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Der Expertenstandard zur Förderung der Harnkontinenz in der Pflege wurde 2007 vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) veröffentlicht. Damit wurde Pflegenden ein geballtes Bündel an wissenschaftlicher Expertise an die Hand ge- geben. Doch wie können sechs Jahre nach Veröffentlichung und zahlreichen Implemen- tierungen Nutzen und Grenzen des Expertenstandards bewertet werden? In der stationären Langzeitpflege sind international zwischen 50 und 75% der Pflegeempfänger von Harninkontinenz betroffen. Eine Erhebung in 47 Pflegeheimen in Deutschland ermittelte eine Gesamt- prävalenz von 87,3%. Im Erhebungszeitraum von zwei Jahren waren nur 12,2% dauerhaft kontinent. Die Autoren der SÄVIP-Studie (Studie zur ärztlichen Expertenstandard Pflegequalität Kontinenzprofile Kontinenztraining KEYWORDS Chancen und Grenzen des Expertenstandards Wege zur Kontinenz I n Deutschland leiden circa 12,6% der Bevölkerung an einer Harninkontinenz. Frauen sind zwei bis viermal häufiger betroffen als Männer. Mit zuneh- mendem Alter wächst das Risiko bei beiden Ge- schlechtern, an einer Harninkontinenz zu erkranken. Im sehr hohen Alter nähern sich die Prävalenzen einander an, werden allerdings nie gleich. © Thinkstock 10.1007/s00058-013-1210-1 32 PflegeKolleg Kontinenz fördern Heilberufe / Das Pflegemagazin 2013; 65 (12) PflegeKolleg

Wege zur Kontinenz

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Page 1: Wege zur Kontinenz

Der Expertenstandard zur Förderung der Harnkontinenz in der Pflege wurde 2007 vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) veröffentlicht. Damit wurde Pflegenden ein geballtes Bündel an wissenschaftlicher Expertise an die Hand ge-geben. Doch wie können sechs Jahre nach Veröffentlichung und zahlreichen Implemen-tierungen Nutzen und Grenzen des Expertenstandards bewertet werden?

In der stationären Langzeitpflege sind international zwischen 50 und 75% der Pflegeempfänger von Harninkontinenz betroffen. Eine Erhebung in 47 Pflegeheimen in Deutschland ermittelte eine Gesamt-prävalenz von 87,3%. Im Erhebungszeitraum von zwei Jahren waren nur 12,2% dauerhaft kontinent. Die Autoren der SÄVIP-Studie (Studie zur ärztlichen

ExpertenstandardPflegequalitätKontinenzprofileKontinenztraining

KEYWORDS

Chancen und Grenzen des Expertenstandards

Wege zur Kontinenz

In Deutschland leiden circa 12,6% der Bevölkerung an einer Harninkontinenz. Frauen sind zwei bis viermal häufiger betroffen als Männer. Mit zuneh-

mendem Alter wächst das Risiko bei beiden Ge-schlechtern, an einer Harninkontinenz zu erkranken. Im sehr hohen Alter nähern sich die Prävalenzen einander an, werden allerdings nie gleich. ©

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PflegeKolleg Kontinenz fördern

Heilberufe / Das Pfl egemagazin 2013; 65 (12)

PflegeKolleg

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Der Expertenstandard sichert die Qualität der Pflege des Pflegeempfängers.

Versorgung in Pflegeheimen in Deutschland), für die in 782 Alten- und Pflegeheimen Daten erhoben wor-den sind, kommen zu dem Ergebnis, dass 72% aller Heimbewohner unter einer Harninkontinenz leiden. Müssen Bewohner im Laufe ihres Heimaufenthalts weitere Ressourcen wie Mobilität oder kognitive Fä-higkeiten einbüßen, steigt damit auch das Risiko für bislang kontinente Bewohner an einer Harninkonti-nenz zu erkranken. In Krankenhäusern ist das Auf-treten der Harninkontinenz geringer. Nur jede vierte bzw. jeder fünfte ist im Schnitt von einer Inkontinenz betroffen.

Expertenstandard gibt HandlungsempfehlungenZiel des Expertenstandards Förderung der Harnkon-tinenz in der Pflege ist es, Personen, die unter Inkon-tinenz leiden oder von ihr bedroht sind, professionelle pflegerische Unterstützung zu Teil werden zu lassen. Dabei blicken die Experten in einer ganzheitlichen Weise auf den Betroffenen: „Es geht nicht nur um Pathophysiologie, Faktoren, Determinanten, Hilfs-mittel, Gymnastik, Assessments, sondern auch da-rum, dass ein Mensch eine Fähigkeit verliert, die typisch für das Erwachsenenalter ist. Es geht um das Erleben, die Leiblichkeit, Scham, die Gefahr der so-zialen Ausgrenzung und Stigmatisierung“ (DNQP 2007).

Somit werden nicht nur Handlungsempfehlungen für Pflegende ausgesprochen, sondern auch ihre em-pathische Teilnahme bezüglich der Bedeutung der Harninkontinenz angeregt. Der Expertenstandard Förderung der Kontinenz in der Pflege greift ein hochgradig tabuisiertes Thema auf und stellt es in das Zentrum professionellen Handelns. Pflegende frischen mit dem Expertenwissen nicht nur ihre in der Vergangenheit gelernten Inhalte auf. Sie fundie-ren bei der Auseinandersetzung mit der Thematik ihr Handeln wissenschaftlich und werden sich ihrer Rolle im Prozess der Planung kontinenzerhaltender,

kompensierender beziehungsweise fördernder Maß-nahmen bewusst. Der Expertenstandard leitet durch den gesamten Pflegeprozess: von der Anamnese über die Planung und Strukturierung, die Durchführung bis zur Evaluation von Maßnahmen. Dabei bilden die Kontinenzprofile ein Gerüst, die bei der Anamne-se eine Einschätzung der Kontinenzsituation zulassen. Das Erreichen des Ziels wird als interprofessionelle Aufgabe definiert.Der Expertenstandard liefert Pflegenden evidenzba-sierte Handlungsempfehlungen. Diese werden in allgemeine und spezielle Maßnahmen unterschieden. Allgemeine Maßnahmen zur Verbesserung der Kon-tinenzsituation sind u.a.:

▶ Ausreichende Flüssigkeitszufuhr (konzentrierter Urin kann eine Drangsymptomatik auslösen)

▶ Gewichtsreduktion ▶ Darmmanagement (z.B. mittels Obstipationsprophylaxe)

▶ Verbesserung der Umgebungsfaktoren (z.B. erreich-bare Türklinken, ausgeleuchtete Wege zur Toilette oder bereitgestellte Hilfsmittel)

Während allgemeine Maßnahmen beinahe aus-nahmslos angewandt werden können, bedarf es bei speziellen Maßnahmen in besonderem Maße des Fachwissens und der Planungskompetenz Pflegender, um die Personen zu identifizieren, die von den Maß-nahmen profitieren. Spezielle Maßnahmen zur För-derung der Kontinenz sind u.a.:

▶ Blasentraining ▶ Beckenbodentraining mit oder ohne unterstützende Technik

▶ Toilettentraining, (angebotener) Toilettengang zu festen oder individuellen Zeiten

Ökonomischer Nutzen ist belegtNeben dem fundiertem wissenschaftlichen Wissen, den daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen und dem positiven Effekt für inkontinente und von In-kontinenz bedrohte Pflegeempfänger, zeigt der Ex-pertenstandard auch ökonomische Vorzüge. Bei einem Vergleich der Kosten für verschiedene Erkran-

Harnkontinenz

Harnkontinenz bezeichnet sowohl die Fähigkeit, die Blase willkürlich und zu passender Zeit an einem passenden Ort zu entleeren als auch die Fähigkeit, das Bedürfnis danach kommunizieren zu können oder die Fähigkeit, Hilfe einzufordern.Voraussetzungen für die intakte Blasenentleerung sind ein unversehrter Blasenschließmuskel, ein funktionsfähiger Harnblasenmuskel, eine durchgän-gige Harnröhre und eine ungestörte Weiterleitung der Nervenimpulse von der Blase zum Gehirn und zurück.

D E FI N ITI O N

Harninkontinenz

Unter Harninkontinenz wird jeder unwillkürliche Harnabgang zu unpassender Zeit oder an unpas-sendem Ort ab dem sechsten Lebensjahr verstan-den. Harninkontinenz kann ebenfalls als ein Symptom oder mehrere Symptome beschrieben werden, die mitunter in einem klinischen Bild miteinander kumulieren. So werden je nach Symptomkomplex unterschiedliche Inkontinenzformen voneinander unterschieden wie Dranginkontinenz oder Bela-stungs-/Stressinkontinenz.

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Jörg SchmalGesundheits- und Krankenpfleger cand. Pflegepädagoge B.A. Ramsbachstr. 9, 88069 Tettnang [email protected] beim Verfasser

▶ Das Pflegemanagement schafft die Rahmenbe-dingungen für die Implementierung des Stan-dards. Professionell Pflegende sorgen dabei für Praxisnähe und beachten die Bedürfnisse der Empfänger (Patienten/Bewohner).

▶ Bei der Umsetzung nationaler Expertenstandards haben sich Qualitätszirkel bewährt. Sie fungieren zwischen den einzelnen Positionen der Führungs-ebenen und des Personals als Schnittstelle, brin-gen Entscheidungen auf den Weg und sind an den Lösungsvorstellungen beider Parteien interessiert.

▶ Zufriedenheit auf Seiten der Pflegenden und der Patienten/Bewohner bezüglich der Kontinenzsi-tuation verhilft auch zu einer positiven Publicity für die Einrichtung.

FA Z IT FÜ R D I E PFLEG Ekungen der Frauen liegt die Harninkontinenz an fünfter Stelle. Die gesamten Kosten der Harninkon-tinenz belaufen sich jährlich in Deutschland auf 396 Mio. Euro; 49% der Ausgaben entfallen allein auf die Inkontinenzvorlagen.

Eine dreijährige wissenschaftliche Forschung von Reinhold Wolke zur Evaluation des Nationalen Ex-pertenstandards Förderung der Harnkontinenz in der Pflege in einem Referenzheim mit 250 Pflegeplätzen lieferte im Rahmen ihrer Kosten-Nutzen-Analyse das Ergebnis, dass die Implementierung des Experten-standard wirtschaftlich sinnvoll erscheint. Allein durch die Einsparung von Inkontinenzhilfsmitteln werden die Kosten der Implementierung gedeckt. Mittels einer Hochrechnung kommen die Wissen-schaftler zu dem Schluss, dass im Segment der stati-onär pflegerischen Versorgung durch Einsparungen an Inkontinenzhilfsmittel in Folge der Einführung und Fortbildung des Personals 26 Mio. Euro einges-part werden könnten.

Grenzen des ExpertenstandardsDer Expertenstandard wurde speziell für erwachsene Pflegeempfänger entwickelt und klammert somit die Inkontinenz bei Kindern aus. Methoden wie die Alarmtherapie oder die Sauberkeitserziehung werden nicht in Durchführung und Effekt beschrieben, so dass die Übertragbarkeit auf pädiatrische Einrich-tungen nur bedingt gegeben ist. Der Expertenstandard fokussiert die isolierte Harninkontinenz und grenzt somit die häufig vorkommende kombinierte Harn- und Stuhlinkontinenz aus. Pflegende können jedoch einzelne Segmente des Standards, z.B. Umgang mit Hilfsmitteln, auf die Stuhlinkontinenz übertragen.

Der Expertenstandard bietet kein standardisiertes Rezept, mit dessen Hilfe die kontinenzerhaltende beziehungsweise -fördernde Pflege auf Anhieb gelingt. Pflegende werden zum aktiven Mitdenken im thera-peutischen Team angeregt, wobei neben dem Erfah-rungswissen die wissenschaftlich fundierten Erkennt-nisse einen festen Platz einnehmen. Mittels Schulung und Fortbildung sowie Fallbesprechungen erlangen Pflegende Fachwissen als auch Planungs- und Steu-erungskompetenz, um die Kontinenzsituation zu managen. Da die Inhalte des Expertenstandards nicht eins-zu-eins in jeder pflegerischen Einrichtung über-nommen werden können, beispielsweise wenn das Klientel der Pflegeempfänger ausschließlich aus des-orientierten Demenzkranken besteht, müssen die Maßnahmen individuell und sorgfältig ausgewählt werden. Pflegerische Maßnahmen sind in ihrem Ein-satz unter ethischen Gesichtspunkten abzuwägen, wenn der Aufwand den Nutzen nicht rechtfertigt.

Dokumentation der MaßnahmenEine Hürde in der pflegerischen Praxis ist die Doku-mentation der Maßnahmen – Pflegende benötigen

Sicherheit, wo welche Inhalte zu dokumentieren sind. Vor allem in der stationären Langzeitpflege erleichtert eine ordentliche Dokumentation die Arbeit und spart Zeit. Dazu müssen sinnvolle Dokumentationsvorla-gen wie Miktionsprotokolle oder Profile zur Einstu-fung des Kontinenzprofils vorhanden sein.

Ein weiteres Problem ist die Personalbemessung. Kontinenzfördernde Maßnahmen nehmen Raum und Zeit in Anspruch. Pflegende befinden sich oft in einer Konfliktsituation, da sie dem Patienten eine qualita-tiv hohe Pflege zukommen lassen wollen, die Rah-menbedingungen das aber nicht zulassen. Auch die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Pfle-genden und Ärzten grenzt die Umsetzung des Stan-dards vor allem in Pflegeheimen ein, da hier die ärztliche Anwesenheit in der Regel nicht rund um die Uhr gegeben ist. Die Diagnostik der Harninkon-tinenz ist derzeit noch auf ärztliches Handeln gestützt und stellt bei Kontinenzproblemen einen entschei-denden Faktor für das weitere Vorgehen dar.

Die Anwendung des Expertenstandards

muss sich an den Ge-pflogenheiten der Ein-

richtung orientieren, darf inhaltlich aber

nicht von den Quali-tätsanforderungen des Standards abweichen.

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PflegeKolleg Kontinenz fördern

Heilberufe / Das Pflegemagazin 2013; 65 (12)