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Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie II Einführung in die politische Philosophie

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Praktische Philosophie IIEinführung in die politische Philosophie

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Resultat der Entwicklung der neuzeitlichen politischen Philosophie ist die moderne, rechtsstaatliche Republik:

Ein Staat, der mittels Gesetzen und Gewaltenteilung die Rechte jedes Bürgers und das Gemeinwohl sichert.

Zur Begrenzung und Teilung der Gewalten gehört:

a) Wahl und Abwahl der Regierungen

b) begrenzte Amtszeitöffentliche Rechenschaft

c) „Gesetzesförmigkeit“ der Verwaltung (Erlasse, die sich auf Gesetze

gründen)

e) Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch ein oberstes

Gericht

f) Widerstandsrecht der Bürger

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John Rawls (1924-2002): Eine Theorie der Gerechtigkeit (dt. 1975)

Rawls will den grundrechtssichernden, gewaltenteiligen, demokra-tischen, sozialen Staat der Neuzeit durch eine spieltheoretische Neufassung der Vertragstheorie rechtfertigen. Unter fairen Ausgangs-bedingungen sollen die „Kooperationspartner“ über faire Verteilungs-regeln entscheiden. Fair ist die Situation des Vertragsabschlusses schon insofern, als jeder frei seine Zustimmung geben kann oder nicht. Aber nicht jeder unter ungünstigen Bedingungen abge-schlossenen Vertrag ist fair. Es müssen faire Ausgangsbedingungen gegeben sein.

Die bestehen dann, wenn niemand weiß, welche Position er später in der Gesellschaft einnehmen wird („Schleier des Unwissens“).Niemand soll in die gesellschaftlichen Grundregeln Begünstigungen für bestimmte Positionen „einbauen“.

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In einer solchen Ausgangsposition („original position“) wählt man nach Rawls zwei Grundsätze der gesellschaftlichen Gerechtigkeit:

1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.

2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und sie (b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. (TG 81)

Ausführlicher:

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen be-schaffen sein:

a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten („worst off“) den größtmöglichen Vorteil bringen, und

b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen. ( TG 336)

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Der erste folgt daraus, dass alle möglichst viel „Bewegungsfreiheit“ zur Verfolgung der ihnen jetzt noch unbekannten Lebenspläne haben wollen („strategisch“). Dazu sind die Grundfreiheiten (Denkfreiheit, Briefgeheim-nis etc.) nötig.

Beim zweiten folgt die Ungleichheit aus dem „Gesetz“ der Anreize, die Optimierung des Anteils der Schlechtestgestellten („worst off“) folgt aus dem Maximin-Prinzip (der kleinste Anteil soll größtmöglich sein - evtl. zuvor die Verteilungsregel: wer aufteilt wählt zuletzt).

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Aus Vertrag und den beiden Prinzipien leitet Rawls in einem vier Stufen Gang die Institutionen des Staates ab:

1. Wahl der Grundsätze selber.

2. Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, die eine Verfassung für die „Positivierung“ vor allem des ersten Grundsatzes schafft (die Institutionen Parlament, Regierung, Gerichte usw. müssen den Grundfreiheiten die besten Verwirklichungsmöglichkeiten geben). Der Schleier hebt sich ein Stück (Größe des Landes, Knappheit oder Reichtum, Minoritäten etc. - repräsentative oder direkte Demo-kratie, ein oder zwei Kammern, Präsident oder Kabinett?).

3. Gesetzgebung, in der vor allem die Wirtschaftspolitik konkretisiert wird (Legislative als Positivierung der Grundrechte). Jetzt geht es um faire Güterverteilung, Sozialstaat, Bildung etc. Dabei muss die schon zugrundeliegende Verfassung der Freiheit (Wahlrecht, Koalitions-recht, repräsentative Gremien etc.) eingehalten werden. Also zweites Prinzip unter den Bedingungen des ersten.

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4. Durchführung der Gesetze in der Exekutive (nach den Bedingungen der Verfassungs- und Gesetzesadäquatheit - auch der übergesetz- lichen Fairness) und der Judikative (unparteiische Rechtssprechung, fair trial, nulla poena sine lege, in dubio pro reo etc.). Hierhin gehören die Probleme der ungerechten, aber legal zustande gekommenen Gesetze (bürgerlicher Ungehorsam, Weigerung aus Gewissens- gründen etc.).

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Die Diskussion um Rawls Theorie der Gerechtigkeit kreist um folgende Punkte:

1. Ist die ursprüngliche Position genügend neutral (pluralistisch, unab-hängig vom historischen Liberalismus)?

2. Sind die Verteilungsregeln zwingend (Ungleichheit bringt mehr, bei Nicht-wissen risikoscheu)?

3. Dürfen Risikoüberlegungen eingehen, die von persönlichen Unter-schieden mitbestimmt sind etc.?

4. Wie steht es mit den Schichten oberhalb der „worst-off“? Kann die Spitze nicht extrem hoch („nach oben offen“) sein, solange es den Unteren ein wenig besser geht? Oder gilt das „chain principle“ (jede Verbesserung schlägt gleichmäßig auf alle Schichten durch)?

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5. Muss die Lage der am schlechtesten Gestellten („worst off“) kontinuierlich verbessert werden (permanente Sozialreform) oder ist das Prinzip im Systemvergleich gemeint (die beste Staatsform und Wirtschaftsverfassung ist die, in der es den „worst off“ am besten geht)?

6. Wie steht es mit der Entscheidungstheorie und dem Differenzprinzip beim späten Rawls?(vgl. W. Hinsch, Zur Idee des politischen Liberalismus, stw 1296). Rawls hat seit den 80iger Jahren mehr und mehr auf spieltheoretische Überlegungen verzichtet und stattdessen seine Theorie als eine Re-konstruktion der modernen Staatsverfassungen verstanden, in denen Freiheit und Gerechtigkeit die obersten Werte darstellen.

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Teil I: Soll der Mensch im Staat leben?Antwort B: Nein, der Staat widerspricht seinem Wesen, tut ihm Zwang an

Anarchismus: Die Theorie, dass es den Staat, d.h. eine auf Autoritäten oder Gesetze gestützte Zwangsherrschaft in einem Gebiet, nicht geben sollte. Unter dem Terminus A. gibt es diese Theorie erst seit dem 19. Jh. Der Sache nach kommt sie schon in der Antike, vor allem im Kynismus vor.

Dessen Ideal ist der autarke Einzelne, mit minimalen Bedürfnissen, die ohne soziale Kooperation zu befriedigen sind (Diogenes).

Der moderne Anarchismus beruht begrifflich auf einer Umwertung des traditionell negativ bewerteten Begriffs Anarchie als Unordnung, Chaos, Willkür entweder der Herrschenden oder der Menschen untereinander. (Be-griffsgeschichte im Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“). Die erste positive Ausarbeitung des Anarchismus findet sich bei William Godwin (1793), der erste „Anarchist“ war der Frühsozialist Proudhon (1809-1865).

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Arten des Anarchismus:a) individualistischer Anarchismus, für den das Freiheitsrecht der Individuen durch jede Bindung, vor allem durch Zwangsgesetze verletzt wird (Max Stirner 1806-1856)

b) sozialer Anarchismus, für den kleine menschliche Gemeinschaften (Familie, Dorf, Kleinbetrieb, Arbeiterzellen) ohne starre Regeln und Zwang harmonisch kooperieren (Tolstoi, Bakunin, Anarchosyndikalisten)

c) kommunistischer Anarchismus, für den auch gesellschaftliche Groß-organisationen ohne Eigentum, Privatrecht, Gesetze und Staat möglich sind („Absterben des Staates“).

b) und c) können ineinander übergehen, wenn kleine Kommunen die Basis der Gesamtorganisation sind (Kropotkin 1842-1921).

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In seinem Verhältnis zu den bestehenden staatlichen Herrschaften kann man unterscheiden zwischen konservativ-romantischen und sozialistisch-revolutionären Vorstellungen eins Zustandes frei-williger, nicht gesetzlich erzwungener Kooperation (analog zum Naturzustand Lockes oder zu Aristoteles Gemeinschaftsform des „Dorfes“).

(1) Konservativ: Gegen die rational geplante, auf allgemeinen Prinzipien beruhende Herrschaft des Flächenstaates und seiner Bürokratie. Gegen den Zen-tralismus der Staatsgewalt als Resultat von Absolutismus, Aufklärung und französischer Revolution (Burke, Godwin, Stirner, teilweise Nietzsche).

(2) Sozialistisch-revolutionär: Gegen die Verknüpfung von Staat und Privateigentum bzw. industriellem Kapitalismus (Bakunin, Kropotkin).

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Schließlich kann man Anarchismus als Ziel und als Mittel unterscheiden.I. Als Ziel:

a) gemäßigt: Abschaffung des Staates nach einem Zustand der „automatisierten Überflussgesellschaft“ (Variante der Marxschen Lehre). Spontane Selbst-organisation zur Kooperation, soweit sie nach gleicher Verteilung des gesell-schaftlichen Reichtums noch notwendig ist.

b) radikal: Abschaffung jeglicher Herrschaft „von Menschen über Menschen“ („government, business, industry, commerce, religion, education, the family“ Oxford Companion to Philosophy, 30), Egalitarismus, Gemeineigentum, Atheismus als Abschaffung göttlicher Herrschaft.

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II. Als Mittel: Schwächung der Herrschaft und Herstellung anarchischer Zustände durch individuelle Anschläge (Terror) gegen die herrschenden Systeme (Bakunin, Anarchosyndikalismus). Freilegung des „schöpferischen Chaos“ spontaner Kooperation. Deren institutionelle Verfestigung muss immer wieder revolutionär „aufgebrochen“ werden (Theorie der permanenten Revolution – Sartre, Teile des Maoismus). Mittel und Ziel werden identisch.

Historisch entwickelt sich zwischen dem pro-staatlichen Sozialismus und Kommunismus einerseits und dem anarchistischen Kommunismus und Syndikalismus andererseits ein diametraler Gegensatz bis zum Bürgerkrieg (z.B. innerhalb der Linken des spanischen Bürgerkrieges 1936-1939). Teile des Anarchosyndikalismus (Sorel) münden in den faschistischen Terror, der den Staat der Aufklärung durch die rassisch definierte Volksgemeinschaft ersetzen will. Nach dem Sieg über die anarchistischen Strömungen wird sowohl im Kommunismus wie im Faschismus der „Superstaat“ etabliert.

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Eine moderne Form des wirtschaftsliberalen Anarchismus ist Robert Nozick: Anarchie, Staat, Utopie (1976).

Hier wird die Legitimität des Staates auf die eines Versicherungsunternehmens zur Vermeidung von Gewalt reduziert (minimale Steuern als Versicherungsbeiträge). Das stimmt mit For-derungen des Neoliberalismus (Chicago Schule) überein, allen Einfluss des Staates auf die Marktbeziehungen zurückzudrängen. Durch die Wirkung der Globalisierung ist diese Forderung teilweise real geworden: Schwächung der Staaten durch den internationalen Standortwettbewerb (Abbau der Steuern bzw. staatlichen Einnahmen). Auch das Gewalt-monopol der Staaten erodiert in kulturell und sozial heterogenen Staaten. Das führt aber andererseits auch zu einem Anwachsen staatlicher Gewalt durch die Reaktion auf privat organisierte Gegengewalt (Terrorismus).

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Prinzipielle Probleme des Anarchismus:

1. Zu optimistische Annahmen bezüglich des „Humeschen Dreiecks“: Statt Knappheit Überfluss, statt mäßiger Sympathie Brüderlichkeit, statt Angewiesenheit auf Kooperation individuelle oder Gruppen-Autarkie. Heute: Erfolg von Technik und Medizin führt zu Bevölkerungswachstum und Ressourcenverknappung (Energie).

2. Ersetzung von Gesetzeszwang durch informelle soziale Kontrolle oder Erziehung gefährdet die Autonomie (Dorfmoral, Erziehungsdiktatur, Ge-sinnungskontrolle).

3. Unterschätzung des Sicherheitsbedürfnisses und der Gewalt-bereitschaft ohne die Entlastung durch Institutionen und überlegene legale Gewalt. Verunsicherung durch permanente „Verflüssigung“ (Sartre, Mao) führt zum autoritären Staat.

4. Gleichsetzung „des Staates“ mit einem Staatsapparat, der nicht dem Gemeinwohl, sondern den Interessen der Regierenden, des Kapitals, der Eigentümer dient.

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Teil II: Gerechtigkeit in der politischen Philosophie

Überblick:A. Antike und Mittelalter Die gerechte Gesamtordnung des Staates steht im Mittelpunkt (Augustinus: Staat ohne Gerechtigkeit ist Räuberbande). Sie ergibt sich aus den Funktionen (arbeits- teilige Bedürfnisbefriedigung, Sicherheit nach außen, Ermöglichung eines

guten Lebens und der Vollendung menschlicher Fähigkeiten in Tugenden). Unterschiedliche Schichten und Stände der Bürger müssen den ihnen

gemäßen Platz in einer für alle guten Ordnung finden. In den Formen des Austausches und der Verteilung müssen verschiedene Arten von Wertgleichheit stattfinden.

B. Frühe Neuzeit (16. –18. Jh.) Die Gerechtigkeit besteht darin, die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Das ist der Inhalt des Staatsvertrages und der Gegenstand der Tätigkeit staatlicher Gewalten. Die Grundrechte betreffen Sicherheit vor Gewalt, Freiheit zur Verfolgung eigener Ziele, Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit zur Mitwirkung an der Ge- setzgebung und Ausführung. Außer der Rechtssicherung bleibt dem Staat keine „Verteilungsaufgabe“.

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C. Neueste Zeit (19.-21. Jh.): Individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit müssen verbunden werden. Soziale Sicherheit ist Bedingung der Freiheitsausübung. Gerechte Verteilung kann staatliche Planwirtschaft erfordern. Heute: Grundrechtsschutz, Berufs- und Gewerbefreiheit, Marktbeziehungen und soziale Gerechtigkeit müssen vereinbart werden. „Selbstverantwortung und Solidarität“

Gerechtigkeit in der Geschichte der politischen Philosophie

I. Gerechtigkeit in der griechischen Philosophie

a) Jonische Naturphilosophie: Gerechtigkeit als Maß und Ausgleich gegen das Übermaß der natürlichen Dinge und Ereignisse.

Ausgleichende Gerechtigkeit als Erklärungsprinzip für kosmische Prozesse.

b) Sophisten: Gerechtigkeit als menschliche Ordnung, die zur Natur des Menschen passt oder nicht. (Recht des Stärkeren, Ungerechtig-keit der Sklaverei etc.)

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c) Platon: Gerechtigkeit als Ordnung von Natur, Seele und Staat. Gerecht im Staat ist, dass jeder Einzelne und jeder Stand „das Seine tut“, d.h. das, wozu er von Natur am besten geeignet ist. Gerecht ist eine hierarchische Ständegesellschaft, in der die

Ver- nünftigen nach der Idee des Gerechten die unteren Stände führen.

d) Aristoteles: Gerechtigkeit als Tugend und als Rechtssystem.

A. Justitia generalis: Tugend des Einzelnen („der Gerechte“), die alle anderen Tugenden im sozialen Umgang verwirklicht.

B. Justitia specialis: Gesetzliche Ordnung der Gleichheit in ver- schiedenen Verteilungs- und Austauschprozessen.

B1. Justitia distributiva, austeilende Gerechtigkeit: Verteilung von Staatsgütern, Ämtern und Ehren nach dem Prinzip des Verdienstes für das Gemeinwohl („öffentliches Recht“).

B2. Justitia commutativa, ausgleichende Gerechtigkeit

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B 2. Justitia commutativa, ausgleichende Gerechtigkeit: B 2.1. Gerechtigkeit im Austausch von Gütern und Leistungen („bürgerliches Recht“): Maß: Gleichheit des Wertes der

Austauschprodukte bzw. Leistungen,B 2.2. Korrektive Gerechtigkeit („Strafrecht“): Korrektur von

privatem Zwang und Rechtsverletzung (korrektive Gerechtigkeit, Strafrecht). Maß: Wiederherstellung der Rechte und Entsprechung von Schuld und Strafe.

Diese Einteilung wird Grundlage der europäischen Rechtsordnungen(öffentliches Recht, Privatrecht bzw. bürgerliches Recht, Strafrecht).

Wichtig an der Gerechtigkeitskonzeption des Aristoteles: 1. Es gibt eine ethische Dimension von G., die für die Politik wichtig ist: der Staat soll durch Gesetze und Erziehung zur Gerechtigkeit des Menschen in seinen affektiven und sozialen Gewohnheiten beitragen. („Der Gerechte“, ähnlich dem Begriff der Bibel).2. Das gemeinsame Entscheiden über Gerechtigkeit ist Inhalt des Staates. Nur als Teilnehmer daran können die Menschen ihre Bestimmung verwirklichen und ihre Erfüllung finden.

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3. Die Gerechtigkeit muss durch Gesetze konkretisiert werden, die die ver- schiedenen Bereiche des menschlichen Zusammenlebens nach ihrer eigenen „Logik“ regeln.4. Durch diese Gesetze werden den Bürgern Rechte zugeteilt, die jedem

Pflichten auferlegen. Ein großer Teil der aristotelischen Tugenden wird daher durch staatliche Gesetze geforderte Pflicht (auch durch Strafe er-zwingbar).

5. An diesen Rechten haben in vollem Sinne aber nur die Vollbürger teil, die männlichen Haushaltsvorstände. Innerhalb des Hauses gibt es eine eigene Gerechtigkeit und eigene Tugenden des adäquaten Befehlens (je nach den Fähigkeiten der Untergebenen) und Gehorchens.

II. Gerechtigkeit im Mittelalter: Gerechtigkeit als Tugend (justitia generalis) bleibt Staatszweck und An- forderung an den Herrscher. Die platonische Ständeordnung bleibt Vorbild des christlich-monarchischen Ständestaates (vgl. Teil I der Vorlesung). Die Gerechtigkeit im bürgerlichen Verkehr und im Strafrecht ist an der aristotelischen Konzeption der justitia specialis orientiert.