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Jürgen Trabant Peinliches Deutsch – Die Sprachflüchter Zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung (15.12.2009) © Süddeutsche Zeitung GmbH, München (Rechte nur für ungekürzte Fassung. Kürzungen nur in Rücksprache mit SZ erlaubt) Gefahr für unsere Sprache: Eltern beschweren sich, dass in der Schule ihrer Kinder kaum mehr Deutsch gesprochen wird – und lassen den Nachwuchs schon im Kindergarten Englisch lernen. Englisch gefährdet Deutsch als Kultursprache. Berliner Schulleiter hatten im Januar dieses Jahres in einem dramatischen Manifest auf die katastrophale Situation in den Schulen des Bezirks Mitte, genauer: des proletarischen und migrantenreichen westlichen Teils dieses Bezirks (Wedding), aufmerksam gemacht: Der Bildungsauftrag der Schule sei nicht zu erfüllen, wenn die Schulen nicht endlich in die Lage versetzt würden, Unterricht überhaupt zu ermöglichen. Und das heißt hier vor allem: die Einwandererkinder zu erreichen und ihnen als wichtigsten Schritt in das Leben in diesem Land dessen Sprache – Deutsch – zu vermitteln. Das Problem ist nicht neu, sondern allen Betroffenen seit Jahren völlig klar. Der

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Jürgen TrabantPeinliches Deutsch – Die SprachflüchterZuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung (15.12.2009)© Süddeutsche Zeitung GmbH, München(Rechte nur für ungekürzte Fassung. Kürzungen nur in Rücksprache mit SZ erlaubt) Gefahr für unsere Sprache: Eltern beschweren sich, dass in der Schule ihrer Kinder kaum mehr Deutsch gesprochen wird – und lassen den Nachwuchs schon im Kindergarten Englisch lernen. Englisch gefährdet Deutsch als Kultursprache.Berliner Schulleiter hatten im Januar dieses Jahres in einem dramatischen Manifest auf die katastrophale Situation in den Schulen des Bezirks Mitte, genauer: des proletarischen und migrantenreichen westlichen Teils dieses Bezirks (Wedding), aufmerksam gemacht: Der Bildungsauftrag der Schule sei nicht zu erfüllen, wenn die Schulen nicht endlich in die Lage versetzt würden, Unterricht überhaupt zu ermöglichen. Und das heißt hier vor allem: die Einwandererkinder zu erreichen und ihnen als wichtigsten Schritt in das Leben in diesem Land dessen Sprache – Deutsch – zu vermitteln.Das Problem ist nicht neu, sondern allen Betroffenen seit Jahren völlig klar. Der »Brandbrief« war nun aber medial so gut platziert, dass offensichtlich sofort zusätzliche Lehrkräfte und Mittel mobilisiert wurden. Natürlich kann seitdem noch keine entscheidende Besserung eingetreten sein. Solche Maßnahmen erfordern Zeit, die Lösung des Problems nimmt Jahre und Millionen in Anspruch. Aber es tut sich was. Alle Bildungspolitiker der Republik wollen sich nun endlich darum kümmern (jedenfalls sagen sie es ständig), dass die Migrantenkinder Deutsch lernen, so dass Lernen und Integration möglich werden.Bei den deutschen Eltern kommen solche Nachrichten als Horrormeldungen an: Staatliche Schulen sind offensichtlich Orte, an denen Lernen nicht möglich ist. Weil sie aber nicht warten

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können, bis die öffentlichen Schulen wieder zu Orten des Lernens geworden sind, lösen immer mehr deutsche Eltern das Problem auf ihre Weise. Sie schicken ihre Kinder auf private Schulen. »International schools« schießen aus dem BodenWie diese Lösung des Problems konkret aussieht, kann man gleich nebenan, im »richtigen« Bezirk Mitte (und natürlich im flotten Prenzlauer Berg), und seit langem schon in den bürgerlichen Vierteln des Berliner Westens besichtigen. Der rasante Ausbau eines privaten Schulwesens, das sich die Eltern ziemlich viel Geld kosten lassen, sorgt für gute Lernbedingungen und die beabsichtigte soziale Exklusion. Was nun aber die so wichtige Frage der Sprache angeht, so wird allerdings auch dort – wie im Wedding – wenig oder nicht Deutsch gesprochen, jedenfalls nicht im Klassenzimmer: Die Unterrichtssprache ist Englisch.»International Schools«, »Cosmopolitan Schools« und so fort schießen nicht nur in Berlin aus dem Boden. Die Begeisterung ist groß und allgemein. Die Presse feiert den geschäftstüchtigen Bruder einer berühmten Schauspielerin als großartigen Philantropen, weil er eine solche Schule gegründet hat.Stars aus der Glitzer-Medien-Welt präsentieren sich stolz als Modell-Eltern, weil sie ihre Kinder »selbstverständlich« auf englischsprachige Schulen (und vorher in ebensolche Kinderkrippen und Kindergärten) schicken, die auf das 21. Jahrhundert und die globale Welt und wer weiß was sonst noch Schönes vorbereiten. Die Gründung einer ganz besonders teuren englischsprachigen Schule in der Nähe von Frankfurt durch einen um »Bildung« besorgten Geschäftsmann fand kürzlich ungeheure mediale Aufmerksamkeit. Bröckelnder KittDem Enthusiasmus für diese neue Schule ist allerdings bei näherem Hinsehen entgegenzuhalten, dass der Ausbau eines englischsprachigen Schulwesens in der Mitte Berlins und Deutschlands (in München, Hamburg und Köln ist es ja nicht

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anders) nicht nur eine Lösung des Schul-Problems darstellt, sondern gleichzeitig auch das damit verbundene gesellschaftliche Problem dramatisch zuspitzt: Während sich nämlich auf der einen Seite der gesellschaftlichen Skala ein erklecklicher Anteil der Menschen als unfähig oder unwillig erweist, in die deutsche Sprachgemeinschaft einzutreten, investiert das andere, obere Ende der Gesellschaft erhebliche Mittel und Anstrengungen in den Ausstieg aus der deutschen Sprachgemeinschaft. Die gemeinsame Sprache, daran ist vielleicht zu erinnern, war aber historisch der Kitt – im Grunde der einzige – der staatlichen Gemeinschaft der Deutschen.An beiden Enden der Gesellschaft finden wir nun dieselbe kulturell-politische Einstellung, die diesen Kitt bröckeln lässt, nämlich die Geringschätzung der Nationalsprache Deutsch, allerdings aus ganz verschiedenen Gründen: aus Unkenntnis und bewusster Distanzierung einerseits, aus Angst und Ehrgeiz andererseits. Der Bildungsferne und dem Unwillen, Deutsch zu lernen, unten korrespondiert oben ein geradezu hysterisch aufgeladener Bildungswille, der im Ausstieg aus der Sprachgemeinschaft eine Bedingung für »höhere« Bildung sieht. Bourgeoisie ohne KulturspracheEin immer größer werdender Teil der jungen Bourgeoisie, die sich als Elite versteht oder zu dieser aufsteigen will, glaubt offenbar, die gesellschaftliche Stellung ihrer Kinder nur noch unter Aufgabe des Deutschen als Kultursprache verteidigen zu können.Hoch-Deutsch ist dieser Elternschaft keine wertvolle Bildungssprache mehr, in der die geistige und kulturelle Entfaltung ihrer Kinder erfolgen soll. Die »hohe« Sprache ist jetzt Englisch. Deutsch wird nur noch als eine niedere Volkssprache betrachtet, deren Besitz ihren Kindern gerade die leuchtende Zukunft in Aufsichtsräten und Vorständen verbaut. Natürlich wird an den englischsprachigen Schulen auch Deutsch unterrichtet, aber nur als ein Fach unter anderen. Es wird eben nicht mehr als Unterrichtssprache verwendet. Es ist nicht die »Bildungssprache«,

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in die hinein die Kinder erzogen werden. Die Furcht vor einer umfassenden Sozialisation in der deutschen Sprache ist die Basis für die glänzenden Geschäfte mit »English for babies«, englischsprachigen Kindergärten und den internationalen Schulen. Reklame für schickere StadtviertelDie Schule war früher die große Agentur zum Erwerb oder zum Ausbau der Hoch- und Nationalsprache, die den Dialekt (oder eine andere Primärsprache) in die Sphäre der Familie und des Privaten rückte, als sogenannte Vernakularsprache. Die neue Schule, die mit viel Geld und viel Reklame in den schickeren Stadtvierteln blüht, bewirkt natürlich genau dasselbe: Sie ist die Agentur zum Erwerb der (höheren) Globalsprache und damit zur Herabstufung der alten Nationalsprache zu einer Vernakularsprache.Wie im 18. Jahrhundert verabschiedet sich hier und heute eine Aristokratie aus der Sprach- und Kulturgemeinschaft. Das ist damals bekanntlich der Nation politisch und kulturell nicht bekommen: Politisch distanzierte die Sprachbarriere den französischsprachigen Adel mehr denn je vom Volk, und kulturell hat der frankophone Teil der Deutschen eher schwache Wirkungen gezeitigt: Die französischen Bücher von Leibniz, Friedrich dem Großen oder Alexander von Humboldt sind weder Teil der französischen Literatur geworden, noch sind sie in Deutschland angekommen. Sie schwebten eher im kulturellen Niemandsland. Abschied der EliteDem erneuten Abschied der Elite aus der deutschen Nation entspricht keine gesamteuropäische oder gar globale Entwicklung. Franzosen oder Spanier denken gar nicht daran, ihre französische oder spanische Bildungssprache aufzugeben. Insofern bleiben die Deutschen deutsch, auch wenn sie die dazugehörige Sprache nicht mehr – oder nicht mehr gut – sprechen und schreiben.Natürlich müssen heute alle Kinder Englisch lernen, das heißt: eine – funktional abgestufte – Zweisprachigkeit ist möglichst von allen Schulen zu vermitteln. Es geht bei dem neo-anglophonen

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deutschen Schulwesen aber nicht wirklich um die Entwicklung von Zwei- oder Mehrsprachigkeit, die auf den Webseiten der Etablissements aus Reklamegründen gern bemüht wird, weil Bi- und Multilinguismus inzwischen zu einem heiligen – also völlig unantastbaren und unhinterfragten – Bildungswert aufgestiegen ist.Wenn es um die Förderung von Mehrsprachigkeit ginge, hätte man die Kinder durchaus in die deutsche Staats-Schule schicken können, wo man nicht nur viele Mitschüler mit verschiedenen Erstsprachen trifft, sondern wo durch gut ausgebildete Lehrer eigentlich immer ein sehr anständiger Fremdsprachenunterricht erteilt und eine durchaus passable Mehrsprachigkeit vermittelt wurde.Oder wenn dies an den staatlichen Schulen nicht gewährleistet ist – man hätte sich ja in Privatschulen mit Deutsch als Unterrichtssprache und einem intensiven Fremdsprachenunterricht flüchten können. Es geht in Wirklichkeit aber einzig um die Fertigkeit in der »Einen Hohen Sprache«. Dieser Wunsch und der entsprechende Druck auf das Schulwesen sind gegenwärtig so stark, dass auch immer mehr – im Prinzip deutschsprachige – »Elite«-Staatsschulen zur »höheren« englischen Einsprachigkeit übergehen. Schulterzucken über die »jungen Leut«Nun, man könnte sich mit dem üblichen Schulterzucken über den Lauf der – sich jetzt so glücklich globalisierenden – Welt beruhigen: »Sind halt aso, die jungen Leut!« Und sicher werden meine Bemerkungen keine einzige Prenzlbergerin dazu bewegen, ihr Kind von der Warteliste für »English for babies« und die darauf aufbauenden kommerziellen Sprachangebote (»for toddlers«, »for kids«, »international school«) streichen zu lassen.Dennoch wäre vielleicht noch Folgendes zu bedenken, das ja durchaus ebenfalls die Zukunft der »babies«, »toddlers« und »kids« betrifft: Nicht nur gefährdet die sich aus der Nationalsprache verabschiedende Elite die traditionelle kulturelle Kohärenz der Nation, sie erschwert mit ihrem Ausstieg auch den

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weiteren demokratischen Ausbau der Nation »von unten«, das heißt: die sprachliche Integration der Migranten, auf die wir so dringend angewiesen sind: Denn wieso sollen eigentlich die Migranten in die deutsche Sprache einsteigen, wenn offensichtlich gerade die besonders ehrgeizigen Deutschen aus ihrer Sprache – und aus der Schule, in der diese Sprache Unterrichtssprache ist – aussteigen? So dumm sind die Migranten nichtSo dumm sind die Migranten nicht, dass sie nicht sehen würden, dass sie mit dem Erwerb des Deutschen ja nur eine zweite Vernakularsprache lernen, wenn doch die »Hohe Sprache« des Landes – oder wie Herr Oettinger sagt: die »Arbeitssprache« – Englisch ist. Eine zweite Vernakularsprache brauchen sie nicht. Wozu also die Mühe? Die schicke englischsprachige (Privat-)Schule für Deutsche in Deutschlands Mitte ist nicht das Signal an die Migranten, hier anzukommen, sondern im Gegenteil eine deutliche Aufforderung, zu bleiben, wo sie sind, nämlich unter sich, oder aber – wie wir Deutsche – von hier abzuhauen: ins Globale.Jan Hofmann, Ingo Rollwagen und Stefan SchneiderDeutschland im Jahr 2020. Neue Herausforderungen für ein Land auf Expedition (Kurzfassung)© Deutsche Bank Research Die kommenden zwei Dekaden werden entscheidend sein für den Weg, den Deutschland langfristig einschlägt. Wird die deutsche Gesellschaft den demografischen Druck auf Wirtschaft und Staatsfinanzen abfedern können? Wird es Deutschland gelingen, seine Rolle in der sich rasch verändernden weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ordnung neu zu definieren? Wird Deutschland Vorreiter oder Nachzügler auf dem Weg in die Wissenswirtschaft sein?Um zukunftssichere Strategien entwickeln zu können, müssen Politik und Unternehmen frühzeitig Antworten auf diese Fragen

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finden. Mit unserem Projekt »Deutschland im Jahr 2020« stellen wir dafür – auf Basis einer innovativen Szenarioanalyse – eine Blaupause zur Verfügung.Im ersten Schritt skizzieren wir mit Hilfe vier alternativer Szenarien, wohin sich Deutschlands Wirtschaft und Gesellschaft bis zum Jahr 2020 entwickelt haben können (»Expedition Deutschland«, »Wild West«, »Zugbrücke hoch« und »Skatrunde beim Nachbarn«). Im zweiten Schritt untersuchen wir auf Basis einer breit angelegten Trendanalyse, welches dieser vier Zukunftsbilder das plausibelste ist.Die Kernelemente dieses Szenarios »Expedition Deutschland« für das Jahr 2020 sind (formuliert aus der Perspektive des Jahres 2020):Anno 2020. Die Projektwirtschaft liefert 15 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland (in 2007 waren es etwa 2 Prozent). »Projektwirtschaft« steht für zumeist temporäre, außerordentlich kooperative und oft globale Wertschöpfungsprozesse. Diese Art der Kooperation ist für viele Unternehmen heute häufig die effizienteste Art des Wirtschaftens. Denn Produktlebenszyklen haben sich weiter verkürzt; die Breite und Tiefe des Wissens, die für die Entwicklung und Vermarktung erfolgreicher Produkte nötig sind, haben rapide zugenommen; erfolgreiche Produkte entstehen immer häufiger durch die Konvergenz verschiedener Technologie- bzw. Wissensfelder; und viele Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind in 2020 noch stärker spezialisiert als schon 2007.Sie kooperieren daher immer häufiger in gemeinsamen Projekten, oft in Form rechtlich und organisatorisch eigenständiger Projektgesellschaften. In diese Projekte entsenden sie spezialisierte Mitarbeiter oder Organisationsteile, investieren Kapital oder stellen Wissen und Netzwerke zur Verfügung. So können die Unternehmen flexibel, mit geteilten Kosten und geteiltem Risiko auf die deutlich gestiegenen Wissens- und Geschwindigkeitsanforderungen der globalen Märkte reagieren.Damit haben sie oft, aber keinesfalls immer Erfolg: Auch in 2020

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erzeugt Kooperation viel persönliche und strategische Reibung. Für ein Abmildern der technischen Reibung sorgen 2020 reife, hoch standardisierte Informationstechnologien.Die Projektwirtschaft ist dabei eng mit der klassischen Art des Wirtschaftens verwoben. Auch 2020 bringen viele Unternehmen noch Produkte im Alleingang auf den Markt. Oft kooperieren dieselben Unternehmen jedoch in anderen Märkten – z. B. den innovationsintensiven – auf projektwirtschaftliche Art. Insbesondere der deutsche Mittelstand profitiert von der Projektwirtschaft. Er kann seine Spezialisierungsvorteile und organisatorische Beweglichkeit nutzen – und wird zudem von einer neuen Gründungsdynamik verstärkt.Mit offenen Innovationsprozessen gelang der Sprung in neue Märkte. Deutschland hat 2020 in Märkten für Spitzentechnologie und wissensintensive Dienstleistungen aufgeholt. Innovation ist heute Deutschlands Kernkompetenz, »Created in Germany« insbesondere in Asien und im Nahen Osten oft erste Wahl. Das glückte nicht zuletzt durch kooperative Innovation und intelligentes Teilen und Tauschen von Wissen und geistigem Eigentum. Projektwirtschaftliches Arbeiten erwies sich gerade in den frühen, innovativen und damit besonders wissensintensiven Phasen der Wertschöpfung als effizient. Zudem haben viele deutsche Unternehmen (sowie ihre lokalen und internationalen Projektgesellschaften) in den vergangenen Jahren davon profitiert, dass sie die Generation der »souveränen Kunden« enger in ihre Prozesse eingebunden haben. Diese Kunden sind über interaktive Foren untereinander gut vernetzt und über Preise und Qualitäten in ihrem Interessengebiet aktuell informiert.Auf der Strecke geblieben sind dagegen bis 2020 viele Investitionen der Wirtschaft in langfristige Forschung und Entwicklung. Sie sind mit den heute kurzlebigeren Wertschöpfungsmustern oft schlecht vereinbar.Wissen wird 2020 auf effizienten Märkten gehandelt. Wissen über Kunden, Märkte und viele andere Themen wird heute weit effizienter bewertet und gehandelt als noch in 2007. Die Anbieter

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solcher Wissensdienstleistungen florieren. Geistiges Eigentum ist zu einer viel genutzten Assetklasse geworden, Investoren können aus einem breiten Spektrum themenorientierter Patentfonds, Verbriefungen von Urheberrechten etc. wählen. Zudem ist intellektuelles Kapital in den Fokus der Unternehmensbewertung gerückt: Den Kapitalmarkt interessieren heute neben traditionellen Bilanzkennzahlen auch Forschungseffizienz, Weiterbildungsbudgets und Kooperationsratings eines Unternehmens.Die jungen wie die älteren Köpfe, in denen dieses intellektuelle Kapital steckt, profitieren 2020 von effizienten Lernmärkten. Private Lernanbieter prosperieren. Aber auch die öffentlichen Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen sind nach einer Konsolidierungswelle effizienter geworden. Sie engagieren sich darüber hinaus stärker im Markt für modulare Weiterbildung.Der Staat reduziert seine Einmischung und lernt bei der Regulierung mit Bürgern und Unternehmen. Einerseits haben den Staat Legitimationsprobleme motiviert und sein weiter eingeengter fiskalischer Spielraum gezwungen, Aufgaben abzugeben. Andererseits sind die Regulierungsthemen immer komplexer geworden. Der Staat braucht heute mehr denn je das Wissen von Bürgern und Unternehmen, um adäquate Rahmenbedingungen setzen zu können.Die so entstehende Regulierung ist intelligenter an gesellschaftliche und wirtschaftliche Belange angepasst. Sie ist für Bürger und Unternehmen transparenter und erleichtert das Erobern neuer Märkte. Generell hat der Rückzug des Staates aus einigen seiner Aufgabenbereiche aber auch dazu geführt, dass Sozialtransfers heute an Gegenleistungen gebunden sind. Zudem werden immer mehr soziale Dienstleistungen (z. B. Pflege) privat organisiert. Deutschland ist eine »Tätigkeitsgesellschaft« geworden.Die deutsche Gesellschaft bildet bis 2020 eine neue Mitte, der untere Rand verliert jedoch den Anschluss. Die Mittelschicht feiert ihr Comeback. Die neuen Aufstiegschancen und das höhere

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Abstiegsrisiko, beides Folgen globalerer und volatilerer Wertschöpfung, haben ihr den Wert von Wissen klar vorAugen geführt. Viele Bürger mit mittleren Einkommen investieren daher massiv in Bildung – und qualifizieren sich so für die anspruchsvollen, aber auch gut bezahlten Aufgaben in der Projektwirtschaft.Auch gut gebildete Ältere zählen zu den Gewinnern, sie sind in 2020 intelligent ins Arbeitsleben eingebunden. Niedrigverdiener haben dagegen nur begrenzt Zugang zu den neuen Lernmärkten und stehen, jung wie alt, unter oft existentiellem Druck. Für diese Gruppe ist der internationale Wettbewerb noch einschneidender als für andere. Viele von ihnen sind gezwungen, sich in Hintergrundnetzen selbst zu organisieren, viele haben den Glauben an die Politik verloren.Aufgrund der skizzierten strukturellen Veränderungen auf dem Weg zur »Expedition Deutschland« erwarten wir für Deutschland bis 2020 ein durchschnittliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 Prozent pro Jahr.Diese Veränderungen öffnen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik aus der Perspektive von 2007 außergewöhnliche Chancen, bergen jedoch auch erhebliche Risiken. Wichtige unternehmerische Handlungsfelder sind z. B. eine strukturierte Analyse von Kooperationsoptionen, eine systematischere Bewertung immateriellen Kapitals sowie die Öffnung für neue Weiterbildungsformen. Wer 2020 zu den Gewinnern zählen will, sollte diese Aufgaben schon heute im Visier haben.Zur Methodik: Unsere erweiterte Szenariomethode erlaubt es, ein breites Spektrum relevanter Entwicklungen parallel zu berücksichtigen und miteinander in Beziehung zu bringen. Die Identifikation des plausibelsten Szenarios basiert auf der Analyse hoch aggregierter und in ihrer künftigen Entwicklung gut abschätzbarer Trends (wie Klimawandel, Verknappung fossiler Energien, gesellschaftliche Alterung, Beschleunigung der Wissensentwicklung etc.). […]