideals von engelsgleichen, sittenreinen, zerbrechlich-zarten Schönheiten. Für Frauen wie sie schlugen künftig die Herzen der Männer.

Diesem Paradigmenwechsel haftete jedoch ein beträchtlicher Mangel an: Die idealtypische neue Frau war und ist ein Phantasiewesen, das es in der Wirklichkeit nicht gibt. Dafür ist auch Kriemhild ein Beispiel Sie hat in keiner Weise gehalten, was ihr erster Eindruck in Worms versprach. Zwischen ihrem ersten Auftreten dort und ihrem späteren Handeln an Etzels Hof lieben Welten [...].

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Wenden wir uns aber nun Siegried zu, seiner ersten Begegnung mit einer Frau. Er kennt sie nicht, hat sie niemals gesehen, und doch löst sie bei ihm eine Flut von Gefühlen aus, bewegt ihn zu verwegensten Taten. Es handelt sich um Brunhild. Er hört von ihr durch die Vöglein in den Bäumen. Sie zwitschern von der schönen Schildjungfrau, die in einem fernen unwirtlichen Land, von einer Waberlohe eingeschlossen, auf ihren Erlöser wartet. Mehr bedarf es nicht, um im Herzen Siegfrieds die männertypische Sehnsucht zu wecken. Ohne irgendeinen weiteren Gedanken schwingt er sich auf sein Ross, um die ferne Jungfrau zu finden, zu erlösen und zu gewinnen [...]. Und er findet genau das, was er sich erträumt und erhofft hat. [...] Es rührt Brunhild, und es imponiert ihr ungemein, dass Siegfried ihretwegen die lange Suchfahrt unternahm und todesmutig über die Waberlohe setzte. Ein Mann, der für eine Frau sein Leben riskiert, scheint ihr das denkbar höchste Maß an Beachtung. Das weiß sie zu schätzen, und darum lieben Frauen solche Männer.

Brunhild täuscht sich allerdings in einem: Nicht für sie riskierte Siegfried sein Leben, nicht für sie persönlich jedenfalls. Wie hätte er auch gekonnt, da er sie nicht einmal kannte. Tatsächlich riskierte er den Sprung durch die Feuerwand eines Phantasiegespinstes wegen. Er jagte einem Bild nach, genauer: seinem eigenen Bild von der Frau, seiner Anima. Die projiziert er auf Brunhild, und das funktioniert zunächst ausgezeichnet [...]. Sie kommt ihm liebevoll entgegen, bewirtet ihn fürsorglich; vor allem aber lobt sie ihn. Sie bewundert seinen Mut und seine Stärke und erklärt ihm, sie habe geschworen, keinem Mann anzugehören, der Furcht kenne. Und wenn sie unter allen Männern der Welt wählen könnte, bekennt sie ihm, so wolle sie doch nur ihn. Das ist schmeichelhaft, das hört Siegfried gern [...]. Aber dann wird Brunhild plötzlich ungemein direkt, kommt ebenso realistisch wie praktisch zur Sache. Sie stellt ihn vor die Wahl: Er könne reden oder schweigen, bleiben oder gehen. "Wähle du selbst", fordert sie ihn auf.

Eine Frau, die einen Mann derart vor die Wahl stellt, ihm knallhart eine Entscheidung abverlangt, deckt sich nicht mit dem süß-zarten Bild von der Frau, das Männer gemeinhin mit sich herumtragen. Sie schätzen es gar nicht, wenn Frauen ihnen Ultimaten stellen. Siegfried ist unter Brunhilds Anforderungen gewiss unangenehm berührt zusammengezuckt, und der Zauber, der ihn bisher erfüllte, dürfte an Glanz verloren haben; doch er lässt sich nichts anmerken. Hier ist der Punkt, wo Männer zu heucheln verstehen. Siegfried kompensiert seine Ernüchterung, indem er seinen Enthusiasmus noch verstärkt [...], und er schwört bei allen Göttern, dass er sie, Brunhild, allein liebe. [...] Das klingt gut, aber es sind nichts als Lügen, und er schwört falsch - der weitere Verlauf zeigt es. Seine übergroße Emphase leitet lediglich seinen Rückzug ein, und den deckt er, indem er mit weiteren heiligen Eiden seine Liebe zu Brunhild bekräftigt. Sie ahnt davon nichts, beschwört ihrerseits ihre Liebe zu ihm, freut sich auf ihr gemeinsames Glück. Doch daraus wird nichts, Siegfried verweigert sich. [...] Er verschwindet auf Nimmerwiedersehen, geht nach Worms, um dort, wie wir wissen, König Gunthers schöne Schwester zu gewinnen. Die liebliche Kriemhild ist eine ganz andere Frau als die geharnischte Exwalküre Brunhild, die nicht nur stark ist, sondern auch genau weiß, was sie will, und Siegfried mit ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit begehrte. Damit war der arme Siegfried überfordert, der nur im Raufen oder mit dem Schwert in der Hand ein Held ist. Hier erweist er sich als wortbrüchiger Feigling. Aber weil nicht sein kann, was nicht sein darf, findet sich eine Entschuldigung für seinen Treuebruch: Es heißt, er habe durch einen Vergessenstrunk jede Erinnerung an Brunhild verloren. Nun ja ...

Arbeitsaufgaben

A5: Lies die beiden Texte (ausgedruckte Version), markiere zentrale Textstellen und fasse die Texte kurz zusammen.

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A5: In Text 1 (Scheler) finden sich viele wichtige Begriffe aus der Zeit des Mittelalters. Markiere diese (bereits unterstrichenen) Begriffe. Schreibe sie in einer Tabelle heraus. Erkläre ihre Bedeutung.

A6 Beschreibe stichwortartig und in Form einer Tabelle oder eines MindMaps - ausgehend von Köhlmeiers Nacherzählung und ev. mithilfe von Internetquellen - zwei der folgenden Figuren im Nibelungenlied: Brunhild, Kriemhild, Gunther, Siegfried, Hagen. Berücksichtige dabei Elemente der Figurenkonzeption und der Figurenkonstellation.

A7: Wie beschreibt Dieter Scheerer die Rolle der Frau in der hochmittelalterlichen höfischen Gesellschaft. Inwiefern entsprechen Kriemhild und Brunhild diesem Frauenideal? Inwiefern sind sie aber auch diametralem in Widerspruch zu diesem Frauenideal charakterisiert? (Hausübung)

A7: Wie charakterisiert Carl-Heinz Mallet (Text 2) in seiner Werkbesprechung Kriemhild und Brunhild? Stimmst du seiner Aussage zu? Inwiefern? Inwiefern nicht?