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FHS TRANSLATION TEXTS
HILARY TERM 2017
TEXT 1:
Der Skandal begann an einem heißen Septemberabend, an dem auf einer der kleineren
Bühnen der Residenz eine Komödie Premiere hatte. Das Stück, eine lose Szenenfolge,
hieß Midas, war nach den an den Bäumen der großen Boulevards plakatierten
Ankündigungen der Theaterdirektion ein weiterer Auszug aus Nasos rätselhaftem,
entstehenden Werk und handelte von einem bis zur Verrücktheit musikbegeisterten
Reeder aus Genua, dem in einer rasenden Geldgier alles zu Gold wurde, was er
berührte; zuerst waren es nur die Kiesel eines Gartenweges, Rosen und eine
Strohgarbe, aber nach und nach erstarrten dem Reeder auch die Jagdhunde, die
Früchte, nach denen er griff, Wasser, in dem er sich baden wollte, und schließlich die
Menschen, die er liebkoste, festhielt oder schlug. Am Ende saß der Unglückliche
starrend vor Schmutz, bis zum Skelett abgemagert in einer goldenen Wüste, umgeben
von den mattschimmernden Skulpturen seiner Liebsten und sprach aus dieser
metallenen Welt einen hallenden Monolog, der nicht nur eine Verfluchung des Geldes,
sondern eine pointenreiche Verspottung aller war, die danach gierten. In diesem vom
Gelächter und Applaus des Publikums immer wieder unterbrochenen Monolog fielen
endlich auch verschlüsselte Namen von stadtbekannten Aufsichtsratsvorsitzenden,
Abgeordneten und Richtern … Der Reeder wurde schließlich von seinem Fluch und
dem Hunger nur im Tausch gegen ein anderes, wenn auch milderes Schicksal erlöst:
Seine Ohren wurden haarig und lang und seine Stimme brechend und klagend wie die
eines Esels. So trat er ab. Das Publikum johlte vor Vergnügen und warf Samtkissen
und Blumen auf die Bühne. An diesem und an zwei weiteren Abenden war das
Theater ausverkauft und die Luft vom Schweiß und Parfüm der vielen Zuschauer so
schwer, daß die Platzanweiser auch während der Vorstellung Tannenduft aus
bauchigen Flakons versprühten. Am vierten Abend hinderte ein berittener Polizeitrupp
mit Stahlruten und langen Gerten das Publikum am Betreten und die Schauspieler am
Verlassen des Theaters.
(CHRISTOPH RANSMEYER)
wherever
TEXT 2:
An Mut hat es Erika Mann nicht gefehlt. Nachdem sie Mitte März 1933 Deutschland
nicht ohne Eile verlassen hatte, wagte sie es im April, als es schon hieß, man habe sie
ins Konzentrationslager Dachau gebracht, in aller Heimlichkeit nach München zu
fahren, um das (noch unfertige) Manuskript des »Joseph«-Romans und andere
wichtige Papiere ihres Vaters zu retten. Wo in späteren Jahren gekämpft wurde und
wo es gefährlich war, da tauchte sie als Berichterstatterin auf: im Spanischen
Bürgerkrieg, 1940 in dem den Bombenangriffen ausgesetzten und von der Invasion
bedrohten London, 1943 am Persischen Golf, 1944 in Frankreich, Belgien und
Holland. Als sie gegen Ende des Krieges in amerikanischer Uniform nach Deutschland
kam, soll sie, damals noch nicht vierzig Jahre alt, schön wie eine Kriegsgöttin gewesen
sein und herrisch wie eine Amazonenkönigin.
Doch mit Amazonen — Kleist hat es uns ja hinreichend deutlich gezeigt — ist nicht
gut Kirschen essen. Von Gnade und Barmherzigkeit wollte Erika Mann nichts wissen,
Sündern zu vergeben, war sie nicht imstande. Ob man ihr Toleranz nachrühmen kann,
ist zumindest zweifelhaft: Was immer geschah und wem immer sie begegnete, sie
blieb so unduldsam wie unversöhnlich. Mit zunehmendem Alter wurde sie keineswegs
nachsichtiger, ein schweres Leiden hat ihr streitbares Temperament nicht gemildert,
sondern eher noch gesteigert. Daß sie über Zeitgenossen leichtfertig oder ungerecht zu
urteilen und sich dabei den Grenzen der Fairneß bedenklich zu nähern vermochte, läßt
sich nicht verschweigen.
Auch Exilgefährten waren vor ihrem mitunter maßlosen Zorn nicht sicher — so
Adorno, an den sie 1963 zwei wahrlich böse Briefe richtete und über den sie 1966
meinte: »Meiner genauen Erfahrung nach ist er nicht nur pathologisch eitel, und nicht
nur paart sich seine Eitelkeit logischerweise mit einem hohen Grad von
Verfolgungswahnsinn - er ist uberdies ein Bluffer; ganz bewußt streut er den Leuten
Sand in die Augen, ganz bewußt und absichtlich schreibt er häufig so unverständlich
und nur zu häufig verbirgt blanke Unwissenheit sich hinter seiner hochkonzentrierten,
allumfassenden Versiertheit.«
(M. REICH-RANICKI)
TEXT 3
In der letzten Phase ihrer Arbeit an einem Buch geht es manchen Schriftstellern nicht
gut. Sie müssen etwas zusammenhalten, das ihnen in alle Richtungen
auseinandergelaufen ist, das macht sie reizbar. Sie müssen sich an den Gedanken
gewöhnen, daß eine Arbeit zu Ende geht, die längst nicht die Resultate gebracht hat,
die sie einmal vor Augen hatten, das macht sie unglücklich. Es ist die Zeit, da sie an
ihrem Unvermögen leiden wie niemals sonst. Mit ihnen zu sprechen wird mühsam und
unergiebig, sie werden maulfaul, es ist als brauchten sie jedes Wort zur Rettung ihrer
verworrenen Angelegenheiten. Atemlos hin und her denkend, haben sie nichts anderes
als Schadensbegrenzung im Sinn; dort ist eine Wand so schief, daß die Türen nicht
schließen, dort muß nachträglich eine Heizung eingebaut werden, weil es viel zu kalt
in den Zimmerchen ist, dort müssen sie schleunigst eine undichte Stelle im Dach ihrer
Hütte flicken, die einmal ein Palast hatte werden sollen.
Rudolf näherte sich dem Ende eines Romans. Louises Verständnis für seine
Launenhaftigkeit (das für viele Romane ausgereicht hätte) wurde von ihm als
selbstverständlich hingenommen, er bemerkte es kaum. Daß er wie ein Mondsüchtiger
durch die Wohnung lief und den Mund nur dann aufmachte, wenn er bedient werden
wollte oder wenn er sich über Störungen durch das Kind beklagte, änderte nichts an
ihrer guten Stimmung. Diese Stimmung schien sogar stabiler zu werden, je
unerträglicher er sich benahm, so als ware Louise sich ihrer therapeutischen Funktion
bewußt und verfüge über die Erfahrung einer, die sich schon einmal auf der anderen
Seite umgesehen hat. Zu der wütenden Henriette sagte sie, sie solle Rudolf wegen
seiner Ungeduld nicht böse sein, er brauche jetzt all seine Geduld für sich selbst.
Trotzdem konnte sie nicht verhindern, daß es zu einem Handgemenge kam.
(JUREK BECKER)
TEXT 4:
Das Kunstwerk steht vor uns, aber es steht vor uns zunächst nur als so und so
behauener Stein, als so und so bemalte Leinwand. Diese Gegenwart ist nur scheinbar,
seine wahre Gegenwart, die in den Geistern, ist nicht selbstverständlich und
mannigfachen Wechselfällen unterworfen. Nicht jeder ist fähig und nicht zu jeder Zeit,
dem Kunstwerk zu seiner wahren Gegenwart zu verhelfen.
Ferner: Dieses Kunstwerk ist einmal im Jahre soundsoviel von dem Künstler
geschaffen worden, aber dieses Ereignis seiner Schöpfung ist vergangen und wird sich
nie wiederholen; geblieben ist (wenn sie geblieben ist) nur die Spur der Schöpfung
oder ihr Leib. Und doch kann dieses Werk jederzeit in einem Geist, welcher der
Offenbarung des lebendigen Kunstwerks würdig und fähig geworden ist, zu seinem
vollen Leben wieder auferstehen und seine wahre Gegenwart gewinnen, als wäre keine
Zeit vergangen. Und nur wenn es seine wahre Gegenwart fur eine Zeit
wiedergewonnen hat, kann es überhaupt erst als geschichtliches Ereignis gefaßt und
verstanden warden.
Diese Grunderfahrung, daß das Kunstwerk zugleich der geschichtlichen Zeit angehört,
wie jedes andere geschichtliche Ereignis auch, zugleich aber in eigentümlicher Weise
aus der Geschichtlichkeit heraus- und in eine außergeschichtliche, übergeschichtliche
Zeit eintritt, bildet das Grundparadox einer geschichtlichen Betrachtung der Kunst.
Diese setzt mithin eine Lehre von der Zeit voraus. Ohne eine Theorie der Zeit ist
weder eine Theorie der Geschichte und der Sozietät noch eine Theorie des Kunstwerks
und der Kunstgeschichte möglich.
Diejenigen, die dieses Paradoxon am intensivsten erfahren haben — und es sind nicht
immer Kunsthistoriker gewesen —, haben das Bemerkte meist so ausgedrückt, daß sie
von der eigentümlichen Zeitlostgkeit des wahren Kunstwerks sprechen.
(HANS SEDLMAYR)