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Wege z
ur
Wis
senschaft
Verlag Traugott Bautz
Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Rudolf Lüthe/ Peter Gerdsen (Hrsg.)
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Eine interkulturelle PerspektiveGrundlagen, Differenzen, Interdisziplinäre Dimensionen
ISBN 978-3-88309-418-2Verlag Traugott Bautz
Der Ausdruck ›Wege ...‹ verweist auf die Pluralität differierenderGeschichten, Sichtweisen, Zugänge und methodischer Ausrichtungen,die sich ergänzen, überlappen oder bekämpfen. Die reale Vielfalt vonMethoden, Zielen, Stilen, Paradigmen und Ergebnissen sowie die Unei-nigkeit darüber, was ›Wissenschaft‹ bedeutet, zeigt die Vielfalt von Wis-senschaftsbegriffen und Wissenschaftsformen auf, die nicht nur von ver-blüffenden Gemeinsamkeiten getragen sind, sondern auch von erhellen-den Unterschieden. Dieser Annahme nachgehend, liegt dem geplantenSammelband die Arbeitshypothese zugrunde, daß es verschiedeneWege zur Wissenschaft gibt, die als gleichberechtigte Realisierungenihrer Grundidee gelten können. Wissenschaftler aus verschiedenen Kul-turräumen und unterschiedlichen akademischen Traditionen beschrei-ben ihr Wissenschaftsverständnis und ihren Weg dazu.
Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Rudolf Lüthe/Peter Gerdsen (Hrsg.)
— Wege zur Wissenschaft
Wege zur Wissenschaft
Eine interkulturelle Perspektive
Grundlagen, Differenzen, Interdisziplinäre Dimensionen
herausgegeben und eingeleitet von
Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/ Rudolf Lüthe/Peter Gerdsen
unter Mitwirkung von René Alexander Hundhausen/Gudrun Kett/Martin Hambückers
Traugott Bautz Nordhausen 2008
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH
99734 Nordhausen 2008 Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany ISBN 3- 978-388-309-418-2
www.bautz.de
Inhaltsübersicht
Einleitung der Herausgeber .................................................................................9
Hamid Reza Yousefi Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des Friedens....................................................................25
Regine Kather Von der Vielfalt der Kulturen und der Verbundenheit der Menschen.............................................................47
Christoph Antweiler Wissenschaft quer durch die Kulturen .............................................................67
Ram Adhar Mall Logik zwischen Epistemologie und Psychologie. ...........................................95
Werner Loh Entscheidungsniveaus und Wissenschaft − ...................................................119
Alexander Thomas Psychologie interkultureller Kompetenz........................................................139
Peter Gerdsen Konzepte der Wissenschaft – Naturwissenschaftliche Spaziergänge in den Geisteswissenschaften...........................................................................161
Klaus Fischer Wissenschaft und Subjekt.................................................................................187
Rainer N. Zahlten Wissenschaft – eine Lehre von der Wahrnehmung und vom Denken, und die Angst vor der Entzauberung der Welt ............223
Inhaltsübersicht 6
Harald Atmanspacher Zur Praxis theoretischer Arbeit in den Wissenschaften ...............................255
Karl-Heinz Ohlig Erkenntnistheoretische Erwägungen zur Eigenart und Begründung religiöser Wahrheit.............................................................267
Wolfgang H. Pleger Person und Sache...............................................................................................289
Lutz Geldsetzer Über zetetischen und dogmatischen Umgang mit Philosophiegeschichte ................................................................................309
Eva Stolbrink-Eirmbter Zur Ordnung der Pädagogik und zur Unordnung der Erziehungswissenschaft ........................................337
Dieter Senghaas Mein Weg in die Wissenschaft.........................................................................355
Harald Walach Wissenschaft als Entdeckungsreise – mein Begriff von Wissenschaft.........................................................................375
Herausgeber, Autorinnen und Autoren .........................................................401
Lutz Geldsetzer zum 70. Geburtstag
Einleitung der Herausgeber
Mit dem vorliegenden Band ›Wege zur Wissenschaft‹ wird die Veröffentli‐chungsserie ›Wege zur Philosophie‹, ›Wege zur Kommunikation‹ und ›We‐ge zur Religionswissenschaft‹1 um einen weiteren Band ergänzt. Die reale Vielfalt der Methoden, Ziele, Stile, Paradigmen, Ergebnisse und die Unei‐nigkeit darüber, was ›Wissenschaft‹ bedeutet, sind ein Ausdruck dafür, daß wir nicht von einer einzigen Wissenschaftskonzeption, sondern von einer Pluralität von Wissenschaftsbegriffen und Wissenschaftsformen aus‐zugehen haben. Doch so sehr diese sich im einzelnen voneinander unter‐scheiden, gibt es nicht auch Gemeinsamkeiten, die sie verbinden? Dieser Vermutung nachgehend, liegt dem geplanten Sammelband ›Wege zur Wis‐senschaft‹ die Arbeitshypothese zugrunde, daß es verschiedene Wege zur Wissenschaft gibt, die als gleichberechtigte Realisierungen ihrer Grundidee gelten können. Um diese Grundannahme zu testen, liegt es nahe, einige mögliche ›Wege
zur Wissenschaft‹ aufzuzeigen. Aber dieses Verfahren zieht leicht den Ein‐wand nach sich, daß die Beschreibung solcher Wege manchmal an einen bestimmten ›Ort‹ des Nachdenkens über die Welt führt, der vielleicht nicht das Prädikat ›wissenschaftlich‹ verdient. Wann aber handelt es sich beim Nachdenken über die Welt um ›Wissenschaft‹? An dieser Stelle läge es nahe, eine Definition des Wissenschaftsbegriffs zu geben. Dagegen spricht, daß eine strenge Definition von Wissenschaft leicht zur Ausgrenzung be‐merkenswerter Formen des Nachdenkens über die Welt führen könnte, unbeschadet des Umstandes, daß manche Wissenschaften mit streng defi‐nierten Begriffen arbeiten müssen. Dies ist ein Grund dafür, daß es nicht abwegig ist, von einem Wissenschaftsbegriff auszugehen, der keinen Aus‐
1 Vgl. Yousefi, Hamid Reza u.a. (Hrsg.): Wege zur Philosophie. Grundlagen der
Interkulturalität, 2006; Wege zur Kommunikation. Theorie und Praxis interkultu‐reller Toleranz, 2006 und Wege zur Religionswissenschaft. Aspekte, Grundproble‐me, Ergänzende Perspektiven 2007. Alle Bände sind im Verlag Traugott Bautz erschienen.
Einleitung der Herausgeber 10
schließlichkeitsanspruch erhebt. Eine strenge Definition hätte den Effekt der Abschottung der in einer so definierten Wissenschaft tätigen Wissen‐schaftler von anderen, denen dieses Prädikat versagt bliebe. Deshalb sollte der Wissenschaftsbegriff nicht streng definiert, sondern nur charakterisiert werden. Auf diese Weise wird auch den Prinzipien der Interdisziplinarität und der Interkulturalität Rechnung getragen. Wichtiger als eine Definition von Wissenschaft zu geben ist es, verschie‐
dene Wissenschaftsauffassungen hinsichtlich ihrer Entwicklung, ihrer Me‐thoden, ihrer Gegenstände, ihrer metaphysischen Grundlagen sowie ihrer Ziele und Motive zu untersuchen. Natürlich ist zu fragen, welche Merkma‐le zumindest erfüllt sein müssen, damit von Wissenschaft die Rede sein kann. Zu den notwendigen Bedingungen, die oft genannt wurden, gehören die Reflexion über die eigenen Voraussetzungen, eine saubere gedankliche Herleitung der Ergebnisse, die Formulierung möglichst informativer Aus‐sagen und ein echtes Bemühen um empirische Prüfung. Hier stellt sich die Frage nach der Rolle der Philosophie und der Wissen‐
schaftstheorie. Die wissenschaftliche Untersuchung des Denkens war in Form der Erkenntnistheorie schon immer ein wichtiger Bereich der Philo‐sophie, die sich in der Vergangenheit nicht selten als eine Fundamentalwis‐senschaft verstand, die gewissermaßen über den Wissenschaften stehen sollte. In gleicher Weise verstand sich die Wissenschaftstheorie in der Ver‐gangenheit oft als eine Art Erste Philosophie, deren Aufgabe es ist, frei von Voraussetzungen zu bestimmen, was überhaupt als Wissenschaft Geltung beanspruchen kann. Von beiden Illusionen haben sich viele Philosophen in den vergangenen Jahrzehnten verabschiedet. Während sich die Erkenntnis‐theorie in der Sicht dieser Philosophen weitgehend in Kognitionsforschung aufgelöst hat, traten Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie und verwandte Spezialitäten die Nachfolge der Wissenschaftstheorie an. Die Wissenschaftstheorie mußte sich nach Meinung vieler von der Vorstellung verabschieden, die Standards der Wissenschaftlichkeit allgemeingültig normieren zu können. Sie wird zur Wissenschaft von der Wissenschaft. Zu ihren Aufgaben gehört die ›Aufklärung über Wissenschaft‹, über ihre Ge‐schichte, über die Bedingungen ihres Funktionierens, über die Ursachen möglicher Fehlfunktionen. Aber auch über ihre verschiedenen Komponen‐ten und Ebenen und das Zusammenspiel ihrer logischen, semantischen, psychischen, sozialen, politischen und ökonomischen Aspekte.
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Allerdings sind auch hier andere Interpretationen möglich. Was für die Wissenschaften selbst gilt – die Vielfalt an Zugängen, Methoden und Para‐digmen – gilt auch für das Nachdenken über Wissenschaft. An Pluralismus führt kein Weg vorbei. Doch wo ist das Verbindende? Auf dieses stößt man vielleicht bei der Beantwortung der Frage, warum es überhaupt Wissen‐schaft gibt. Ist das Wissenwollen, die Neugier, die Suche nach Sinn dem Menschen als Grundbedürfnis angeboren? Ist es seine mangelhafte angebo‐rene Ausstattung, welche die kompensatorische Entwicklung höherer geis‐tiger Fähigkeiten erzwingt? Ist dem Menschen eine Grundunzufriedenheit zu eigen? Verlangt er mehr, als die Welt ihm freiwillig gibt? Ist der Er‐kennntnisdrang ein besonderer Fall dieser Unzufriedenheit? Sucht der Mensch deshalb überall nach dem, was man eine Erklärung der Tatsachen nennt? Wissenschaft kann man aus sehr unterschiedlichen Gründen betreiben.
Einige der historisch vorfindbaren Ziele sind zum Beispiel die folgenden: — die ›Gedanken Gottes‹ zu lesen (Platon, Molla Sadra, Ptolemäus, Johannes
Kepler, Albert Einstein); — letzte Gründe für Alles – die ›Weltformel‹ – zu finden (Stephen Hawking,
Alvin Weinberg); — die Struktur der Welt zu erkennen (Aristoteles, Ibn Sina, Tycho Brahe, Galileo
Galilei, Werner Heisenberg); — die Schönheit der Natur einzufangen (Leonardo da Vinci, Paul A. M. Dirac); — ein geheimnisumwittertes Wissen zur Perfektionierung des Menschen zu
erwerben (die Alchemisten); — die Welt durch Erkenntnis zu retten (Roger Bacon, Leo Szilard); — durch Wissen Macht (über die Natur oder über andere) zu gewinnen (Francis
Bacon); — den Nutzen für die Menschheit zu mehren (Alfred Nobel, Justus v. Liebig,
Benjamin Franklin); — Aufklärung zu betreiben, die Natur zu ›entzaubern‹ (Ludwig Büchner, Ernst
Haeckel, Hans Peter Duerr); — ein ehemals enthülltes, aber jetzt verschüttetes Wissen wiederzugewinnen
(Isaac Newton); — Erlösungswissen (in theologischer oder säkularer Interpretation) zu erwerben
(Plotin, Karl Marx); — ›Seelenruhe‹ zu finden (Stoiker);
Einleitung der Herausgeber 12
— der »Bewunderung und Ehrfurcht« über den gestirnten Himmel über mir« (Immanuel Kant) zu folgen;
— einen persönlichen Traum zu verwirklichen (Heinrich Schliemann, Werner von Braun, Graf v. Zeppelin);
— einer Idee zum Durchbruch zu verhelfen (Alfred Wegener, James Lovelock, Theodor Kaluza);
— die eigene Neugier zu befriedigen – ›erstaunliche Phänomene‹ zu untersu‐chen (viele Forscher, Entdecker und Erfinder);
— berühmt zu werden (John B. Watson); — Reichtum zu erwerben (Carl Djerrassi). Die Liste ist offen und unvollständig. Jedes dieser Motive kann zur Er‐kenntnis inspirieren, aber jedes bringt bestimmte Verantwortlichkeiten mit sich, jedes legt dem Forscher besondere Hindernisse in den Weg, eröffnet ihm neue Wege und Optionen oder läßt ihn in spezifische Fallen stolpern. Tragen Wissenschaftler Verantwortung für ihre Wissenschaft? Nur der
›Wahrheit‹ ist die Wissenschaft verpflichtet, so wird wie selbstverständlich gesagt und die Wissenschaft wird für ›wertfrei‹ erklärt. Welchen Nutzen man aus den Ergebnissen einer Wissenschaft zieht, fällt in die Verantwor‐tung der Anwender, nicht aber der Wissenschaftler.2 Auch dies wird stets wiederholt und vorausgesetzt. Was gedacht und geforscht wird, muß für den Wissenschaftler nicht einmal mit einer erkennbaren Sinnfrage verbun‐den sein. Aber ist dem wirklich so? Wenn es um Verantwortung in der Wissenschaft geht, dann werden, fast
reflexartig, immer zunächst Naturwissenschaft und Technik genannt. Das ist auch nicht verwunderlich; denn hinsichtlich der äußeren Weltgestaltung stellen gerade diese Gebiete alles bisher Dagewesene in den Schatten. Zu Unrecht werden in diesem Zusammenhang jedoch häufig die Geisteswis‐senschaften ignoriert; denn die Gedankenwelten, die in diesem Bereich entwickelt werden, können eine ungeheure Kraft entfalten, die Gesell‐schaftssysteme aufbauen und zertrümmern und Epochen prägen können. Die vorliegende Aufsatzsammlung umfaßt 16 Aufsätze, die unterschied‐
liche Wege zur Wissenschaft und zum wissenschaftlichen Denken auf‐zeichnen.
2 Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Tübingen 1991.
Einleitung der Herausgeber 13
Hamid Reza Yousefi thematisiert in seinem Beitrag Struktur, Gegenstand und Aufgaben der interkulturellen Philosophie, die er als eine ›Wissen‐schaft des Friedens‹ bezeichnet. Sie ist dem polyhistorischen Dialog ver‐pflichtet und weist feudalistische Kommunikationsstrukturen grundsätz‐lich zurück. Der Verfasser thematisiert im Rahmen der Debatte um den Heimatort der Philosophie zwei kontradiktorische Sichtweisen: Während die eine Richtung die Philosophie ausschließlich für griechisch‐europäisch hält, und die Entstehung übriger Wissenschaften nur damit verbindet, ist die andere Richtung der Ansicht, daß Philosophie per se interkulturell und somit nicht nur griechisch, sondern auch griechisch ist. Analoges gilt für die Entstehung von Wissenschaften. Yousefi plädiert für einen theoretischen und praktischen Dezentralisierungs‐ und Differenzierungsprozeß, der dar‐auf hinaus läuft, eine ›Interkulturelle Historiographie der Philosophie‹ zu konzipieren. Die interkulturelle Philosophie stellt nach Yousefi keine neue Disziplin neben der traditionellen Philosophie dar, sondern sie versteht sich in der Hauptsache als ihr Korrektiv und ihre Erweiterung. Demzufolge bildet die Analyse von Phänomenen des Sozialen, des Politischen und des Kommunikativen einen zentralen Bereich der interkulturellen Philosophie. Sie räumt Frage‐ und Problemstellungen den Vorrang vor philosophischen Traditionen ein und will unterschiedliche Denktraditionen mit ihren je eigenen Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskurs‐beiträge zusammenbringen, um einen polyhistorischen Dialog auf gleicher Augenhöhe in Gang zu bringen. Regine Kather thematisiert die Vielfalt der Kulturen und der Verbunden‐
heit der Menschen. Der Prozeß der Globalisierung, der durch die moderne Technik eingeleitet wurde, zwingt nach der Auffassung der Autorin auch Philosophie und Theologie dazu, sich in einem interkulturellen Kontext zu verorten. Dabei ist die Debatte, ob Kulturen in sich geschlossene Sprach‐spiele sind oder ob es zumindest einige wesentliche Überlappungen gibt, nach wie vor nicht abgeschlossen. Im vorliegenden Beitrag wird, ausge‐hend von anthropologischen Überlegungen, dafür argumentiert, die Ge‐meinsamkeiten wieder stärker zu betonen. Selbst‐ und Zeitbewußtsein gehören zur Grundausstattung des Homo sapiens. Sie befähigen zu exis‐tentiellen Erfahrungen, die philosophische Reflexionen und religiöse Sinn‐suche ermöglichen. Die Fähigkeit, das Erlebte im Medium symbolischer Formen auszudrücken, die historisch geworden sind, erzeugt jedoch eine
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Verschiedenheit in der Interpretation. Dennoch sind Menschen nicht nur Teil der Kultur, sondern vermittels ihres Leibes auch Teil der Natur. In methodischer Hinsicht zeigt sich hier, daß die Interpretation von Texten nicht genügt, um eine Orientierung für die Zukunft zu finden. Sie muß ergänzt werden durch Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, von Phänomenologie und Ethik. Vor allem in Medizin und Ökologie zeichnen sich gemeinsame Interessen aller Menschen ab. Wie alle Lebewesen können auch sie nur unter bestimmten physischen Bedingungen überleben, die deshalb einer diskursiven Problematisierung entzogen sind. Wenn Men‐schen ihr eigenes Leben achten, müssen sie auch Sorge für ihre Umwelt tragen, − um ihrer selbst willen und um der Würde der Kreatur willen. Vor diesem Hintergrund wird zumindest ein Kernbestand kulturübergreifen‐der Werte erkennbar. Welche Wege zur Wissenschaft werden durch eine universalistische und
moderat materialistische bzw. naturalistische Weltsicht nahe gelegt? Dies ist die zentrale Frage des Beitrags von Christoph Antweiler. Im Unter‐schied zum gegenwärtigen Mainstream in der Ethnologie und anderen Kulturwissenschaften argumentiert Antweiler gegen eine konstruktivisti‐sche Sicht, zumindest, wenn sie als konsequenter Konstruktivismus auf‐tritt. Aus der monistischen Orientierung folgt, daß der Autor die Trennung von Natur‐ und Geisteswissenschaft ablehnt. Es wird gezeigt, wie Wissen‐schaft als ein interkulturelles Unternehmen verstanden werden kann, das trotz der historisch besonders starken Ausbildung in westlichen Kulturen nicht auf den Okzident beschränkt ist. Wissenschaft als methodisch geleite‐te und prinzipiell intersubjektive Erkenntnissuche reicht über Grenzen von Kulturen, Zivilisationen und auch Geschlechtern hinaus. Daran anschlie‐ßend wird die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie als Wissenschaft cha‐rakterisiert, welche die Daseinsgestaltung von Menschen in Gruppen und Netzwerken in einer holistischen, vergleichenden, kulturrelativistischen und dabei erfahrungsnahen Weise untersucht. Diese ganzheitliche, kompa‐rative und an der Handlungswirklichkeit von Menschen orientierte Aus‐richtung impliziert eine tendenziell kritische Haltung gegenüber der eige‐nen Gesellschaft und gegenüber euro‐ wie auch ethnozentrischen Denk‐weisen. Schließlich wird aufbauend auf empirischen Studien zu Rationali‐tät, Entscheiden und Wissen in verschiedenen Gesellschaften die These vertreten, daß es eine universale Form von alltagsbezogenem, empirisch
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basiertem und handlungsorientiertem Wissen gibt, das in allen Kulturen zu finden ist: lokales Wissen als einem sozialen Produkt. Ram Adhar Mall thematisiert die Stellung der Logik zwischen Epistemo‐
logie und Psychologie. Will man die nicht zu leugnende Universalität des logischen Denkens konkret in Verbindung bringen mit den unterschiedli‐chen Adjektiven – ob intra‐ oder interkulturell –, so kann dies nur gelingen, wenn man eine monistische, essentialistische Auffassung der Logik ver‐meidet und die Universalität der Logik in Ihren unterschiedlichen kultur‐geschichtlichen Gestalten in konkreter Form herausarbeitet. Das zentrale Anliegen des Verfassers versteht sich dementsprechend als Entwurf einer interkulturellen Logik unter besonderer Berücksichtigung des indischen Denkens: Eine Logik, die Angst hat, psychologisiert zu werden, fürchtet sich eigentlich vor ihrer Anwendung in Verbindung mit einer geläuterten Psychologie; und eine Logik, die sich fürchtet, ein Teil der Epistemologie zu werden, hat Angst, neben ihrer Funktion der Erkenntnisgewinnung auch die Aufgabe der Erkenntniserfüllung mit zu bedenken. Wissenschaften sind für Werner Loh immanent von Entscheidungen mit
ihren logischen Verhältnissen − wie Widerspruch und Identität − geprägt. Haben Logiken selbst unterschiedliche Entscheidungsniveaus und welche Niveaus haben Einschätzungen dieser Logiken? Aus solcher Selbstreferen‐tialität kommt man nicht hinaus. Die Arbeit bietet einen Versuch, sich die‐ser komplexen Problemlage besonders am Beispiel des Messens und der Klassischen Aussagenlogik zu nähern. Messen kann zum Ergebnis haben, daß man keine positive Lösung besitzt, sondern ein Intervall erwägbarer Alternativen, die nicht zu bewerten sind. Erwägen von Alternativen kommt in Oder‐Sätzen zum Ausdruck. Diese werden traditionell unter dem Titel ›Disjunktion‹ in Logiken abgehandelt. Von Vertretern und Ver‐treterinnen der im 20. Jahrhundert dominant gewordenen Klassischen Aussagenlogik wird behauptet, mit ihr ließen sich Disjunktionen formali‐sieren. Die Erörterung dieser Behauptung wird auf Entscheidungsniveaus hin reflektiert und führt zu dem Ergebnis, daß diese Behauptung unberech‐tigt ist. Da weiterhin erwogene Alternativen im Widerspruch zueinander stehen, weswegen sie für eine mögliche Auswahl bewertet werden, bleibt zu prüfen, inwiefern die Klassische Aussagenlogik als eine Basis‐Logik Widersprüche widerspruchsfrei zu formalisieren vermag. Auch diese Erör‐terung macht wieder ein geringes Entscheidungsniveau deutlich und führt
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zu dem Ergebnis, daß die Klassische Aussagenlogik als System aufzugeben ist, weil sie zu einem Dilemma führt, das beide Male Widersprüche invol‐viert. Es wäre erforderlich, um Entscheidungsniveaus in den Wissenschaf‐ten erforschen und anstreben zu können, daß entsprechende Logik‐Forschungen ermöglicht werden, die das Wirkliche vom Möglichen her approximativ begreifen lassen. Der Beitrag von Alexander Thomas zeigt wie Wege in die Psychologie
aussehen können und wie der Autor den Weg in die Psychologie und be‐sonders in das Forschungsfeld ›Psychologie interkulturellen Handelns‹ erlebt hat. Es werden die Besonderheiten der Psychologie als ein grundla‐genwissenschaftliches Fach und zugleich als ein anwendungswissenschaft‐liches Fach erläutert. Daraus ergibt sich die Bedeutung des Faches zur wis‐senschaftlichen Bearbeitung psychologischer Aspekte interkultureller Kompetenz. Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation zeigt sich in der Fähigkeit mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen so zu kom‐munizieren, daß die Resultate für beide Seiten zu akzeptablen Ergebnissen führen und der Weg dorthin zufriedenstellend verläuft. Die dabei wirksa‐men Prozesse betreffen die psychologischen Grunddimensionen wie Per‐zeption, Kognition, Emotion, Volition und Aktion in einer so kulturspezifi‐schen Weise wie es im Alltagsleben der Partner nicht vorkommt. Auf die damit zusammenhängenden Anforderungen an die psychologische For‐schung unter kulturvergleichenden und interkulturellen Perspektiven wird ebenso eingegangen wie auf Defizite in der grundlagen‐ und anwendungs‐orientierten Forschung zur interkulturellen Kompetenzthematik. Peter Gerdsen setzt sich in seinem Beitrag mit verschiedenen Wissen‐
schaftskonzepten und Wissenschaftsrichtungen auseinander und charakte‐risiert sie hinsichtlich der Entwicklung, der zugrundeliegenden Denkfor‐men, der Methoden der Erkenntnisgewinnung, der zu erforschenden Ge‐genstände und der geistigen Blickrichtung. Die Entstehung der Wissen‐schaftskonzepte werden zurückgeführt auf den fundamentalen Bewußt‐seinsumschwung, der am Ausgang des Mittelalters eine starke Entwick‐lungsdynamik freisetzte. Ursächlich für die neuen Wissenschaftskonzepte sind das protestantische Christentum und die Aufklärungsbewegung, in der sich die Strömungen des Humanismus und der Renaissance sowie säkularisierte Früchte des Christentums vereinigten. Die Parallelität von protestantischem Christentum und Aufklärung ruft eine kulturelle Spal‐
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tung und als Folge davon zwei Wissenschaftsrichtungen hervor: inspiriert durch das Christentum die mathematisch orientierten Naturwissenschaften und inspiriert durch die Aufklärung die humanistisch‐literarischen Wis‐senschaften, für die auch der Begriff Geisteswissenschaften steht. Auf Grund der großen Erfolge strahlen die Naturwissenschaften hinsichtlich ihrer Methodik weit in die Geisteswissenschaften hinein und geben diesen eine materialistische Färbung. Von den Naturwissenschaften spalten sich die Ingenieurwissenschaften ab, die sich hinsichtlich ihrer Gestaltungskraft als geistige Weltmacht erweisen. Die Ursache dafür findet der Verfasser in einer durch die spezifische Methode begründeten Transformation der bei den Naturwissenschaften zunächst vorhandenen reinen Erkenntnisorien‐tierung in eine Handlungsorientierung. Die besonderen Merkmale der Ingenieurwissenschaften im Verhältnis zu den Naturwissenschaften wer‐den auf dem Hintergrund von Bildern der griechischen Mythologie deut‐lich gemacht. Am Ende seines Beitrags weist der Verfasser darauf hin, daß es zwischen den unverbunden nebeneinanderstehenden Natur‐ und Geis‐teswissenschaften einen bemerkenswerten Berührungspunkt gibt. Klaus Fischer geht von der Lehrbuchform des wissenschaftlichen Fort‐
schritts aus. Diese nimmt an, daß die Anstöße für die Entwicklung der Wissenschaft von ›objektiven Problemkonstellationen‹ kommen. Hypothe‐sen werden getestet durch Konfrontation mit Tatsachen. Spezifische Motiv‐lagen, persönliche Idiosynkrasien, kultureller oder religiöser Hintergrund der Beteiligten, Sozialisation, besondere Erfahrungen und Wahrnehmun‐gen, die ›Zufälle des Lebens‹ sollten dabei allenfalls als Störvariablen wir‐ken, die sich im statistischen Mittel ausgleichen und daher keine systemati‐sche Wirkung auf den Fortgang der Wissenschaft haben. Betrachtet man die Biographien bedeutender und weniger bedeutender Wissenschaftler und Naturforscher, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Annahme falsch ist. Jedes Forscherleben erweist sich als einzigartig im komplexen Zusammenwirken seiner Komponenten. In nahezu jedem Fall gibt es unvorhersehbare Ereignisse, die die Richtung des Lebens und der Forschung verändert haben, zufällige Begegnungen, die dem Denken eine neue Wendung gegeben haben, Erlebnisse in frühen Tagen, die im Rückblick eine entscheidende motivationale Wirkung gehabt zu haben scheinen oder eine wichtige Weiche gestellt haben. Doch wenn das einzel‐ne Forscherleben erratisch, unprognostizierbar, durch Zufälle geprägt ist,
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wie plausibel bleibt dann die Vermutung, daß ›die Wissenschaft‹ davon nicht berührt wird, ist sie doch das Ergebnis des Zusammenspiels der Handlungen und Ergebnisse der vielen zufallsgesteuerten Akteure. Was wir über chaotische Prozesse, Attraktoren und die großen Wirkungen klei‐ner Effekte wissen, legt die Vermutung nahe, daß die Wissenschaft und der von ihr beeinflußte Teil der Welt schon bei kleinen Veränderungen in ge‐wissen Konstellationen eine ganz andere Entwicklung hätte nehmen kön‐nen. Rainer N. Zahlten thematisiert in seinem Beitrag Wissenschaft als ›eine
Lehre von der Wahrnehmung und vom Denken, und die Angst vor der Entzauberung der Welt‹. Als sich die frühen Menschen ihre anthropomor‐phen Götterwelten schufen, begannen sie im Kontext der sie umgebenden Natur ihre Existenz zu hinterfragen: die Geburt der Wissenschaft. Über die Jahrtausende führte dieser Drang zum Verstehen‐wollen schließlich zur Wissenschaftsphilosophie und zu Wissenschaftstheorien, deren unmittel‐barer Einfluß auf die Wissenschaftspraxis aber hinterfragt werden kann. Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte zeigen die Interkulturalität und Globalität des Wissenschaftsgeschehens. Im autobiographischen Kontext wird ein Weg zur Naturwissenschaft beschrieben, der von Neugier, Chan‐cen, Lustgewinn und Vorbildern geprägt ist. In den Naturwissenschaften ist das Verständnis evolutionärer Entwicklung und ihrer Regeln das Wi‐derspiegeln von Zufall und Gesetz, die als wichtige Voraussetzung wissen‐schaftlichen Denkens und wissenschaftlicher Wahrnehmung gelten. Das Wissen der Naturwissenschaften expandiert in der heutigen globalisierten Welt exponentiell in nie erfahrenen Dimensionen durch ›in Echtzeit‹ ver‐netzte Kommunikation parallel geschalteter Gehirne, die nicht nur die Effi‐zienz, sondern auch die Methoden und die Interpretation wissenschaftli‐cher Ergebnisse kontinuierlich kritisch optimieren. Globale wissenschaftli‐che Netzwerke repräsentieren selbst organisierende Systeme ähnlich den neuronalen Netzwerken des Gehirns. Die Angst vor der Entzauberung der Welt ist allgegenwärtig und anti‐wissenschaftliche Emotionen ihr Resultat. Vermehrte politische Einflußnahme auf die wissenschaftlichen Rahmenbe‐dingungen, oft ideologisch geprägt, gefährdet die Zukunft der freien wis‐senschaftlichen Forschung. Harald Atmanspacher ist der Ansicht, daß in vielen Wissenschaften theo‐
retische Arbeit von anderen Vorgehensweisen unterschieden wird, die
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numerisch, empirisch oder angewandt orientiert sind. Die Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Tätigkeit hängt letztlich entscheidend von einem aus‐gewogenen Wechselspiel dieser Gesichtspunkte ab. In jüngster Zeit tritt allerdings im Selbstverständnis mancher Wissenschaftsbereiche die Rolle theoretischer Arbeit zunehmend zugunsten von anderen, zum Teil sach‐fremden Erwägungen (wie etwa Aufmerksamkeit seitens der Medien und Wirtschaft) in den Hintergrund. Theoretische Arbeit wird in solchen Fällen oft mißverstanden, und als Folge davon wird ihre Tragweite und Bedeu‐tung unterschätzt. Atmanspacher steht dieser Tendenz entgegen. Dabei beschreibt und analysiert er zunächst historische Fallstudien theoretischer Arbeit in der Physik und Astronomie sowie der Biologie und Psychologie. Anschließend unterzieht er die gegenwärtige Situation in den Kognitions‐ und Neurowissenschaften einer Kritik, die auf aktuelle Fehlentwicklungen hinweist. Schließlich skizziert er einige Beispiele, die andeuten, wie zeit‐gemäße theoretische Arbeit in diesen Bereichen aussehen kann. Erkenntnis‐ und wissenschaftstheoretische Aussagen sind nur möglich auf dem Hin‐tergrund einer langen methodischen Reflexionsgeschichte, in die immer wieder auch vor‐ und außerwissenschaftliche Überzeugungen eingeflossen sind. Was heute gesagt werden kann – und muß –, ist ohne diese Geschich‐te nicht zu denken. Diese zeigt zugleich, daß auch heutige Positionen zum einen (meist unbemerkt) ebenfalls von nicht‐reflektierten Voraussetzungen ausgehen können, zum anderen eine Art von Momentaufnahmen sind, die im Fluß der weiter laufenden Geschichte stehen. Dies gilt auch für die Möglichkeit und Grenzen ›religiöser‹ Aussagen. Der vorliegende Beitrag versucht zunächst in Kürze die zentralen Entwicklungsschritte der Religi‐onsgeschichte und ihrer Wahrheitsbehauptung aufzuzeigen. Danach soll die Geschichte im ›europäischen‹ und christlichen Kulturraum seit der Antike im Mittelpunkt stehen, in der auf Grund besonderer Gegebenheiten die erkenntnistheoretischen Fragestellungen wie in keinem anderen Kul‐turraum problematisiert wurden. Es wird versucht, den Gang der Diskus‐sionen um die Möglichkeit, die Grenzen und die Begründung religiöser (und metaphysischer) Aussagen wenigstens fragmentarisch zu skizzieren. Auf diesem Hintergrund ist das zu verstehen, was die ›kritische Wende‹ seit der Aufklärungszeit gebracht hat, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Trotz aller möglichen weiteren Entwicklungen scheint die These, daß alle Erkenntnis, auch religiöse, auf die Welt und die Geschichte
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als ihre einzigen ›Gegenstände‹ beschränkt ist, in der Grundaussage nicht revidierbar zu sein. Welt und Geschichte werden in Religionen auf die menschliche Sinnfrage hin interpretiert und bringen damit eine humane Dimension zu Gehör, die in den Einzelwissenschaften nicht von selbst auf‐scheint. Wolfgang H. Pleger thematisiert zwei ›Wege zur Wissenschaft‹: Den ge‐
schichtlichen und den anthropologischen. Unter der geschichtlichen Frage‐stellung wird der Übergang ›Vom Mythos zum Logos‹ behandelt, der in Griechenland im 6. Jh. v.u.Z. einsetzt. Er ist zu verstehen als eine Versachli‐chung eines personalen Weltverständnisses, wie es für den Mythos charak‐teristisch ist. Die maßgeblichen Wissenschaftler, die diese Revolution des Denkens herbeiführten, waren nach Pleger Thales, Anaximander, Anaxi‐mens, Pythagoras und Heraklit im Bereich der Naturphilosophie und Phy‐sik, Herodot und Hippokrates in den Bereichen Geschichtswissenschaft und Medizin. In der anthropologischen Perspektive wird als Vorausset‐zung einer wissenschaftlichen Einstellung die Kompetenz von Menschen angenommen, zu den Dingen ein sachliches Verhältnis einnehmen und sie damit zum Gegenstand einer theoretischen Betrachtung machen zu kön‐nen. Mit dieser Kompetenz einher geht die, zu sich selbst ein sachliches Verhältnis gewinnen zu können. Damit wird der Mensch zur Person. Per‐son ist nach Pleger der Ausdruck des Selbstverständnisses eines Menschen, in dem das Ich sich auf sein Selbst reflektierend zurückbezieht. Wesentliche Überlegungen hierzu finden sich bei Helmuth Plessner. Abschließend wer‐den einige Überlegungen zum Verhältnis von ›Erkennen und Wissen‹ und zu dem von ›Wissenschaft und Philosophie‹ vorgetragen. Lutz Geldsetzer, dem der vorliegende Band zu seinem 70. Geburtstag
gewidmet ist, geht davon aus, daß systematische Philosophie und Philoso‐phiegeschichte zwei Schwerpunkte von Forschung und Lehre des Faches Philosophie sind. Im Verhältnis beider zueinander kommen jedoch zwei verschiedene hermeneutische Methodologien zum Tragen. Die eine ist die von Geldsetzer sogenannte zetetische (forschende), die andere die dogma‐tische Hermeneutik. Sie unterscheiden sich wesentlich hinsichtlich ihrer Zielsetzung und ihrer Regeln (Kanons). Um was es sich dabei handelt und welche Kriterien für das zetetische und das dogmatische Verstehen der philosophiegeschichtlichen Gegenstände gelten, soll zunächst näher ge‐zeigt werden. Daran schließt er einige Folgerungen für den Umgang mit
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der Philosophiegeschichte an. Sie wird einerseits als dogmatisches Ideenar‐senal für die systematische Philosophie benutzt und angewandt, was man ihre dogmatische Funktion nennen kann. Andererseits wird sie unter dog‐matischer Benutzung systematischer philosophischer Schulgesichtspunkte zum Gegenstand genuin historischer Forschung. Einige Beispiele aus der Praxis sollen dies näher erläutern. Eva Eirmbter‐Stolbrink, die auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung ar‐
beitet, thematisiert den Wissenschaftscharakter der Erziehungswissen‐schaft. Dabei stellt sie fest, daß die Erziehungswissenschaft im Verlauf ih‐rer Entwicklung, in der sie ›von der Pädagogik zur Erziehungswissen‐schaft‹ gelangen sollte, problematisch geblieben ist. Ihre geisteswissen‐schaftlich‐praxeologische Ausrichtung hat sie daran gehindert, zu eigen‐ständigen Fragestellungen und zu disziplinären Erkenntnissen zu gelan‐gen. Die Entwicklung der Erziehungswissenschaft wird seit Beginn der Bildungsexpansionsphase in den siebziger Jahren des vergangenen Jahr‐hunderts nachzuzeichnen versucht. Das Studium des Faches in dieser Pha‐se war an der Rezeption der pädagogischen Ideengeschichte mit ihren Denk‐ und Ordnungsfiguren und zugleich an der empirisch‐analytischen Betrachtung der Erziehungswirklichkeit orientiert. Die aktuell gegebene Wissensgesellschaft wird für die Frage der Bildung und des Lernens in ihr als eine Herausforderung an eigenständige erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse betrachtet. Diese Eigenständigkeit bedarf der Reflexion diszi‐plinärer Grundfiguren. Ein Vergleich älterer und aktueller Einführungen in die Erziehungswissenschaft verweist auf die Problematik der Erziehungs‐wissenschaft angesichts ihres Verlustes an disziplinären Ordnungsfiguren. In dem autobiographisch gehaltenen Beitrag erläutert Dieter Senghaas
seine Sozialisation in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Friedensproblematik seit den frühen 1960er Jahren. Diese begann mit ei‐nem allgemeinen Interesse an einer Analyse von internationaler Politik und internationalen Beziehungen mit der Fokussierung auf die seinerzeit do‐minante weltpolitische Konstellation, den Ost‐West‐Konflikt samt Ab‐schreckungsstrategien. Diese Orientierung erweiterte sich auf Fragestel‐lungen von Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik und eine sich daran anschließende Erörterung der Konfliktformationen im internati‐onalen System insgesamt. Eine Reorientierung fand in Reaktion auf den weltpolitischen Umbruch 1989/90 statt: Eine politisch offene Konstellation
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machte konstruktive Ansätze der Friedensgestaltung erforderlich. Diese Ausrichtung führte schließlich zur Formulierung einer eigenständigen Friedenstheorie, deren Kern im sogenannten „zivilisatorischen Hexagon“ besteht. Darin wird Frieden als ein Zivilisierungsprojekt verstanden, auf‐bauend auf einem sechsfach ausgerichteten kollektiven Lernprozeß. Dieter Senghaas betont die Wichtigkeit einer erfahrungswissenschaftlichen Fun‐dierung von Realanalyse, die nicht modischen Paradigmen‐Strömungen folgt, sondern ihre theoretische und konzeptuelle Selbstdisziplinierung im Verlaufe von Sachanalyse gewinnt. Diese Orientierung aus eigener Erfah‐rung begreift der Autor als Gegengift gegen Dogmatismus und postmo‐derne Beliebigkeit. Im Beitrag von Harald Walach wird ein Wissenschaftsbegriff aus der
Sicht und langjährigen Erfahrung eines vor allem mit wissenschaftlichen Grenzfragen befaßten Forschers skizziert. Wissenschaft wird vom Verfas‐ser entgegen eines verbreiteten naiv‐dogmatischen Verständnisses nicht als geschlossenes Regelsystem, sondern als notwendig offener und wand‐lungspflichtiger Prozeß verstanden. Kritik wird als wesentliches Merkmal von Wissenschaft hervorgehoben, die vom Verfasser nicht als fertiges Sys‐tem, sondern als ein zutiefst sozialer Prozeß gesehen wird: Wissenschaft wird als ein kollektives Spiel verstanden, das seine Regeln durch das Spie‐len selber erfindet, verändert und dadurch das eigene Gepräge laufend anpaßt. Gute Wissenschaft wird als die institutionalisierte Unsicherheit verstanden. Wissen kann kumulativ sein, indem es sich durch Kritik diffe‐renziert, Neues entdeckt, neue Hinsichten auf alte Tatbestände entfaltet und Bereiche integriert, die vorher nicht denkbar waren, weswegen eine dogmatische Wissenschaftsauffassung als einziger Feind von echter Wis‐senschaft und wirklichem Wissen zu betrachten ist. Der Verfasser vertritt die Ansicht, daß Phänomene vor Theorien gehen, auch wenn die merk‐würdige Dialektik nicht abgestritten werden kann, daß Phänomene nur durch die Brille einer guten Theorie wahrgenommen werden können. Ab‐schließend wird die Denkfigur der Komplementarität als wissenschaftsthe‐oretisches Integrationsprinzip vorgestellt.
Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der jeweiligen individuellen
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Präferenzen unserer Autoren und Autorinnen verzichtet. Auf vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie facettenreich We‐ge zur Wissenschaft sind.
Die Herausgeber Trier, Koblenz und Hamburg
Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des Friedens
von Hamid Reza Yousefi
Einleitende Gedanken Der Ausdruck ›Wege zur Wissenschaft‹ weist auf die Pluralität differieren‐der Geschichten, Sichtweisen, Zugänge und methodischer Ausrichtungen und solchen hin, die sich ergänzen, überlappen oder bekämpfen. Er zeigt ferner, daß keiner dieser Wege sich in den absoluten Stand setzen kann, was häufig getan wird. Der interkulturelle Weg der Philosophie als einer Wissenschaft des Friedens ist eine denkerische Tätigkeit, mit einem dialog‐theoretischen und dialogpraktischen Charakter auf der Grundlage einer empirisch‐hermeneutischen Methode. Interkulturelle Philosophie blickt nach Außen, und zwar nach allen Seiten, und fragt nach den Konsequen‐zen solcher Betrachtungsweisen für die Zielsetzungen im Inneren. Sie ist darauf ausgerichtet, den Vertretern unterschiedlicher Weltanschauungen, Kulturen, Religionen, Philosophien und Wissenschaftskonzeptionen die Wahrnehmung der jeweils anderen auf gleicher Augenhöhe zu ermögli‐chen und das Gespräch mit diesen anderen mit Gewinn für alle Beteiligten und ohne Gewalt jedweder Struktur gelingen zu lassen. Hier geht es um eine neue Kultur des Philosophierens. Davon nicht zu trennen sind naturgemäß die Fragen, welche Hindernisse
sich einer friedlichen Begegnung und einem konstruktiven Austausch zwi‐schen den Kulturen, Denksystemen und Wissenschaftskonzepten in den Weg stellen, welche Beschaffenheit diese Hindernisse haben, was sie be‐dingt oder wer sie zu welchen Zwecken konstruiert (hat), woran sie zu erkennen und wie sie möglicherweise zu überwinden sind.1 Insofern räumt interkulturelle Philosophie Frage‐ und Problemstellungen Vorrang vor
1 Macht ist ein zentrales Hindernis jeder Form von interkultureller Ausrichtung,
auf die im Kontext des vorliegenden Beitrags nicht eingegangen werden kann.
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philosophischen Traditionen ein. Sie läßt sich am besten als ein auf keinen Abschluß und kein bestimmtes Ergebnis gerichteten Prozeß im Bewußtsein einer stets ›orthaften Ortlosigkeit der Philosophie‹2 begreifen, welche der Einsicht verpflichtet ist, daß Philosophen den Werten und Selbstbildern ihrer Heimatländer nolens volens verhaftet bleiben, Philosophien vom Zeit‐geist und Ort ihrer Entstehung mitbestimmt werden, Philosophieren an sich jedoch überall und jederzeit möglich war, ist und bleiben wird. Es ist ein geschichtsträchtiges und wirkungsmächtiges Vorurteil, daß nur
die griechisch‐europäische Tradition den Weg der ›Philosophie‹ und ›Wis‐senschaft‹ geebnet und den gesamtmenschlichen Geist in eine kritische und rationale Dimension erhoben habe. Wer nach diesem Muster »denkt, denkt griechisch, auch wenn er es gar nicht vermutet« (Jacqueline de Romilly). Die Entstehung der Philosophie und Wissenschaft ausschließlich mit Grie‐chenland zu verknüpfen, läßt unweigerlich das Bild des chinesischen Brunnenfrosches aufkommen, der seine Weltsicht hypostasiert und verab‐solutiert. Das ist die traditionelle Philosophie. Die Fundamente der europäischen Philosophie und Wissenschaft gehen
zweifelsohne auf die griechische Tradition zurück, die viele Elemente an‐derer, nichteuropäischer Traditionen übernommen hat. Diesem Kultur‐raum jedoch eine führende Stellung gegenüber den anderen Traditionen einzuräumen, stellt eine einseitige und ausschließlich vom europäischen Standpunkt ausgehende Betrachtungsweise dar, die durch Dominanz der Macht universalisiert und indoktriniert worden ist. Philosophie essentialis‐tisch aufzufassen oder sie nur unter bestimmten Bedingungen als relevant erklären zu wollen, widerspricht dem Kern philosophischer Reflexion selbst. In diesem Sinne verwendet Ninian Smart »den Begriff ›Philoso‐phien‹ im Plural; etliche Philosophen des Westens nehmen dagegen den Singular, weil sie sich nur auf eine Art der westlichen Philosophie bezie‐hen«.3
2 Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza u.a. (Hrsg.): ›Orthafte Ortlosigkeit der Philoso‐phie‹. Eine interkulturelle Orientierung: Festschrift für Ram Adhar Mall zum 70. Geburtstag, Nordhausen 2007.
3 Smart, Ninian: Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Mensch‐heit, Darmstadt 2002 S. 15.
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Die Frage nach der Heimat der Philosophie Diesem Grundsatz zufolge gibt es eine reine, eigene Philosophie ebenso‐wenig wie es eine reine, andere Philosophie gibt. Philosophie kennt ver‐schiedene Wege und trägt unterschiedliche Namen.4 Die regulative Einheit der einen ›philosophia perennis‹ ist kompatibel mit der Vielfalt ihrer kon‐kreten kulturellen Gestalten. Es ist »die philosophia perennis, welche die Gemeinsamkeit schafft, in der die Fernsten miteinander verbunden sind, die Chinesen mit den Abendländern, die Denker vor 2500 Jahren mit der Gegenwart«5. In ihr ist alles mit allem verbunden. Sie gibt es nicht in der Gestalt eines systematischen Bestandes von Erkenntnissen, die für jeder‐mann gelten und zwingend eingesehen werden können. Wer glaubt, in welchem Kontext auch immer, »die philosophische Wahrheit liege vor und brauche nur gelernt zu werden, wird nie zur Philosophie kommen.«6 Die Idee der ›Philosophia perennis‹ geht dem Philosophiebegriff grund‐
sätzlich voraus. Die Akzeptanz dieser Prämisse ist ein Schlüssel zu einer universalen und friedensorientierten Kommunikation, die der dialogischen Konzeptualisierung einer Weltgeschichte der Philosophie das Wort redet. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein spielen in der Formung persönlicher, kultureller und sozialer Identität eine wesentliche Rolle. Auch jeder historische Prozeß ist ein Faktor der ›philosophia perennis‹, »um die alle Philosophien kreisen und die niemand besitzt, an der jeder eigentlich Philosophierende teilhat und die doch nie die Gestalt eines für alle gülti‐gen, allein wahren Denkgebäudes gewinnen kann«7. Damit soll gesagt sein, daß ›philosophia perennis‹ keine Vorurteile kennt, keinen Ort privilegiert, keine Tradition hat und keine Sprache als ihre Muttersprache spricht8. Phi‐losophie bedeutet »die Weise, wie der Mensch sich des Seins der Welt und
4 Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza u.a. (Hrsg.): Wege zur Philosophie. Grundlagen
der Interkulturalität, Nordhausen 2006. 5 Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß hrsg. v.
Hans Saner, München 1982 S. 56. 6 Ebenda, 1982 S. 60. 7 Jaspers, Karl: Was ist Philosophie. Ein Lesebuch, hrsg. v. Hans Saner, München
21997 S. 193. 8 Vgl. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philo‐
sophie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1995 S. 7.
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seiner selbst bewußt wird und wie er aus diesem Bewußtsein im Ganzen lebt. Daher ist Philosophie so alt wie der Mensch«9. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Inder, ein Chinese, ein
Grieche und ein Araber stritten darüber, was sie als Nachtisch zum Käse kaufen wollten. Der Inder wollte ›angur‹ kaufen, der Chinese hingegen ›pútaó‹; während der Grieche auf den Kauf von ›stafil‹ bestand, wollte der Araber nicht auf ›inab‹ verzichten. Weil sie sich nicht verständigen konn‐ten, gingen sie zu einem Übersetzer, der aller vier Sprachen mächtig war. Er wurde damit beauftragt, ›angur‹, ›pútaó‹, ›stafil‹ und ›inab‹ zu kaufen. Nachdem der Übersetzer zurückkam, freuten sich die Streitparteien; jeder hatte das, was er wollte, nämlich Weintrauben. Daß die Streitparteien nun wissen, daß Weintrauben in jeder Sprache anders heißen, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Wenn die Streitparteien nach dem Begriff der Philosophie fragen, so er‐
halten sie wiederum vier verschiedene, aber im Kern gleichbedeutende Ausdrücke. Arbeitet man universalhistorisch, so ist man auf weiten Gebie‐ten auf Übersetzungen angewiesen, da niemand alle Sprachen kennt, in denen philosophiert wurde und wird. Philosophisches Denken geht immer dem Philosophiebegriff voraus. Man kann beispielsweise »von Mathema‐tik« nicht dort »sprechen, wo man dafür ein Fachwort geprägt hat.«10
Kontroverse im Altertum Die Frage nach dem Geburtsort der Philosophie hat eine lange Tradition, die sich bis ins ›europäische Altertum‹ zurückverfolgen läßt. Der syrische Satiriker Lukian (um 120‐180 n.u.Z.) beschäftigt sich in seinem Dialog ›Die entlaufenen Sklaven‹ mit dem Ursprung, dem Inhalt und dem Begriff der Philosophie, wobei Lukian außereuropäische Philosophien bevorzugt und den Geburtsort der Philosophie nach Persien und Indien verlegt. Jupiter, Merkur, Herkules, die Philosophie, Orpheus, die Entlaufenen
und ihre Herren sowie ein Ehepaar kommen hier zu Wort. Er läßt die Phi‐losophie selbst reden: »Mein erster Ausflug war nicht zu den Griechen. Ich hielt es für schicklicher, mich sogleich an die schwerste Arbeit zu machen
9 Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie,1982 S. 105. 10 Holenstein, Elmar: Philosophie‐Atlas: Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004 S.
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und vors erste die Barbaren in meine Zucht zu nehmen. Ich ging also die Griechen vorbei, die ich viel leichter zu bemeistern und gar bald an meinen Zaum zu gewöhnen hoffte, und eilte zuerst zu dem größten Volke des Erd‐bodens, den Indern, die ich mit ziemlich leichter Mühe überredete, von ihren Elefanten herabzusteigen und sich zu mir zu halten: kurz, ich brachte es so weit, daß die Brachmanen, eine zwischen den Nechräern und O‐xydrakern wohnende glückselige Menschenrasse, ganz nach meiner Vor‐schrift leben und deswegen bei allen ihren Nachbarn in besonderem Anse‐hen stehen; wie sie denn auch eine sehr seltsame Art aus der Welt zu gehen haben«11. Beim anschließenden Besuch bei den Griechen soll die Philoso‐phie anfangs »ziemlich kaltsinnig empfangen«12 worden sein. Außer bei ›sieben Lehrjüngern‹ habe sie in Griechenland kein Echo gefunden, da dort das Geschlecht der Sophisten aufgeblüht sei, »Leute, die, ohne tief genug in meine Lehren einzudringen, um ihren Geist und Zweck zu fassen, doch sozusagen einerlei Ton mit mir hielten […], nicht ganz unwissend, aber ebensowenig fähig, mich scharf ins Auge zu fassen […] und […] nur ein undeutliches, halb verblichnes Gespenst und Schattenbild von mir erblick‐ten«13. Der griechische Historiker Diogenes Laertius (um 2.‐3. Jh. n.u.Z.) hinge‐
gen übt implizit Kritik an Lukian und verlegt den Ursprung der Philoso‐phie zu den Griechen. Er verfaßte die vollständig erhalten gebliebene Schrift ›Leben und Meinungen berühmter Philosophen‹, in der viele Philo‐sophen des Altertums zur Darstellung kommen. Im ersten Band beschäftigt sich Diogenes mit dem Inhalt und Ursprung des Begriffs ›Philosophie‹. Dort heißt es, die Entwicklung der Philosophie habe ihren Anfang nicht, ›wie manche behaupten‹, in Indien und Persien genommen. Zwar hätten die Perser ihre Magier, die Babylonier und Assyrer ihre Chaldäer und die Inder ihre Gymnosophisten gehabt, aber »indes man täuscht sich und legt fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen
11 Lukian: Die entlaufenen Sklaven, in: Werke in drei Bänden (Übers. von Christoph
Martin Wieland), hrsg. v. Jürgen Werner und Herbert Greiner‐Mai, Bd. 2, Wei‐mar 1981 (49‐64), S. 51 f.
12 Ebenda, S. 52. 13 Ebenda, S. 53.