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FHS TRANSLATION TEXTS HILARY TERM 2017 [email protected] TEXT 1: Der Skandal begann an einem heißen Septemberabend, an dem auf einer der kleineren Bühnen der Residenz eine Komödie Premiere hatte. Das Stück, eine lose Szenenfolge, hieß Midas, war nach den an den Bäumen der großen Boulevards plakatierten Ankündigungen der Theaterdirektion ein weiterer Auszug aus Nasos rätselhaftem, entstehenden Werk und handelte von einem bis zur Verrücktheit musikbegeisterten Reeder aus Genua, dem in einer rasenden Geldgier alles zu Gold wurde, was er berührte; zuerst waren es nur die Kiesel eines Gartenweges, Rosen und eine Strohgarbe, aber nach und nach erstarrten dem Reeder auch die Jagdhunde, die Früchte, nach denen er griff, Wasser, in dem er sich baden wollte, und schließlich die Menschen, die er liebkoste, festhielt oder schlug. Am Ende saß der Unglückliche starrend vor Schmutz, bis zum Skelett abgemagert in einer goldenen Wüste, umgeben von den mattschimmernden Skulpturen seiner Liebsten und sprach aus dieser metallenen Welt einen hallenden Monolog, der nicht nur eine Verfluchung des Geldes, sondern eine pointenreiche Verspottung aller war, die danach gierten. In diesem vom Gelächter und Applaus des Publikums immer wieder unterbrochenen Monolog fielen endlich auch verschlüsselte Namen von stadtbekannten Aufsichtsratsvorsitzenden, Abgeordneten und Richtern … Der Reeder wurde schließlich von seinem Fluch und dem Hunger

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Page 1: file · Web viewDoch mit Amazonen — Kleist hat es uns ja hinreichend deutlich gezeigt — ist nicht gut Kirschen essen. Von Gnade und Barmherzigkeit wollte Erika Mann

FHS TRANSLATION TEXTS

HILARY TERM 2017

[email protected]

TEXT 1:

Der Skandal begann an einem heißen Septemberabend, an dem auf einer der kleineren

Bühnen der Residenz eine Komödie Premiere hatte. Das Stück, eine lose Szenenfolge,

hieß Midas, war nach den an den Bäumen der großen Boulevards plakatierten

Ankündigungen der Theaterdirektion ein weiterer Auszug aus Nasos rätselhaftem,

entstehenden Werk und handelte von einem bis zur Verrücktheit musikbegeisterten

Reeder aus Genua, dem in einer rasenden Geldgier alles zu Gold wurde, was er

berührte; zuerst waren es nur die Kiesel eines Gartenweges, Rosen und eine

Strohgarbe, aber nach und nach erstarrten dem Reeder auch die Jagdhunde, die

Früchte, nach denen er griff, Wasser, in dem er sich baden wollte, und schließlich die

Menschen, die er liebkoste, festhielt oder schlug. Am Ende saß der Unglückliche

starrend vor Schmutz, bis zum Skelett abgemagert in einer goldenen Wüste, umgeben

von den mattschimmernden Skulpturen seiner Liebsten und sprach aus dieser

metallenen Welt einen hallenden Monolog, der nicht nur eine Verfluchung des Geldes,

sondern eine pointenreiche Verspottung aller war, die danach gierten. In diesem vom

Gelächter und Applaus des Publikums immer wieder unterbrochenen Monolog fielen

endlich auch verschlüsselte Namen von stadtbekannten Aufsichtsratsvorsitzenden,

Abgeordneten und Richtern … Der Reeder wurde schließlich von seinem Fluch und

dem Hunger nur im Tausch gegen ein anderes, wenn auch milderes Schicksal erlöst:

Seine Ohren wurden haarig und lang und seine Stimme brechend und klagend wie die

eines Esels. So trat er ab. Das Publikum johlte vor Vergnügen und warf Samtkissen

und Blumen auf die Bühne. An diesem und an zwei weiteren Abenden war das

Theater ausverkauft und die Luft vom Schweiß und Parfüm der vielen Zuschauer so

schwer, daß die Platzanweiser auch während der Vorstellung Tannenduft aus

bauchigen Flakons versprühten. Am vierten Abend hinderte ein berittener Polizeitrupp

mit Stahlruten und langen Gerten das Publikum am Betreten und die Schauspieler am

Verlassen des Theaters.

(CHRISTOPH RANSMEYER)

wherever

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TEXT 2:

An Mut hat es Erika Mann nicht gefehlt. Nachdem sie Mitte März 1933 Deutschland

nicht ohne Eile verlassen hatte, wagte sie es im April, als es schon hieß, man habe sie

ins Konzentrationslager Dachau gebracht, in aller Heimlichkeit nach München zu

fahren, um das (noch unfertige) Manuskript des »Joseph«-Romans und andere

wichtige Papiere ihres Vaters zu retten. Wo in späteren Jahren gekämpft wurde und

wo es gefährlich war, da tauchte sie als Berichterstatterin auf: im Spanischen

Bürgerkrieg, 1940 in dem den Bombenangriffen ausgesetzten und von der Invasion

bedrohten London, 1943 am Persischen Golf, 1944 in Frankreich, Belgien und

Holland. Als sie gegen Ende des Krieges in amerikanischer Uniform nach Deutschland

kam, soll sie, damals noch nicht vierzig Jahre alt, schön wie eine Kriegsgöttin gewesen

sein und herrisch wie eine Amazonenkönigin.

Doch mit Amazonen — Kleist hat es uns ja hinreichend deutlich gezeigt — ist nicht

gut Kirschen essen. Von Gnade und Barmherzigkeit wollte Erika Mann nichts wissen,

Sündern zu vergeben, war sie nicht imstande. Ob man ihr Toleranz nachrühmen kann,

ist zumindest zweifelhaft: Was immer geschah und wem immer sie begegnete, sie

blieb so unduldsam wie unversöhnlich. Mit zunehmendem Alter wurde sie keineswegs

nachsichtiger, ein schweres Leiden hat ihr streitbares Temperament nicht gemildert,

sondern eher noch gesteigert. Daß sie über Zeitgenossen leichtfertig oder ungerecht zu

urteilen und sich dabei den Grenzen der Fairneß bedenklich zu nähern vermochte, läßt

sich nicht verschweigen.

Auch Exilgefährten waren vor ihrem mitunter maßlosen Zorn nicht sicher — so

Adorno, an den sie 1963 zwei wahrlich böse Briefe richtete und über den sie 1966

meinte: »Meiner genauen Erfahrung nach ist er nicht nur pathologisch eitel, und nicht

nur paart sich seine Eitelkeit logischerweise mit einem hohen Grad von

Verfolgungswahnsinn - er ist uberdies ein Bluffer; ganz bewußt streut er den Leuten

Sand in die Augen, ganz bewußt und absichtlich schreibt er häufig so unverständlich

und nur zu häufig verbirgt blanke Unwissenheit sich hinter seiner hochkonzentrierten,

allumfassenden Versiertheit.«

(M. REICH-RANICKI)

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TEXT 3

In der letzten Phase ihrer Arbeit an einem Buch geht es manchen Schriftstellern nicht

gut. Sie müssen etwas zusammenhalten, das ihnen in alle Richtungen

auseinandergelaufen ist, das macht sie reizbar. Sie müssen sich an den Gedanken

gewöhnen, daß eine Arbeit zu Ende geht, die längst nicht die Resultate gebracht hat,

die sie einmal vor Augen hatten, das macht sie unglücklich. Es ist die Zeit, da sie an

ihrem Unvermögen leiden wie niemals sonst. Mit ihnen zu sprechen wird mühsam und

unergiebig, sie werden maulfaul, es ist als brauchten sie jedes Wort zur Rettung ihrer

verworrenen Angelegenheiten. Atemlos hin und her denkend, haben sie nichts anderes

als Schadensbegrenzung im Sinn; dort ist eine Wand so schief, daß die Türen nicht

schließen, dort muß nachträglich eine Heizung eingebaut werden, weil es viel zu kalt

in den Zimmerchen ist, dort müssen sie schleunigst eine undichte Stelle im Dach ihrer

Hütte flicken, die einmal ein Palast hatte werden sollen.

Rudolf näherte sich dem Ende eines Romans. Louises Verständnis für seine

Launenhaftigkeit (das für viele Romane ausgereicht hätte) wurde von ihm als

selbstverständlich hingenommen, er bemerkte es kaum. Daß er wie ein Mondsüchtiger

durch die Wohnung lief und den Mund nur dann aufmachte, wenn er bedient werden

wollte oder wenn er sich über Störungen durch das Kind beklagte, änderte nichts an

ihrer guten Stimmung. Diese Stimmung schien sogar stabiler zu werden, je

unerträglicher er sich benahm, so als ware Louise sich ihrer therapeutischen Funktion

bewußt und verfüge über die Erfahrung einer, die sich schon einmal auf der anderen

Seite umgesehen hat. Zu der wütenden Henriette sagte sie, sie solle Rudolf wegen

seiner Ungeduld nicht böse sein, er brauche jetzt all seine Geduld für sich selbst.

Trotzdem konnte sie nicht verhindern, daß es zu einem Handgemenge kam.

(JUREK BECKER)

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TEXT 4:

Das Kunstwerk steht vor uns, aber es steht vor uns zunächst nur als so und so

behauener Stein, als so und so bemalte Leinwand. Diese Gegenwart ist nur scheinbar,

seine wahre Gegenwart, die in den Geistern, ist nicht selbstverständlich und

mannigfachen Wechselfällen unterworfen. Nicht jeder ist fähig und nicht zu jeder Zeit,

dem Kunstwerk zu seiner wahren Gegenwart zu verhelfen.

Ferner: Dieses Kunstwerk ist einmal im Jahre soundsoviel von dem Künstler

geschaffen worden, aber dieses Ereignis seiner Schöpfung ist vergangen und wird sich

nie wiederholen; geblieben ist (wenn sie geblieben ist) nur die Spur der Schöpfung

oder ihr Leib. Und doch kann dieses Werk jederzeit in einem Geist, welcher der

Offenbarung des lebendigen Kunstwerks würdig und fähig geworden ist, zu seinem

vollen Leben wieder auferstehen und seine wahre Gegenwart gewinnen, als wäre keine

Zeit vergangen. Und nur wenn es seine wahre Gegenwart fur eine Zeit

wiedergewonnen hat, kann es überhaupt erst als geschichtliches Ereignis gefaßt und

verstanden warden.

Diese Grunderfahrung, daß das Kunstwerk zugleich der geschichtlichen Zeit angehört,

wie jedes andere geschichtliche Ereignis auch, zugleich aber in eigentümlicher Weise

aus der Geschichtlichkeit heraus- und in eine außergeschichtliche, übergeschichtliche

Zeit eintritt, bildet das Grundparadox einer geschichtlichen Betrachtung der Kunst.

Diese setzt mithin eine Lehre von der Zeit voraus. Ohne eine Theorie der Zeit ist

weder eine Theorie der Geschichte und der Sozietät noch eine Theorie des Kunstwerks

und der Kunstgeschichte möglich.

Diejenigen, die dieses Paradoxon am intensivsten erfahren haben — und es sind nicht

immer Kunsthistoriker gewesen —, haben das Bemerkte meist so ausgedrückt, daß sie

von der eigentümlichen Zeitlostgkeit des wahren Kunstwerks sprechen.

(HANS SEDLMAYR)