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Jean-Michel Maulpoix und Paul Celan : Dichten nach Auschwitz Der Begründer des „kritischen Dichtens“ musste früher oder später auf seinem Weg dem Werk von Paul Celan begegnen; zu dieser Begegnung kam es am Ende der 1990er Jahre. Zehn Jahre später, 2009, fand sie mit der Besprechung der von Celan 1968 herausgebrachten poetischen Anthologie mit dem Titel Ausgewählte Gedichte (französische Übersetzung 1998 von Jean-Pierre Lefebvre in der Reihe Poésie/Gallimard) ihren konkreten Niederschlag. Celan, dessen Werk für das Fortbestehen des Dichtens nach Auschwitz steht, musste zwangsläufig in die theoretischen Überlegungen Jean-Michel Maulpoix´ einfließen, der im Herbst 1999 eine Ausgabe des Nouveau Recueil mit dem Titel D’un lyrisme critique“ herausbrachte, in der Jasmine Getz eine Verszeile aus Fadensonnen zitiert: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen 1 “ Das Interesse Jean-Michel Maulpoix für Celan wird danach in Le poète perplexe deutlich, in dem er Celan zitiert und danach eine sehr enge Verbindung zwischen ihren beiden Werken herstellt: „Es war Erde in ihnen, und sie gruben“ schrieb Paul Celan in Die Niemandsrose. Creuser /Graben: dieses Zeitwort lässt mich nicht los. Geht es um den Sinn oder um das Grab? 1 Paul Celan zitiert von Jasmine Getz, « Ce reste qu’est la poésie », in: Le Nouveau Recueil, Nr. 52, September-November 1999.

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Jean-Michel Maulpoix und Paul Celan : Dichten nach Auschwitz

Der Begründer des „kritischen Dichtens“ musste früher oder später auf seinem

Weg dem Werk von Paul Celan begegnen; zu dieser Begegnung kam es am Ende der

1990er Jahre. Zehn Jahre später, 2009, fand sie mit der Besprechung der von Celan

1968 herausgebrachten poetischen Anthologie mit dem Titel Ausgewählte Gedichte

(französische Übersetzung 1998 von Jean-Pierre Lefebvre in der Reihe

Poésie/Gallimard) ihren konkreten Niederschlag. Celan, dessen Werk für das

Fortbestehen des Dichtens nach Auschwitz steht, musste zwangsläufig in die

theoretischen Überlegungen Jean-Michel Maulpoix´ einfließen, der im Herbst 1999 eine

Ausgabe des Nouveau Recueil mit dem Titel „D’un lyrisme critique“ herausbrachte, in

der Jasmine Getz eine Verszeile aus Fadensonnen zitiert: „Es sind noch Lieder zu

singen jenseits der Menschen1“ Das Interesse Jean-Michel Maulpoix für Celan wird

danach in Le poète perplexe deutlich, in dem er Celan zitiert und danach eine sehr enge

Verbindung zwischen ihren beiden Werken herstellt:

„Es war Erde in ihnen, und sie gruben“ schrieb Paul Celan in Die Niemandsrose.

Creuser /Graben: dieses Zeitwort lässt mich nicht los. Geht es um den Sinn oder um das Grab?

Schreiben : Beim Graben die primäre Aufwärtsbewegung umdrehen2.

Wir werden uns also mit dem Einfluss von Celans Werk auf die Dichtung von Jean-

Michel Maulpoix befassen, bevor wir näher darauf eingehen, wie er es in seine

theoretischen Überlegungen einbaut. Bei der Gedichtsammlung Pas sur la

neige/Schritte im Schnee, die nur zwei Jahre nach Le poète perplexe erschienen ist, ist

die Präsenz Paul Celans am stärksten zu spüren; die Lektüre mehrerer Bücher Celans

und insbesondere das Verb «graben» scheinen Pas sur la neige geprägt zu haben, das

wir in Verbindung mit dieser neuen Definition des Schreibaktes untersuchen wollen.

Dann stellen wir uns die Frage, was Jean-Michel Maulpoix von Celan in seinen

1 Paul Celan zitiert von Jasmine Getz, « Ce reste qu’est la poésie », in: Le Nouveau Recueil, Nr. 52, September-November 1999. 2 J.-M. Maulpoix, Le Poète perplexe, Paris, José Corti, 2002, S. 36

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theoretischen Schriften aufgreift, bevor wir überprüfen, welchen Platz er ihm beim

Lesen der Dichter der Moderne zuweist.

*

Pas sur la neige unter dem Blickwinkel von Celans Schriften

„Auf welchen Wegen gingen sie ins Unsichtbare, die Verstorbenen, die zu uns

zurückkehren? So fleischlos, so bleich, dass man nur noch ihre Schritte sieht?3“

Diese Frage stellt Jean-Michel Maulpoix, sie könnte auch von Paul Celan sein.

Das Wort „fleischlos“ lässt an die Opfer der Nazi-Konzentrationslager denken. Ist

dieser Vergleich zu weit hergeholt? Vielleicht nicht, wenn man sich auf den Kontext

besinnt, in dem Pas sur la neige begonnen wurde. Jean-Michel Maulpoix hält sich

damals bei einem Symposium in Bayern auf, in der Nähe von München, nicht weit von

Dachau entfernt. Es ist Jänner, es beginnt zu schneien und in der Erinnerung an

Debussys Prélude „Des pas sur la neige“, an die „Schritte“ von Paul Valéry, dem das

Symposium gewidmet ist, beginnt der Dichter zu schreiben. Er ist in Deutschland, er hat

Celan gelesen, insbesondere seit er sich für die Zeitschrift L’Ephémère zu interessieren

beginnt, in der Der Meridian/Le Méridien in der Übersetzung von André du Bouchet

veröffentlicht wurde. Jean-Michel Maulpoix schrieb für das 1998 erschienene Buch von

Alain Mascarou, Les Cahiers de „L’Ephémère“ das Vorwort. In diesem Schnee, der in

Bayern fällt, sieht er Schritte. Seine Fantasie setzt sich in Bewegung, der Rhythmus

seines Schreibens stimmt kurz mit dem des Unsichtbaren überein, auf das die Schritte

verweisen. Denn was gibt es bei den im Schnee eingezeichneten anonymen Schritten,

und allgemeiner bei jedem Schritt zu suchen? Celan sagt es uns in Der Meridian: „Ich

suche ihn – […]: um des Ortes der Dichtung, um der Freisetzung, um des Schritts

willen4“. Der Schritt ist ein ganz wesentliches Wort für Celan, das in der Übersetzung

des Titels von Jean-Michel Maulpoix Sammlung ins Deutsche, Schritte im Schnee, auch

seines wird. Der Schritt, Schritte. Wessen Schritte sind es? Die Schritte im Schnee

lassen den Anderen auftauchen, den Fremden, den Unsichtbaren, den Entschwundenen,

der eine Spur zurückgelassen hat, bevor er in der Anonymität verschwindet. Dieser

Schritt, das ist die Spur des Anderen. Die Schritte im Schnee in seinem Heft festhalten,

das heißt eine Beziehung mit dem Anderen aufbauen. Und so kommen wir zum

3 J.-M. Maulpoix, Schritte im Schnee, aus dem Französischen von Margret Millischer, Leipzig, Leipziger Literaturverlag, 2012 [Frankreich, 2004}, S. 9.4 Paul Celan, Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, (1983), S. 49-50.

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Meridian zurück. „Finden wir jetzt vielleicht den Ort, wo das Fremde war, den Ort, wo

die Person sich freizusetzen vermochte, als ein – befremdetes- Ich? Finden wir einen

solchen Ort, einen solchen Schritt?5“ Es handelt sich nämlich darum, trotz des

Auslöschens durch den Schnee zum „Ort der Dichtung“ zurückzukehren, an dem das

Ich aus dem Kontakt mit dem Anderen hingeht. Jean-Michel Maulpoix´ Schritte im

Schnee führen den Leser langsam zum Ursprung seines Schreibens, zu dieser Anderen

zurück, durch die er erst Ich sein kann und die er «Die Frau aus Schnee» nennt. Die

Andere, das ist das Personalpronomen «sie», eine Leere, die das Gedächtnis des

Dichters mit seinen Erinnerungen anfüllt: „Sie. Der schwarze Kern. Die eingegrabene

Leere in mir. Die Leere, aus der ich geboren wurde.6“. Diese Leere steht am Ursprung

des Schreibens. Die Leere von Paul Celans Mutter, die von den Nazis ermordet wurde;

die Leere von Jean-Michel Maulpoix’ Großmutter, die viel zu früh verstorben ist. „Steht

nicht über so vielen Werken zwanghaft die Gestalt einer geliebten Toten, die Schicksal

und Aufgabe für den Schriftsteller festlegt?7“, fragt der Dichter. Wie soll man da nicht

an Celan denken? Und ebenso wie bei Celans Dichtung taucht das Thema der Schuld

auf, das mit einem Zitat von Yves Bonnefoy eingeführt wird: „Und ich träumte davon,

eines Tages – aber wie? die Schuld desjenigen, der frühmorgens aus der Welt geflohen

war, wiedergutzumachen8“. Die Aufgabe des Schreibens besteht darin, zu versuchen,

eine Schuld wiedergutzumachen, die nicht seine ist, da Bonnefoy auf die Schuld eines

Mannes verweist, der eine Frau verlassen haben soll, die verrückt geworden ist, die er

sich – wie er sagt –als Kind angesichts des Verhaltens dieser Frau in der Fantasie

vorgestellt hatte. Paul Celan wird beim Dichten sein ganzes Leben lang versuchen,

durch sein Werk die Schuld des Überlebenden wiedergutzumachen, zu dem ihn die

Nazimörder seiner Mutter gemacht haben. Dagegen wird sich Jean-Michel Maulpoix in

Schritte im Schnee durch seine Hommage an „die Frau aus Schnee“ erstmals mit dem

Tod der Großmutter in Ruhe auseinandersetzen. Das dichterische Werk unterhält eine

geheime Verbindung mit dem Schuldgefühl, das scheint die Überzeugung von Celan,

Yves Bonnefoy und Jean-Michel Maulpoix zu sein. „Die eingegrabene Leere in mir.

Die Leere, aus der ich geboren wurde“ nimmt direkt auf Celan Bezug, wenn man an Le

Poète perplexe denkt, dieses kritische Werk, in dem Jean-Michel Maulpoix Celan

5 Celan, Der Meridian, op. cit., S. 51.6 J.-M. Maulpoix, Schritte im Schnee, op. cit., S. 89.7 Ibid., S. 93.8 Ibid., S. 95 et Yves Bonnefoy, Rue Traversière, « L’Égypte », Paris, Poésie/Gallimard, 1992, S. 15.

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erstmals in seine Überlegungen über die Poesie miteinbezieht und uns anvertraut, dass

das Verb «graben» für ihn, seit er das erste Gedicht von Niemandsrose gelesen hat,

einen geradezu obsessionellen Charakter angenommen hat:

„ES WAR ERDE IN IHNEN, und sie gruben.

Sie gruben und gruben, so gingihr Tag dahin, ihre Nacht“.

Das Verb «graben/creuser» durchzieht seine Dichtung, für ihn bedeutet Schreiben nun

„beim Graben die primäre Aufwärtsbewegung umzudrehen9“.

Diese Überlegung ist essentiell, will man die Entwicklung seines dichterischen

ebenso wie seines kritischen Werks verstehen. Die Verben schaufeln und graben, die

die Gedichte Celans durchziehen, werden auf das Werk Jean-Michel Maulpoix´

übertragen. Beschränkt man sich fürs erste auf Schritte im Schnee, dann kann man

feststellen, dass der in den Schnee eingegrabene Schritt dem Dichter keine Ruhe lässt

und dieser Schritt uns nach und nach zu dieser „eingegrabenen Leere in mir10“ führt, die

der Tod gegraben hat. Die Definition des Schreibaktes, zu der Jean-Michel Maulpoix

nach dem Lesen Celans gelangt, gilt auch für seine eigene Poesie. Dabei folgt er einer

absteigenden und nicht einer Aufwärtsbewegung:

„Nur darum geht es, man weiß es, hinabsteigen immer weiter,Zum Schweigen, zum Nichts, hinabsteigen, als fiele der SchneeLeicht zu sterben, schwerelos in der Winternacht.11“

Das Schreiben wird folglich als Umkehr seiner ursprünglichen Bewegung nach oben -

als Aufschwung, Elan, wenn schon nicht als Inspiration – definiert.

Bis zur « Poetik des Grashalms » als Abschluss der Gedichtsammlung stellt man diese

Umkehr fest. Obwohl der Grashalm versucht, sich zu erheben, gräbt der Dichter noch

darunter und merkt folgendes an: „Käme ihm irgendein Bild oder Wunsch in den Sinn,

dann sich zu spannen wie die Sehne eines Bogens zwischen dem Erdreich, in dem die

Toten liegen, und dem ganz fernen Blau des Himmels [...]12. Und der Halm lässt ebenso

wie die Schritte im Schnee die Erinnerung an die Toten wach werden: „Es wächst

zwischen Steinen. Zwischen Gräbern. Zwischen Toten13“. Desgleichen wird das Gras bei 9 J.-M. Maulpoix, Le Poète perplexe, Paris, José Corti, p. 36.10 J.-M. Maulpoix, Schritte im Schnee, op. cit., S 89.11 Ibid. S. 27.12 Ibid., S. 125.13 Ibid., S. 131.

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Celans Gedicht „Engführung“ mit Deportation und weißen Steinen in Verbindung

gebracht:

«VERBRACHT insGeländemit der untrüglichen Spur :

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,mit den Schatten der HalmeLies nicht mehr – schau!Schau nicht mehr – geh!14 »

Verbracht, im Sinn von deportiert, verschickt für einen Häftling, wird mit

Großbuchstaben geschrieben, damit das Wort nicht in seinem ursprünglichen Sinn der

Vergangenheitsform von „(Zeit) verbringen“ verstanden wird und es wird von Celan im

Gedicht ebenso wie Gras an den Anfang der Strophe gestellt. Den Naziopfern wird ein

Ort, ein Grab verweigert, sie werden also ins Gelände verbracht. Das Gras steht so mit

der Deportation im Zusammenhang und die Steine sind mehr als nur einfache Steine. In

beiden Gedichten steht das Gras mit dem Tod in Verbindung. Das

auseinandergeschriebene Gras ist kein Gras ohne Vergangenheit. In der jüdischen

Tradition werden Steine anstelle von Blumen auf das Grab gelegt, denn Steine bleiben

bestehen, während Blumen verwelken. Jüdische Gräber werden mit Erde und später mit

Gras bedeckt, wie beim berühmten jüdischen Friedhof in Worms, von dem Martin

Buber spricht15. Es kann sein, dass die Steine im Celans Gedicht auf dieses Ritual

verweisen. «Lies nicht mehr !» könnte eine Anspielung auf die Unmöglichkeit sein, den

Kaddisch in diesem sinnlos gewordenen Gras zu lesen, umso mehr als «auseinander-

geschrieben» für die durch die Deportation «auseinandergerissenen» Familien stehen

könnte, ein Ehepaar nicht in derselben Erde, unter demselben Gras ruhen kann. Das

Bestattungsritual wurde nicht eingehalten, der trauernde Angehörige ist dazu verdammt,

weiterzugehen: „Geh!“ befiehlt ihm der Dichter. Vom Verbrachten bleibt nur eine

14 Paul Celan, „Engführung“, in Die Gedichte, Kommentierte Gesamtausgabe, Sprachgitter, S. 113.15 Martin Buber, zitiert von Karl Ludwig Schmidt, Kirche, Staat, Volk, Judentum. Zwiegespräch [mit Martin Buber] im jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933. In: Theologische Blätter 12, 1933, S. 272 f.: „Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu einer herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf“. (http://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand)

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«untrügliche Spur», kein Grab, und nur im Gedicht wird seiner gedacht, sein

Gedächtnis bewahrt. «Endführung» verweist auf die Tatsache, dass die Deportierten,

hier ein Ehepaar, vielleicht die Eltern des Dichters, nicht gemeinsam liegen:

„NirgendsFragt es nach dir –

Der Ort, wo sie lagen, er hat einen Namen – er hatkeinen. Sie lagen nicht dort16“.

Und etwas weiter im Gedicht kommt noch dreimal das Wort «Asche» vor, das an das

Motiv aus der «Todesfuge» erinnert. Das Gras bei «Engführung» ebenso wie das bei

Jean-Michel Maulpoix steht mit dem Tod in Verbindung.

Haben die Gedichte Celans ihren Niederschlag in Schritte im Schnee gefunden,

so ist es noch viel offensichtlicher, dass Jean-Michel Maulpoix in dessen Werk Ansätze

gefunden hat, um bei seinen kritischen Überlegungen über die Poesie noch tiefer zu

„graben“.

Der Höhepunkt der modernen Poesie

Der Einfluss Celans ist bereits bei La poésie comme l’amour (1998), noch

stärker bei Le poète perplexe (2002) und Adieux au poème (2005) bei Jean-Michel

Maulpoix´ kritischem Denken zu spüren, dann widmet er ihm ein Kapitel in Pour un

lyrisme critique (2009) und schreibt danach eine Abhandlung, die bei Gallimard 2009

erscheint. Doch schon am 14. Dezember 2000 veröffentlicht er auf seiner Webseite eine

Untersuchung mit dem Titel „Einführung in eine Poetik des geschenkten Textes17“, die

jeweils mit einem Celan-Zitat beginnt und endet. Das erste Zitat ist der durch Levinas

berühmt gewordener Satz aus einem Brief Celans an Hans Bender vom 18. Mai 196018,

der diesem Aufsatz vorangestellt wird: « Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied

zwischen Händedruck und Gedicht19". Und das zweite als Abschluss der Untersuchung

ist ein Auszug aus der Bremer Ansprache: 16 Paul Celan, „Engführung“, in Sprachgitter, Die Gedichte, op. cit., S. 113.17 Sehe: http://www.maulpoix.net/textoffert.htm; aufgenommen in: Yves Charnet, Jean-Michel Maulpoix, Poétique du texte offert, Paris, ENS-LSH, 2002.18 Paul Celan, „Brief an Hans Bender“, in Der Meridian und andere Prosa, S19 Paul Celan an Hans Bender, zitiert von Emmanuel Levinas, „Paul Celan de l’être à l’autre“, in Noms propres, Montpellier, Fata Morgana, 1976, rééd. Le Livre de poche, 1997, S 49. Paul Celan, „Brief an Hans Bender“, in Der Meridian und andere Prosa, Suhrkamp, S. 31-32.

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„Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit20“.

Schon Anfang der 2000er Jahre weist Jean-Michel Maulpoix auf einen wesentlichen

Aspekt im Werk Celans hin, auf seine «dialogische Essenz», die Tatsache, dass es aus

Gedichten besteht, die an eine zweite Person gerichtet sind. Diese wichtige Beziehung

zwischen dem Ich und dem Du, die Celan der Philosophie Bubers entnommen hat, wird

in Der Meridian aufgezeigt: „Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses

Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu21“. „Das

Gedicht ist auf den anderen ausgerichtet“, zitiert Jean-Michel Maulpoix in La poésie

comme l’amour22. Und in Pour un lyrisme critique antwortet er wie ein Echo auf Celan:

„Dieser Dichter sucht ein « Du », zu dem er sprechen kann. Das «Ich» bricht zu einer

Begegnung auf Du und Du mit dem Anderen und mit sich auf 23“. Die zweite Person ist

nämlich gleichermaßen der Andere wie die Verdopplung des Ichs, dieses «im eigenen

Inneren empfundene Anderssein, das das lyrische Subjekt ausmacht24». Um diese zweite

Person bei Celan zu veranschaulichen, können wir einen Auszug aus dem Gedicht

«Flügelnacht», aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle zitieren:

„Du, du selbst,in das fremdeAuge gebettet, das dies überblickt 25.

Dieses Beispiel zeigt gut die Doppeldeutigkeit des „Du“ bei Celan, weil das „Du“ hier

im Blick des Anderen als fremdes Auge nur durch den Anderen existiert und

gleichzeitig das Subjekt «du selbst» geworden ist also durch den Blick des Anderen

vielleicht endlich er selbst. Wir können hier ein Echo dieser Dialogsituation in Schritte

im Schnee finden, wo der Schnee die Rolle des Spiegels wie das Auge bei Celan

20 Paul Celan, „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen“, in Der Meridian und andere Prosa, S. 39.21 Paul Celan, Der Meridian und andere Prosa, op. cit., S. 55. 22 J.-M. Maulpoix, La poésie comme l’amour, essai sur la relation lyrique, Paris, Mercure de France, 1998, S. 37.23 J.-M. Maulpoix, Pour un lyrisme critique, Paris, Corti, 2009, S. 53.24 J.-M. Maulpoix, Choix de poèmes de Paul Celan, Paris, Gallimard, Foliothèque, 2009, S. 110.25 Paul Celan, « Flügelnacht », in Von Schwelle zu Schwelle, in: Die Gedichte, op.cit., S. 81.

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einnimmt:

„Du schaust dich in den Spiegel des Schnees und sagst immer wieder: ‘Ich habe

nicht…’ 26“.

„Ich nicht“  - das ist dieses „Du“, dieses „Ich, das nicht mehr Ich ist“, das diese

Dialogsituation im Gedicht eröffnet, ob dieses nun in Prosa oder Versen geschrieben ist.

Und wie bei Celan kann die zweite Person in Schritte im Schnee vielleicht ebenso das

Nichts wie das geliebte Wesen sein, die Frau, zu der der Dichter «Du» sagt, denn das

«Hohle» ist auch das Leere unseres Lebens, das Fehlende, das uns dazu bringt, uns dem

Anderen zuzuwenden, und der Dichter wird dann zum «Du» dieses Anderen:

„ - Lass mich dich ansehen, sagt sie27“. Der Dialog ist bei beiden Dichtern mit dem

Motiv des Blicks verbunden.

Jean-Michel Maulpoix sollte sich auch für die Besonderheit dieses Anderen bei

Celan interessieren, der zwar ein «Du» ist, aber auch «Niemand», ein «Stummes»

«Gelobt seist du, Niemand», schreibt Celan in dem von Jean-Michel Maulpoix in Pour

un lyrisme critique28 zitierten «Psalm». Der Psalm als lyrische Form, auch als Form

religiöser Schriften wird hier an Niemand gerichtet und nicht an Gott, dessen Fehlen

sich in Auschwitz gezeigt hat. Der Psalm spricht zu Niemand, weil nach Auschwitz

niemand mehr die Asche der Toten einsammeln kann noch den Kaddisch vor ihren

aufgelösten Leichen sprechen kann, die wieder zu Staub geworden sind, aber zu einem

Staub ohne Ort, den nur noch das Wort des Dichters aufsammelt und vor dem er sich

durch diesen Psalm verneigt, denn wenn es einen Gott gibt, so ist er nicht da. Niemand

kann mehr diesen Vers eines Kaddisch sprechen, der übrigens nicht der Bestattungs-

kaddisch ist: „Sein großer Name sei gepriesen 29“, er hat keinen Namen mehr, er ist zu

Niemand geworden.

«Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,Niemand bespricht unsern Staub.Niemand. 30»,

schreibt Celan. Der Psalm, der er schreibt, ist ein Gegen-Gesang, einen Gegen-

26 J.-M. Maulpoix, Schritte im Schnee, op. cit., S. 73.27 Ibid.,S 105.28 Paul Celan, Die Niemandsrose, in Die Gedichte, Kommentierte Gesamtausgabe, S. 132..Siehe auch: J.-M. Maulpoix, Pour un lyrisme critique, op. cit., S. 52.29 Auszug aus einem Kaddisch : http://de.wikipedia.org/wiki/Kaddisch30 Paul Celan ; Ibid.

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Kaddisch, denn Beten ist unmöglich geworden: „Die Zeit der Gebete und Lieder ist

schon lange vorbei“31, bestätigt der Autor von Schritte im Schnee. „Das lyrische

Gedicht heute lässt oft eine Stimme hören, die an «niemanden mehr» gerichtet ist”

[…]“, schreibt er und denkt dabei an Celan, über den er danach folgendes sagt: „Der

Dichter hält der Sprache trotz allem die Treue“, auch wenn die Schergen aus ihr ein

mörderisches Wort gemacht haben, auch wenn das Unaussprechliche stattgefunden hat

und derjenige, der die Katastrophe überlebt, verzweifelt die stummen Opfer zu hören

versucht32. Der Dichter bleibt der deutschen Sprache treu, weil diese, bevor sie die

Sprache der Nazischergen wurde, die Sprache seiner Mutter war. Er bleibt dem Dichten

treu, auch wenn dieses eine Krise erleben, Schweigen und Zersplitterung mit aufnehmen

muss, die Bedeutung gefoltert wurde, weil das Dichten «trotz allem» beizubehalten, so

viel heißt wie Widerstand leisten gegen die von den Schergen gewollte Entstellung der

Sprache. Es heißt, ihnen die Sprache wieder abzunehmen und zu versuchen, ihr wieder

einen Sinn zu geben, nach dem Sinn zu graben, und sie wiederum empfindsam,

menschlich zu machen.

Deshalb wird Jean-Michel Maulpoix trotz des Bruches, den Auschwitz in der

Geschichte darstellt, versuchen, es wiedergutzumachen, sich gegen die Tat des

Schergen zu stellen, indem er die Dichtung Celans in die Dichtung der Moderne

einbaut, neben Baudelaire, Rimbaud oder Rilke. Paul Celan ist für Jean-Michel

Maulpoix kein Dichter, den man isoliert sehen sollte, sondern im Gegenteil ein Dichter,

der in der Tradition Baudelaires und Rimbauds zu stellen ist und der uns einen Gesang

hören lässt, der schon seit dem 19. Jahrhundert gebrochen wurde; er wäre demzufolge

der « Höhepunkt » der Moderne und Auschwitz hätte nicht die Dichtung an sich

unmöglich gemacht, sondern nur eine bestimmte Form der Dichtung, die diesen Bruch

ignoriert. Eine derartige Sicht kann insofern fragwürdig erscheinen, als sie den Einfluss

des Grauens von Auschwitz in der Geschichte der Poesie abschwächt, aber sie hat

dennoch den Vorteil, Celan nicht nur durch eine historische Situation zu erklären,

sondern aus ihm einen Dichter der Moderne zu machen, die Auschwitz miteinschließt

und die, im Gegensatz zu der Ansicht Adornos, darüber hinaus weist. Gerade, weil das

Dichten nach Auschwitz möglich und sogar notwendig ist, ist es nicht angebracht, Celan

31 J.-M. Maulpoix, Schritte im Schnee, op. cit., S. 27.32 J.-M. Maulpoix, Pour un lyrisme critique, op. cit., S. 53-54.

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zu isolieren. «Die menschliche, moralische und ontologische Katastrophe des

Nationalsozialismus hat nicht sämtliche Dichtung, sondern nur ihre Leichtigkeit oder

ihren Selbstzweck unmöglich gemacht», schreibt Jean-Michel Maulpoix im

Schlusskapitel seines Buches über Celan33. Vielleicht endet die Moderne mit dessen Tod

1970 und die Postmoderne beginnt; er muss also wie der «Höhepunkt» der Moderne

gelesen werden, was ihm einen ganz wichtigen Platz in der Dichtung einräumt, ohne ihn

deshalb zu isolieren. «Das Werk Paul Celan zeigt diesen modernen Bruch, der bereits

bei Baudelaire, Rimbaud oder Mallarmé festzustellen ist, noch viel schmerzhafter und

führt ihn zum Höhepunkt, […] In gewisser Weise führt es ihn bis zu Ende und damit

vielleicht auch die Moderne34».

*

Halten wir uns an die Antwort Celans an die Buchhandlung Flinker 1958, so

scheint es uns möglich, den Schluss zu ziehen, dass Celan sich sehr wohl als Dichter

sah, aber nicht nur, und sich selbst als Lyriker definierte. Er verlangte also sehr wohl

eine Form von dichterischem Schreiben, unterschied aber zwischen deutscher und

französischer Lyrik35. Und Celan bezog sich auf das „Düsterste im Gedächtnis“, die die

Sprache der deutschen Dichtung verändert hatten. Es scheint, dass es mit der Zeit auch

die Sprache der französischen Dichtung verändert hat und dass dieser Unterschied in

unseren Tagen weniger ausgeprägt ist. Die Notwendigkeit, dass Jean-Michel Maulpoix

von einem «kritischen Dichten» spricht, ist der Beweis dafür, eine Gedichtsammlung

Schritte im Schnee die konkrete Umsetzung. Als Erbe von Dichtern wie Jaccottet oder

Bonnefoy, für die die große Dichtung der Vergangenheit nicht mehr möglich ist, hat

sich Jean-Michel Maulpoix nach und nach an Celan angenähert, in seinem dichterischen

Werk mit Schritte im Schnee und in seinem theoretischen Werk seit 1998 bis zu dem

Band, den er 2009 vollständig Celan widmet. Er bringt uns dazu, nach Celan und mit

ihm, zu «graben», die Geschichte anzunehmen, die Sprache und den Sinn zu

hinterfragen. Dort, wo die Postmoderne uns einen Kult der Gegenwart anbieten, um die

Enttäuschung zu überwinden, stützt sich Jean-Michel Maulpoix auf Celan, um uns dazu

zu bringen, uns über die Moderne Gedanken zu machen, wobei wir den Bruch bewahren

33 J.-M. Maulpoix, Choix de poèmes de Paul Celan, op. cit., p. 143.34 Ibid., S 144.35 Paul Celan, „Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker“, in Der Méridien und andere Prosa, op. cit., S. 21.

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– das an den Anderen gerichtete « Du » vermischt sich manchmal mit « Niemand » -

eine einer melancholischen Stimmung, weil der Dichter den von den Schritten im

Schnee hinterlassenen dunklen Spuren einfach folgen muss, ohne genau zu wissen,

wohin sie ihn führen werden.

Chantal Colomb-Guillaume

Übersetzung von Margret Millischer

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