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Verlag Traugott Bautz Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Rudolf Lüthe/ Peter Gerdsen (Hrsg.) Wege zur Wissenschaft Eine interkulturelle Perspektive Grundlagen, Differenzen, Interdisziplinäre Dimensionen

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Verlag Traugott Bautz

Hamid Reza Yousefi/ Klaus Fischer/ Rudolf Lüthe/ Peter Gerdsen (Hrsg.)

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Eine interkulturelle PerspektiveGrundlagen, Differenzen, Interdisziplinäre Dimensionen

ISBN 978-3-88309-418-2Verlag Traugott Bautz

Der Ausdruck ›Wege ...‹ verweist auf die Pluralität differierenderGeschichten, Sichtweisen, Zugänge und methodischer Ausrichtungen,die sich ergänzen, überlappen oder bekämpfen. Die reale Vielfalt vonMethoden, Zielen, Stilen, Paradigmen und Ergebnissen sowie die Unei-nigkeit darüber, was ›Wissenschaft‹ bedeutet, zeigt die Vielfalt von Wis-senschaftsbegriffen und Wissenschaftsformen auf, die nicht nur von ver-blüffenden Gemeinsamkeiten getragen sind, sondern auch von erhellen-den Unterschieden. Dieser Annahme nachgehend, liegt dem geplantenSammelband die Arbeitshypothese zugrunde, daß es verschiedeneWege zur Wissenschaft gibt, die als gleichberechtigte Realisierungenihrer Grundidee gelten können. Wissenschaftler aus verschiedenen Kul-turräumen und unterschiedlichen akademischen Traditionen beschrei-ben ihr Wissenschaftsverständnis und ihren Weg dazu.

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Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Rudolf Lüthe/Peter Gerdsen (Hrsg.)

— Wege zur Wissenschaft

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Wege zur Wissenschaft

Eine interkulturelle Perspektive

Grundlagen, Differenzen, Interdisziplinäre Dimensionen

herausgegeben und eingeleitet von

Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/ Rudolf Lüthe/Peter Gerdsen

unter Mitwirkung von René Alexander Hundhausen/Gudrun Kett/Martin Hambückers

Traugott Bautz Nordhausen 2008

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH

99734 Nordhausen 2008 Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 3- 978-388-309-418-2

www.bautz.de

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Inhaltsübersicht 

Einleitung der Herausgeber .................................................................................9

Hamid Reza Yousefi Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des Friedens....................................................................25

Regine Kather Von der Vielfalt der Kulturen und der Verbundenheit der Menschen.............................................................47

Christoph Antweiler Wissenschaft quer durch die Kulturen .............................................................67

Ram Adhar Mall Logik zwischen Epistemologie und Psychologie. ...........................................95

Werner Loh Entscheidungsniveaus und Wissenschaft − ...................................................119

Alexander Thomas Psychologie interkultureller Kompetenz........................................................139

Peter Gerdsen Konzepte der Wissenschaft – Naturwissenschaftliche Spaziergänge in den Geisteswissenschaften...........................................................................161

Klaus Fischer Wissenschaft und Subjekt.................................................................................187

Rainer N. Zahlten Wissenschaft – eine Lehre von der Wahrnehmung und vom Denken, und die Angst vor der Entzauberung der Welt ............223

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Inhaltsübersicht 6 

Harald Atmanspacher Zur Praxis theoretischer Arbeit in den Wissenschaften ...............................255

Karl-Heinz Ohlig Erkenntnistheoretische Erwägungen zur Eigenart und Begründung religiöser Wahrheit.............................................................267

Wolfgang H. Pleger Person und Sache...............................................................................................289

Lutz Geldsetzer Über zetetischen und dogmatischen Umgang mit Philosophiegeschichte ................................................................................309

Eva Stolbrink-Eirmbter Zur Ordnung der Pädagogik und zur Unordnung der Erziehungswissenschaft ........................................337

Dieter Senghaas Mein Weg in die Wissenschaft.........................................................................355

Harald Walach Wissenschaft als Entdeckungsreise – mein Begriff von Wissenschaft.........................................................................375

Herausgeber, Autorinnen und Autoren .........................................................401  

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Lutz Geldsetzer zum 70. Geburtstag

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Einleitung der Herausgeber 

Mit dem vorliegenden Band ›Wege zur Wissenschaft‹ wird die Veröffentli‐chungsserie ›Wege zur Philosophie‹, ›Wege zur Kommunikation‹ und ›We‐ge zur Religionswissenschaft‹1 um einen weiteren Band ergänzt. Die reale Vielfalt der Methoden, Ziele, Stile, Paradigmen, Ergebnisse und die Unei‐nigkeit  darüber, was  ›Wissenschaft‹  bedeutet,  sind  ein  Ausdruck  dafür, daß wir  nicht  von  einer  einzigen Wissenschaftskonzeption,  sondern  von einer Pluralität von Wissenschaftsbegriffen und Wissenschaftsformen aus‐zugehen haben. Doch so sehr diese sich  im einzelnen voneinander unter‐scheiden, gibt  es nicht  auch Gemeinsamkeiten, die  sie verbinden? Dieser Vermutung nachgehend, liegt dem geplanten Sammelband ›Wege zur Wis‐senschaft‹ die Arbeitshypothese zugrunde, daß es verschiedene Wege zur Wissenschaft gibt, die als gleichberechtigte Realisierungen ihrer Grundidee gelten können. Um diese Grundannahme zu testen, liegt es nahe, einige mögliche ›Wege 

zur Wissenschaft‹ aufzuzeigen. Aber dieses Verfahren zieht leicht den Ein‐wand nach  sich, daß die Beschreibung  solcher Wege manchmal an  einen bestimmten ›Ort‹ des Nachdenkens über die Welt führt, der vielleicht nicht das Prädikat  ›wissenschaftlich‹ verdient. Wann aber handelt es  sich beim Nachdenken  über  die Welt  um  ›Wissenschaft‹? An  dieser  Stelle  läge  es nahe, eine Definition des Wissenschaftsbegriffs zu geben. Dagegen spricht, daß eine strenge Definition von Wissenschaft  leicht zur Ausgrenzung be‐merkenswerter  Formen  des Nachdenkens  über  die Welt  führen  könnte, unbeschadet des Umstandes, daß manche Wissenschaften mit streng defi‐nierten Begriffen arbeiten müssen. Dies  ist ein Grund dafür, daß es nicht abwegig ist, von einem Wissenschaftsbegriff auszugehen, der keinen Aus‐

1   Vgl.  Yousefi, Hamid  Reza  u.a.  (Hrsg.): Wege  zur  Philosophie.  Grundlagen  der 

Interkulturalität, 2006; Wege  zur Kommunikation. Theorie und Praxis  interkultu‐reller Toleranz, 2006 und Wege zur Religionswissenschaft. Aspekte, Grundproble‐me, Ergänzende Perspektiven 2007. Alle Bände  sind  im Verlag Traugott Bautz erschienen. 

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Einleitung der Herausgeber 10 

schließlichkeitsanspruch  erhebt.  Eine  strenge Definition  hätte  den  Effekt der Abschottung der  in einer  so definierten Wissenschaft  tätigen Wissen‐schaftler von anderen, denen dieses Prädikat versagt bliebe. Deshalb sollte der Wissenschaftsbegriff nicht streng definiert, sondern nur charakterisiert werden. Auf diese Weise wird auch den Prinzipien der Interdisziplinarität und der Interkulturalität Rechnung getragen. Wichtiger als eine Definition von Wissenschaft zu geben ist es, verschie‐

dene Wissenschaftsauffassungen hinsichtlich  ihrer Entwicklung, ihrer Me‐thoden,  ihrer Gegenstände,  ihrer metaphysischen Grundlagen sowie  ihrer Ziele und Motive zu untersuchen. Natürlich ist zu fragen, welche Merkma‐le  zumindest  erfüllt  sein müssen, damit  von Wissenschaft die Rede  sein kann. Zu den notwendigen Bedingungen, die oft genannt wurden, gehören die Reflexion über die eigenen Voraussetzungen, eine saubere gedankliche Herleitung der Ergebnisse, die Formulierung möglichst  informativer Aus‐sagen und ein echtes Bemühen um empirische Prüfung. Hier stellt sich die Frage nach der Rolle der Philosophie und der Wissen‐

schaftstheorie.  Die wissenschaftliche  Untersuchung  des  Denkens war  in Form der Erkenntnistheorie schon  immer ein wichtiger Bereich der Philo‐sophie, die sich in der Vergangenheit nicht selten als eine Fundamentalwis‐senschaft  verstand,  die  gewissermaßen  über  den Wissenschaften  stehen sollte. In gleicher Weise verstand sich die Wissenschaftstheorie in der Ver‐gangenheit oft als eine Art Erste Philosophie, deren Aufgabe es ist, frei von Voraussetzungen zu bestimmen, was überhaupt als Wissenschaft Geltung beanspruchen kann. Von beiden Illusionen haben sich viele Philosophen in den vergangenen Jahrzehnten verabschiedet. Während sich die Erkenntnis‐theorie in der Sicht dieser Philosophen weitgehend in Kognitionsforschung aufgelöst hat, traten Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie und verwandte  Spezialitäten  die Nachfolge  der Wissenschaftstheorie  an. Die Wissenschaftstheorie mußte sich nach Meinung vieler von der Vorstellung verabschieden,  die  Standards  der  Wissenschaftlichkeit  allgemeingültig normieren zu können. Sie wird zur Wissenschaft von der Wissenschaft. Zu ihren Aufgaben gehört die  ›Aufklärung über Wissenschaft‹, über  ihre Ge‐schichte,  über  die  Bedingungen  ihres  Funktionierens,  über  die Ursachen möglicher Fehlfunktionen. Aber auch über ihre verschiedenen Komponen‐ten  und  Ebenen  und  das  Zusammenspiel  ihrer  logischen,  semantischen, psychischen, sozialen, politischen und ökonomischen Aspekte. 

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Einleitung der Herausgeber 11 

Allerdings sind auch hier andere  Interpretationen möglich. Was  für die Wissenschaften selbst gilt – die Vielfalt an Zugängen, Methoden und Para‐digmen – gilt auch für das Nachdenken über Wissenschaft. An Pluralismus führt kein Weg vorbei. Doch wo ist das Verbindende? Auf dieses stößt man vielleicht bei der Beantwortung der Frage, warum  es überhaupt Wissen‐schaft gibt.  Ist das Wissenwollen, die Neugier, die Suche nach Sinn dem Menschen als Grundbedürfnis angeboren? Ist es seine mangelhafte angebo‐rene Ausstattung, welche die kompensatorische Entwicklung höherer geis‐tiger Fähigkeiten erzwingt? Ist dem Menschen eine Grundunzufriedenheit zu  eigen? Verlangt  er mehr,  als die Welt  ihm  freiwillig  gibt?  Ist der Er‐kennntnisdrang  ein  besonderer  Fall  dieser  Unzufriedenheit?  Sucht  der Mensch deshalb überall nach dem, was man eine Erklärung der Tatsachen nennt? Wissenschaft kann man  aus  sehr unterschiedlichen Gründen betreiben. 

Einige der historisch vorfindbaren Ziele sind zum Beispiel die folgenden: — die  ›Gedanken Gottes‹  zu  lesen  (Platon, Molla  Sadra,  Ptolemäus,  Johannes 

Kepler, Albert Einstein); — letzte Gründe  für Alles  –  die  ›Weltformel‹  –  zu  finden  (Stephen Hawking, 

Alvin Weinberg); — die Struktur der Welt zu erkennen (Aristoteles, Ibn Sina, Tycho Brahe, Galileo 

Galilei, Werner Heisenberg); — die Schönheit der Natur einzufangen (Leonardo da Vinci, Paul A. M. Dirac); — ein  geheimnisumwittertes  Wissen  zur  Perfektionierung  des  Menschen  zu 

erwerben (die Alchemisten); — die Welt durch Erkenntnis zu retten (Roger Bacon, Leo Szilard); — durch Wissen Macht (über die Natur oder über andere) zu gewinnen (Francis 

Bacon); — den Nutzen  für die Menschheit  zu mehren  (Alfred Nobel,  Justus  v. Liebig, 

Benjamin Franklin); — Aufklärung zu betreiben, die Natur zu ›entzaubern‹ (Ludwig Büchner, Ernst 

Haeckel, Hans Peter Duerr); — ein  ehemals  enthülltes,  aber  jetzt  verschüttetes Wissen  wiederzugewinnen 

(Isaac Newton); — Erlösungswissen (in theologischer oder säkularer Interpretation) zu erwerben 

(Plotin, Karl Marx); — ›Seelenruhe‹ zu finden (Stoiker); 

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Einleitung der Herausgeber 12 

— der  »Bewunderung  und Ehrfurcht«  über den  gestirnten Himmel über mir« (Immanuel Kant) zu folgen; 

— einen  persönlichen  Traum  zu  verwirklichen  (Heinrich  Schliemann, Werner von Braun, Graf v. Zeppelin); 

— einer  Idee zum Durchbruch zu verhelfen  (Alfred Wegener,  James Lovelock, Theodor Kaluza); 

— die  eigene Neugier  zu  befriedigen  –  ›erstaunliche  Phänomene‹  zu  untersu‐chen (viele Forscher, Entdecker und Erfinder); 

— berühmt zu werden (John B. Watson); — Reichtum zu erwerben (Carl Djerrassi). Die  Liste  ist  offen  und  unvollständig.  Jedes  dieser Motive  kann  zur  Er‐kenntnis inspirieren, aber jedes bringt bestimmte Verantwortlichkeiten mit sich,  jedes  legt dem Forscher besondere Hindernisse  in den Weg, eröffnet ihm neue Wege und Optionen oder läßt ihn in spezifische Fallen stolpern. Tragen Wissenschaftler Verantwortung  für  ihre Wissenschaft? Nur der 

›Wahrheit‹ ist die Wissenschaft verpflichtet, so wird wie selbstverständlich gesagt und die Wissenschaft wird  für  ›wertfrei‹  erklärt. Welchen Nutzen man aus den Ergebnissen einer Wissenschaft zieht, fällt in die Verantwor‐tung der Anwender, nicht aber der Wissenschaftler.2 Auch dies wird stets wiederholt und vorausgesetzt. Was gedacht und geforscht wird, muß  für den Wissenschaftler nicht einmal mit einer erkennbaren Sinnfrage verbun‐den sein. Aber ist dem wirklich so? Wenn es um Verantwortung in der Wissenschaft geht, dann werden, fast 

reflexartig,  immer zunächst Naturwissenschaft und Technik genannt. Das ist auch nicht verwunderlich; denn hinsichtlich der äußeren Weltgestaltung stellen gerade diese Gebiete alles bisher Dagewesene  in den Schatten. Zu Unrecht werden  in diesem Zusammenhang  jedoch häufig die Geisteswis‐senschaften  ignoriert;  denn  die  Gedankenwelten,  die  in  diesem  Bereich entwickelt  werden,  können  eine  ungeheure  Kraft  entfalten,  die  Gesell‐schaftssysteme aufbauen und zertrümmern und Epochen prägen können.  Die vorliegende Aufsatzsammlung umfaßt 16 Aufsätze, die unterschied‐

liche Wege  zur Wissenschaft  und  zum  wissenschaftlichen  Denken  auf‐zeichnen. 

2   Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Tübingen 1991. 

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Einleitung der Herausgeber 13 

Hamid Reza Yousefi thematisiert in seinem Beitrag Struktur, Gegenstand und Aufgaben  der  interkulturellen  Philosophie,  die  er  als  eine  ›Wissen‐schaft des  Friedens‹  bezeichnet.  Sie  ist dem polyhistorischen Dialog  ver‐pflichtet  und weist  feudalistische Kommunikationsstrukturen  grundsätz‐lich  zurück. Der Verfasser  thematisiert  im Rahmen  der Debatte  um  den Heimatort der Philosophie  zwei  kontradiktorische  Sichtweisen: Während die  eine Richtung die Philosophie  ausschließlich  für  griechisch‐europäisch hält, und die Entstehung übriger Wissenschaften nur damit verbindet,  ist die andere Richtung der Ansicht, daß Philosophie per se interkulturell und somit nicht nur griechisch, sondern auch griechisch ist. Analoges gilt für die Entstehung  von Wissenschaften. Yousefi  plädiert  für  einen  theoretischen und praktischen Dezentralisierungs‐ und Differenzierungsprozeß, der dar‐auf hinaus  läuft, eine  ›Interkulturelle Historiographie der Philosophie‹ zu konzipieren. Die interkulturelle Philosophie stellt nach Yousefi keine neue Disziplin  neben  der  traditionellen  Philosophie  dar,  sondern  sie  versteht sich in der Hauptsache als ihr Korrektiv und ihre Erweiterung. Demzufolge bildet die Analyse von Phänomenen des Sozialen, des Politischen und des Kommunikativen einen zentralen Bereich der interkulturellen Philosophie. Sie räumt Frage‐ und Problemstellungen den Vorrang vor philosophischen Traditionen  ein  und  will  unterschiedliche  Denktraditionen  mit  ihren  je eigenen Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskurs‐beiträge zusammenbringen, um einen polyhistorischen Dialog auf gleicher Augenhöhe in Gang zu bringen. Regine Kather thematisiert die Vielfalt der Kulturen und der Verbunden‐

heit der Menschen. Der Prozeß der Globalisierung, der durch die moderne Technik eingeleitet wurde, zwingt nach der Auffassung der Autorin auch Philosophie und Theologie dazu, sich in einem interkulturellen Kontext zu verorten. Dabei  ist die Debatte, ob Kulturen  in  sich geschlossene Sprach‐spiele sind oder ob es zumindest einige wesentliche Überlappungen gibt, nach wie  vor  nicht  abgeschlossen.  Im  vorliegenden  Beitrag wird,  ausge‐hend  von  anthropologischen Überlegungen,  dafür  argumentiert,  die Ge‐meinsamkeiten  wieder  stärker  zu  betonen.  Selbst‐  und  Zeitbewußtsein gehören zur Grundausstattung des Homo  sapiens. Sie befähigen zu  exis‐tentiellen Erfahrungen, die philosophische Reflexionen und religiöse Sinn‐suche  ermöglichen. Die  Fähigkeit,  das  Erlebte  im Medium  symbolischer Formen auszudrücken, die historisch geworden  sind, erzeugt  jedoch eine 

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Einleitung der Herausgeber 14 

Verschiedenheit  in der  Interpretation. Dennoch  sind Menschen nicht nur Teil  der Kultur,  sondern  vermittels  ihres  Leibes  auch  Teil  der Natur.  In methodischer Hinsicht  zeigt  sich  hier, daß die  Interpretation  von Texten nicht  genügt,  um  eine Orientierung  für  die Zukunft  zu  finden.  Sie muß ergänzt werden durch Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, von Phänomenologie und Ethik. Vor allem  in Medizin und Ökologie zeichnen sich gemeinsame Interessen aller Menschen ab. Wie alle Lebewesen können auch  sie  nur  unter  bestimmten  physischen  Bedingungen  überleben,  die deshalb  einer  diskursiven  Problematisierung  entzogen  sind. Wenn Men‐schen  ihr  eigenes Leben  achten, müssen  sie  auch  Sorge  für  ihre Umwelt tragen, − um ihrer selbst willen und um der Würde der Kreatur willen. Vor diesem Hintergrund wird  zumindest  ein Kernbestand  kulturübergreifen‐der Werte erkennbar. Welche Wege zur Wissenschaft werden durch eine universalistische und 

moderat materialistische bzw. naturalistische Weltsicht nahe gelegt? Dies ist  die  zentrale  Frage  des  Beitrags  von  Christoph  Antweiler.  Im  Unter‐schied  zum  gegenwärtigen Mainstream  in  der  Ethnologie  und  anderen Kulturwissenschaften  argumentiert Antweiler  gegen  eine  konstruktivisti‐sche  Sicht,  zumindest, wenn  sie  als  konsequenter Konstruktivismus  auf‐tritt. Aus der monistischen Orientierung folgt, daß der Autor die Trennung von Natur‐ und Geisteswissenschaft ablehnt. Es wird gezeigt, wie Wissen‐schaft als ein  interkulturelles Unternehmen verstanden werden kann, das trotz der historisch besonders starken Ausbildung  in westlichen Kulturen nicht auf den Okzident beschränkt ist. Wissenschaft als methodisch geleite‐te und prinzipiell intersubjektive Erkenntnissuche reicht über Grenzen von Kulturen, Zivilisationen und  auch Geschlechtern  hinaus. Daran  anschlie‐ßend wird die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie als Wissenschaft cha‐rakterisiert, welche die Daseinsgestaltung von Menschen  in Gruppen und Netzwerken  in  einer  holistischen,  vergleichenden,  kulturrelativistischen und dabei erfahrungsnahen Weise untersucht. Diese ganzheitliche, kompa‐rative und  an der Handlungswirklichkeit von Menschen orientierte Aus‐richtung  impliziert eine tendenziell kritische Haltung gegenüber der eige‐nen Gesellschaft  und  gegenüber  euro‐ wie  auch  ethnozentrischen Denk‐weisen. Schließlich wird aufbauend auf empirischen Studien zu Rationali‐tät,  Entscheiden  und Wissen  in  verschiedenen  Gesellschaften  die  These vertreten,  daß  es  eine  universale  Form  von  alltagsbezogenem,  empirisch 

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Einleitung der Herausgeber 15 

basiertem und handlungsorientiertem Wissen gibt, das in allen Kulturen zu finden ist: lokales Wissen als einem sozialen Produkt. Ram Adhar Mall thematisiert die Stellung der Logik zwischen Epistemo‐

logie und Psychologie. Will man die nicht zu  leugnende Universalität des logischen Denkens konkret  in Verbindung bringen mit den unterschiedli‐chen Adjektiven – ob intra‐ oder interkulturell –, so kann dies nur gelingen, wenn man  eine monistische,  essentialistische Auffassung  der  Logik  ver‐meidet und die Universalität der Logik  in  Ihren unterschiedlichen kultur‐geschichtlichen Gestalten  in  konkreter  Form  herausarbeitet. Das  zentrale Anliegen des Verfassers versteht sich dementsprechend als Entwurf einer interkulturellen  Logik  unter  besonderer  Berücksichtigung  des  indischen Denkens: Eine Logik, die Angst  hat,  psychologisiert  zu werden,  fürchtet sich eigentlich vor  ihrer Anwendung  in Verbindung mit einer geläuterten Psychologie; und eine Logik, die sich  fürchtet, ein Teil der Epistemologie zu  werden,  hat  Angst,  neben  ihrer  Funktion  der  Erkenntnisgewinnung auch die Aufgabe der Erkenntniserfüllung mit zu bedenken. Wissenschaften sind für Werner Loh immanent von Entscheidungen mit 

ihren  logischen Verhältnissen − wie Widerspruch und Identität − geprägt. Haben Logiken selbst unterschiedliche Entscheidungsniveaus und welche Niveaus haben Einschätzungen dieser Logiken? Aus solcher Selbstreferen‐tialität kommt man nicht hinaus. Die Arbeit bietet einen Versuch, sich die‐ser komplexen Problemlage besonders  am Beispiel des Messens und der Klassischen Aussagenlogik zu nähern. Messen kann zum Ergebnis haben, daß man keine positive Lösung besitzt,  sondern  ein  Intervall  erwägbarer Alternativen,  die  nicht  zu  bewerten  sind.  Erwägen  von  Alternativen kommt  in  Oder‐Sätzen  zum  Ausdruck.  Diese  werden  traditionell  unter dem Titel  ›Disjunktion‹  in Logiken abgehandelt. Von Vertretern und Ver‐treterinnen  der  im  20.  Jahrhundert  dominant  gewordenen  Klassischen Aussagenlogik wird behauptet, mit  ihr  ließen sich Disjunktionen  formali‐sieren. Die Erörterung dieser Behauptung wird auf Entscheidungsniveaus hin reflektiert und führt zu dem Ergebnis, daß diese Behauptung unberech‐tigt  ist. Da weiterhin  erwogene Alternativen  im Widerspruch zueinander stehen, weswegen sie  für eine mögliche Auswahl bewertet werden, bleibt zu  prüfen,  inwiefern  die  Klassische  Aussagenlogik  als  eine  Basis‐Logik Widersprüche widerspruchsfrei zu formalisieren vermag. Auch diese Erör‐terung macht wieder ein geringes Entscheidungsniveau deutlich und führt 

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Einleitung der Herausgeber 16 

zu dem Ergebnis, daß die Klassische Aussagenlogik als System aufzugeben ist, weil sie zu einem Dilemma führt, das beide Male Widersprüche invol‐viert. Es wäre erforderlich, um Entscheidungsniveaus in den Wissenschaf‐ten  erforschen  und  anstreben  zu  können,  daß  entsprechende  Logik‐Forschungen  ermöglicht werden,  die  das Wirkliche  vom Möglichen  her approximativ begreifen lassen. Der Beitrag von Alexander Thomas  zeigt wie Wege  in die Psychologie 

aussehen können und wie der Autor den Weg  in die Psychologie und be‐sonders  in  das  Forschungsfeld  ›Psychologie  interkulturellen  Handelns‹ erlebt hat. Es werden die Besonderheiten der Psychologie als ein grundla‐genwissenschaftliches Fach und zugleich als ein anwendungswissenschaft‐liches Fach erläutert. Daraus ergibt sich die Bedeutung des Faches zur wis‐senschaftlichen  Bearbeitung  psychologischer  Aspekte  interkultureller Kompetenz. Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation zeigt sich in der Fähigkeit mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen so zu kom‐munizieren, daß die Resultate für beide Seiten zu akzeptablen Ergebnissen führen und der Weg dorthin zufriedenstellend verläuft. Die dabei wirksa‐men Prozesse betreffen die psychologischen Grunddimensionen wie Per‐zeption, Kognition, Emotion, Volition und Aktion in einer so kulturspezifi‐schen Weise wie es  im Alltagsleben der Partner nicht vorkommt. Auf die damit  zusammenhängenden  Anforderungen  an  die  psychologische  For‐schung unter kulturvergleichenden und interkulturellen Perspektiven wird ebenso eingegangen wie auf Defizite in der grundlagen‐ und anwendungs‐orientierten Forschung zur interkulturellen Kompetenzthematik. Peter Gerdsen  setzt  sich  in  seinem  Beitrag mit  verschiedenen Wissen‐

schaftskonzepten und Wissenschaftsrichtungen auseinander und charakte‐risiert  sie hinsichtlich der Entwicklung, der  zugrundeliegenden Denkfor‐men, der Methoden der Erkenntnisgewinnung, der zu erforschenden Ge‐genstände  und  der  geistigen  Blickrichtung. Die  Entstehung  der Wissen‐schaftskonzepte werden  zurückgeführt  auf  den  fundamentalen  Bewußt‐seinsumschwung,  der  am Ausgang  des Mittelalters  eine  starke  Entwick‐lungsdynamik  freisetzte. Ursächlich  für die neuen Wissenschaftskonzepte sind  das  protestantische Christentum  und  die Aufklärungsbewegung,  in der  sich  die  Strömungen  des  Humanismus  und  der  Renaissance  sowie säkularisierte  Früchte  des  Christentums  vereinigten. Die  Parallelität  von protestantischem Christentum  und Aufklärung  ruft  eine  kulturelle  Spal‐

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tung und als Folge davon zwei Wissenschaftsrichtungen hervor: inspiriert durch das Christentum die mathematisch orientierten Naturwissenschaften und  inspiriert  durch  die Aufklärung  die  humanistisch‐literarischen Wis‐senschaften,  für  die  auch  der  Begriff  Geisteswissenschaften  steht.  Auf Grund  der  großen  Erfolge  strahlen  die Naturwissenschaften  hinsichtlich ihrer Methodik weit in die Geisteswissenschaften hinein und geben diesen eine materialistische Färbung. Von den Naturwissenschaften  spalten  sich die Ingenieurwissenschaften ab, die sich hinsichtlich ihrer Gestaltungskraft als geistige Weltmacht erweisen. Die Ursache dafür findet der Verfasser in einer durch die spezifische Methode begründeten Transformation der bei den Naturwissenschaften  zunächst  vorhandenen  reinen  Erkenntnisorien‐tierung  in  eine  Handlungsorientierung.  Die  besonderen  Merkmale  der Ingenieurwissenschaften  im Verhältnis  zu den Naturwissenschaften wer‐den auf dem Hintergrund von Bildern der griechischen Mythologie deut‐lich gemacht. Am Ende seines Beitrags weist der Verfasser darauf hin, daß es zwischen den unverbunden nebeneinanderstehenden Natur‐ und Geis‐teswissenschaften einen bemerkenswerten Berührungspunkt gibt. Klaus  Fischer  geht von der Lehrbuchform des wissenschaftlichen  Fort‐

schritts  aus. Diese  nimmt  an,  daß  die Anstöße  für  die  Entwicklung  der Wissenschaft von ›objektiven Problemkonstellationen‹ kommen. Hypothe‐sen werden getestet durch Konfrontation mit Tatsachen. Spezifische Motiv‐lagen, persönliche  Idiosynkrasien, kultureller oder  religiöser Hintergrund der  Beteiligten,  Sozialisation,  besondere  Erfahrungen  und Wahrnehmun‐gen, die ›Zufälle des Lebens‹ sollten dabei allenfalls als Störvariablen wir‐ken, die sich im statistischen Mittel ausgleichen und daher keine systemati‐sche Wirkung  auf den Fortgang der Wissenschaft haben. Betrachtet man die  Biographien  bedeutender  und  weniger  bedeutender Wissenschaftler und Naturforscher, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Annahme  falsch  ist.  Jedes Forscherleben erweist  sich als einzigartig im  komplexen Zusammenwirken  seiner Komponenten.  In  nahezu  jedem Fall gibt es unvorhersehbare Ereignisse, die die Richtung des Lebens und der Forschung verändert haben, zufällige Begegnungen, die dem Denken eine  neue Wendung  gegeben  haben,  Erlebnisse  in  frühen  Tagen,  die  im Rückblick  eine  entscheidende  motivationale  Wirkung  gehabt  zu  haben scheinen oder eine wichtige Weiche gestellt haben. Doch wenn das einzel‐ne Forscherleben  erratisch, unprognostizierbar, durch Zufälle geprägt  ist, 

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wie  plausibel  bleibt  dann die Vermutung,  daß  ›die Wissenschaft‹  davon nicht  berührt  wird,  ist  sie  doch  das  Ergebnis  des  Zusammenspiels  der Handlungen  und  Ergebnisse  der  vielen  zufallsgesteuerten Akteure. Was wir über chaotische Prozesse, Attraktoren und die großen Wirkungen klei‐ner Effekte wissen, legt die Vermutung nahe, daß die Wissenschaft und der von  ihr beeinflußte Teil der Welt schon bei kleinen Veränderungen  in ge‐wissen Konstellationen eine ganz andere Entwicklung hätte nehmen kön‐nen. Rainer N. Zahlten  thematisiert  in  seinem Beitrag Wissenschaft als  ›eine 

Lehre  von der Wahrnehmung und  vom Denken, und die Angst  vor der Entzauberung der Welt‹. Als sich die frühen Menschen ihre anthropomor‐phen Götterwelten schufen, begannen sie im Kontext der sie umgebenden Natur ihre Existenz zu hinterfragen: die Geburt der Wissenschaft. Über die Jahrtausende  führte  dieser  Drang  zum  Verstehen‐wollen  schließlich  zur Wissenschaftsphilosophie  und  zu Wissenschaftstheorien,  deren  unmittel‐barer  Einfluß  auf  die Wissenschaftspraxis  aber  hinterfragt werden  kann. Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte zeigen die  Interkulturalität und Globalität  des Wissenschaftsgeschehens.  Im  autobiographischen  Kontext wird ein Weg zur Naturwissenschaft beschrieben, der von Neugier, Chan‐cen, Lustgewinn und Vorbildern geprägt  ist.  In den Naturwissenschaften ist das Verständnis  evolutionärer Entwicklung und  ihrer Regeln das Wi‐derspiegeln von Zufall und Gesetz, die als wichtige Voraussetzung wissen‐schaftlichen  Denkens  und wissenschaftlicher Wahrnehmung  gelten.  Das Wissen der Naturwissenschaften expandiert in der heutigen globalisierten Welt  exponentiell  in nie  erfahrenen Dimensionen durch  ›in Echtzeit‹ ver‐netzte Kommunikation parallel geschalteter Gehirne, die nicht nur die Effi‐zienz,  sondern  auch die Methoden und die  Interpretation wissenschaftli‐cher Ergebnisse kontinuierlich kritisch optimieren. Globale wissenschaftli‐che Netzwerke  repräsentieren  selbst  organisierende  Systeme  ähnlich den neuronalen Netzwerken des Gehirns. Die Angst vor der Entzauberung der Welt ist allgegenwärtig und anti‐wissenschaftliche Emotionen ihr Resultat. Vermehrte politische Einflußnahme auf die wissenschaftlichen Rahmenbe‐dingungen, oft  ideologisch geprägt, gefährdet die Zukunft der  freien wis‐senschaftlichen Forschung. Harald Atmanspacher ist der Ansicht, daß in vielen Wissenschaften theo‐

retische  Arbeit  von  anderen  Vorgehensweisen  unterschieden  wird,  die 

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numerisch,  empirisch  oder  angewandt  orientiert  sind. Die  Fruchtbarkeit wissenschaftlicher  Tätigkeit  hängt  letztlich  entscheidend  von  einem  aus‐gewogenen Wechselspiel  dieser Gesichtspunkte  ab.  In  jüngster  Zeit  tritt allerdings  im  Selbstverständnis mancher Wissenschaftsbereiche die Rolle theoretischer Arbeit  zunehmend  zugunsten  von  anderen,  zum Teil  sach‐fremden Erwägungen (wie etwa Aufmerksamkeit seitens der Medien und Wirtschaft) in den Hintergrund. Theoretische Arbeit wird in solchen Fällen oft mißverstanden, und als Folge davon wird  ihre Tragweite und Bedeu‐tung  unterschätzt.  Atmanspacher  steht  dieser  Tendenz  entgegen.  Dabei beschreibt und analysiert er zunächst historische Fallstudien  theoretischer Arbeit in der Physik und Astronomie sowie der Biologie und Psychologie. Anschließend unterzieht er die gegenwärtige Situation  in den Kognitions‐ und Neurowissenschaften einer Kritik, die auf aktuelle Fehlentwicklungen hinweist.  Schließlich  skizziert  er  einige Beispiele, die  andeuten, wie  zeit‐gemäße theoretische Arbeit in diesen Bereichen aussehen kann. Erkenntnis‐ und wissenschaftstheoretische Aussagen  sind nur möglich  auf dem Hin‐tergrund  einer  langen   methodischen Reflexionsgeschichte,  in die  immer wieder auch vor‐ und außerwissenschaftliche Überzeugungen eingeflossen sind. Was heute gesagt werden kann – und muß –, ist ohne diese Geschich‐te nicht zu denken. Diese zeigt zugleich, daß auch heutige Positionen zum einen (meist unbemerkt) ebenfalls von nicht‐reflektierten Voraussetzungen ausgehen können, zum anderen eine Art von Momentaufnahmen sind, die im  Fluß  der weiter  laufenden  Geschichte  stehen. Dies  gilt  auch  für  die Möglichkeit  und Grenzen  ›religiöser‹ Aussagen. Der  vorliegende  Beitrag versucht zunächst  in Kürze die zentralen Entwicklungsschritte der Religi‐onsgeschichte  und  ihrer Wahrheitsbehauptung  aufzuzeigen. Danach  soll die  Geschichte  im  ›europäischen‹  und  christlichen  Kulturraum  seit  der Antike im Mittelpunkt stehen, in der auf Grund besonderer Gegebenheiten die  erkenntnistheoretischen  Fragestellungen wie  in  keinem  anderen Kul‐turraum problematisiert wurden. Es wird versucht, den Gang der Diskus‐sionen  um  die Möglichkeit,  die Grenzen  und  die  Begründung  religiöser (und metaphysischer) Aussagen wenigstens  fragmentarisch zu skizzieren. Auf diesem Hintergrund  ist das zu verstehen, was die  ›kritische Wende‹ seit der Aufklärungszeit gebracht hat, die nicht mehr rückgängig gemacht werden  kann.  Trotz  aller möglichen weiteren  Entwicklungen  scheint  die These, daß alle Erkenntnis, auch religiöse, auf die Welt und die Geschichte 

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als  ihre einzigen ›Gegenstände‹ beschränkt  ist,  in der Grundaussage nicht revidierbar  zu  sein. Welt  und Geschichte werden  in Religionen    auf die menschliche  Sinnfrage  hin  interpretiert  und  bringen  damit  eine  humane Dimension zu Gehör, die in den Einzelwissenschaften nicht von selbst auf‐scheint. Wolfgang H. Pleger thematisiert zwei ›Wege zur Wissenschaft‹: Den ge‐

schichtlichen und den anthropologischen. Unter der geschichtlichen Frage‐stellung wird der Übergang  ›Vom Mythos  zum Logos‹ behandelt, der  in Griechenland im 6. Jh. v.u.Z. einsetzt. Er ist zu verstehen als eine Versachli‐chung eines personalen Weltverständnisses, wie es für den Mythos charak‐teristisch  ist. Die maßgeblichen Wissenschaftler, die diese Revolution des Denkens  herbeiführten, waren  nach Pleger Thales, Anaximander, Anaxi‐mens, Pythagoras und Heraklit im Bereich der Naturphilosophie und Phy‐sik,  Herodot  und  Hippokrates  in  den  Bereichen  Geschichtswissenschaft und Medizin.  In  der  anthropologischen  Perspektive wird  als Vorausset‐zung  einer wissenschaftlichen Einstellung die Kompetenz von Menschen angenommen, zu den Dingen ein sachliches Verhältnis einnehmen und sie damit  zum Gegenstand  einer  theoretischen Betrachtung machen  zu  kön‐nen. Mit dieser Kompetenz  einher  geht die,  zu  sich  selbst  ein  sachliches Verhältnis gewinnen zu können. Damit wird der Mensch zur Person. Per‐son ist nach Pleger der Ausdruck des Selbstverständnisses eines Menschen, in dem das Ich sich auf sein Selbst reflektierend zurückbezieht. Wesentliche Überlegungen hierzu finden sich bei Helmuth Plessner. Abschließend wer‐den einige Überlegungen zum Verhältnis von ›Erkennen und Wissen‹ und zu dem von ›Wissenschaft und Philosophie‹ vorgetragen. Lutz Geldsetzer,  dem  der  vorliegende  Band  zu  seinem  70. Geburtstag 

gewidmet ist, geht davon aus, daß systematische Philosophie und Philoso‐phiegeschichte zwei Schwerpunkte von Forschung und Lehre des Faches Philosophie  sind.  Im Verhältnis  beider  zueinander  kommen  jedoch  zwei verschiedene hermeneutische Methodologien zum Tragen. Die eine ist die von Geldsetzer sogenannte zetetische (forschende), die andere die dogma‐tische Hermeneutik.  Sie  unterscheiden  sich wesentlich  hinsichtlich  ihrer Zielsetzung und ihrer Regeln (Kanons). Um was es sich dabei handelt und welche  Kriterien  für  das  zetetische  und  das  dogmatische  Verstehen  der philosophiegeschichtlichen  Gegenstände  gelten,  soll  zunächst  näher  ge‐zeigt werden. Daran  schließt  er  einige Folgerungen  für den Umgang mit 

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der Philosophiegeschichte an. Sie wird einerseits als dogmatisches Ideenar‐senal für die systematische Philosophie benutzt und angewandt, was man ihre dogmatische Funktion nennen kann. Andererseits wird sie unter dog‐matischer Benutzung  systematischer philosophischer Schulgesichtspunkte zum Gegenstand genuin historischer Forschung. Einige Beispiele aus der Praxis sollen dies näher erläutern. Eva Eirmbter‐Stolbrink, die auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung ar‐

beitet,  thematisiert  den  Wissenschaftscharakter  der  Erziehungswissen‐schaft. Dabei stellt sie fest, daß die Erziehungswissenschaft  im Verlauf  ih‐rer  Entwicklung,  in  der  sie  ›von  der  Pädagogik  zur  Erziehungswissen‐schaft‹  gelangen  sollte,  problematisch  geblieben  ist.  Ihre  geisteswissen‐schaftlich‐praxeologische Ausrichtung  hat  sie  daran  gehindert,  zu  eigen‐ständigen  Fragestellungen  und  zu  disziplinären  Erkenntnissen  zu  gelan‐gen.  Die  Entwicklung  der  Erziehungswissenschaft wird  seit  Beginn  der Bildungsexpansionsphase  in  den  siebziger  Jahren  des  vergangenen  Jahr‐hunderts nachzuzeichnen versucht. Das Studium des Faches in dieser Pha‐se  war  an  der  Rezeption  der  pädagogischen  Ideengeschichte  mit  ihren Denk‐ und Ordnungsfiguren und zugleich an der empirisch‐analytischen Betrachtung  der  Erziehungswirklichkeit  orientiert.  Die  aktuell  gegebene Wissensgesellschaft wird für die Frage der Bildung und des Lernens in ihr als  eine  Herausforderung  an  eigenständige  erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse betrachtet. Diese Eigenständigkeit bedarf der Reflexion diszi‐plinärer Grundfiguren. Ein Vergleich älterer und aktueller Einführungen in die Erziehungswissenschaft verweist auf die Problematik der Erziehungs‐wissenschaft angesichts ihres Verlustes an disziplinären Ordnungsfiguren. In  dem  autobiographisch  gehaltenen  Beitrag  erläutert Dieter  Senghaas 

seine  Sozialisation  in  die wissenschaftliche  Auseinandersetzung mit  der Friedensproblematik  seit den  frühen  1960er  Jahren. Diese begann mit  ei‐nem allgemeinen Interesse an einer Analyse von internationaler Politik und internationalen Beziehungen mit der  Fokussierung  auf die  seinerzeit do‐minante  weltpolitische  Konstellation,  den  Ost‐West‐Konflikt  samt  Ab‐schreckungsstrategien.  Diese  Orientierung  erweiterte  sich  auf  Fragestel‐lungen  von  Weltwirtschaftsordnung  und  Entwicklungspolitik  und  eine sich daran anschließende Erörterung der Konfliktformationen im internati‐onalen  System  insgesamt.  Eine Reorientierung  fand  in Reaktion  auf  den weltpolitischen Umbruch 1989/90 statt: Eine politisch offene Konstellation 

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machte  konstruktive  Ansätze  der  Friedensgestaltung  erforderlich.  Diese Ausrichtung  führte  schließlich  zur  Formulierung  einer  eigenständigen Friedenstheorie, deren Kern  im  sogenannten  „zivilisatorischen Hexagon“ besteht. Darin wird Frieden als  ein Zivilisierungsprojekt verstanden, auf‐bauend auf einem sechsfach ausgerichteten kollektiven Lernprozeß. Dieter Senghaas  betont die Wichtigkeit  einer  erfahrungswissenschaftlichen  Fun‐dierung  von  Realanalyse,  die  nicht modischen  Paradigmen‐Strömungen folgt, sondern ihre theoretische und konzeptuelle Selbstdisziplinierung im Verlaufe von Sachanalyse gewinnt. Diese Orientierung aus eigener Erfah‐rung  begreift der Autor  als Gegengift  gegen Dogmatismus und postmo‐derne Beliebigkeit. Im  Beitrag  von Harald Walach wird  ein Wissenschaftsbegriff  aus  der 

Sicht und  langjährigen Erfahrung  eines vor  allem mit wissenschaftlichen Grenzfragen befaßten Forschers  skizziert. Wissenschaft wird vom Verfas‐ser entgegen eines verbreiteten naiv‐dogmatischen Verständnisses nicht als geschlossenes  Regelsystem,  sondern  als  notwendig  offener  und  wand‐lungspflichtiger Prozeß verstanden. Kritik wird als wesentliches Merkmal von Wissenschaft hervorgehoben, die vom Verfasser nicht als fertiges Sys‐tem,  sondern  als  ein  zutiefst  sozialer Prozeß  gesehen wird: Wissenschaft wird als ein kollektives Spiel verstanden, das seine Regeln durch das Spie‐len  selber  erfindet,  verändert  und  dadurch  das  eigene Gepräge  laufend anpaßt.  Gute Wissenschaft  wird  als  die  institutionalisierte  Unsicherheit verstanden. Wissen kann kumulativ sein, indem es sich durch Kritik diffe‐renziert, Neues  entdeckt,  neue Hinsichten  auf  alte  Tatbestände  entfaltet und Bereiche  integriert, die vorher nicht denkbar waren, weswegen  eine dogmatische Wissenschaftsauffassung  als  einziger  Feind  von  echter Wis‐senschaft und wirklichem Wissen zu betrachten  ist. Der Verfasser vertritt die Ansicht,  daß  Phänomene  vor  Theorien  gehen,  auch wenn  die merk‐würdige Dialektik  nicht  abgestritten werden  kann,  daß  Phänomene  nur durch die Brille einer guten Theorie wahrgenommen werden können. Ab‐schließend wird die Denkfigur der Komplementarität als wissenschaftsthe‐oretisches Integrationsprinzip vorgestellt. 

Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der  jeweiligen  individuellen 

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Präferenzen  unserer Autoren  und Autorinnen  verzichtet. Auf  vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie facettenreich We‐ge zur Wissenschaft sind.  

Die Herausgeber Trier, Koblenz und Hamburg 

  

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Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des Friedens 

von Hamid Reza Yousefi 

Einleitende Gedanken Der Ausdruck ›Wege zur Wissenschaft‹ weist auf die Pluralität differieren‐der Geschichten, Sichtweisen, Zugänge und methodischer Ausrichtungen und solchen hin, die sich ergänzen, überlappen oder bekämpfen. Er zeigt ferner, daß keiner dieser Wege  sich  in den  absoluten Stand  setzen kann, was häufig getan wird. Der  interkulturelle Weg der Philosophie als einer Wissenschaft des Friedens ist eine denkerische Tätigkeit, mit einem dialog‐theoretischen  und  dialogpraktischen  Charakter  auf  der  Grundlage  einer empirisch‐hermeneutischen  Methode.  Interkulturelle  Philosophie  blickt nach Außen, und zwar nach allen Seiten, und fragt nach den Konsequen‐zen  solcher Betrachtungsweisen  für die Zielsetzungen  im  Inneren. Sie  ist darauf  ausgerichtet, den Vertretern unterschiedlicher Weltanschauungen, Kulturen,  Religionen,  Philosophien  und  Wissenschaftskonzeptionen  die Wahrnehmung  der  jeweils  anderen  auf  gleicher Augenhöhe  zu  ermögli‐chen und das Gespräch mit diesen anderen mit Gewinn für alle Beteiligten und ohne Gewalt  jedweder Struktur gelingen zu  lassen. Hier geht es um eine neue Kultur des Philosophierens. Davon nicht zu trennen sind naturgemäß die Fragen, welche Hindernisse 

sich einer friedlichen Begegnung und einem konstruktiven Austausch zwi‐schen  den Kulturen, Denksystemen  und Wissenschaftskonzepten  in  den Weg  stellen, welche Beschaffenheit diese Hindernisse haben, was  sie  be‐dingt  oder wer  sie  zu welchen Zwecken  konstruiert  (hat), woran  sie  zu erkennen und wie sie möglicherweise zu überwinden sind.1 Insofern räumt interkulturelle  Philosophie  Frage‐  und  Problemstellungen  Vorrang  vor 

1   Macht  ist ein zentrales Hindernis  jeder Form von  interkultureller Ausrichtung, 

auf die im Kontext des vorliegenden Beitrags nicht eingegangen werden kann. 

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26 Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des Friedens

philosophischen Traditionen ein. Sie läßt sich am besten als ein auf keinen Abschluß und kein bestimmtes Ergebnis gerichteten Prozeß im Bewußtsein einer  stets  ›orthaften Ortlosigkeit der Philosophie‹2 begreifen, welche der Einsicht  verpflichtet  ist,  daß  Philosophen  den Werten  und  Selbstbildern ihrer Heimatländer nolens volens verhaftet bleiben, Philosophien vom Zeit‐geist  und Ort  ihrer  Entstehung mitbestimmt werden,  Philosophieren  an sich jedoch überall und jederzeit möglich war, ist und bleiben wird. Es ist ein geschichtsträchtiges und wirkungsmächtiges Vorurteil, daß nur 

die griechisch‐europäische Tradition den Weg der ›Philosophie‹ und ›Wis‐senschaft‹ geebnet und den gesamtmenschlichen Geist in eine kritische und rationale Dimension erhoben habe. Wer nach diesem Muster »denkt, denkt griechisch,  auch wenn  er  es gar nicht vermutet«  (Jacqueline de Romilly). Die Entstehung der Philosophie und Wissenschaft ausschließlich mit Grie‐chenland  zu  verknüpfen,  läßt  unweigerlich  das  Bild  des  chinesischen Brunnenfrosches aufkommen, der seine Weltsicht hypostasiert und verab‐solutiert. Das ist die traditionelle Philosophie. Die Fundamente der europäischen Philosophie und Wissenschaft gehen 

zweifelsohne auf die griechische Tradition zurück, die viele Elemente an‐derer,  nichteuropäischer  Traditionen  übernommen  hat.  Diesem  Kultur‐raum  jedoch  eine  führende  Stellung  gegenüber den  anderen Traditionen einzuräumen,  stellt  eine  einseitige  und  ausschließlich  vom  europäischen Standpunkt ausgehende Betrachtungsweise dar, die durch Dominanz der Macht universalisiert und indoktriniert worden ist. Philosophie essentialis‐tisch aufzufassen oder sie nur unter bestimmten Bedingungen als relevant erklären  zu  wollen,  widerspricht  dem  Kern  philosophischer  Reflexion selbst.  In  diesem  Sinne  verwendet  Ninian  Smart  »den  Begriff  ›Philoso‐phien‹  im Plural;  etliche Philosophen des Westens nehmen dagegen den Singular, weil  sie sich nur auf eine Art der westlichen Philosophie bezie‐hen«.3 

2   Vgl.  hierzu Yousefi, Hamid Reza u.a.  (Hrsg.):  ›Orthafte Ortlosigkeit  der Philoso‐phie‹. Eine interkulturelle Orientierung: Festschrift für Ram Adhar Mall zum 70. Geburtstag, Nordhausen 2007. 

3  Smart, Ninian: Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Mensch‐heit, Darmstadt 2002 S. 15. 

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Die Frage nach der Heimat der Philosophie Diesem Grundsatz  zufolge gibt  es  eine  reine,  eigene Philosophie  ebenso‐wenig wie  es  eine  reine,  andere Philosophie gibt. Philosophie kennt ver‐schiedene Wege und trägt unterschiedliche Namen.4 Die regulative Einheit der einen ›philosophia perennis‹ ist kompatibel mit der Vielfalt ihrer kon‐kreten kulturellen Gestalten. Es  ist »die philosophia perennis, welche die Gemeinsamkeit  schafft,  in der die Fernsten miteinander verbunden  sind, die Chinesen mit den Abendländern, die Denker vor 2500  Jahren mit der Gegenwart«5.  In  ihr  ist alles mit allem verbunden. Sie gibt es nicht  in der Gestalt  eines  systematischen Bestandes  von Erkenntnissen, die  für  jeder‐mann  gelten  und  zwingend  eingesehen werden  können. Wer  glaubt,  in welchem Kontext auch immer, »die philosophische Wahrheit liege vor und brauche nur gelernt zu werden, wird nie zur Philosophie kommen.«6 Die Idee der ›Philosophia perennis‹ geht dem Philosophiebegriff grund‐

sätzlich voraus. Die Akzeptanz dieser Prämisse  ist  ein Schlüssel zu  einer universalen und friedensorientierten Kommunikation, die der dialogischen Konzeptualisierung einer Weltgeschichte der Philosophie das Wort  redet. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein  spielen  in der Formung persönlicher, kultureller und sozialer Identität eine wesentliche Rolle. Auch jeder historische Prozeß ist ein Faktor der ›philosophia perennis‹, »um die alle Philosophien kreisen und die niemand besitzt, an der  jeder eigentlich Philosophierende  teilhat und die doch nie die Gestalt eines  für alle gülti‐gen, allein wahren Denkgebäudes gewinnen kann«7. Damit soll gesagt sein, daß ›philosophia perennis‹ keine Vorurteile kennt, keinen Ort privilegiert, keine Tradition hat und keine Sprache als ihre Muttersprache spricht8. Phi‐losophie bedeutet »die Weise, wie der Mensch sich des Seins der Welt und 

4   Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza u.a.  (Hrsg.): Wege zur Philosophie. Grundlagen 

der Interkulturalität, Nordhausen 2006. 5  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß hrsg. v. 

Hans Saner, München 1982 S. 56. 6  Ebenda, 1982 S. 60. 7   Jaspers, Karl: Was  ist Philosophie. Ein Lesebuch, hrsg. v. Hans Saner, München 

21997 S. 193. 8   Vgl. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philo‐

sophie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1995 S. 7. 

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seiner selbst bewußt wird und wie er aus diesem Bewußtsein  im Ganzen lebt. Daher ist Philosophie so alt wie der Mensch«9. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Inder, ein Chinese, ein 

Grieche und ein Araber  stritten darüber, was sie als Nachtisch zum Käse kaufen wollten. Der  Inder wollte  ›angur‹  kaufen,  der  Chinese  hingegen ›pútaó‹; während der Grieche auf den Kauf von ›stafil‹ bestand, wollte der Araber nicht auf  ›inab‹ verzichten. Weil sie sich nicht verständigen konn‐ten, gingen sie zu einem Übersetzer, der aller vier Sprachen mächtig war. Er wurde damit beauftragt, ›angur‹, ›pútaó‹, ›stafil‹ und ›inab‹ zu kaufen. Nachdem der Übersetzer zurückkam, freuten sich die Streitparteien;  jeder hatte das, was er wollte, nämlich Weintrauben. Daß die Streitparteien nun wissen,  daß Weintrauben  in  jeder  Sprache  anders  heißen,  braucht  nicht besonders erwähnt zu werden. Wenn die Streitparteien nach dem Begriff der Philosophie fragen, so er‐

halten  sie wiederum  vier  verschiedene,  aber  im  Kern  gleichbedeutende Ausdrücke. Arbeitet man universalhistorisch, so ist man auf weiten Gebie‐ten  auf Übersetzungen  angewiesen,  da  niemand  alle  Sprachen  kennt,  in denen philosophiert wurde und wird. Philosophisches Denken geht immer dem Philosophiebegriff voraus. Man kann beispielsweise »von Mathema‐tik« nicht dort »sprechen, wo man dafür ein Fachwort geprägt hat.«10 

Kontroverse im Altertum Die Frage nach dem Geburtsort der Philosophie hat eine  lange Tradition, die sich bis  ins  ›europäische Altertum‹ zurückverfolgen  läßt. Der syrische Satiriker Lukian (um 120‐180 n.u.Z.) beschäftigt sich in seinem Dialog ›Die entlaufenen Sklaven‹ mit dem Ursprung, dem Inhalt und dem Begriff der Philosophie, wobei Lukian außereuropäische Philosophien bevorzugt und den Geburtsort der Philosophie nach Persien und Indien verlegt. Jupiter, Merkur,  Herkules,  die  Philosophie,  Orpheus,  die  Entlaufenen 

und ihre Herren sowie ein Ehepaar kommen hier zu Wort. Er läßt die Phi‐losophie selbst reden: »Mein erster Ausflug war nicht zu den Griechen. Ich hielt es für schicklicher, mich sogleich an die schwerste Arbeit zu machen 

9  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie,1982 S. 105. 10  Holenstein, Elmar: Philosophie‐Atlas: Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004 S. 

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und vors erste die Barbaren  in meine Zucht zu nehmen.  Ich ging also die Griechen vorbei, die ich viel leichter zu bemeistern und gar bald an meinen Zaum zu gewöhnen hoffte, und eilte zuerst zu dem größten Volke des Erd‐bodens,  den  Indern,  die  ich mit  ziemlich  leichter Mühe  überredete,  von ihren Elefanten herabzusteigen und sich zu mir zu halten: kurz, ich brachte es  so weit,  daß  die  Brachmanen,  eine  zwischen  den Nechräern  und O‐xydrakern wohnende glückselige Menschenrasse, ganz nach meiner Vor‐schrift leben und deswegen bei allen ihren Nachbarn in besonderem Anse‐hen stehen; wie sie denn auch eine sehr seltsame Art aus der Welt zu gehen haben«11. Beim anschließenden Besuch bei den Griechen  soll die Philoso‐phie  anfangs  »ziemlich  kaltsinnig  empfangen«12 worden  sein. Außer  bei ›sieben Lehrjüngern‹ habe sie in Griechenland kein Echo gefunden, da dort das Geschlecht der Sophisten aufgeblüht sei, »Leute, die, ohne tief genug in meine Lehren  einzudringen, um  ihren Geist und Zweck  zu  fassen, doch sozusagen  einerlei  Ton mit mir  hielten  […],  nicht  ganz  unwissend,  aber ebensowenig  fähig, mich  scharf  ins Auge zu  fassen  […] und  […] nur ein undeutliches, halb verblichnes Gespenst und Schattenbild von mir erblick‐ten«13. Der griechische Historiker Diogenes Laertius (um 2.‐3. Jh. n.u.Z.) hinge‐

gen übt  implizit Kritik an Lukian und verlegt den Ursprung der Philoso‐phie  zu  den  Griechen.  Er  verfaßte  die  vollständig  erhalten  gebliebene Schrift ›Leben und Meinungen berühmter Philosophen‹, in der viele Philo‐sophen des Altertums zur Darstellung kommen. Im ersten Band beschäftigt sich Diogenes mit  dem  Inhalt  und Ursprung  des  Begriffs  ›Philosophie‹. Dort heißt  es, die Entwicklung der Philosophie habe  ihren Anfang nicht, ›wie manche behaupten‹,  in  Indien und Persien genommen. Zwar hätten die Perser ihre Magier, die Babylonier und Assyrer ihre Chaldäer und die Inder ihre Gymnosophisten gehabt, aber »indes man täuscht sich und legt fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen 

11  Lukian: Die entlaufenen Sklaven, in: Werke in drei Bänden (Übers. von Christoph 

Martin Wieland), hrsg. v.  Jürgen Werner und Herbert Greiner‐Mai, Bd. 2, Wei‐mar 1981 (49‐64), S. 51 f. 

12  Ebenda, S. 52. 13  Ebenda, S. 53.