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Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Ina Braun (Hrsg.) Wege zur Philosophie Grundlagen der Interkulturalität Verlag Traugott Bautz

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Auf die Frage, wie die interkulturelle Philosophie in den Kanon der Lehr-disziplinen einzuordnen sei, gibt es unterschiedliche Antworten. Auchüber das Verhältnis zwischen Schul- und interkultureller Philosophie gibtes Kontroversen, die zwei Richtungen aufweisen: während erstere diePhilosophie immer noch ausschließlich für griechisch-europäisch hält,redet letztere der philosophia perennis das Wort und meint, Philosophiesei per se interkulturell und somit nicht nur griechisch, sondern auchgriechisch. Philosophie kennt verschiedene Wege und trägt unterschied-liche Namen. Die interkulturelle Philosophie geht einen anderen Weg alsdie Schulphilosophie. Den philosophischen Problemen räumt sie dasPrimat vor der philosophischen Traditionen ein und bringt sie mit ihren jeeigenen Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigteDiskursbeiträge zusammen. Der Leser wird nicht nur mit Grundbegriffen,Struktur, Gegenstand und Aufgabe der interkulturellen Philosophie ausverschiedenen Perspektiven vertraut gemacht, sondern auch mit denbeherrschenden Fragen der Geschichte und Gegenwart.

Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Ina Braun (Hrsg.)

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Grundlagen der Interkulturalität

ISBN 3-88309-357-2Verlag Traugott Bautz

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Verlag Traugott Bautz

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Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Ina Braun (Hrsg.)

— Wege zur Philosophie

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Wege zur Philosophie

Grundlagen der Interkulturalität

herausgegeben und eingeleitet von

Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer

unter Mitwirkung von Daniel Rasch, Roman Schmitz und André Biermann

Traugott Bautz Nordhausen 2006

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH

99734 Nordhausen 2006 Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 3-88309-357-2

www.bautz.de

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung der Herausgeber ............................................................................9

Helmuth Plessner Die Frage nach dem Wesen der Philosophie ..............................................19

Hamid Reza Yousefi Interkulturelle Philosophie ............................................................................43

Karl Jaspers Die philosophiegeschichtliche Auffassung .................................................75

Klaus Fischer ›Oriental Connection‹ – Frühgriechische Wissenschaft und orientalische Traditionen .....................................................................109

Ram Adhar Mall Universalität und Partikularität der Philosophie .....................................147

Elmar Holenstein Komplexe Kulturen ......................................................................................175

Claudia Bickmann Der Streit um das Göttliche im Begriff ......................................................197

Raúl Fornet-Betancourt Philosophie als Weg, interkulturell unterwegs zu sein ...........................225

Heinz Kimmerle Interkulturelle Konzeptionen des Philosophiebegriffs und der Philosophiegeschichte ...................................................................239

Jens Mattern Interkulturelle Philosophie? ........................................................................261

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Inhaltsverzeichnis 

Jitendra N. Mohanty Philosophie zwischen West und Ost ......................................................... 287

Hans Rainer Sepp Offene Tradition – geschlossene Universalität? ....................................... 309

Harald Stelzer Kritischer Rationalismus und interkulturelle Philosophie ..................... 329

Elke Angelika Wachendorff Philosophie, Denken und Interkulturalität zwischen Nietzsche und Heidegger .......................................................... 349

Klaus-Jürgen Grün Die interkulturelle Bedeutung von Religionskritik und Kunst im Denken Arthur Schopenhauers ........................................ 377

Herausgeber, Autorinnen und Autoren ................................................... 413

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Norbert Hinske zum 75. Geburtstag  

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Einleitung der Herausgeber 

Der vorliegende Titel ›Wege zur Philosophie‹ weist darauf hin, daß es ver‐schiedene Wege zum Philosophieren gibt – Wege, die sich begegnen oder begleiten, befruchten oder bekämpfen,  ergänzen oder  ignorieren können. Diese methodologische Perspektive  finden  ihren Ausdruck  im Untertitel, nach dem Philosophie per se vielgestaltig, pluralistisch, in ihrer Summe in‐terkulturell ist. Das Bild auf der Titelseite des Buches soll diese Mannigfal‐tigkeit der Wege demonstrieren. Im Sinne dieses Vorverständnisses ist der Begriff der ›Philosophie‹ immer im Plural zu gebrauchen. Wir sehen nicht eine ›Philosophie‹, sondern ›Philosophien‹, die differieren und sich zugleich überlappen. Philosophie kennt  somit verschiedene Wege und  trägt unterschiedliche 

Namen. Die  interkulturelle  Philosophie  geht  einen  anderen Weg  als  die Schulphilosophie.  Sie  räumt  den  philosophischen  Problemen  das  Primat vor den philosophischen Traditionen ein und bringt diese mit  ihren  je ei‐genen  Fragestellungen  und  Lösungsansätzen  als  gleichberechtigte  Dis‐kursbeiträge  zusammen. Die  zentrale Aufgabe  des  vorliegenden  Bandes besteht  darin,  nicht  nur mit  Grundbegriffen,  Struktur,  Gegenstand  und Aufgabe der  interkulturellen Philosophie aus verschiedenen Perspektiven vertraut zu machen, sondern auch mit den sie beherrschenden Fragen der Geschichte und Gegenwart. Der Philosoph Helmuth Plessner  (1892‐1985) zählt zu den Hauptvertre‐

tern der Philosophischen Anthropologie. In seinem Beitrag stellt er die Fra‐ge nach dem Wesen der Philosophie. Er geht dabei von dem Prinzip der of‐fenen  Frage  aus und weist  eine  bloße Philosophisierung der Philosophie zurück. Mit der Frage nach dem Wesen der Philosophie fragt die Philoso‐phie  nach  sich  selbst  und  bezieht  sich  auf  die  eigene Überlieferung,  die ebenfalls  offen  sein muß.  Plessner  kritisiert mehrfach  den Anspruch  auf Absolutheit,  apriorische  Kategoriensysteme  und  den  Versuch,  Kulturen nach einem Ordnungsprinzip zu klassifizieren. Er sieht in dem Verzicht auf die Vormachtstellung des europäischen Wert‐ und Kategoriensystems eine 

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Wege zur Philosophie 

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wichtige Voraussetzung,  in welcher der  europäische Geist  erst den Hori‐zont auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und  ihrer Weltaspekte  freigibt. Dieser Verzicht auf die Absolut‐heit, welche diese Freilegung selbst erst möglich macht, führt für Plessner zu deren Verwirklichung. Für ihn siegt Europa, ›indem es entbindet‹. Der  interkulturelle Philosoph Hamid Reza Yousefi  setzt  sich  in  seinem 

Beitrag mit Struktur, Gegenstand und Aufgaben der interkulturellen Philo‐sophie auseinander und weist dabei auf die Kontroverse um die Schulphi‐losophie und die  interkulturelle Philosophie hin. Er unterteilt diese Kon‐troverse  in zwei Richtungen: Während die eine Richtung die Philosophie ausschließlich für griechisch‐europäisch hält, redet die andere Richtung der philosophia perennis das Wort und stellt fest, Philosophie sei per se interkul‐turell und somit nicht nur griechisch, sondern auch griechisch. Der Verfas‐ser sieht die Dezentralisierungs‐ und Differenzierungsprozesse in der phi‐losophischen Historiographie  als  zwingende  Folge  einer  interkulturellen Orientierung. Die interkulturelle Philosophie sollte nicht als eine neue Dis‐ziplin  neben  der  traditionellen  Philosophie  verstanden werden,  sondern vielmehr als ihr Korrektiv. Interkulturelle Philosophie sieht sich der Kom‐munikation verpflichtet. Demzufolge bildet die Analyse von Phänomenen des Sozialen, des Politischen und des Kommunikativen einen zentralen Be‐reich der  interkulturellen Philosophie. Sie  räumt Frage‐ und Problemstel‐lungen den Vorrang vor philosophischen Traditionen  ein und bietet  eine fundierte Grundlage  für die Philosophie  im Vergleich der Kulturen.  Inso‐fern wird  versucht,  Begriffssysteme  zu  klären,  die mit  Struktur, Gegen‐stand  und Aufgabe  der  interkulturellen  Philosophie  als  einer  interdiszi‐plinären Ausrichtung  eng verbunden  sind. Hier werden nicht die Ergeb‐nisse neuer Forschung vorgelegt,  sondern Grundlagen, die dazu nützlich sein mögen, solche Forschungen anzuregen. Karl Jaspers (1883‐1969) gehört zu den Klassikern der Philosophie des 20. 

Jahrhunderts. Während seine Zeitgenossen wie Edmund Husserl Philoso‐phie  als Wissenschaft  betrieben,  trifft  Jaspers  eine  klare Unterscheidung zwischen  Philosophie  und Wissenschaft.  Er weist  alle  Formen  von Aus‐schließlichkeitsansprüchen zurück und setzt Vernunft mit einem ›grenzen‐losen  Kommunikationswillen‹  gleich.  Nach  Jaspers  ist  Philosophie  der Kommunikation verpflichtet. Er unterstreicht, daß religio und philosophia pe‐rennis niemandes Besitz alleine seien. Jaspers erarbeitete das Konzept einer 

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Einleitung der Herausgeber 

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›kommenden Weltphilosophie‹, die für ihn eine offene und unabschließba‐re Systematik darstellt. Auch arbeitete er seit 1937 an einem Konzept der Weltgeschichte  der  Philosophie  und  ebnete  damit  den  Weg  zu  einer ›kommenden Weltphilosophie‹. Jaspers spricht  in diesem Zusammenhang von  ›Aneignung‹. Hierunter  versteht  er  die Vergegenwärtigung  der Ge‐schichte, die dem philosophischen Studium überhaupt einen Sinn gibt. Der Philosophierende tritt dabei mit den Gelehrten der Vergangenheit ›in Ver‐kehr‹ und verlebendigt sie durch seine Befragung für die Gegenwart. Diese intertextuelle und  aneignungsorientierte Kommunikation  ist nach  Jaspers vergleichbar mit  einer  ›inneren  Freundschaft‹,  in der Vergangenheit und Gegenwart zusammengebracht werden. Das Konzept einer Weltgeschichte der Philosophie Jaspers’ bietet die Grundlage weitere Forschungen, die für die Zukunft von großer Bedeutung sind. Im vorliegenden Beitrag stellt Jas‐pers seine philosophiegeschichtliche Auffassungen vor. Der Wissenschaftstheoretiker, Wissenschaftshistoriker und Wissenssozio‐

loge Klaus Fischer untersucht die Ursprünge der griechischen Philosophie. Der Entstehungsmythos der westlichen Philosophie besagt, daß die Philo‐sophie etwa an der Wende vom siebten zum sechsten Jahrhundert v. Chr. aus dem Dunkel der Vorgeschichte auftauchte. Seit diesem Urknall der Ver‐nunft erhellt die Philosophie für alle, die wissen wollen, die Welt, indem sie diese auf rationale Weise erklärt. Vor dieser Zeit gab es Mythen, Religionen und Techniken – Wissensformen, die sich entweder  in praktischen Hand‐reichungen und Regeln  erschöpften,  oder die Geschichten  tradierten, die vor  allem  rituelle  und  legitimatorische  Funktionen  hatten. Nach  diesem Urspungsmythos waren alle Welterklärungen, die vor den ersten griechi‐schen  Philosphen  angeboten wurden,  unwissenschaftlich  und  irrational. Der Mythos postuliert eine Kluft zur vorangehenden Epoche, zum Denken der Ägypter, Assyrer, Babylonier, Hethiter, Perser, Inder, etc., die unüber‐brückbar  ist.  Eine  unvoreingenommene Analyse  der  frühen  griechischen Philosophen und ihrer Lehren zeigt indes, daß diese zum einen starke my‐thologische und religiöse Kompoenten hatten, und daß sie zum zweiten in wesentlichen  Aspekten  auf  älteren  Quellen  und  Vorbildern  beruhten  – Quellen,  die  teils  im  griechischen  Volksglauben,  teils  im  ägyptischen, kleinasiatischen,  iranischen und  indischen Kulturraum  lagen. Für Thales, Anaximander, Anaximenes und Heraklit lassen sich in den genannten Re‐gionen so präzise Analogien  für einige  ihrer zentralen  Ideen nachweisen, 

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Wege zur Philosophie 

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daß die Entstehungsgeschichte der Philosophie  in  einem neuen Licht  er‐scheint. Der  interkulturelle Philosoph Ram Adhar Mall beschäftigt sich mit dem 

Thema Universalität und Partikularität der Philosophie aus interkultureller Sicht. Philosophische Fragestellungen kennen nach Mall keine rein geogra‐phischen,  kulturellen  und  traditionellen  Grenzen.  Ein  Philosoph  erhält demzufolge seine  Identität  in erster Linie durch philosophische Fragestel‐lungen, Probleme und Lösungsansätze, und nicht durch sein Europäisch‐ oder Asiatischsein. Ferner enthält Philosophie qua Philosophie eine univer‐selle  philosophische Rationalität, die dennoch  unterschiedliche  kulturelle Besonderheiten aufweist. In diesem Sinne besitzen Adjektive wie ›westlich‹ oder ›indisch‹ im Verhältnis zu dem Allgemeinbegriff Philosophie ihre vol‐le Berechtigung. Die Sorge um die Frage, ob das griechische Wort ›Philoso‐phie‹ legitimerweise auch für das indische Denken verwendet werden darf, ist für Mall unbegründet. Es geht nicht um eine bloß philologische und le‐xikalische Bestimmung der Philosophie, auch nicht  in erster Linie um de‐ren bestimmte kulturelle Gestalt, sondern um die inhaltliche Seite der Phi‐losophie.  Philosophie  definiert  sich  inhaltlich  durch  kulturübergreifende Fragestellungen, deren Lösungsansätze Gemeinsamkeiten und  erhellende Differenzen aufweisen. Der interkulturelle Philosoph Elmar Holenstein setzt sich mit komplexen 

Kulturen auseinander. Daß Kulturen keine homogenen Gebilde  sind, au‐genfällig als solche in kompakten ›Kulturkreisen‹ vorzufinden, ist heute ein Gemeinplatz – anders als noch vor wenigen Jahrzehnten. Warum Kulturen komplex  sind und was dies zur Folge hat, wird  jedoch wenig diskutiert. Zwei Erklärungen liegen auf der Hand: (a) Für den Wandel der einzelnen Komponenten  einer  Kultur  sind  unterschiedliche  Faktoren  ausschlagge‐bend,  für den Sprachwandel zum Beispiel andere als  für den Wandel der Religionen.  (b) Die menschlichen Wertvorstellungen  lassen sich nicht alle gleichzeitig  optimal  umsetzen.  So  findet man  in  verschiedenen Kulturen nicht nur die gleichen Werte, sondern auch die gleichen Wertkonflikte. Ei‐ne Folge der Komplexität ist, daß ein Clash of Civilizations ein Clash of Com‐plex  Civilizations  ist mit  einem  entsprechend  komplizierten  Frontverlauf und mit Komplizen  und  Sympathisanten  in der  jeweils  anderen Region. Eine weitere Folge  ist, daß  sich  ›moderne‹ Entwicklungen mit Ansätzen, die man dazu  in der eigenen komplexen Tradition vorfindet,  legitimieren 

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Einleitung der Herausgeber 

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lassen. Die traditionelle Annahme, Kulturen seien homogene Gebilde, führt zu  diametral  entgegengesetzten  Charakterisierungen  ein  und  derselben Kultur  je nach der Epoche, der Region oder der Lehrrichtung, an der man sich  orientiert.  Es  scheint dann  auch  nur mehr  oder weniger  ausgereifte Stadien und keine gleichwertigen Variationen einer bestimmten Kultur zu geben. Dazu gesellt sich die Neigung, die  ›wahre‹ Gestalt einer Kultur  in ihren Anfängen oder  in einer  frühen klassischen Phase  ihrer Entwicklung zu sehen und alles Spätere als Degeneration oder, wenn es von außen an‐geregt worden ist, als Verunreinigung zu betrachten und nicht als eine An‐regung zu einer schöpferischen Fortentwicklung, zu der es ohne Fremdein‐fluß nicht so leicht gekommen wäre. Die  interkulturelle Philosophin Claudia Bickmann untersucht den Streit 

um das Göttliche im Begriff. Nicht nur religionsgeschichtlich, sondern auch philosophiegeschichtlich blicken die drei monotheistischen Religionen auf gemeinsame  antike Ursprünge  zurück.  In  ihren Quellen  verbergen  sich, wie der Beitrag zeigen  soll, zugleich auch die Potentiale  einer möglichen Wieder‐Annäherung in spannungsreichen Zeiten. Platons Philosophie wird als eine Form des Philosophierens zur Sprache gebracht, die  in sich noch vereint, was später in zwei getrennten Linien auseinandertreten sollte: Das intuitiv‐synoptische, das noetische Denken und das begriffsdifferenzieren‐de,  verallgemeinernde,  das  dianoetische Denken. Während  die  arabisch‐islamische  Philosophie  in  ihrer Hauptströmung  eher  das  überbegrifflich Eine  als  unfraglichen  Bezugspunkt  betont,  wird  in  der  westlich‐abendländischen  Tradition  das  begriffsdifferenzierende,  das  methodisch geregelte dianoetische Denken traditionsbildend. – Kants kritische Wende hat, wie es scheint, innerhalb der abendländischen Philosophie den Nexus zwischen den beiden Seiten endgültig durchtrennt.  Im  folgenden wird  je‐doch ein Kant zur Sprache gebracht, der insofern eine vermittelnde Positi‐on  einnehmen  kann,  als  er  radikale  Skepsis  gegenüber  der  begrifflichen Annäherung  an  das  höchste  Prinzip  –  an  die  Idee  des Guten  – mit  der Funktion dieses Prinzips als leitendem Fluchtpunkt und Ziel unserer prak‐tischen Vernunft zu verbinden sucht. Der  interkulturelle  Philosoph  Raúl  Fornet‐Betancourt  hält  Philosophie 

für einen Weg, interkulturell unterwegs zu sein. Das Philosophieverständ‐nis bestimmt die Philosophie als kontextuelle Reflexion, die zugleich an der Interpretation und der Mitgestaltung von Welt und Geschichte mitzuarbei‐

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Wege zur Philosophie 

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ten hat. Vor diesem Hintergrund wird dann ein Weg der und zur Philoso‐phie dargestellt: den Weg der  lateinamerikanischen Philosophie, den der Beitrag als Weg der Kontextualisierung durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte Lateinamerikas beschreibt. Im Zusammenhang dieser Aus‐einandersetzung wird ferner die Wiederentdeckung der kulturellen Vielfalt betont, und zwar als die Grunderfahrung, durch die das kontextuelle Phi‐losophieren in Lateinamerika mit der Pluralität der Wege, die es zu gehen hat, konfrontiert wird. Diese Erfahrung wird zum Schluß des Beitrags als Bedingung einer neuen Entwicklungsphase  im Weg des kontextuellen  la‐teinamerikanischen Philosophierens interpretiert: Die Phase der interkultu‐rellen Transformation der Philosophie in Lateinamerika. Der  interkulturelle Philosoph Heinz Kimmerle thematisiert die  interkul‐

turellen  Konzeptionen  des  Philosophiebegriffs  und  der  Philosophiege‐schichte. Der Begriff der Philosophie und die Auffassungen, wann und wo sie sich ereignet hat, hängen eng miteinander zusammen. Die seit Kant und Hegel  vorherrschende Konzeption  der  europäisch‐westlichen Kultur,  die Philosophie  für Europa  reklamiert – mit dem Ursprung  im antiken Grie‐chenland und einer Verschiebung über das antike römische Reich  ins Eu‐ropa nördlich der Alpen und nach Nordamerika – ist noch immer weit ver‐breitet. In Absetzung gegen Heideggers und Gadamers Auffassungen, die sich teilweise für nicht‐europäische Philosophie öffnen, aber auch sogleich wieder verschließen, wird die These vertreten, daß jede Kultur ihre eigene Philosophie  hat mit  der  zugehörigen Geschichte. Das  eigentlich  Philoso‐phische, das sich von den  technischen Mitteln des Philosophierens unter‐scheiden läßt, hat zu allen Zeiten und an allen Orten die gleiche Aufgabe, nämlich die Reflexion eines Zeitalters und einer Kultur auf ihr eigenes ge‐sellschaftlich‐geschichtliches  Leben  und  ihre  Stellung  inmitten  anderer Kulturen und der Natur. Die Philosophien der verschiedenen Zeitalter und Kulturen können Dialoge miteinander  führen und  sich gegenseitig berei‐chern und verstärken, um für die Lösung der Probleme der jeweiligen Zeit, die gegenwärtig weltweite Dimensionen angenommen haben, Lösungen zu erarbeiten. Mit der Aufnahme der subsaharisch‐afrikanischen Philosophie in den Kontext der Weltphilosophie ist grundsätzlich auch Kulturen Philo‐sophie zuerkannt, die in ihrer Geschichte vorwiegend mündlich miteinan‐der kommuniziert und  ihr Wissen überliefert haben. Es gilt nun, vorwie‐

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Einleitung der Herausgeber 

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gend  schriftliche  und  vorwiegend  mündliche  Formen  philosophischen Denkens fruchtbar aufeinander zu beziehen. Der Philosoph  Jens Mattern reflektiert den Begriff einer  interkulturellen 

Philosophie. Dabei entwickelt er zunächst Argumente, welche die Verbin‐dung der beiden Komponenten des Begriffs als unschlüssig oder geradezu als ein hölzernes Eisen erscheinen lassen können. In einem zweiten Schritt untersucht er die Bedeutung von philosophia im Denken Platons. Der Rück‐griff auf Platons Unterscheidung von Weisheit (sophia) und philosophia so‐wie die Bestimmung des letzteren Begriffs über ein für die philosophische Existenz  konstitutives Nicht‐Wissen  ermöglicht die Entwicklung  eines  in sich schlüssigen Verständnisses von  interkultureller Philosophie, verlangt zugleich aber auch danach, diesen Begriff auf diejenigen Denkformen ein‐zugrenzen, deren kritischer  Selbstbezug und deren Verhältnis gegenüber dem eigenen Wissen sie zu jeder Form der sophia in einen radikalen Gegen‐satz setzt. Der  interkulturelle Philosoph  Jitendra N. Mohanty untersucht Gemein‐

samkeiten und Differenzen zwischen der östlichen und westlichen Philo‐sophie.  Im Verlauf der Geschichte der Philosophie wurden  immer wieder Versuche unternommen, das östliche und das westliche Denken vollstän‐dig gegeneinander abzugrenzen. Östliche Philosophien stehen dabei meist für eine intuitiv‐mythische Denkart, die dem westlichen rational‐logischen Denken gegenübergestellt wird. Nach Mohanty gibt es keine Legitimation für  eine  solche Abgrenzung.  Immer wieder  bezweifeln  Philosophen wie Husserl, Rorty  oder Heidegger,  ob  die  indische  Tradition  überhaupt  ein der griechisch‐abendländischen Philosophie vergleichbares kritisches Den‐ken hervorgebracht hat.  In  seinem Beitrag widerlegt der Autor  zunächst die  von  den  drei  genannten  Philosophen  vorgebrachten Argumente,  die seiner Auffassung nach oft auf mangelnder Kenntnis östlicher Traditionen gründen. Das  Stereotyp  des  rational‐logischen  abendländischen  und  des religiös‐mythischen  indischen Denkens wurde  lange Zeit  auch  von  indi‐scher Seite gepflegt und verbreitet. Dennoch hält Mohanthy  es  für unge‐rechtfertigt, das  intuitive Denken allein dem Osten und das  intellektuelle Denken allein dem Westen zuzuordnen. Er macht deutlich, daß weder die These  vom  Primat  des  Logischen  im  abendländischen Denken  noch  die These vom Primat der Intuition im indischen Denken haltbar sind. Die in‐dische Geistestradition ist nicht nur intuitiv, sondern auch kritisch‐rational, 

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Wege zur Philosophie 

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während  das  griechisch‐abendländische Denken  auch  intuitive  Elemente enthält. Im letzten Abschnitt diskutiert der Autor die Rolle der Intuition für die Philosophie. Dabei zeigt er, daß die Philosophen Indiens wie die grie‐chischen Philosophen mittels kritischer Vernunft nach Kriterien und Quel‐len für die Gültigkeit ihrer Aussagen suchten. Indische und westliche Phi‐losophie  sind  zwar  grundlegend  verschieden,  beide  sind  jedoch Philoso‐phie. Der Phänomenologe Hans Rainer Sepp  setzt  sich mit kulturellen Diffe‐

renzen auseinander. Was Tradition und Universalität ausmacht, deckt das Gegensatzpaar  ›selbstbezüglich‹  und  ›übergreifend‹  nicht  ab,  da  sowohl Tradition  offen  sein  kann wie Universalität  geschlossen. Tendieren  Sinn‐ganzheiten,  gleich  ob  sie  partikular  oder  übergreifend  sind,  dazu,  ihren Ausgriff zu verfestigen, erwächst die Notwendigkeit einer anderen Grenz‐ziehung, als sie durch die Zuschreibung von  ›geschlossen‹ zu  ›partikular‹ und  ›offen‹ zu  ›universal‹ vorgenommen wird.  Im  ersten Abschnitt wird dargelegt, warum die Differenz zwischen Partikularität und Universalität im gekennzeichneten Sinn nicht haltbar ist, sofern beiden die Tendenz zum Sichverschließen  gemeinsam  ist.  Der  zweite  Abschnitt  knüpft mit  kriti‐schem Bezug auf Richard Rorty, Leszek Kolakowski und Jürgen Habermas an gegenwärtige Positionen an. Der dritte Abschnitt arbeitet der Frage vor, wie Verschließungen aufgebrochen werden, so daß ein Universale möglich wird, ohne daß damit eine Schwächung der Sinnkraft des Verschlossenen einhergeht. Im Artikel des Sozialwissenschaftlers Harald Stelzer wird eine neue Be‐

trachtungsweise  des  Philosophieverständnisses  einer  Denkströmung  des kritischen Rationalismus eröffnet, indem deren Konvergenzen zu grundle‐genden Prinzipien der interkulturellen Philosophie aufgezeigt und heraus‐gearbeitet werden. Ausgangspunkte der Darstellung bilden die Ablehnung jeglicher  Form  von Letztbegründung und das  dem  kritischen Rationalis‐mus zugrunde  liegende Prinzip der kritischen Prüfung. Grundlegend  für dieses  Prinzip  sind  der  konsequente  Fallibilismus,  der  Theorienpluralis‐mus, die Annahme eines ›metaphysischen Realismus‹ und die Annäherung an die Wahrheit als  regulativer  Idee. Die methodische Grundlage  für die kritische Prüfung bildet die Methode von Versuch und Irrtum. Kurz wird auch auf wichtige Auswirkungen des Prinzips der kritischen Prüfung auf den politisch gesellschaftlichen Bereich eingegangen. Aufbauend auf dieser 

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Einleitung der Herausgeber 

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kurzen Darstellung des Philosophieverständnisses des kritischen Rationa‐lismus verweist der Artikel im zweiten Teil auf mehrere Konvergenzen zu grundlegenden Prinzipien der interkulturellen Philosophie, die sich u.a. in der  gemeinsamen  Ablehnung  von  Verabsolutierungen  und  Dogmatisie‐rungen, in Parallelen bei der Bestimmung des Vernunftbegriffs, in der For‐derung nach Bescheidenheit  in Erkenntnisbelangen, dem Ausgangspunkt vom Individuum, der Ablehnung eines radikalen Relativismus, der grund‐legenden dialogischen Ausrichtung, der Betonung der Pluralität und der Hervorhebung der Relevanz des  interkulturellen Kontakts  auffinden  las‐sen. Die  Kulturwissenschaftlerin  Elke Angelika Wachendorff  setzt  sich mit 

Heidegger und Nietzsche  auseinander: die großen Denker der Wendung europäisch‐abendländischen  Denkens  aus  der  philosophischen  Tradition zweier  Jahrtausende hinaus und hinauf  in die  ›Entbergung‹ des  ›Eigentli‐chen‹, in die Freisetzung schöpferischer ›dionysisch‐tragischer Transfigura‐tion‹. Die Sprachgestaltungen des Neuen unterscheiden sich  in  ihnen dia‐metral, der Focus der Untersuchungen und Befragungen gleichwohl. Und doch  ist  ihnen manches  gemeinsam:  so  der Anspruch  auf Überwindung metaphysischen Denkens im eigenen; so das Unternehmen, ein neues und zukunftsträchtiges ›Denken‹, ein ›reines Denken‹ aus dem Zerfallenden zu stiften; so die Witterung und Warnung vor der wachsenden Gefährlichkeit und Grausamkeit tradierter Denkstrategien; so der Impetus und Anspruch hoher Verantwortlichkeit und pädagogischer Aufgabe, für eine Philosophie der Zukunft die Weichen  stellen  zu müssen  – und  zu können. Doch be‐grenzt Heidegger das Projekt Philosophie definitorisch  auf die metaphysi‐sche Denktradition,  so erscheint  ihm Erneuerung  in das  ›Eigentliche‹ des Denkens dennoch ausschließlich aus und mit dieser möglich und muß so an der Begrenzung dieser methodischen Vorgabe philosophisch scheitern. Demgegenüber gelingt  es Nietzsche,  aus den  antiken Fragen  eben dieser Tradition  einen  Vermittlungsmodus  zum  künftigen  und  interkulturellen philosophischen  Denken  neuerlich  zu  eröffnen:  der  Menschlich,  Allzu‐menschlichen Ur‐Frage  anhebenden Denkens,  jener  nach dem  gelungenen Leben. Doch ist beider Zukunftseröffnung für ein umfänglicheres philoso‐phisches Denken nicht euphorisch, wissen doch beide um die notwendige Bescheidung  und  Begrenztheit  möglicher  Verwandlung  aus  dem  Her‐kunftsbezug. Doch  beharrt Heidegger  ausdrücklich  auf  einem Weg  aus‐

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Wege zur Philosophie 

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grenzender Selbstbezüglichkeit,  so  sieht Nietzsche ganz anders gerade  in der Öffnung zum anderen als Prozeß schöpferischer ›Transfiguration‹ das zentrale Ereignis jeglicher ›Cultur‹. Der Philosoph Klaus‐Jürgen Grün geht in seinem Beitrag auf die interkul‐

turelle Bedeutung von Religionskritik und Kunst im Denken Arthur Scho‐penhauers  ein.  Aufklärung  erklärt  uns  das  Zustandekommen  unserer Ideen und Denkinhalte aus diesseitigen Prinzipien. Die dabei zustande ge‐kommenen  Erklärungen  sind  weitgehend  invariant  gegenüber  der  Ver‐schiedenheit der Kulturen, sofern sie den Menschen  in seiner naturhaften Erscheinung als Basis annehmen. Der Standpunkt Schopenhauers, der hier behandelt wird, führt in eine metaphysische Betrachtung des Leibes ein. In der  leibhaften Natur  liegen die Gründe dafür verborgen, warum sich der Mensch Religion, Kultur,  Ideen und Kunst erschafft. Überhaupt  ist es der Standpunkt  der Natur,  der  die  kulturellen Unterschiede  einer  kritischen Betrachtung zuführen kann. Schon Rousseau hatte mit seinem ›Zurück zur Natur‹  jenen Blickpunkt einnehmen wollen, der  ihm die europäische Kul‐tur‐Gesellschaft  als  verderbte  Selbstverliebtheit  erscheinen  ließ.  Schopen‐hauer erreicht mit seinem Natur‐Standpunkt eine neue Dimension. Er legt weniger  eine  idealisierte Natur  seinen Überlegungen  zugrunde,  als  eben die heute wieder aktuelle physische Betrachtung des Menschen. Es  ist die Natur, deren Betrachtung uns nicht sofort ein gute Gefühl vermittelt. Die kulturellen Unterschiede erweisen sich vor diesem Hintergrund als Subli‐mationen einer natürlichen Daseinsweise. Während es zu Konflikten führt, wenn  sich  Kulturunterschiede  gegeneinander  zu  behaupten  versuchen, wirkt  es  entspannend, wenn  es uns  gelingt, die dahinter  verborgene  ge‐meinsame Menschennatur in den Blick zu bekommen. 

Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der  jeweiligen  individuellen Präferenzen unserer Autoren und Autorinnen verzichtet.  

Die Herausgeber 

 

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Die Frage nach dem Wesen der Philosophie1 

von Helmuth Plessner 

1. Ihre Unentscheidbarkeit nach dem Grundsatz der Selbstgefährdung Ein  Idealist,  dem  Schulsinne  nach, wird  für  die  Philosophie  in  ihrer  ge‐genwärtigen Verfassung nur ein Epigone sein. Dem Herzen nach  ist er es nicht, wenn  Idealismus die Unbeugsamkeit vor gegebenen Zuständen bis in die Entschlossenheit zur Preisgabe des eigenen Selbst bedeutet. Solche Gesinnung  in der Philosophie zu Ehren zu bringen, nicht  in leeren sie be‐gleitenden Deklamationen, auch nicht als Theorie innerhalb der Umfriedig‐ung der Ethik,  sondern  als die  sie  im Ganzen  formende Gewalt,  ist  eine Aufgabe,  die  nicht  durch Anlehnung  an  große Vorbilder,  sondern  allein durch Anspannung der eigenen Kraft gelöst wird. Erstes Gebot hierfür ist Distanz der Philosophie zu sich selbst. Es muß ihr 

wieder  möglich  werden,  entgegen  allen  ihren  zeitgenössischen  Bieder‐manns‐Allüren,  sich als ein Wagnis zu begreifen, das mit der Nichtigkeit des eigenen Beginnens beständig rechnet. Als ein auf nichts gewagtes Den‐ken hat sich das Philosophieren von allem gegenständlich gesicherten For‐schen  zu unterscheiden. Denn die Übernahme der Gefahr vollkommener Bodenlosigkeit des eigenen Beginnens angesichts einer so vieldeutigen Ü‐berlieferung, wie  sie das Philosophieren  besitzt, darf nicht nur das Herz des Philosophen bewegen,  sondern muß das Prinzip des Philosophierens selber werden. Darum  ist die Frage nach dem Wesen der Philosophie  ihr erstes Anliegen. Es gilt, die vermeintlichen Sicherheiten und Rückversiche‐rungen  loszuwerden, mit welchen  der Akademismus  in  der  Philosophie einen ewigen Frieden zu schaffen bemüht war, – um den Geist ihrer Über‐lieferung zu verraten. 

1   Der vorliegende Beitrag  ist mit  freundlicher Genehmigung des  ›Suhrkamp Ta‐

schenbuch Verlags‹ wieder abgedruckt aus: Helmuth Plessner. Zwischen Philoso‐phie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1979 (88‐111). 

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Wege zur Philosophie 

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Mit  der  Frage  nach  dem Wesen  der  Philosophie  fragt  die  Philosophie nach sich selbst. Um nach sich selbst fragen zu können, hat sie sich auf die eigene Überlieferung zu beziehen. Das ist auf dreifache Weise möglich. 1. Sie betrachtet die Frage als durch die Überlieferung entschieden. Dann ist ihr die Antwort nach einem System, einer Richtung, einer Disziplin der philoso‐phischen Vergangenheit gewährleistet. Plato oder Kant, Realismus oder Ide‐alismus, Logik oder Erkenntnistheorie enthalten die gesuchte Antwort. Ein besonders ausgeprägtes Beispiel: das Verhältnis der Scholastik zu Aristote‐les.  

2. Sie betrachtet die Frage als durch die Überlieferung nicht entschieden, aber entscheidbar. Dann ist ihr die Antwort durch eine Verbesserung der von der Vergangenheit begonnenen Versuche oder durch eine Reform  im Sinne der Überprüfung  ihrer Grundlagen  gewährleistet. Diese Auffassung hat  offen‐sichtlich die Geschichte der neueren und neuesten Philosophie durchgängig, die Geschichte der alten Philosophie, von Aristoteles aus gesehen, zum Min‐desten mitbestimmt. 

3. Sie betrachtet die Frage als unentscheidbar. Dann  ist eine Lage geschaffen, die  in  doppeltem  Sinne  verstanden werden  kann.  Entweder  läßt  sich  ihre Unentscheidbarkeit auf die Unmöglichkeit beziehen, eine Antwort zu finden. Die Unmöglichkeit wäre  in den Widersprüchen der philosophischen Lehr‐meinungen,  in der Unüberführbarkeit des einen Standpunkts  in den ande‐ren, also durch unüberwindliche Widerstände der Tradition gegeben. Ihren Ausdruck  findet  die  Unentscheidbarkeit  aus  Unüberwindbarkeit  in  der Skepsis. Sie ist das negative Ergebnis eines positiv auf Beantwortung gerich‐teten Versuchs. 

Oder aber die Unentscheidbarkeit bedeutet einen Grundsatz, wonach der Versuch, eine Antwort auf die Wesensfrage der Philosophie zu finden, von vornherein abgewehrt wird. Dieser Grundsatz bedient sich keiner Empfeh‐lung, etwa von der Art, daß doch  jeder Versuch zum Scheitern verurteilt ist, weil die philosophische Tradition  ihm unüberwindliche Widerstände entgegensetzt. Oder weil  es  zu  ihrem  Sinn  gehört,  keine Wesensbestim‐mung zuzulassen, die außerhalb ihres Rahmens liegt. Jede derartige Emp‐fehlung  nimmt  eine  Einsicht  in  Anspruch,  deren Möglichkeit  gerade  in Frage gezogen  ist. Als echter Grundsatz beruft er sich auf nichts, sondern bestimmt eine Entscheidung, die zu treffen einem  jeden ausdrücklich frei‐gestellt wird. 

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Helmuth Plessner 

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Wenn  die  folgenden Untersuchungen  die Unentscheidbarkeit  der We‐sensfrage der Philosophie zur Richtschnur nehmen, so bedeutet für sie Un‐entscheidbarkeit nicht den  skeptischen Verzicht,  auf  sie  eine Antwort  zu finden, sondern den Grundsatz, die Frage  in Absicht auf eine unerschöpfliche Vieldeutigkeit der philosophischen Überlieferung offen zu halten. Annahme oder Ablehnung des Grundsatzes ist ausdrücklich freigestellt. Er kann also kei‐ner  Beurteilung  im  Sinne  von  wahr  oder  falsch,  zweckmäßig  oder  un‐zweckmäßig unterzogen werden. Wollte man  ihm die Form  einer Hypo‐these geben, so bedeutet er die Annahme, daß das Wesen der Philosophie durch sie selbst von jeher beantwortet worden ist und trotzdem in alle Zu‐kunft nur wieder von ihr beantwortet werden muß, und zwar in einer mit dem jeweiligen eigentümlichen Inhalt unlösbar verbundenen Form, welche ihre Isolierung gegen mehrere Philosophien und damit ihre Fassung in ei‐ner für alle Philosophie  in Vergangenheit und Zukunft maßgebenden  iso‐lierbaren Antwort ausschließt. Der Grundsatz, offen zu  lassen, was Philosophie  ist, widerspricht nicht 

dem Fragecharakter der Frage, denn er weicht der Antwort nicht aus, son‐dern gibt das Prinzip für sie an. Er widerspricht ebenso wenig dem Inhalt der Frage, da die Entscheidung, was unter dem »was ist?« zu verstehen sei, nur von der Philosophie selber getroffen werden kann, der sie nicht durch ein  natürliches Verständnis  oder  durch  unmittelbare  Schau  abgewonnen ist. Er darf nicht dahin ausgelegt werden, als sei  in  ihm ein Unvermögen des Erkennens ausgesprochen, ein bereits zur Entscheidung gelangtes We‐sen zu erfassen. Umgekehrt auch nicht dahin, als sei eine solche Entschei‐dung noch nicht gefallen und es bestünde auf seiten der Philosophie Un‐entschiedenheit über sich selbst.  Indem dieser Grundsatz zur Richtschnur macht, die Wesensfrage offen zu halten, bestimmt er ausdrücklich, Erwä‐gungen über diese beiden Möglichkeiten zu unterlassen: Gleichwohl bleibt der Grundsatz der Unentscheidbarkeit auf die Wesensfrage als dem Prin‐zip  ihrer Beantwortung bezogen. Als Prinzip der Philosophie bedeutet er nicht  eine Maßnahme, die Sonderfrage  ihres  eigenen Wesens  einfach  zu‐rückzustellen,  sondern  sie  zu  lösen nach Maßgabe  ihrer  ausdrücklich  er‐klärten Unentscheidbarkeit, ob sie lösbar ist oder nicht.  Als erklärtes Prinzip der Philosophie aber  steht der Grundsatz der Un‐

entscheidbarkeit ihrer Wesensfrage im Dienste ihrer Entscheidung. Diesen Widerspruch  unter  Berufung  auf  das Gebot  der Widerspruchfreiheit  zu‐

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Wege zur Philosophie 

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rückzuweisen,  heißt  auf die  Selbsterkenntnis  der  Philosophie  verzichten, welche dieses Gebot zur Diskussion stellt, wie die Logik beweist. Ob diese Diskussion  ein  eindeutiges Ergebnis haben muß, ob  es bindend auch  für die Philosophie  ist, bleibt  fraglich und kann nur wieder von der Philoso‐phie, nicht aber außerhalb und vor aller Philosophie durch eine ihr überge‐ordnete Instanz entschieden werden. Hegels Beispiel zeigt mindestens die Möglichkeit, daß  entgegen den Vorhaltungen der  traditionellen  formalen Logik  dem Widerspruch  eine  für  Denken  und  Erkennen  tragende  und schöpferische Bedeutung gegeben werden kann.  Eine Frage zur Lösung stellen unter Beachtung ihrer ausdrücklich erklär‐

ten Unentscheidbarkeit, ob  sie  lösbar  ist oder nicht, verlangt die Angabe der Vorsichtsmaßregeln, welche zu beobachten sind, um ihre Offenheit ge‐gen den Gegenstand und die Offenheit des Gegenstandes gegen sie zu ge‐währleisten. Der Grundsatz selbst gibt diese Maßregeln noch nicht an. Er bezeichnet nur den Geist, in welchem die Wesensfrage an die Philosophie gerichtet wird; den Geist der unbedingten Achtung vor der unerschöpfli‐chen Vieldeutigkeit des durch Überlieferung bezeugten Wollens, d.h. der Bereitschaft, auf die Gefahr der vollkommenen Bodenlosigkeit dieses Wol‐lens der Philosophie  einen Gegenstand  zu  sichern. Wenn Philosophie  et‐was  ist, was wahrhaft auf nichts gewagt wird und  immer wieder gewagt werden muß (eine Möglichkeit, welche das Rätsel ihrer beständigen Revo‐lution und unüberholbaren, unausgleichbaren Vielfalt nahelegt), so hat ihre Wesensfrage damit die Aufgabe erhalten, dem Philosophieren seinen Sinn durch das Wagnis  ihrer Selbstgefährdung zu sichern. Die Übernahme der Gefahr vollkommener Nichtigkeit der Philosophie in die Frage nach ihrem Wesen beraubt sie nicht selber bereits ihres Sinnes. Sie ist vielmehr Voraus‐setzung  für  ihre Antwort. Denn  sie  sichert der Philosophie  ihren Gegen‐stand. 

2. Die Verborgenheit des Gegenstandes der Philosophie Eine Wissenschaft kann ihr Daseinsrecht nur behaupten, wenn sie den Ge‐genstand vorweist, den sie erforschen will. Ihre handwerkliche Sicherheit, ihre erfindende Kraft, vor allem aber ihr oberstes Ziel hängen von ihm ab. Diese stetige, erlernbare und überprüfbare Arbeit  leistet sie nur, wenn  ihr der Appell an diese  letzte Instanz möglich ist. Wer sollte ihr und anderen sonst  die Gewähr  dafür  geben,  daß  sie  nicht  ins Blaue  hineinfragt? Daß 

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Helmuth Plessner 

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nicht eines Tages ihre Arbeit den Boden verliert? Innere Schlüssigkeit, dis‐kutierendes Vorgehen jedenfalls nicht. Sie sind auch im Spiel zu erreichen, das keinen Gegenstand erfassen, sondern nur Möglichkeiten entfalten will im Rahmen von Regeln, über die man sich geeinigt hat. Die Wissenschaft will aber kein Spiel auf Grund vereinbarter Axiome sein.  Ihr ganzes Unternehmen muß mit der Vorweisbarkeit  ihres Gegenstan‐

des  rechnen, wenn  das  Prinzip  der Kontrolle  und  der Herstellung  einer Einhelligkeit der Urteile im Hinblick auf ihn und nicht im Hinblick auf ein axiomatisches Spiel gelten soll. Die Vorweisbarkeit des Gegenstandes darf deshalb  nicht  ausschließlich  nach  den Grundsätzen  erfolgen, welche  die Wissenschaft in ihrer Arbeit gegenüber dem Gegenstande anwendet. Sonst ist sie nicht gegen den radikalsten  Immanenzeinwand geschützt, nicht al‐lein auf den Rahmen ihrer Voraussetzungen oder der Inhalte des menschli‐chen Bewußtseins beschränkt zu sein, sondern darüber hinaus sich über ihr eigenes Beginnen zu  täuschen, dessen  selbstgeschaffenen Schwierigkeiten sie, statt  ihren Spielcharakter einzugestehen, die Bedeutung gegenständli‐chen Erkennens andichtet.  Für  sehr viele Wissenschaften, vor allem die Realwissenschaften, bildet 

die Vorweisbarkeit  ihrer Gegenstände gar kein Problem. Man kann sie  in die Hand nehmen, sehen, photographieren, zeichnen. Zum Teil entwickelt die Wissenschaft erst diese Zugangsmöglichkeiten und sieht eine ihrer we‐sentlichen Aufgaben  in  ihrer Differenzierung und Verfeinerung. Aber am Ende steht doch wieder ein Bild, eine Färbung, irgendeine sinnlich faßliche Erscheinung, von der  jedermann sich auch ohne wissenschaftliche Vorbil‐dung und ohne Verständnis  für den Weg, auf dem sie erzielt worden  ist, überzeugen kann. Ihr Ideal jedenfalls ist, den Tatbeweis für ihre Einsichten und Begründungen in der Anschauung zu führen. Das Prinzip der außer‐wissenschaftlichen Zugänglichkeit des Gegenstandes wird streng beobach‐tet.  Von Realwissenschaften, deren Gegenstände der Vergangenheit oder der 

unsichtbaren  Region  des  Seelischen  und Geistigen  angehören,  darf man zum mindesten nicht die gleiche Art der Vorweisbarkeit wie  in den Na‐turwissenschaften verlangen. Aber das Prinzip beobachten sie mit dersel‐ben Strenge. Nur sind sie gezwungen, andere Anschauungsquellen zu be‐nutzen. Die Psychologie muß mit der Selbstbeobachtung arbeiten, die Gei‐steswissenschaften mit dem Verstehen, der Einführung, der Phantasie, dem 

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Wege zur Philosophie 

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Fingerspitzengefühl und physiognomischen Takt. Immer aber  ist es  ihnen möglich,  und  das  gilt  auch  von  den  historischen  Fächern,  ihren  spezifi‐schen  Gegenstand,  sagen  wir  den  »Geist  der  Reformationszeit«  oder »Cromwell«  oder  »das Willenserlebnis«,  so  eng  am  Leitfaden  sinnlicher Dokumente, Monumente, Aussagen, registrierbarer Körperbewegungen zu entwickeln, daß sie dem Vorwurf der Erdichtung durch wiederum außer‐wissenschaftlich zugängliche Belege begegnen.  Fraglich  ist die Vorweisbarkeit des Gegenstandes nur  in der Theologie 

und  in der Mathematik,  in der am meisten und  in der am wenigsten be‐strittenen Wissenschaft. Nur zweifelt niemand an ihrer echten Gegenständ‐lichkeit, wenn  er  hier wie dort, wenn  auch  in  verschiedenem  Sinne, das Sein  der  Gegenstände  in  Frage  stellt.  Der  Boden  der  Theologie  ist  der Glaube  an den  geoffenbarten Gott.  Sie  stützt  sich  auf die Heilige  Schrift und das in ihr Ausdruck gewordene Wort Gottes. Ein Zweifel an der Über‐natürlichkeit ihres Fundaments trifft primär den Glauben, nicht sie als Wis‐senschaft. Er berührt die vorgebliche Überwirklichkeit, aber nicht die au‐ßerwissenschaftliche Vorweisbarkeit ihres Gegenstandes, die in der gläubi‐gen Überzeugung einer religiösen Erfahrung gegeben ist. Selbst die Unbe‐weisbarkeit  Gottes  und  die  im  äußersten  Fall mögliche  quellenkritische Zersetzung der Heiligen Schrift rührt nicht an das unbestreitbare Bezogen‐sein  einer  theologischen Wissenschaft  auf  einen  eigentümlichen  Gegen‐stand, der im Leben des Glaubens ergriffen werden kann.  Anders liegt die Schwierigkeit in der Mathematik. Abgesehen davon, daß 

es einen guten Sinn hat, gegen das ideale Sein ihrer Gegenstände, der Zah‐len und Figuren, Front zu machen; obwohl die Arbeit mit ihnen als Gegen‐ständen wiederum keine andere Deutung – in Abhebung gegen die anders gearteten Gegenstände der Theologie, der Real‐ wie auch der hier kein be‐sonderes Problem bietenden Normwissenschaften, der  Jurisprudenz – zu‐läßt. Die Schwierigkeit liegt in der von den wissenschaftlichen Operationen ablösbaren Zugänglichkeit. Ihr Gegenstand ist nicht außerwissenschaftlich vorweisbar.  Immer nur auf der Wege der Fragestellung  selbst bietet  sich der mathematische Gegenstand  dar.  Gewissermaßen  zum Ausgleich  für die außerwissenschaftlich undurchführbare Vorweisbarkeit entwickelt die Mathematik  ihren Gegenstand  in  der Konstruktion,  indem  sie  einerseits durch Einführung der Symbole, andererseits durch die Verwendung von Zirkel und Lineal  sich  in der Einheit  von Erzeugung der  Prinzipien  zur 

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Darstellung des Gegenstandes und des Gegenstandes  selber bewegt. Der Mangel der Vorweisbarkeit wird, wenn man so sagen darf, durch den be‐sonderen Sinn des Mathematisierens wettgemacht. Es kommt gar nicht zu dem Gegensatz zwischen einem denkenden Vorgehen in der Richtung auf einen konkreten Gegenstand, wie  er  in  allen  anderen Wissenschaften be‐zeichnend  ist und dort auch die Forderung einer direkten Vorweisbarkeit neben dem denkenden Vorgehen  rechtfertigt. Durch die Vermeidung des Gegensatzes im Wege einer konstruierenden Darstellung ist dem Vorwurf der Gegenstandslosigkeit gegen die Mathematik von vornherein der Boden entzogen. Eine Disziplin aber ist diesem Vorwurf vollkommen ausgeliefert, solange 

sie sich als Wissenschaft  im Kreise der Wissenschaften sieht: die Philoso‐phie.  Ihr Gegenstand  ist  nicht  vorweisbar.  Er  ist  nicht  durch  besondere Schwierigkeiten des Vorweises  oder  eine  ihm  anhaftende Unzugänglich‐keit belastet, er ist es auch nicht wie in der Mathematik durch die besonde‐re Art seiner Darstellung im Wege einer Einheit von Verfahren und Gegen‐stand.  Seine Unzugänglichkeit  gegen die  Forderung  außerwissenschaftli‐cher  Vorweisbarkeit  ist  grundsätzlich  und  in  seinem Wesen  begründet. Dieser Sachverhalt stellt sich so dar, daß jede Aussage, welche den Satz der Unzugänglichkeit  bestätigen  oder  bestreiten  will,  selbst  bereits  philoso‐phisch ist. Zunächst könnte man  auf den Gedanken kommen, daß die Einsicht  in 

die grundsätzliche Nichtvorweisbarkeit des philosophischen Gegenstandes das Ergebnis einer außerphilosophischen Überlegung wäre. Die Geschichte der  Philosophie,  ein  literarisches  Phänomen,  zeigt  in  dem Wettstreit  der Richtungen und Systeme, der nie geschlichtet worden  ist, obwohl er die‐selben wenigen Themen seit Jahrhunderten zum Gegenstand hat, eine Un‐stimmigkeit an. Im Rückblick auf die zahlreichen Versuche, sie zu beheben, stellt sich – wiederum rein als literarisches Phänomen – der Grund in dem Unvermögen heraus, zu einer Vereinbarung über den Sinn der umstritte‐nen Themen zu kommen. Weil eine Einmütigkeit über Themen wie Welt, Seele,  Gott,  Freiheit,  Wahrheit,  Güte,  Schönheit  nicht  zu  erzielen  war (Themen, denen doch offenbar  in dem Sinne, den  sie nun  einmal haben, wenn über  sie diskutiert werden  soll,  irgend etwas entsprechen muß),  so schließt die Überlegung  auf  eine prinzipielle Unzugänglichkeit  ihrer Ge‐genstände. Da  sie  auf der  anderen Seite  aber als Schluß aus  rein  literari‐

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schen  Beobachtungen  den  Streit  über  sie  auch  nicht  dadurch  entwerten will, daß sie ihn schlechthin für gegenstandslos erklärt, so engt sie die fest‐gestellte Unzugänglichkeit auf eine Nichtvorweisbarkeit  im außerphiloso‐phischen Sinne  ein. Dies bedeutet, da  sie wiederum nicht  selber  für  eine philosophische  Richtung  gegen  andere  Richtungen  Partei  ergreifen will, zunächst  keine Belastung des  erkennenden Menschen mit  einem  spezifi‐schen Unvermögen, sondern nur die Feststellung der Tatsache, daß, um zu einer Klärung  der  genannten  Themen  zu  kommen,  bereits  philosophiert werden muß; weshalb  jeder Versuch eines außerphilosophischen Zugangs zu  ihren  Gegenständen  sich  im Wege  einer  philosophischen  Bemühung vollzieht.  Stimmte diese Überlegung, so gäbe es wenigstens negativ eine unphilo‐

sophische, d. h. eine  literarische, eine geistesgeschichtliche Zugänglichkeit der Philosophie und eine Möglichkeit, über sie und somit indirekt auch ü‐ber  ihren Gegenstand etwas auszusagen. Aus diesem Grunde glaubte die Geistesgeschichte der natürliche Ort  einer Wesensbestimmung der Philo‐sophie unter Neutralisierung ihrer ganzen Gegenstandsfrage zu sein, wenn sie in bewußtem Verzicht auf philosophische Ansprüche ihrer historischen Entstehung nachging. Sie glaubte unphilosophisch jenen Rückgriff der Phi‐losophie  nach  ihrem  eigenen Wesen  und  damit  nach  ihrer  eigentlichen Aufgabe vollziehen zu können,  indem sie als Philosopohiegeschichte den Quellen  ihrer  Problematik  nachspürte;  jenen  Griff,  den  die  Philosophie vergeblich im Vorgriff nach ihrem Gegenstande ausführen wollte, um von ihm  aus  zu  einer  endgültigen  Vereinbarung  über  die  Art  seiner  Erfor‐schung zu gelangen. Aber die  literarische Überlegung  ist doch nicht so neutral und unphilo‐

sophisch, wie sie zu sein glaubt. Sie nimmt, ohne zu wissen, Partei gegen die gesamte Philosophie. Denn sie setzt sich in Widerspruch zu der für jede Philosophie  bisher  bezeichnenden  Bemühung,  im  Vorgriff  ihren  Gegen‐stand zu suchen und ihn somit (man darf hier nicht abwehrend sagen: nur für sich selber) noch vor aller Philosophie und für jede Philosophie vorzu‐weisen. Es wäre sonst schlechthin unbegreiflich, woher das Philosophieren immer wieder den Antrieb, den Mut und die Kraft zur Darstellung gewon‐nen hätte. Ohne Vorblick auf eine besondere Welt  fehlte  ihrer Arbeit  jede Richtung und  jeder Boden. Urteilt die  literarische Überlegung auf Grund der Tatsache, daß für die Dauer der überblickbaren Geschichte keine These 

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der Philosophie unwidersprochen geblieben ist, keine Methode sich durch‐gesetzt hat, so bleibt ihr gegenüber die andere Tatsache von gleichem Ge‐wicht, daß eben diese Behauptung, die Basis ihres Schlusses, von der Philo‐sophie selber von je bestritten worden ist. Erst wenn die Geistesgeschichte ihren Argumenten für eine Vorweisbar‐

keit ihres Gegenstandes das gleiche Recht wie den Argumenten gegen eine solche  zubilligt, gewinnt  sie die Neutralität  einer unphilosophischen Un‐tersuchung des Phänomens der Philosophie. In demselben Maße aber ver‐liert sie die Möglichkeit, den subjektiv gemeinten Sinn der Philosophie ü‐berhaupt oder einer besonderen Philosophie gegen ein objektiv erreichtes Ergebnis, d. h. also auch gegen ihr Mißlingen auszusprechen. Die Einsicht in  die  grundsätzliche  Nichtvorweisbarkeit  des  philosophischen  Gegen‐standes  auf  außerphilosophischem Wege  enthält  eine  Option,  die  nicht mehr  literarisch und geschichtlich, sondern nur philosophisch zu begrün‐den ist. Nur die Begründungsbedürftigkeit der Tatsache als solcher, daß die Phi‐

losophie dem Vorwurf der  außerwissenschaftlichen Unzugänglichkeit  ih‐res Gegenstandes nicht anders als mit den Mitteln  ihrer Wissenschaft be‐gegnen kann, rechtfertigt das oben gefällte Urteil über ihr Verhältnis zu ih‐rem Gegenstand. Der Mathematiker hat  immer die Möglichkeit, algebrai‐sche und geometrische Sätze durcheinander zu stützen und ihrer Erkennt‐nis im Wege der Anwendung auf die Erfahrung den Wert der ausgezeich‐neten Gegenständlichkeit  zu  geben. Das  kann  die  Philosophie  nicht.  Sie bleibt mit  ihrem Gegenstand allein und teilt  ihn nur denen mit, die bereit sind, das Wagnis  der unerschöpflichen Mehrdeutigkeit  ihrer Überlieferung  auf sich zu nehmen. 

3. Die Mehrdeutigkeit der philosophischen Überlieferung und die vier Möglichkeiten des Philosophierens 

Die Frage nach dem Gegenstand der Philosophie ist das Grundproblem al‐les Philosophierens, wenn  es wissenschaftlich  sein will. Unter dieser Be‐dingung ist sie der Frage nach der Aufgabe oder nach dem Wesen der Phi‐losophie äquivalent. Denn das Wesen einer Wissenschaft bestimmt sich im Hinblick auf den besonderen Gegenstand, den sie erkennen will.  In  ihrer Behauptung als Grundproblem wird die Möglichkeit seiner Unterordnung unter  die  Erkenntnistheorie,  da  es  ein  besonders  geartetes  Erkennen  an‐

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geht, ebenso  im Auge behalten wie die Möglichkeit seiner Unterordnung unter die Ontologie, weil es einen Gegenstand und sein Wesen betrifft. Er‐kenntnistheorie  und Ontologie  sind  Teildisziplinen  der  Philosophie  und überdies  in  ihrem  Inhalt  wie  in  ihrer Möglichkeit  selber  philosophisch bestritten,  die  Ontologie  durch  den  Kritizismus,  die  Erkenntnistheorie durch Hegel, die Friessche Schule u.a. Angenommen einmal, daß gegen die Selbstunterordnung der Philosophie unter eine oder mehrere ihrer Teildis‐ziplinen  aus  Gründen  einer  Verletzung  der Widerspruchsfreiheit  nichts einzuwenden wäre – und tatsächlich hat Lask eine Logik der Philosophie, Scheler eine Ethik des Philosophierens für möglich gehalten –, so läßt sich offenbar  eine  Diskussion  über  das  Verfahren  des  Selbsteinschlusses  der Philosophie durch ihre Teile nicht verhindern. Eine  derartige Diskussion  stößt  auf  Prinzipienfragen  der  Logik,  Ethik, 

Ontologie, Erkenntnistheorie, die  eine Behandlung des Wesens‐ oder Ge‐genstandsproblems der Philosophie ausschließlich  im Sinne eines Teilpro‐blems unmöglich machen. Bezeichnend  für das Problem bleibt  immer zu‐gleich  seine Ausgliederungsfähigkeit  aus der Philosophie  und  seine Ein‐gliederungsfähigkeit  in sie als Teil von  ihr. Die Äquivalenz zwischen der Wesensfrage als Grundfrage vor allem Philosophieren und als Teilfrage in aller Philosophie  ist unaufhebbar. An dieser Äquivalenz kommt  eine  für das  literarische  Phänomen  der  Philosophiegeschichte  bestimmende  Seite zum Vorschein. So wenig nämlich der Gegenstand der Philosophie außer‐philosophisch vorweisbar ist, so wenig ist die Frage nach ihm außerphilo‐sophisch  abgrenzbar. Auch hier gilt die Äquivalenz, und  zwar  zwischen dem außerwissenschaftlichen Sinn der Frage an die Philosophie und dem wissenschaftlichen Sinn, den sie sowohl als Grundproblem wie als Teilpro‐blem  in der Philosophie hat. Aus dieser Äquivalenz  ergibt  sich,  entspre‐chend der  in § 1 behandelten Konsequenz, eine doppelte Auffassung des Phänomens ihrer Geschichte. Für ihr Wesen sind dokumentarisch: 1. die Geschichte der Philosophie  in der Gesamtheit aller Lehren, die nach  ih‐rem Willen oder gegen ihn zu ihr gerechnet werden, 

2. jede Lehre gemäß dem subjektiv gemeinten Sinn, den sie sich selbst als einer Philosophie und im Namen der Philosophie überhaupt gibt. 

Die Nichtüberführbarkeit der einen Wesensauffassung in die andere, oder die  stets  nur  auf Kosten  gewisser  Richtungen mögliche Überführbarkeit 

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der einen  in die andere kennzeichnet die Schwierigkeit, mit der  ihre We‐sensbestimmung, d. h.  ihre Begründung als Wissenschaft zu  rechnen hat. Sie muß davon  ausgehen, daß die  immer wieder dokumentierte Einsicht der Philosophie in ihr Wesen vereinbar ist mit der gleichfalls dokumentier‐ten Unmöglichkeit, zu einer Vereinbarung über ihr Wesen zu gelangen.  Deshalb hat an  ihm die Philosophie nie einen Halt von solcher Art und 

Festigkeit gewinnen können, daß  ihr die Entwicklung eines Leitfadens  im Sinne methodisch  fortschreitender  Arbeit möglich  geworden  wäre.  Ihre wechselvolle Geschichte gewährt nur auf kurze Strecken den Anblick eines stetigen Fortschritts. Selbst die klassischen Zeiten der europäischen Philo‐sophie  bilden  davon  keine Ausnahme.  Immer wieder  erschöpft  sich  der tragende Grund, der für bestimmte Perioden die maßgebenden Werte und Prinzipien der Arbeit und die Möglichkeit der Verständigung hergibt. Mit Aristoteles, mit Leibniz, mit Hegel finden solche Epochen jeweils ihren Ab‐schluß, deren innere Dramatik und Folgerichtigkeit auch wieder nur gegen die Absichten ihrer einzelnen Träger, also etwa Heraklits und Parmenides’, Sokrates’ und Platons, Descartesʹ und Spinozas, Kants, Fichtes, Schellings sich durchsetzt. Es bleibt die bezeichnende Möglichkeit, daß mit der Glie‐derung der Philosophiegeschichte  in  solche  klassischen Epochen Zusam‐menhänge vorgetäuscht  sind, um  einer  bestimmten Art des Philosophie‐rens zum Recht gegen andere Arten zu verhelfen. Das Bild vom Ausgleich der Gegensätze hat  immer  eine verführende Kraft. Aber  selbst da, wo  es die Wesensauffassung der Philosophie wirklich bestimmt hat,  läßt es sich nicht durchhalten, ohne die Gegensätze zu vergewaltigen. Heraklit ist eine Gegenstellung  zu den Eleaten. Zugleich  aber  nicht  nur  eine  solche. Läßt man  sich  auf  sie  ein  und  überläßt man  sich  ihren Argumenten,  so  ver‐schwindet merkwürdigerweise sogar der ganze Raum  für eine Gegenstel‐lung. Das gleiche gilt für die eleatische Position. In genau demselben Sinne schließen die großen Werke aller späteren Philosophen  in dem Maße eine Gegnerschaft  oder  ihre  Überholbarkeit  durch  ihre Nachfolger wie  auch durch ihre Vorgänger aus, in welchem sich die Bündigkeit ihrer Grundstel‐lung mitteilt. Trotzdem hat jede Grundstellung ihren Gegner gefunden und die Philosophie es zu keiner Einigung in den Prinzipien bringen können. Diese Situation der Unentscheidbarkeit zwischen monistischer und plu‐

ralistischer Auffassung der Philosophien entfaltet sich darin, daß die Über‐