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Auf die Frage, wie die interkulturelle Philosophie in den Kanon der Lehr-disziplinen einzuordnen sei, gibt es unterschiedliche Antworten. Auchüber das Verhältnis zwischen Schul- und interkultureller Philosophie gibtes Kontroversen, die zwei Richtungen aufweisen: während erstere diePhilosophie immer noch ausschließlich für griechisch-europäisch hält,redet letztere der philosophia perennis das Wort und meint, Philosophiesei per se interkulturell und somit nicht nur griechisch, sondern auchgriechisch. Philosophie kennt verschiedene Wege und trägt unterschied-liche Namen. Die interkulturelle Philosophie geht einen anderen Weg alsdie Schulphilosophie. Den philosophischen Problemen räumt sie dasPrimat vor der philosophischen Traditionen ein und bringt sie mit ihren jeeigenen Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigteDiskursbeiträge zusammen. Der Leser wird nicht nur mit Grundbegriffen,Struktur, Gegenstand und Aufgabe der interkulturellen Philosophie ausverschiedenen Perspektiven vertraut gemacht, sondern auch mit denbeherrschenden Fragen der Geschichte und Gegenwart.
Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Ina Braun (Hrsg.)
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Grundlagen der Interkulturalität
ISBN 3-88309-357-2Verlag Traugott Bautz
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Verlag Traugott Bautz
Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Ina Braun (Hrsg.)
— Wege zur Philosophie
Wege zur Philosophie
Grundlagen der Interkulturalität
herausgegeben und eingeleitet von
Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer
unter Mitwirkung von Daniel Rasch, Roman Schmitz und André Biermann
Traugott Bautz Nordhausen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH
99734 Nordhausen 2006 Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany ISBN 3-88309-357-2
www.bautz.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber ............................................................................9
Helmuth Plessner Die Frage nach dem Wesen der Philosophie ..............................................19
Hamid Reza Yousefi Interkulturelle Philosophie ............................................................................43
Karl Jaspers Die philosophiegeschichtliche Auffassung .................................................75
Klaus Fischer ›Oriental Connection‹ – Frühgriechische Wissenschaft und orientalische Traditionen .....................................................................109
Ram Adhar Mall Universalität und Partikularität der Philosophie .....................................147
Elmar Holenstein Komplexe Kulturen ......................................................................................175
Claudia Bickmann Der Streit um das Göttliche im Begriff ......................................................197
Raúl Fornet-Betancourt Philosophie als Weg, interkulturell unterwegs zu sein ...........................225
Heinz Kimmerle Interkulturelle Konzeptionen des Philosophiebegriffs und der Philosophiegeschichte ...................................................................239
Jens Mattern Interkulturelle Philosophie? ........................................................................261
Inhaltsverzeichnis
6
Jitendra N. Mohanty Philosophie zwischen West und Ost ......................................................... 287
Hans Rainer Sepp Offene Tradition – geschlossene Universalität? ....................................... 309
Harald Stelzer Kritischer Rationalismus und interkulturelle Philosophie ..................... 329
Elke Angelika Wachendorff Philosophie, Denken und Interkulturalität zwischen Nietzsche und Heidegger .......................................................... 349
Klaus-Jürgen Grün Die interkulturelle Bedeutung von Religionskritik und Kunst im Denken Arthur Schopenhauers ........................................ 377
Herausgeber, Autorinnen und Autoren ................................................... 413
Norbert Hinske zum 75. Geburtstag
Einleitung der Herausgeber
Der vorliegende Titel ›Wege zur Philosophie‹ weist darauf hin, daß es ver‐schiedene Wege zum Philosophieren gibt – Wege, die sich begegnen oder begleiten, befruchten oder bekämpfen, ergänzen oder ignorieren können. Diese methodologische Perspektive finden ihren Ausdruck im Untertitel, nach dem Philosophie per se vielgestaltig, pluralistisch, in ihrer Summe in‐terkulturell ist. Das Bild auf der Titelseite des Buches soll diese Mannigfal‐tigkeit der Wege demonstrieren. Im Sinne dieses Vorverständnisses ist der Begriff der ›Philosophie‹ immer im Plural zu gebrauchen. Wir sehen nicht eine ›Philosophie‹, sondern ›Philosophien‹, die differieren und sich zugleich überlappen. Philosophie kennt somit verschiedene Wege und trägt unterschiedliche
Namen. Die interkulturelle Philosophie geht einen anderen Weg als die Schulphilosophie. Sie räumt den philosophischen Problemen das Primat vor den philosophischen Traditionen ein und bringt diese mit ihren je ei‐genen Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Dis‐kursbeiträge zusammen. Die zentrale Aufgabe des vorliegenden Bandes besteht darin, nicht nur mit Grundbegriffen, Struktur, Gegenstand und Aufgabe der interkulturellen Philosophie aus verschiedenen Perspektiven vertraut zu machen, sondern auch mit den sie beherrschenden Fragen der Geschichte und Gegenwart. Der Philosoph Helmuth Plessner (1892‐1985) zählt zu den Hauptvertre‐
tern der Philosophischen Anthropologie. In seinem Beitrag stellt er die Fra‐ge nach dem Wesen der Philosophie. Er geht dabei von dem Prinzip der of‐fenen Frage aus und weist eine bloße Philosophisierung der Philosophie zurück. Mit der Frage nach dem Wesen der Philosophie fragt die Philoso‐phie nach sich selbst und bezieht sich auf die eigene Überlieferung, die ebenfalls offen sein muß. Plessner kritisiert mehrfach den Anspruch auf Absolutheit, apriorische Kategoriensysteme und den Versuch, Kulturen nach einem Ordnungsprinzip zu klassifizieren. Er sieht in dem Verzicht auf die Vormachtstellung des europäischen Wert‐ und Kategoriensystems eine
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wichtige Voraussetzung, in welcher der europäische Geist erst den Hori‐zont auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte freigibt. Dieser Verzicht auf die Absolut‐heit, welche diese Freilegung selbst erst möglich macht, führt für Plessner zu deren Verwirklichung. Für ihn siegt Europa, ›indem es entbindet‹. Der interkulturelle Philosoph Hamid Reza Yousefi setzt sich in seinem
Beitrag mit Struktur, Gegenstand und Aufgaben der interkulturellen Philo‐sophie auseinander und weist dabei auf die Kontroverse um die Schulphi‐losophie und die interkulturelle Philosophie hin. Er unterteilt diese Kon‐troverse in zwei Richtungen: Während die eine Richtung die Philosophie ausschließlich für griechisch‐europäisch hält, redet die andere Richtung der philosophia perennis das Wort und stellt fest, Philosophie sei per se interkul‐turell und somit nicht nur griechisch, sondern auch griechisch. Der Verfas‐ser sieht die Dezentralisierungs‐ und Differenzierungsprozesse in der phi‐losophischen Historiographie als zwingende Folge einer interkulturellen Orientierung. Die interkulturelle Philosophie sollte nicht als eine neue Dis‐ziplin neben der traditionellen Philosophie verstanden werden, sondern vielmehr als ihr Korrektiv. Interkulturelle Philosophie sieht sich der Kom‐munikation verpflichtet. Demzufolge bildet die Analyse von Phänomenen des Sozialen, des Politischen und des Kommunikativen einen zentralen Be‐reich der interkulturellen Philosophie. Sie räumt Frage‐ und Problemstel‐lungen den Vorrang vor philosophischen Traditionen ein und bietet eine fundierte Grundlage für die Philosophie im Vergleich der Kulturen. Inso‐fern wird versucht, Begriffssysteme zu klären, die mit Struktur, Gegen‐stand und Aufgabe der interkulturellen Philosophie als einer interdiszi‐plinären Ausrichtung eng verbunden sind. Hier werden nicht die Ergeb‐nisse neuer Forschung vorgelegt, sondern Grundlagen, die dazu nützlich sein mögen, solche Forschungen anzuregen. Karl Jaspers (1883‐1969) gehört zu den Klassikern der Philosophie des 20.
Jahrhunderts. Während seine Zeitgenossen wie Edmund Husserl Philoso‐phie als Wissenschaft betrieben, trifft Jaspers eine klare Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft. Er weist alle Formen von Aus‐schließlichkeitsansprüchen zurück und setzt Vernunft mit einem ›grenzen‐losen Kommunikationswillen‹ gleich. Nach Jaspers ist Philosophie der Kommunikation verpflichtet. Er unterstreicht, daß religio und philosophia pe‐rennis niemandes Besitz alleine seien. Jaspers erarbeitete das Konzept einer
Einleitung der Herausgeber
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›kommenden Weltphilosophie‹, die für ihn eine offene und unabschließba‐re Systematik darstellt. Auch arbeitete er seit 1937 an einem Konzept der Weltgeschichte der Philosophie und ebnete damit den Weg zu einer ›kommenden Weltphilosophie‹. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von ›Aneignung‹. Hierunter versteht er die Vergegenwärtigung der Ge‐schichte, die dem philosophischen Studium überhaupt einen Sinn gibt. Der Philosophierende tritt dabei mit den Gelehrten der Vergangenheit ›in Ver‐kehr‹ und verlebendigt sie durch seine Befragung für die Gegenwart. Diese intertextuelle und aneignungsorientierte Kommunikation ist nach Jaspers vergleichbar mit einer ›inneren Freundschaft‹, in der Vergangenheit und Gegenwart zusammengebracht werden. Das Konzept einer Weltgeschichte der Philosophie Jaspers’ bietet die Grundlage weitere Forschungen, die für die Zukunft von großer Bedeutung sind. Im vorliegenden Beitrag stellt Jas‐pers seine philosophiegeschichtliche Auffassungen vor. Der Wissenschaftstheoretiker, Wissenschaftshistoriker und Wissenssozio‐
loge Klaus Fischer untersucht die Ursprünge der griechischen Philosophie. Der Entstehungsmythos der westlichen Philosophie besagt, daß die Philo‐sophie etwa an der Wende vom siebten zum sechsten Jahrhundert v. Chr. aus dem Dunkel der Vorgeschichte auftauchte. Seit diesem Urknall der Ver‐nunft erhellt die Philosophie für alle, die wissen wollen, die Welt, indem sie diese auf rationale Weise erklärt. Vor dieser Zeit gab es Mythen, Religionen und Techniken – Wissensformen, die sich entweder in praktischen Hand‐reichungen und Regeln erschöpften, oder die Geschichten tradierten, die vor allem rituelle und legitimatorische Funktionen hatten. Nach diesem Urspungsmythos waren alle Welterklärungen, die vor den ersten griechi‐schen Philosphen angeboten wurden, unwissenschaftlich und irrational. Der Mythos postuliert eine Kluft zur vorangehenden Epoche, zum Denken der Ägypter, Assyrer, Babylonier, Hethiter, Perser, Inder, etc., die unüber‐brückbar ist. Eine unvoreingenommene Analyse der frühen griechischen Philosophen und ihrer Lehren zeigt indes, daß diese zum einen starke my‐thologische und religiöse Kompoenten hatten, und daß sie zum zweiten in wesentlichen Aspekten auf älteren Quellen und Vorbildern beruhten – Quellen, die teils im griechischen Volksglauben, teils im ägyptischen, kleinasiatischen, iranischen und indischen Kulturraum lagen. Für Thales, Anaximander, Anaximenes und Heraklit lassen sich in den genannten Re‐gionen so präzise Analogien für einige ihrer zentralen Ideen nachweisen,
Wege zur Philosophie
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daß die Entstehungsgeschichte der Philosophie in einem neuen Licht er‐scheint. Der interkulturelle Philosoph Ram Adhar Mall beschäftigt sich mit dem
Thema Universalität und Partikularität der Philosophie aus interkultureller Sicht. Philosophische Fragestellungen kennen nach Mall keine rein geogra‐phischen, kulturellen und traditionellen Grenzen. Ein Philosoph erhält demzufolge seine Identität in erster Linie durch philosophische Fragestel‐lungen, Probleme und Lösungsansätze, und nicht durch sein Europäisch‐ oder Asiatischsein. Ferner enthält Philosophie qua Philosophie eine univer‐selle philosophische Rationalität, die dennoch unterschiedliche kulturelle Besonderheiten aufweist. In diesem Sinne besitzen Adjektive wie ›westlich‹ oder ›indisch‹ im Verhältnis zu dem Allgemeinbegriff Philosophie ihre vol‐le Berechtigung. Die Sorge um die Frage, ob das griechische Wort ›Philoso‐phie‹ legitimerweise auch für das indische Denken verwendet werden darf, ist für Mall unbegründet. Es geht nicht um eine bloß philologische und le‐xikalische Bestimmung der Philosophie, auch nicht in erster Linie um de‐ren bestimmte kulturelle Gestalt, sondern um die inhaltliche Seite der Phi‐losophie. Philosophie definiert sich inhaltlich durch kulturübergreifende Fragestellungen, deren Lösungsansätze Gemeinsamkeiten und erhellende Differenzen aufweisen. Der interkulturelle Philosoph Elmar Holenstein setzt sich mit komplexen
Kulturen auseinander. Daß Kulturen keine homogenen Gebilde sind, au‐genfällig als solche in kompakten ›Kulturkreisen‹ vorzufinden, ist heute ein Gemeinplatz – anders als noch vor wenigen Jahrzehnten. Warum Kulturen komplex sind und was dies zur Folge hat, wird jedoch wenig diskutiert. Zwei Erklärungen liegen auf der Hand: (a) Für den Wandel der einzelnen Komponenten einer Kultur sind unterschiedliche Faktoren ausschlagge‐bend, für den Sprachwandel zum Beispiel andere als für den Wandel der Religionen. (b) Die menschlichen Wertvorstellungen lassen sich nicht alle gleichzeitig optimal umsetzen. So findet man in verschiedenen Kulturen nicht nur die gleichen Werte, sondern auch die gleichen Wertkonflikte. Ei‐ne Folge der Komplexität ist, daß ein Clash of Civilizations ein Clash of Com‐plex Civilizations ist mit einem entsprechend komplizierten Frontverlauf und mit Komplizen und Sympathisanten in der jeweils anderen Region. Eine weitere Folge ist, daß sich ›moderne‹ Entwicklungen mit Ansätzen, die man dazu in der eigenen komplexen Tradition vorfindet, legitimieren
Einleitung der Herausgeber
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lassen. Die traditionelle Annahme, Kulturen seien homogene Gebilde, führt zu diametral entgegengesetzten Charakterisierungen ein und derselben Kultur je nach der Epoche, der Region oder der Lehrrichtung, an der man sich orientiert. Es scheint dann auch nur mehr oder weniger ausgereifte Stadien und keine gleichwertigen Variationen einer bestimmten Kultur zu geben. Dazu gesellt sich die Neigung, die ›wahre‹ Gestalt einer Kultur in ihren Anfängen oder in einer frühen klassischen Phase ihrer Entwicklung zu sehen und alles Spätere als Degeneration oder, wenn es von außen an‐geregt worden ist, als Verunreinigung zu betrachten und nicht als eine An‐regung zu einer schöpferischen Fortentwicklung, zu der es ohne Fremdein‐fluß nicht so leicht gekommen wäre. Die interkulturelle Philosophin Claudia Bickmann untersucht den Streit
um das Göttliche im Begriff. Nicht nur religionsgeschichtlich, sondern auch philosophiegeschichtlich blicken die drei monotheistischen Religionen auf gemeinsame antike Ursprünge zurück. In ihren Quellen verbergen sich, wie der Beitrag zeigen soll, zugleich auch die Potentiale einer möglichen Wieder‐Annäherung in spannungsreichen Zeiten. Platons Philosophie wird als eine Form des Philosophierens zur Sprache gebracht, die in sich noch vereint, was später in zwei getrennten Linien auseinandertreten sollte: Das intuitiv‐synoptische, das noetische Denken und das begriffsdifferenzieren‐de, verallgemeinernde, das dianoetische Denken. Während die arabisch‐islamische Philosophie in ihrer Hauptströmung eher das überbegrifflich Eine als unfraglichen Bezugspunkt betont, wird in der westlich‐abendländischen Tradition das begriffsdifferenzierende, das methodisch geregelte dianoetische Denken traditionsbildend. – Kants kritische Wende hat, wie es scheint, innerhalb der abendländischen Philosophie den Nexus zwischen den beiden Seiten endgültig durchtrennt. Im folgenden wird je‐doch ein Kant zur Sprache gebracht, der insofern eine vermittelnde Positi‐on einnehmen kann, als er radikale Skepsis gegenüber der begrifflichen Annäherung an das höchste Prinzip – an die Idee des Guten – mit der Funktion dieses Prinzips als leitendem Fluchtpunkt und Ziel unserer prak‐tischen Vernunft zu verbinden sucht. Der interkulturelle Philosoph Raúl Fornet‐Betancourt hält Philosophie
für einen Weg, interkulturell unterwegs zu sein. Das Philosophieverständ‐nis bestimmt die Philosophie als kontextuelle Reflexion, die zugleich an der Interpretation und der Mitgestaltung von Welt und Geschichte mitzuarbei‐
Wege zur Philosophie
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ten hat. Vor diesem Hintergrund wird dann ein Weg der und zur Philoso‐phie dargestellt: den Weg der lateinamerikanischen Philosophie, den der Beitrag als Weg der Kontextualisierung durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte Lateinamerikas beschreibt. Im Zusammenhang dieser Aus‐einandersetzung wird ferner die Wiederentdeckung der kulturellen Vielfalt betont, und zwar als die Grunderfahrung, durch die das kontextuelle Phi‐losophieren in Lateinamerika mit der Pluralität der Wege, die es zu gehen hat, konfrontiert wird. Diese Erfahrung wird zum Schluß des Beitrags als Bedingung einer neuen Entwicklungsphase im Weg des kontextuellen la‐teinamerikanischen Philosophierens interpretiert: Die Phase der interkultu‐rellen Transformation der Philosophie in Lateinamerika. Der interkulturelle Philosoph Heinz Kimmerle thematisiert die interkul‐
turellen Konzeptionen des Philosophiebegriffs und der Philosophiege‐schichte. Der Begriff der Philosophie und die Auffassungen, wann und wo sie sich ereignet hat, hängen eng miteinander zusammen. Die seit Kant und Hegel vorherrschende Konzeption der europäisch‐westlichen Kultur, die Philosophie für Europa reklamiert – mit dem Ursprung im antiken Grie‐chenland und einer Verschiebung über das antike römische Reich ins Eu‐ropa nördlich der Alpen und nach Nordamerika – ist noch immer weit ver‐breitet. In Absetzung gegen Heideggers und Gadamers Auffassungen, die sich teilweise für nicht‐europäische Philosophie öffnen, aber auch sogleich wieder verschließen, wird die These vertreten, daß jede Kultur ihre eigene Philosophie hat mit der zugehörigen Geschichte. Das eigentlich Philoso‐phische, das sich von den technischen Mitteln des Philosophierens unter‐scheiden läßt, hat zu allen Zeiten und an allen Orten die gleiche Aufgabe, nämlich die Reflexion eines Zeitalters und einer Kultur auf ihr eigenes ge‐sellschaftlich‐geschichtliches Leben und ihre Stellung inmitten anderer Kulturen und der Natur. Die Philosophien der verschiedenen Zeitalter und Kulturen können Dialoge miteinander führen und sich gegenseitig berei‐chern und verstärken, um für die Lösung der Probleme der jeweiligen Zeit, die gegenwärtig weltweite Dimensionen angenommen haben, Lösungen zu erarbeiten. Mit der Aufnahme der subsaharisch‐afrikanischen Philosophie in den Kontext der Weltphilosophie ist grundsätzlich auch Kulturen Philo‐sophie zuerkannt, die in ihrer Geschichte vorwiegend mündlich miteinan‐der kommuniziert und ihr Wissen überliefert haben. Es gilt nun, vorwie‐
Einleitung der Herausgeber
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gend schriftliche und vorwiegend mündliche Formen philosophischen Denkens fruchtbar aufeinander zu beziehen. Der Philosoph Jens Mattern reflektiert den Begriff einer interkulturellen
Philosophie. Dabei entwickelt er zunächst Argumente, welche die Verbin‐dung der beiden Komponenten des Begriffs als unschlüssig oder geradezu als ein hölzernes Eisen erscheinen lassen können. In einem zweiten Schritt untersucht er die Bedeutung von philosophia im Denken Platons. Der Rück‐griff auf Platons Unterscheidung von Weisheit (sophia) und philosophia so‐wie die Bestimmung des letzteren Begriffs über ein für die philosophische Existenz konstitutives Nicht‐Wissen ermöglicht die Entwicklung eines in sich schlüssigen Verständnisses von interkultureller Philosophie, verlangt zugleich aber auch danach, diesen Begriff auf diejenigen Denkformen ein‐zugrenzen, deren kritischer Selbstbezug und deren Verhältnis gegenüber dem eigenen Wissen sie zu jeder Form der sophia in einen radikalen Gegen‐satz setzt. Der interkulturelle Philosoph Jitendra N. Mohanty untersucht Gemein‐
samkeiten und Differenzen zwischen der östlichen und westlichen Philo‐sophie. Im Verlauf der Geschichte der Philosophie wurden immer wieder Versuche unternommen, das östliche und das westliche Denken vollstän‐dig gegeneinander abzugrenzen. Östliche Philosophien stehen dabei meist für eine intuitiv‐mythische Denkart, die dem westlichen rational‐logischen Denken gegenübergestellt wird. Nach Mohanty gibt es keine Legitimation für eine solche Abgrenzung. Immer wieder bezweifeln Philosophen wie Husserl, Rorty oder Heidegger, ob die indische Tradition überhaupt ein der griechisch‐abendländischen Philosophie vergleichbares kritisches Den‐ken hervorgebracht hat. In seinem Beitrag widerlegt der Autor zunächst die von den drei genannten Philosophen vorgebrachten Argumente, die seiner Auffassung nach oft auf mangelnder Kenntnis östlicher Traditionen gründen. Das Stereotyp des rational‐logischen abendländischen und des religiös‐mythischen indischen Denkens wurde lange Zeit auch von indi‐scher Seite gepflegt und verbreitet. Dennoch hält Mohanthy es für unge‐rechtfertigt, das intuitive Denken allein dem Osten und das intellektuelle Denken allein dem Westen zuzuordnen. Er macht deutlich, daß weder die These vom Primat des Logischen im abendländischen Denken noch die These vom Primat der Intuition im indischen Denken haltbar sind. Die in‐dische Geistestradition ist nicht nur intuitiv, sondern auch kritisch‐rational,
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während das griechisch‐abendländische Denken auch intuitive Elemente enthält. Im letzten Abschnitt diskutiert der Autor die Rolle der Intuition für die Philosophie. Dabei zeigt er, daß die Philosophen Indiens wie die grie‐chischen Philosophen mittels kritischer Vernunft nach Kriterien und Quel‐len für die Gültigkeit ihrer Aussagen suchten. Indische und westliche Phi‐losophie sind zwar grundlegend verschieden, beide sind jedoch Philoso‐phie. Der Phänomenologe Hans Rainer Sepp setzt sich mit kulturellen Diffe‐
renzen auseinander. Was Tradition und Universalität ausmacht, deckt das Gegensatzpaar ›selbstbezüglich‹ und ›übergreifend‹ nicht ab, da sowohl Tradition offen sein kann wie Universalität geschlossen. Tendieren Sinn‐ganzheiten, gleich ob sie partikular oder übergreifend sind, dazu, ihren Ausgriff zu verfestigen, erwächst die Notwendigkeit einer anderen Grenz‐ziehung, als sie durch die Zuschreibung von ›geschlossen‹ zu ›partikular‹ und ›offen‹ zu ›universal‹ vorgenommen wird. Im ersten Abschnitt wird dargelegt, warum die Differenz zwischen Partikularität und Universalität im gekennzeichneten Sinn nicht haltbar ist, sofern beiden die Tendenz zum Sichverschließen gemeinsam ist. Der zweite Abschnitt knüpft mit kriti‐schem Bezug auf Richard Rorty, Leszek Kolakowski und Jürgen Habermas an gegenwärtige Positionen an. Der dritte Abschnitt arbeitet der Frage vor, wie Verschließungen aufgebrochen werden, so daß ein Universale möglich wird, ohne daß damit eine Schwächung der Sinnkraft des Verschlossenen einhergeht. Im Artikel des Sozialwissenschaftlers Harald Stelzer wird eine neue Be‐
trachtungsweise des Philosophieverständnisses einer Denkströmung des kritischen Rationalismus eröffnet, indem deren Konvergenzen zu grundle‐genden Prinzipien der interkulturellen Philosophie aufgezeigt und heraus‐gearbeitet werden. Ausgangspunkte der Darstellung bilden die Ablehnung jeglicher Form von Letztbegründung und das dem kritischen Rationalis‐mus zugrunde liegende Prinzip der kritischen Prüfung. Grundlegend für dieses Prinzip sind der konsequente Fallibilismus, der Theorienpluralis‐mus, die Annahme eines ›metaphysischen Realismus‹ und die Annäherung an die Wahrheit als regulativer Idee. Die methodische Grundlage für die kritische Prüfung bildet die Methode von Versuch und Irrtum. Kurz wird auch auf wichtige Auswirkungen des Prinzips der kritischen Prüfung auf den politisch gesellschaftlichen Bereich eingegangen. Aufbauend auf dieser
Einleitung der Herausgeber
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kurzen Darstellung des Philosophieverständnisses des kritischen Rationa‐lismus verweist der Artikel im zweiten Teil auf mehrere Konvergenzen zu grundlegenden Prinzipien der interkulturellen Philosophie, die sich u.a. in der gemeinsamen Ablehnung von Verabsolutierungen und Dogmatisie‐rungen, in Parallelen bei der Bestimmung des Vernunftbegriffs, in der For‐derung nach Bescheidenheit in Erkenntnisbelangen, dem Ausgangspunkt vom Individuum, der Ablehnung eines radikalen Relativismus, der grund‐legenden dialogischen Ausrichtung, der Betonung der Pluralität und der Hervorhebung der Relevanz des interkulturellen Kontakts auffinden las‐sen. Die Kulturwissenschaftlerin Elke Angelika Wachendorff setzt sich mit
Heidegger und Nietzsche auseinander: die großen Denker der Wendung europäisch‐abendländischen Denkens aus der philosophischen Tradition zweier Jahrtausende hinaus und hinauf in die ›Entbergung‹ des ›Eigentli‐chen‹, in die Freisetzung schöpferischer ›dionysisch‐tragischer Transfigura‐tion‹. Die Sprachgestaltungen des Neuen unterscheiden sich in ihnen dia‐metral, der Focus der Untersuchungen und Befragungen gleichwohl. Und doch ist ihnen manches gemeinsam: so der Anspruch auf Überwindung metaphysischen Denkens im eigenen; so das Unternehmen, ein neues und zukunftsträchtiges ›Denken‹, ein ›reines Denken‹ aus dem Zerfallenden zu stiften; so die Witterung und Warnung vor der wachsenden Gefährlichkeit und Grausamkeit tradierter Denkstrategien; so der Impetus und Anspruch hoher Verantwortlichkeit und pädagogischer Aufgabe, für eine Philosophie der Zukunft die Weichen stellen zu müssen – und zu können. Doch be‐grenzt Heidegger das Projekt Philosophie definitorisch auf die metaphysi‐sche Denktradition, so erscheint ihm Erneuerung in das ›Eigentliche‹ des Denkens dennoch ausschließlich aus und mit dieser möglich und muß so an der Begrenzung dieser methodischen Vorgabe philosophisch scheitern. Demgegenüber gelingt es Nietzsche, aus den antiken Fragen eben dieser Tradition einen Vermittlungsmodus zum künftigen und interkulturellen philosophischen Denken neuerlich zu eröffnen: der Menschlich, Allzu‐menschlichen Ur‐Frage anhebenden Denkens, jener nach dem gelungenen Leben. Doch ist beider Zukunftseröffnung für ein umfänglicheres philoso‐phisches Denken nicht euphorisch, wissen doch beide um die notwendige Bescheidung und Begrenztheit möglicher Verwandlung aus dem Her‐kunftsbezug. Doch beharrt Heidegger ausdrücklich auf einem Weg aus‐
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grenzender Selbstbezüglichkeit, so sieht Nietzsche ganz anders gerade in der Öffnung zum anderen als Prozeß schöpferischer ›Transfiguration‹ das zentrale Ereignis jeglicher ›Cultur‹. Der Philosoph Klaus‐Jürgen Grün geht in seinem Beitrag auf die interkul‐
turelle Bedeutung von Religionskritik und Kunst im Denken Arthur Scho‐penhauers ein. Aufklärung erklärt uns das Zustandekommen unserer Ideen und Denkinhalte aus diesseitigen Prinzipien. Die dabei zustande ge‐kommenen Erklärungen sind weitgehend invariant gegenüber der Ver‐schiedenheit der Kulturen, sofern sie den Menschen in seiner naturhaften Erscheinung als Basis annehmen. Der Standpunkt Schopenhauers, der hier behandelt wird, führt in eine metaphysische Betrachtung des Leibes ein. In der leibhaften Natur liegen die Gründe dafür verborgen, warum sich der Mensch Religion, Kultur, Ideen und Kunst erschafft. Überhaupt ist es der Standpunkt der Natur, der die kulturellen Unterschiede einer kritischen Betrachtung zuführen kann. Schon Rousseau hatte mit seinem ›Zurück zur Natur‹ jenen Blickpunkt einnehmen wollen, der ihm die europäische Kul‐tur‐Gesellschaft als verderbte Selbstverliebtheit erscheinen ließ. Schopen‐hauer erreicht mit seinem Natur‐Standpunkt eine neue Dimension. Er legt weniger eine idealisierte Natur seinen Überlegungen zugrunde, als eben die heute wieder aktuelle physische Betrachtung des Menschen. Es ist die Natur, deren Betrachtung uns nicht sofort ein gute Gefühl vermittelt. Die kulturellen Unterschiede erweisen sich vor diesem Hintergrund als Subli‐mationen einer natürlichen Daseinsweise. Während es zu Konflikten führt, wenn sich Kulturunterschiede gegeneinander zu behaupten versuchen, wirkt es entspannend, wenn es uns gelingt, die dahinter verborgene ge‐meinsame Menschennatur in den Blick zu bekommen.
Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der jeweiligen individuellen Präferenzen unserer Autoren und Autorinnen verzichtet.
Die Herausgeber
Die Frage nach dem Wesen der Philosophie1
von Helmuth Plessner
1. Ihre Unentscheidbarkeit nach dem Grundsatz der Selbstgefährdung Ein Idealist, dem Schulsinne nach, wird für die Philosophie in ihrer ge‐genwärtigen Verfassung nur ein Epigone sein. Dem Herzen nach ist er es nicht, wenn Idealismus die Unbeugsamkeit vor gegebenen Zuständen bis in die Entschlossenheit zur Preisgabe des eigenen Selbst bedeutet. Solche Gesinnung in der Philosophie zu Ehren zu bringen, nicht in leeren sie be‐gleitenden Deklamationen, auch nicht als Theorie innerhalb der Umfriedig‐ung der Ethik, sondern als die sie im Ganzen formende Gewalt, ist eine Aufgabe, die nicht durch Anlehnung an große Vorbilder, sondern allein durch Anspannung der eigenen Kraft gelöst wird. Erstes Gebot hierfür ist Distanz der Philosophie zu sich selbst. Es muß ihr
wieder möglich werden, entgegen allen ihren zeitgenössischen Bieder‐manns‐Allüren, sich als ein Wagnis zu begreifen, das mit der Nichtigkeit des eigenen Beginnens beständig rechnet. Als ein auf nichts gewagtes Den‐ken hat sich das Philosophieren von allem gegenständlich gesicherten For‐schen zu unterscheiden. Denn die Übernahme der Gefahr vollkommener Bodenlosigkeit des eigenen Beginnens angesichts einer so vieldeutigen Ü‐berlieferung, wie sie das Philosophieren besitzt, darf nicht nur das Herz des Philosophen bewegen, sondern muß das Prinzip des Philosophierens selber werden. Darum ist die Frage nach dem Wesen der Philosophie ihr erstes Anliegen. Es gilt, die vermeintlichen Sicherheiten und Rückversiche‐rungen loszuwerden, mit welchen der Akademismus in der Philosophie einen ewigen Frieden zu schaffen bemüht war, – um den Geist ihrer Über‐lieferung zu verraten.
1 Der vorliegende Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung des ›Suhrkamp Ta‐
schenbuch Verlags‹ wieder abgedruckt aus: Helmuth Plessner. Zwischen Philoso‐phie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1979 (88‐111).
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Mit der Frage nach dem Wesen der Philosophie fragt die Philosophie nach sich selbst. Um nach sich selbst fragen zu können, hat sie sich auf die eigene Überlieferung zu beziehen. Das ist auf dreifache Weise möglich. 1. Sie betrachtet die Frage als durch die Überlieferung entschieden. Dann ist ihr die Antwort nach einem System, einer Richtung, einer Disziplin der philoso‐phischen Vergangenheit gewährleistet. Plato oder Kant, Realismus oder Ide‐alismus, Logik oder Erkenntnistheorie enthalten die gesuchte Antwort. Ein besonders ausgeprägtes Beispiel: das Verhältnis der Scholastik zu Aristote‐les.
2. Sie betrachtet die Frage als durch die Überlieferung nicht entschieden, aber entscheidbar. Dann ist ihr die Antwort durch eine Verbesserung der von der Vergangenheit begonnenen Versuche oder durch eine Reform im Sinne der Überprüfung ihrer Grundlagen gewährleistet. Diese Auffassung hat offen‐sichtlich die Geschichte der neueren und neuesten Philosophie durchgängig, die Geschichte der alten Philosophie, von Aristoteles aus gesehen, zum Min‐desten mitbestimmt.
3. Sie betrachtet die Frage als unentscheidbar. Dann ist eine Lage geschaffen, die in doppeltem Sinne verstanden werden kann. Entweder läßt sich ihre Unentscheidbarkeit auf die Unmöglichkeit beziehen, eine Antwort zu finden. Die Unmöglichkeit wäre in den Widersprüchen der philosophischen Lehr‐meinungen, in der Unüberführbarkeit des einen Standpunkts in den ande‐ren, also durch unüberwindliche Widerstände der Tradition gegeben. Ihren Ausdruck findet die Unentscheidbarkeit aus Unüberwindbarkeit in der Skepsis. Sie ist das negative Ergebnis eines positiv auf Beantwortung gerich‐teten Versuchs.
Oder aber die Unentscheidbarkeit bedeutet einen Grundsatz, wonach der Versuch, eine Antwort auf die Wesensfrage der Philosophie zu finden, von vornherein abgewehrt wird. Dieser Grundsatz bedient sich keiner Empfeh‐lung, etwa von der Art, daß doch jeder Versuch zum Scheitern verurteilt ist, weil die philosophische Tradition ihm unüberwindliche Widerstände entgegensetzt. Oder weil es zu ihrem Sinn gehört, keine Wesensbestim‐mung zuzulassen, die außerhalb ihres Rahmens liegt. Jede derartige Emp‐fehlung nimmt eine Einsicht in Anspruch, deren Möglichkeit gerade in Frage gezogen ist. Als echter Grundsatz beruft er sich auf nichts, sondern bestimmt eine Entscheidung, die zu treffen einem jeden ausdrücklich frei‐gestellt wird.
Helmuth Plessner
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Wenn die folgenden Untersuchungen die Unentscheidbarkeit der We‐sensfrage der Philosophie zur Richtschnur nehmen, so bedeutet für sie Un‐entscheidbarkeit nicht den skeptischen Verzicht, auf sie eine Antwort zu finden, sondern den Grundsatz, die Frage in Absicht auf eine unerschöpfliche Vieldeutigkeit der philosophischen Überlieferung offen zu halten. Annahme oder Ablehnung des Grundsatzes ist ausdrücklich freigestellt. Er kann also kei‐ner Beurteilung im Sinne von wahr oder falsch, zweckmäßig oder un‐zweckmäßig unterzogen werden. Wollte man ihm die Form einer Hypo‐these geben, so bedeutet er die Annahme, daß das Wesen der Philosophie durch sie selbst von jeher beantwortet worden ist und trotzdem in alle Zu‐kunft nur wieder von ihr beantwortet werden muß, und zwar in einer mit dem jeweiligen eigentümlichen Inhalt unlösbar verbundenen Form, welche ihre Isolierung gegen mehrere Philosophien und damit ihre Fassung in ei‐ner für alle Philosophie in Vergangenheit und Zukunft maßgebenden iso‐lierbaren Antwort ausschließt. Der Grundsatz, offen zu lassen, was Philosophie ist, widerspricht nicht
dem Fragecharakter der Frage, denn er weicht der Antwort nicht aus, son‐dern gibt das Prinzip für sie an. Er widerspricht ebenso wenig dem Inhalt der Frage, da die Entscheidung, was unter dem »was ist?« zu verstehen sei, nur von der Philosophie selber getroffen werden kann, der sie nicht durch ein natürliches Verständnis oder durch unmittelbare Schau abgewonnen ist. Er darf nicht dahin ausgelegt werden, als sei in ihm ein Unvermögen des Erkennens ausgesprochen, ein bereits zur Entscheidung gelangtes We‐sen zu erfassen. Umgekehrt auch nicht dahin, als sei eine solche Entschei‐dung noch nicht gefallen und es bestünde auf seiten der Philosophie Un‐entschiedenheit über sich selbst. Indem dieser Grundsatz zur Richtschnur macht, die Wesensfrage offen zu halten, bestimmt er ausdrücklich, Erwä‐gungen über diese beiden Möglichkeiten zu unterlassen: Gleichwohl bleibt der Grundsatz der Unentscheidbarkeit auf die Wesensfrage als dem Prin‐zip ihrer Beantwortung bezogen. Als Prinzip der Philosophie bedeutet er nicht eine Maßnahme, die Sonderfrage ihres eigenen Wesens einfach zu‐rückzustellen, sondern sie zu lösen nach Maßgabe ihrer ausdrücklich er‐klärten Unentscheidbarkeit, ob sie lösbar ist oder nicht. Als erklärtes Prinzip der Philosophie aber steht der Grundsatz der Un‐
entscheidbarkeit ihrer Wesensfrage im Dienste ihrer Entscheidung. Diesen Widerspruch unter Berufung auf das Gebot der Widerspruchfreiheit zu‐
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rückzuweisen, heißt auf die Selbsterkenntnis der Philosophie verzichten, welche dieses Gebot zur Diskussion stellt, wie die Logik beweist. Ob diese Diskussion ein eindeutiges Ergebnis haben muß, ob es bindend auch für die Philosophie ist, bleibt fraglich und kann nur wieder von der Philoso‐phie, nicht aber außerhalb und vor aller Philosophie durch eine ihr überge‐ordnete Instanz entschieden werden. Hegels Beispiel zeigt mindestens die Möglichkeit, daß entgegen den Vorhaltungen der traditionellen formalen Logik dem Widerspruch eine für Denken und Erkennen tragende und schöpferische Bedeutung gegeben werden kann. Eine Frage zur Lösung stellen unter Beachtung ihrer ausdrücklich erklär‐
ten Unentscheidbarkeit, ob sie lösbar ist oder nicht, verlangt die Angabe der Vorsichtsmaßregeln, welche zu beobachten sind, um ihre Offenheit ge‐gen den Gegenstand und die Offenheit des Gegenstandes gegen sie zu ge‐währleisten. Der Grundsatz selbst gibt diese Maßregeln noch nicht an. Er bezeichnet nur den Geist, in welchem die Wesensfrage an die Philosophie gerichtet wird; den Geist der unbedingten Achtung vor der unerschöpfli‐chen Vieldeutigkeit des durch Überlieferung bezeugten Wollens, d.h. der Bereitschaft, auf die Gefahr der vollkommenen Bodenlosigkeit dieses Wol‐lens der Philosophie einen Gegenstand zu sichern. Wenn Philosophie et‐was ist, was wahrhaft auf nichts gewagt wird und immer wieder gewagt werden muß (eine Möglichkeit, welche das Rätsel ihrer beständigen Revo‐lution und unüberholbaren, unausgleichbaren Vielfalt nahelegt), so hat ihre Wesensfrage damit die Aufgabe erhalten, dem Philosophieren seinen Sinn durch das Wagnis ihrer Selbstgefährdung zu sichern. Die Übernahme der Gefahr vollkommener Nichtigkeit der Philosophie in die Frage nach ihrem Wesen beraubt sie nicht selber bereits ihres Sinnes. Sie ist vielmehr Voraus‐setzung für ihre Antwort. Denn sie sichert der Philosophie ihren Gegen‐stand.
2. Die Verborgenheit des Gegenstandes der Philosophie Eine Wissenschaft kann ihr Daseinsrecht nur behaupten, wenn sie den Ge‐genstand vorweist, den sie erforschen will. Ihre handwerkliche Sicherheit, ihre erfindende Kraft, vor allem aber ihr oberstes Ziel hängen von ihm ab. Diese stetige, erlernbare und überprüfbare Arbeit leistet sie nur, wenn ihr der Appell an diese letzte Instanz möglich ist. Wer sollte ihr und anderen sonst die Gewähr dafür geben, daß sie nicht ins Blaue hineinfragt? Daß
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nicht eines Tages ihre Arbeit den Boden verliert? Innere Schlüssigkeit, dis‐kutierendes Vorgehen jedenfalls nicht. Sie sind auch im Spiel zu erreichen, das keinen Gegenstand erfassen, sondern nur Möglichkeiten entfalten will im Rahmen von Regeln, über die man sich geeinigt hat. Die Wissenschaft will aber kein Spiel auf Grund vereinbarter Axiome sein. Ihr ganzes Unternehmen muß mit der Vorweisbarkeit ihres Gegenstan‐
des rechnen, wenn das Prinzip der Kontrolle und der Herstellung einer Einhelligkeit der Urteile im Hinblick auf ihn und nicht im Hinblick auf ein axiomatisches Spiel gelten soll. Die Vorweisbarkeit des Gegenstandes darf deshalb nicht ausschließlich nach den Grundsätzen erfolgen, welche die Wissenschaft in ihrer Arbeit gegenüber dem Gegenstande anwendet. Sonst ist sie nicht gegen den radikalsten Immanenzeinwand geschützt, nicht al‐lein auf den Rahmen ihrer Voraussetzungen oder der Inhalte des menschli‐chen Bewußtseins beschränkt zu sein, sondern darüber hinaus sich über ihr eigenes Beginnen zu täuschen, dessen selbstgeschaffenen Schwierigkeiten sie, statt ihren Spielcharakter einzugestehen, die Bedeutung gegenständli‐chen Erkennens andichtet. Für sehr viele Wissenschaften, vor allem die Realwissenschaften, bildet
die Vorweisbarkeit ihrer Gegenstände gar kein Problem. Man kann sie in die Hand nehmen, sehen, photographieren, zeichnen. Zum Teil entwickelt die Wissenschaft erst diese Zugangsmöglichkeiten und sieht eine ihrer we‐sentlichen Aufgaben in ihrer Differenzierung und Verfeinerung. Aber am Ende steht doch wieder ein Bild, eine Färbung, irgendeine sinnlich faßliche Erscheinung, von der jedermann sich auch ohne wissenschaftliche Vorbil‐dung und ohne Verständnis für den Weg, auf dem sie erzielt worden ist, überzeugen kann. Ihr Ideal jedenfalls ist, den Tatbeweis für ihre Einsichten und Begründungen in der Anschauung zu führen. Das Prinzip der außer‐wissenschaftlichen Zugänglichkeit des Gegenstandes wird streng beobach‐tet. Von Realwissenschaften, deren Gegenstände der Vergangenheit oder der
unsichtbaren Region des Seelischen und Geistigen angehören, darf man zum mindesten nicht die gleiche Art der Vorweisbarkeit wie in den Na‐turwissenschaften verlangen. Aber das Prinzip beobachten sie mit dersel‐ben Strenge. Nur sind sie gezwungen, andere Anschauungsquellen zu be‐nutzen. Die Psychologie muß mit der Selbstbeobachtung arbeiten, die Gei‐steswissenschaften mit dem Verstehen, der Einführung, der Phantasie, dem
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Fingerspitzengefühl und physiognomischen Takt. Immer aber ist es ihnen möglich, und das gilt auch von den historischen Fächern, ihren spezifi‐schen Gegenstand, sagen wir den »Geist der Reformationszeit« oder »Cromwell« oder »das Willenserlebnis«, so eng am Leitfaden sinnlicher Dokumente, Monumente, Aussagen, registrierbarer Körperbewegungen zu entwickeln, daß sie dem Vorwurf der Erdichtung durch wiederum außer‐wissenschaftlich zugängliche Belege begegnen. Fraglich ist die Vorweisbarkeit des Gegenstandes nur in der Theologie
und in der Mathematik, in der am meisten und in der am wenigsten be‐strittenen Wissenschaft. Nur zweifelt niemand an ihrer echten Gegenständ‐lichkeit, wenn er hier wie dort, wenn auch in verschiedenem Sinne, das Sein der Gegenstände in Frage stellt. Der Boden der Theologie ist der Glaube an den geoffenbarten Gott. Sie stützt sich auf die Heilige Schrift und das in ihr Ausdruck gewordene Wort Gottes. Ein Zweifel an der Über‐natürlichkeit ihres Fundaments trifft primär den Glauben, nicht sie als Wis‐senschaft. Er berührt die vorgebliche Überwirklichkeit, aber nicht die au‐ßerwissenschaftliche Vorweisbarkeit ihres Gegenstandes, die in der gläubi‐gen Überzeugung einer religiösen Erfahrung gegeben ist. Selbst die Unbe‐weisbarkeit Gottes und die im äußersten Fall mögliche quellenkritische Zersetzung der Heiligen Schrift rührt nicht an das unbestreitbare Bezogen‐sein einer theologischen Wissenschaft auf einen eigentümlichen Gegen‐stand, der im Leben des Glaubens ergriffen werden kann. Anders liegt die Schwierigkeit in der Mathematik. Abgesehen davon, daß
es einen guten Sinn hat, gegen das ideale Sein ihrer Gegenstände, der Zah‐len und Figuren, Front zu machen; obwohl die Arbeit mit ihnen als Gegen‐ständen wiederum keine andere Deutung – in Abhebung gegen die anders gearteten Gegenstände der Theologie, der Real‐ wie auch der hier kein be‐sonderes Problem bietenden Normwissenschaften, der Jurisprudenz – zu‐läßt. Die Schwierigkeit liegt in der von den wissenschaftlichen Operationen ablösbaren Zugänglichkeit. Ihr Gegenstand ist nicht außerwissenschaftlich vorweisbar. Immer nur auf der Wege der Fragestellung selbst bietet sich der mathematische Gegenstand dar. Gewissermaßen zum Ausgleich für die außerwissenschaftlich undurchführbare Vorweisbarkeit entwickelt die Mathematik ihren Gegenstand in der Konstruktion, indem sie einerseits durch Einführung der Symbole, andererseits durch die Verwendung von Zirkel und Lineal sich in der Einheit von Erzeugung der Prinzipien zur
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Darstellung des Gegenstandes und des Gegenstandes selber bewegt. Der Mangel der Vorweisbarkeit wird, wenn man so sagen darf, durch den be‐sonderen Sinn des Mathematisierens wettgemacht. Es kommt gar nicht zu dem Gegensatz zwischen einem denkenden Vorgehen in der Richtung auf einen konkreten Gegenstand, wie er in allen anderen Wissenschaften be‐zeichnend ist und dort auch die Forderung einer direkten Vorweisbarkeit neben dem denkenden Vorgehen rechtfertigt. Durch die Vermeidung des Gegensatzes im Wege einer konstruierenden Darstellung ist dem Vorwurf der Gegenstandslosigkeit gegen die Mathematik von vornherein der Boden entzogen. Eine Disziplin aber ist diesem Vorwurf vollkommen ausgeliefert, solange
sie sich als Wissenschaft im Kreise der Wissenschaften sieht: die Philoso‐phie. Ihr Gegenstand ist nicht vorweisbar. Er ist nicht durch besondere Schwierigkeiten des Vorweises oder eine ihm anhaftende Unzugänglich‐keit belastet, er ist es auch nicht wie in der Mathematik durch die besonde‐re Art seiner Darstellung im Wege einer Einheit von Verfahren und Gegen‐stand. Seine Unzugänglichkeit gegen die Forderung außerwissenschaftli‐cher Vorweisbarkeit ist grundsätzlich und in seinem Wesen begründet. Dieser Sachverhalt stellt sich so dar, daß jede Aussage, welche den Satz der Unzugänglichkeit bestätigen oder bestreiten will, selbst bereits philoso‐phisch ist. Zunächst könnte man auf den Gedanken kommen, daß die Einsicht in
die grundsätzliche Nichtvorweisbarkeit des philosophischen Gegenstandes das Ergebnis einer außerphilosophischen Überlegung wäre. Die Geschichte der Philosophie, ein literarisches Phänomen, zeigt in dem Wettstreit der Richtungen und Systeme, der nie geschlichtet worden ist, obwohl er die‐selben wenigen Themen seit Jahrhunderten zum Gegenstand hat, eine Un‐stimmigkeit an. Im Rückblick auf die zahlreichen Versuche, sie zu beheben, stellt sich – wiederum rein als literarisches Phänomen – der Grund in dem Unvermögen heraus, zu einer Vereinbarung über den Sinn der umstritte‐nen Themen zu kommen. Weil eine Einmütigkeit über Themen wie Welt, Seele, Gott, Freiheit, Wahrheit, Güte, Schönheit nicht zu erzielen war (Themen, denen doch offenbar in dem Sinne, den sie nun einmal haben, wenn über sie diskutiert werden soll, irgend etwas entsprechen muß), so schließt die Überlegung auf eine prinzipielle Unzugänglichkeit ihrer Ge‐genstände. Da sie auf der anderen Seite aber als Schluß aus rein literari‐
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schen Beobachtungen den Streit über sie auch nicht dadurch entwerten will, daß sie ihn schlechthin für gegenstandslos erklärt, so engt sie die fest‐gestellte Unzugänglichkeit auf eine Nichtvorweisbarkeit im außerphiloso‐phischen Sinne ein. Dies bedeutet, da sie wiederum nicht selber für eine philosophische Richtung gegen andere Richtungen Partei ergreifen will, zunächst keine Belastung des erkennenden Menschen mit einem spezifi‐schen Unvermögen, sondern nur die Feststellung der Tatsache, daß, um zu einer Klärung der genannten Themen zu kommen, bereits philosophiert werden muß; weshalb jeder Versuch eines außerphilosophischen Zugangs zu ihren Gegenständen sich im Wege einer philosophischen Bemühung vollzieht. Stimmte diese Überlegung, so gäbe es wenigstens negativ eine unphilo‐
sophische, d. h. eine literarische, eine geistesgeschichtliche Zugänglichkeit der Philosophie und eine Möglichkeit, über sie und somit indirekt auch ü‐ber ihren Gegenstand etwas auszusagen. Aus diesem Grunde glaubte die Geistesgeschichte der natürliche Ort einer Wesensbestimmung der Philo‐sophie unter Neutralisierung ihrer ganzen Gegenstandsfrage zu sein, wenn sie in bewußtem Verzicht auf philosophische Ansprüche ihrer historischen Entstehung nachging. Sie glaubte unphilosophisch jenen Rückgriff der Phi‐losophie nach ihrem eigenen Wesen und damit nach ihrer eigentlichen Aufgabe vollziehen zu können, indem sie als Philosopohiegeschichte den Quellen ihrer Problematik nachspürte; jenen Griff, den die Philosophie vergeblich im Vorgriff nach ihrem Gegenstande ausführen wollte, um von ihm aus zu einer endgültigen Vereinbarung über die Art seiner Erfor‐schung zu gelangen. Aber die literarische Überlegung ist doch nicht so neutral und unphilo‐
sophisch, wie sie zu sein glaubt. Sie nimmt, ohne zu wissen, Partei gegen die gesamte Philosophie. Denn sie setzt sich in Widerspruch zu der für jede Philosophie bisher bezeichnenden Bemühung, im Vorgriff ihren Gegen‐stand zu suchen und ihn somit (man darf hier nicht abwehrend sagen: nur für sich selber) noch vor aller Philosophie und für jede Philosophie vorzu‐weisen. Es wäre sonst schlechthin unbegreiflich, woher das Philosophieren immer wieder den Antrieb, den Mut und die Kraft zur Darstellung gewon‐nen hätte. Ohne Vorblick auf eine besondere Welt fehlte ihrer Arbeit jede Richtung und jeder Boden. Urteilt die literarische Überlegung auf Grund der Tatsache, daß für die Dauer der überblickbaren Geschichte keine These
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der Philosophie unwidersprochen geblieben ist, keine Methode sich durch‐gesetzt hat, so bleibt ihr gegenüber die andere Tatsache von gleichem Ge‐wicht, daß eben diese Behauptung, die Basis ihres Schlusses, von der Philo‐sophie selber von je bestritten worden ist. Erst wenn die Geistesgeschichte ihren Argumenten für eine Vorweisbar‐
keit ihres Gegenstandes das gleiche Recht wie den Argumenten gegen eine solche zubilligt, gewinnt sie die Neutralität einer unphilosophischen Un‐tersuchung des Phänomens der Philosophie. In demselben Maße aber ver‐liert sie die Möglichkeit, den subjektiv gemeinten Sinn der Philosophie ü‐berhaupt oder einer besonderen Philosophie gegen ein objektiv erreichtes Ergebnis, d. h. also auch gegen ihr Mißlingen auszusprechen. Die Einsicht in die grundsätzliche Nichtvorweisbarkeit des philosophischen Gegen‐standes auf außerphilosophischem Wege enthält eine Option, die nicht mehr literarisch und geschichtlich, sondern nur philosophisch zu begrün‐den ist. Nur die Begründungsbedürftigkeit der Tatsache als solcher, daß die Phi‐
losophie dem Vorwurf der außerwissenschaftlichen Unzugänglichkeit ih‐res Gegenstandes nicht anders als mit den Mitteln ihrer Wissenschaft be‐gegnen kann, rechtfertigt das oben gefällte Urteil über ihr Verhältnis zu ih‐rem Gegenstand. Der Mathematiker hat immer die Möglichkeit, algebrai‐sche und geometrische Sätze durcheinander zu stützen und ihrer Erkennt‐nis im Wege der Anwendung auf die Erfahrung den Wert der ausgezeich‐neten Gegenständlichkeit zu geben. Das kann die Philosophie nicht. Sie bleibt mit ihrem Gegenstand allein und teilt ihn nur denen mit, die bereit sind, das Wagnis der unerschöpflichen Mehrdeutigkeit ihrer Überlieferung auf sich zu nehmen.
3. Die Mehrdeutigkeit der philosophischen Überlieferung und die vier Möglichkeiten des Philosophierens
Die Frage nach dem Gegenstand der Philosophie ist das Grundproblem al‐les Philosophierens, wenn es wissenschaftlich sein will. Unter dieser Be‐dingung ist sie der Frage nach der Aufgabe oder nach dem Wesen der Phi‐losophie äquivalent. Denn das Wesen einer Wissenschaft bestimmt sich im Hinblick auf den besonderen Gegenstand, den sie erkennen will. In ihrer Behauptung als Grundproblem wird die Möglichkeit seiner Unterordnung unter die Erkenntnistheorie, da es ein besonders geartetes Erkennen an‐
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geht, ebenso im Auge behalten wie die Möglichkeit seiner Unterordnung unter die Ontologie, weil es einen Gegenstand und sein Wesen betrifft. Er‐kenntnistheorie und Ontologie sind Teildisziplinen der Philosophie und überdies in ihrem Inhalt wie in ihrer Möglichkeit selber philosophisch bestritten, die Ontologie durch den Kritizismus, die Erkenntnistheorie durch Hegel, die Friessche Schule u.a. Angenommen einmal, daß gegen die Selbstunterordnung der Philosophie unter eine oder mehrere ihrer Teildis‐ziplinen aus Gründen einer Verletzung der Widerspruchsfreiheit nichts einzuwenden wäre – und tatsächlich hat Lask eine Logik der Philosophie, Scheler eine Ethik des Philosophierens für möglich gehalten –, so läßt sich offenbar eine Diskussion über das Verfahren des Selbsteinschlusses der Philosophie durch ihre Teile nicht verhindern. Eine derartige Diskussion stößt auf Prinzipienfragen der Logik, Ethik,
Ontologie, Erkenntnistheorie, die eine Behandlung des Wesens‐ oder Ge‐genstandsproblems der Philosophie ausschließlich im Sinne eines Teilpro‐blems unmöglich machen. Bezeichnend für das Problem bleibt immer zu‐gleich seine Ausgliederungsfähigkeit aus der Philosophie und seine Ein‐gliederungsfähigkeit in sie als Teil von ihr. Die Äquivalenz zwischen der Wesensfrage als Grundfrage vor allem Philosophieren und als Teilfrage in aller Philosophie ist unaufhebbar. An dieser Äquivalenz kommt eine für das literarische Phänomen der Philosophiegeschichte bestimmende Seite zum Vorschein. So wenig nämlich der Gegenstand der Philosophie außer‐philosophisch vorweisbar ist, so wenig ist die Frage nach ihm außerphilo‐sophisch abgrenzbar. Auch hier gilt die Äquivalenz, und zwar zwischen dem außerwissenschaftlichen Sinn der Frage an die Philosophie und dem wissenschaftlichen Sinn, den sie sowohl als Grundproblem wie als Teilpro‐blem in der Philosophie hat. Aus dieser Äquivalenz ergibt sich, entspre‐chend der in § 1 behandelten Konsequenz, eine doppelte Auffassung des Phänomens ihrer Geschichte. Für ihr Wesen sind dokumentarisch: 1. die Geschichte der Philosophie in der Gesamtheit aller Lehren, die nach ih‐rem Willen oder gegen ihn zu ihr gerechnet werden,
2. jede Lehre gemäß dem subjektiv gemeinten Sinn, den sie sich selbst als einer Philosophie und im Namen der Philosophie überhaupt gibt.
Die Nichtüberführbarkeit der einen Wesensauffassung in die andere, oder die stets nur auf Kosten gewisser Richtungen mögliche Überführbarkeit
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der einen in die andere kennzeichnet die Schwierigkeit, mit der ihre We‐sensbestimmung, d. h. ihre Begründung als Wissenschaft zu rechnen hat. Sie muß davon ausgehen, daß die immer wieder dokumentierte Einsicht der Philosophie in ihr Wesen vereinbar ist mit der gleichfalls dokumentier‐ten Unmöglichkeit, zu einer Vereinbarung über ihr Wesen zu gelangen. Deshalb hat an ihm die Philosophie nie einen Halt von solcher Art und
Festigkeit gewinnen können, daß ihr die Entwicklung eines Leitfadens im Sinne methodisch fortschreitender Arbeit möglich geworden wäre. Ihre wechselvolle Geschichte gewährt nur auf kurze Strecken den Anblick eines stetigen Fortschritts. Selbst die klassischen Zeiten der europäischen Philo‐sophie bilden davon keine Ausnahme. Immer wieder erschöpft sich der tragende Grund, der für bestimmte Perioden die maßgebenden Werte und Prinzipien der Arbeit und die Möglichkeit der Verständigung hergibt. Mit Aristoteles, mit Leibniz, mit Hegel finden solche Epochen jeweils ihren Ab‐schluß, deren innere Dramatik und Folgerichtigkeit auch wieder nur gegen die Absichten ihrer einzelnen Träger, also etwa Heraklits und Parmenides’, Sokrates’ und Platons, Descartesʹ und Spinozas, Kants, Fichtes, Schellings sich durchsetzt. Es bleibt die bezeichnende Möglichkeit, daß mit der Glie‐derung der Philosophiegeschichte in solche klassischen Epochen Zusam‐menhänge vorgetäuscht sind, um einer bestimmten Art des Philosophie‐rens zum Recht gegen andere Arten zu verhelfen. Das Bild vom Ausgleich der Gegensätze hat immer eine verführende Kraft. Aber selbst da, wo es die Wesensauffassung der Philosophie wirklich bestimmt hat, läßt es sich nicht durchhalten, ohne die Gegensätze zu vergewaltigen. Heraklit ist eine Gegenstellung zu den Eleaten. Zugleich aber nicht nur eine solche. Läßt man sich auf sie ein und überläßt man sich ihren Argumenten, so ver‐schwindet merkwürdigerweise sogar der ganze Raum für eine Gegenstel‐lung. Das gleiche gilt für die eleatische Position. In genau demselben Sinne schließen die großen Werke aller späteren Philosophen in dem Maße eine Gegnerschaft oder ihre Überholbarkeit durch ihre Nachfolger wie auch durch ihre Vorgänger aus, in welchem sich die Bündigkeit ihrer Grundstel‐lung mitteilt. Trotzdem hat jede Grundstellung ihren Gegner gefunden und die Philosophie es zu keiner Einigung in den Prinzipien bringen können. Diese Situation der Unentscheidbarkeit zwischen monistischer und plu‐
ralistischer Auffassung der Philosophien entfaltet sich darin, daß die Über‐