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Esther Schulz-Goldstein

DIE SONNE BLIEB STEHEN Seyfo, Mets Yerern, Sphagi Xerisomos, –

die Völkermorde unter Abdul Hamid, Kemal Atatürk und dem „Derin Devlet“

BAND 1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie . Detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern sehen,

fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger

und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2013 novum publishing gmbh

ISBN 978-3-99026-916-9Lektorat: Dr. phil. Ursula SchneiderUmschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.

www.novumverlag.com

w w w . n o v u m v e r l a g . c o m

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Gewalt in einer traditionellen Gesellschaftsformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271.1 Die Gewalt aus den Stammeskulturen . . . . . . . . . . . . . . 281.2 Gewalt im türkischen Herrscherhaus . . . . . . . . . . . . . . . 341.3 Gewalt in der osmanischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 401.4 Folter als Sozialisationsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431.5 Die Gewalt ist legalisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441.6 Der Islamismus mündet im Djihad . . . . . . . . . . . . . . . . 481.7 Der Verlust der osmanischen

Identität und des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

2 Das kleinasiatische Christentum . . . . . . . . . . . . . . . 602.1 Kleinasien als Wiege des Christentums . . . . . . . . . . . . . 612.2 Die Gottesbildkonstruktionen

der kleinasiatischen Christenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 642.3 Die armenische Nationalkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692.4 Die beginnenden Massaker an den Christen . . . . . . . . . . 712.5 Der Acheron fängt an zu schäumen . . . . . . . . . . . . . . . 862.6 Die Befehle zum Völkermord

im Echo der Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942.7 Die Massaker münden im Genozid . . . . . . . . . . . . . . . 1002.8 Die psychologische Kriegsführung im I. Weltkrieg . . . . . . 110

3 Die neue Identitätspolitik bei der Gründung der türkischen Republik . . . . . . 1203.1 Eine neue Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203.2 Der ausgegrabene Vater der Türken . . . . . . . . . . . . . . . 1293.3 Die türkische Fahne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343.4 Die türkische Nationalhymne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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4 Charismatische Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1444.1 Die religiösen Wurzeln des Personenkultes . . . . . . . . . . . 1444.2 Die Ausformung des Mythos Mustafa Kemal . . . . . . . . . 1474.3 Der Kriegseintritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1754.4 Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches . . . . . . . 1844.5 Der Krieg ist aus und Kemal

im Vakuum der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1984.6 Die Bilanz der Jungtürken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2024.7 Die Unschuld der Täter und die „Wiedergeburt“ . . . . . . 2034.8 Mustafa Kemals Stern beginnt zu leuchten . . . . . . . . . . 2084.9 Mustafa Kemal, der Henker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2114.10 Die Ignoranz der europäischen Besatzungsmächte . . . . . 2194.11 Mustafa Kemal, der Warlord in Ostanatolien . . . . . . . . 2244.12 Kemals Inszenierungskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2274.13 Mustafa Kemal wird Vorstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2314.14 Leninustafa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2364.15 Das Chamäleon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2384.16 Mit einer Wahl und einem Massaker an die Macht . . . . 2414.17 Der Dschihadist Mustafa Kemal gewinnt . . . . . . . . . . . 2474.18 Die Opposition wird ausgerottet . . . . . . . . . . . . . . . . . 2544.19 Das Spiel mit den Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2594.20 Der Massenmörder am Schreibtisch . . . . . . . . . . . . . . . 2614.21 Das jungtürkische De-facto-Recht . . . . . . . . . . . . . . . 2644.22 Das ungläubige Izmir wird homogenisiert . . . . . . . . . . 2694.23 Die Entente anerkennt den Henker als Staatsmann . . . . 2744.24 Das Ende des Sultans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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5 Die Türkisierung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2865.1 Der Ethnozid im osmanischen Rumpfreich . . . . . . . . . . . 2865.2 Der nationale Größenwahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2935.3 Die Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3095.4 Die Türkei feiert den Friedensvertrag von Lausanne . . . . 3125.5 Der Volkserzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3155.6 Kemal als Ideologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3235.7 Der türkische Deus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

6 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

7 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

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Einleitung

Die Autorin wanderte seit 1967 öfters durch Anatolien und er-lebte die warmherzige Gastfreundschaft der Zaza1, der Kurden, der Armenier, der Araber, der Tscherkessen, der Lazen und syri-schen Christen . Sie alle waren türkische Staatsbürger . Als die Au-torin im Jahre 1980 – während des Militärputsches – in Dalyan an der Küste der Westtürkei zusehen musste, wie ein alter Mann von einem jungen Soldaten fast totgeknüppelt wurde, schwor sie, dieses Geschehen öffentlich zu machen . In dieser ohnmächtigen Situation entschloss sie sich, vor Ort die Geschichte Kleinasiens unter dem Blickwinkel von Gewalt und Barbarei zu erforschen .

Sie stieß in den Sprachen der Griechen, Syrer, Armenier und Zaza auf Begriffe, die die Barbarei umschrieben . In Zazaki heißt Völkermord „Schwarzer Tag“2, im Griechischen das „Massaker“3, im Armenischen das „große Verbrechen“4, im Aramäischen „Schwert der Vernichtung“5 . Die Begriffe benennen den in der UN-Geno-zidkonvention aufgezählten Straftatbestand des Völkermordes .

Sie fand in einem deutschen Archiv einen Bericht vom 18 . Juni 1915 an die Deutsche Botschaft in Konstantinopel, in dem Konsul Scheubner-Richter schrieb, dass von den Anhängern der genozidalen Lösung unumwunden zugegeben werde, „dass der Endzweck des Vorgehens gegen die Armenier die gänzliche Aus-

1 Sprich: Sasa . Die Zaza leben in Ostanatolien, Persien, Russland und durch die Migration zweieinhalb Millionen in Europa . Sie waren im 9 . und 10 . Jh . die Kulturträger in Persien und sind durch das Wüten Dschingis Khans und das Einsickern türkischer Stämme im 12 . Jh . zu Hinterhofbauern Ostanatoliens in Dersim abgestiegen . In ihrer Zeit beherrschten sie als Buyiden vom 9 .–11 . Jh . den sunnitischen Kalifen in Bagdad und trugen als Erste nach der sassanidischen Herrschaft den Titel „Schah in Persien“ .

2 Roza Siae .3 Sphagi .4 Meds jerern .5 Seyfo .

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rottung derselben in der Türkei sei . Nach dem Kriege werde ‚es keine Armenier mehr in der Türkei geben‘“, so der wörtliche Aus-spruch einer maßgebenden Persönlichkeit . Wenn sich dieses Ziel nicht durch die verschiedenen Massaker erreichen lasse, hoffe man, dass Entbehrungen auf der langen Wanderung bis Mesopotamien und das ungewohnte Klima dort ein Übriges tun würden . „Diese ‚Lösung‘ der Armenierfrage scheint den Anhängern der schroffen Richtung, zu der fast alle Militär- und Regierungsbeamte gehören, eine ideale zu sein . Das türkische Volk selbst ist mit dieser Lösung der Armenierfrage keineswegs einverstanden“6 .

Zusätzlich beschrieb der Konsul seine Eindrücke auf einer Reise ins Aktionsgebiet des türkischen Henkers Chalil Bey, der auf seinem Feldzug nach Nordpersien die armenische, syrische, chaldäische und jacobitische Bevölkerung massakrierte und aus Nordpersien vertreiben ließ . Auf diesem Feldzug wurden die Giftgasbomben eingesetzt, die auch 25 Jahre später die Zaza in Dêsim ausrotten helfen sollten7 . Scheubner-Richter hat sich ve-hement gegen die jungtürkische Vernichtungspolitik gewandt und forderte die deutsche Botschaft auf, zugunsten der Arme-nier zu intervenieren8 .

6 Lepsius, Johannes: Deutschland und Armenien, 1914–1918 . Hrsg . und ein-geleitet von Dr . Johannes Lepsius, Tempelverlag Potsdam, 1919, S .

7 MP3 Audio Interview von Ihsan Sabri Çaglayangil http://www .desmalasure .de/09/1227066689/index_html#Bild1

8 Im Schreiben vom 5 . August an den deutschen Botschafter von Hohenlohe in Konstantinopel taktiert er zumindest diplomatisch: „Auf Grund dieser Er-wägungen und in Anbetracht der ganzen Sachlage hielt ich es als Vertreter der deutschen Regierung für meine Pflicht, dem Vorgehen der Regierung gegen die Armenier und den gegen sie getroffenen Maßnahmen nicht still-schweigend zuzusehen, sondern da wir einerseits diese Maßnahmen nicht hindern können, andererseits aber nach Lage der Dinge doch eine moralische Verantwortung dafür werden übernehmen müssen, wenigstens auf eine mög-lichst milde Form der Ausführung hinzuarbeiten . Ich habe die Unbequemlich-keiten ja Gefahren, die mit meiner Haltung bisweilen verknüpft waren, auch deshalb gern auf mich genommen, weil ich annahm, dass es meiner Regierung späterhin nur angenehm sein dürfte, zu wissen und bekannt geben zu können, dass ihr hiesiger Vertreter mit allen ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln für eine humane und rechtmäßige Behandlung unschuldig Leidender eingetreten ist .“ Wolfgang Gust http://www .armenocide .de .

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Diesem angedeuteten Gewaltpotenzial innerhalb staatlicher Denk- und Handlungsweisen galt es, mit einer Analyse der Ge-walt in der Geschichte des Osmanischen Reiches zu begegnen . In ihr wurde herausgefunden, warum diese Gewalt nicht zivilisier-bar werden konnte .

Weil die mit Schismen durchzogene Geschichte der orientalischen Christenheit eine Gegenwehr gegen die genozidale Innenpolitik der Türken verhinderte und dazu führte, dass Monophysiten und Theopaschisten und die Anhänger der Erb-sünde nacheinander abgeschlachtet werden konnten, wird die Geschichte der Christen Kleinasiens mit ihren unterschiedlichen Jesusbildkonstruktionen kurz dargestellt .

Die in ihnen enthaltenen Unterschiede führten zu gegen-seitigen Verketzerungen und lenken die türkische Dolchstoß-legende ins Absurde .

Der Genozid an den syrischen Christen im Tur Abdin, Hakkari und dem heutigen Nordpersien, im islamischen Hin-terland, entschwand aus dem Gesichtskreis europäischer Auf-merksamkeit und Gabriele Jonan hat ihn uns erst 1989 wie-der nahegebracht .

Europa jedoch verdankt gerade der orientalischen Chris-tenheit die Rettung des antiken Wissens innerhalb der isla-mischen Hochkultur, das zur Urmutter europäischer Aufklä-rung wurde .

Vom Völkermord an den Armeniern hatte mein politischer Freund Hrant Dink geschrieben . Er war der Herausgeber der in Istanbul erscheinenden, zweisprachigen Wochenzeitung Agos, die er 1996 mit einigen Freunden gegründet hatte . In ihr wer-den politisch heikle Themen offen diskutiert, und zwar in zwei Sprachen, Armenisch und Türkisch . Er wurde am 19 . Febru-ar 2007 ermordet .

In seinem letzten Artikel in „Agos“ beschreibt Dink, wie er von „bestimmten Kräften“ zur Zielscheibe gemacht würde, wie seine Äußerungen instrumentalisiert und beklagt u . a ., dass Per-sonen wie der bekennende Nationalist und Rechtsanwalt Kemal Kerinçsiz ihn ständig mit neuen Prozessen überzöge, die Justiz in

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der Türkei nicht unabhängig sei und er mit Drohbriefen über-schüttet werde .9

Mit seiner Verurteilung erhielten die Angriffe auf Hrant Dink staatliche Anerkennung und Rückhalt in der Öffentlichkeit, resümierte die Neue Züricher Zeitung .10

Dink zog im Oktober 2006 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, vor einer Entscheidung wurde er jedoch ermordet11 .

Drei Verfahren vor türkischen Gerichten waren bei seinem Tod noch anhängig, weil er geschrieben hatte, dass der Völker-mord an den Armeniern im Osmanischen Reich dazu geführt habe, dass ein Volk, das 4000 Jahre auf diesem Boden gelebt habe, ausgemerzt worden sei12 .

Tausende von Türken protestierten am Abend des 19 . Januar bei spontanen Kundgebungen in Istanbul und Ankara gegen den Mord . Immer wieder skandierten die Sprechchöre: „Wir sind alle Hrant Dink, wir sind alle Armenier .“13

Den acht Kilometer langen Beerdigungszug mit dem Sarg Hrant Dinks begleiteten hunderttausend Menschen, während aus mobilen Lautsprechern das Lied „Sarı Gelin“ (Die blonde Braut) erklang . Das Lied, welches sowohl auf Türkisch als auch auf Armenisch gesungen werden kann, erzählt die Geschichte eines armenischen Jungen und eines muslimischen Mädchens, die trotz ihrer großen Liebe nicht zueinanderfinden und nicht heiraten dürfen . Niemand weiß, ob dieses Lied türkischer oder armenischer Herkunft ist .

Seine Kollegen in den Zeitungen bezogen Stellung . Die Tages-zeitung Hürriyet schrieb, der Mörder habe die türkische Nation verraten, und titelte auf ihrer Internetpräsenz: „Die Türkei hat ihr

9 FAZ .net: Provokation für die türkischen Nationalisten, 22 . Januar 2007 . Tagesspiegel-online: „Ich bin wie eine Taube“, 22 . Januar 2007 .

10 NZZ Online: Politische Bluttat in der Türkei geklärt, am 21 . Januar 2007, entnommen am 2 . Febr . 2007 .

11 AZ .net: Provokation für die türkischen Nationalisten, 22 . Januar 2007 .12 Ö1-Inforadio: Türkisch-armenischer Journalist ermordet, am 19 . Februar 2007,

entnommen am 27 . Februar 2007 .13 Die Welt: „Dink war die Stimme der Armenier in der Türkei“, 19 . Januar 2007 .

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eigenes Kind begraben .“ In der Milliyet stand: „Die Menschen haben Hrant Dink bei der Beerdigung nicht alleingelassen“, sowie: „Hrant Dink ist die Türkei .“ Die Sabah bezeichnete die Ermordung des Journalisten als den „größten Verrat an der Türkei“ und die Cumhuriyet titelte: „Schüsse auf die Türkei!“

Eine Woche später zogen andere Türken mit einem Schild um den Hals durch Istanbuls Straßen . Darauf stand als Antwort auf die vielen Armenier der vorherigen Demonstration, dass sie Türken seien . Die Tatsache jedoch, dass die Polizisten, die den Mörder verhafteten, sich auf der Polizeistation mit ihm in Sieger-pose fotograf ieren ließen, erlaubt zu schlussfolgern, dass viele Menschen in der heutigen Türkei sich mit dieser Tat identi-fizieren konnten .

Der politische Mord und die Reaktionen zeigen eine tief ge-spaltene Türkei . Die Ursachen dafür sind u . a . in ihrem Völker-mordtabu zu suchen, um verstanden zu werden .

Der deutschsprachige Wissenschaftsbetrieb übernahm das in der Türkei existierende Völkermordtabu . Deshalb konnten die an den Christen und alevitischen Zaza aus Dêsim verübten Verbrechen nicht ins Zentrum deutschsprachiger Genozid-forschung rücken .

Dieses Tabu wirkte bis in die Tagung „Modernität und Barbarei“ in Hamburg 1995, auf der eine soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20 . Jahrhunderts gestellt wurde . Die Verbrechen der Türken und Kurden in Kleinasien fehlten gänzlich . In Neben-sätzen tauchen bei Mommsen14 und Hahn15 die armenische Frage und bei Reemtsma16 der Ort ihrer Liquidierung als Projektions-

14 Mommsen, in: Modernität und Barbarei . Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20 . Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1996, S . 151 .

15 Ibid . Alois Hahn, S . 171 .16 Ibid . Reemtsma, J . Ph ., S . 30 .

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container17, „hinten, weit, in der Türkei“ auf . Goethes einst trost-volles Bild der Gelassenheit und Zuversicht „Wenn hinten, weit, in der Türkei“ heißt jedoch weiter:

„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen .Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen ausUnd sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; Dann kehrt man abends froh nach Haus, Und segnet Fried und Friedenszeiten .Herr Nachbar, ja! So lass ich’s auch geschehen:Sie mögen sich die Köpfe spalten, Mag alles durcheinander gehn; Doch nur zu Hause bleibt’s beim Alten .“18

Dieses Desinteresse verlängerte sich bis zu den heutigen deutschen Soziologen, Historikern, Osmanisten und Orientologen und er-möglichte ihnen, das Modell für die Völkermorde an den Juden, Sinti und Roma Europas zu ignorieren .

Kieser und Schaller legten erst 2002 ihre Resultate aus den Forschungen über den Vergleich des Völkermords an den armenischen Christen und der deutschen „Endlösung“ aus der Züricher Universität vor .

Obwohl dieses „ganz weit, hinten in der Türkei“ durch die zu uns gef lüchteten Asylsuchenden heute so nahe gerückt ist, scheinen uns die Geschichten der aufeinanderschlagenden Völker im Nahen Osten gänzlich unbekannt . Es sind an die fünf Millionen

17 Bion führte die Begriffe Container und contained object in die Psycho-analyse ein, wobei er den Projektionsort, bei ihm meistens die psychische Struktur eines Menschen, und als contained object den Inhalt der Projektion, die im Container landen, bezeichnete . Während die Autorin jeden Ort, auf den projiziert wird, in Erweiterung des Begriffes als Container benennt .

18 Goethe, J . W .: Faust 1, Vers 860 ff ., Dialog zweier Bürger .

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ermordete oder verjagte Christen19 und an die 70 .000 Tote der Zaza aus Dêsim .

Die parlamentarische Linke in der Türkei vertritt wie die Rechte aufgrund des herrschenden Völkermordtabus einen Standpunkt, der von ihrer nationalistischen Verblendung unterfüttert ist: Sie deutet die durch Partei und Republik organisierte Vernichtung der wehrlos gemachten Christen als unabwendbare Folge eines „Bürgerkrieges“ . Damit entschuldigt sie das barbarische Weg-schaffen dieser Menschen . Der Völkermord an ihnen gleicht einem verschleierten großen Verbrechen, das einer zweckrational längerfristigen Staatsräson diente . Retrospektiv betrachtet blieb „das jungtürkische Verbrechen [ein (Sch .-G .)] unbeachteter Be-standteil eines schließlich gewonnenen Krieges, das dazugehörige Projekt wurde international akzeptiert, dies verlieh ihm eine definitive Rationalität“20 .

Das jungtürkische Kalkül resultierte nicht nur aus der kalt-blütigen Berechnung ihrer Tyrannei, sondern ebenso sehr aus der Unfähigkeit der Entente nach dem I . Weltkrieg . Unter ihren Augen wurden die Massaker unter dem Oberbefehl Mustafa Kemals weiter durchgeführt, demzufolge die Entente zu passiven Mittätern wurde . Was der Entente die Hände band, wird dar-gelegt .

Weil Psychoanalytiker zu einem Unternehmen mit Befreiungs-anspruch gehören, erforschte ich die „Endlösungen“ der Türken in Kleinasien .

Befreiung meint im Zusammenhang mit diesem Band das Ein-arbeiten einer bisher tabuisierten Wahrheit in den gesellschaft-lichen Diskurs . Er soll dazu dienen, die staatsterroristische Seite einer charismatischen Herrschaftslegitimation offenzulegen mit all ihren furchtbaren Konsequenzen .

19 Hofmann, Tessa: Mit einer Stimme sprechen, gegen Völkermord, Einleitung, S . 1 .

20 Kieser, Hans-Lukas: Armeniermord . Von der Lästigkeit vertuschter Geschichte, Traverse, Debattenbeitrag, 2003 .

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Der gewalttätige Teil türkischer Geschichte ist der Verleugnung anheimgefallen, die durch das legalistisch21 abgesicherte Tabu aufrechterhalten wird . Diese Befreiung lässt die Autorin, ana-log einem psychoanalytischen Prozess, teilweise in die Rolle einer Historikerin schlüpfen, in der die genozidale türkische Vergangenheit erst einmal rekonstruiert werden muss . Dabei ist die türkische Quellenlage in Bezug auf Kemal Atatürk äußerst dürftig, abgesehen von der apologetischen Literatur . Die Autorin dekonstruiert seinen Mythos anhand der Wider-sprüche in dieser Literatur und benutzt den roten Faden, den Alexander Jevakhoff22 mit seiner auf Griechisch erschienen Bio-grafie gelegt hat . Dazu benutze ich Mustafa Kemals Tagebücher und Interviews und gleiche sie ab mit englischen, französischen, armenischen, israelischen und deutschen Quellen . Dabei wurde deutlich, dass in der sich gründenden Türkischen Republik um Mustafa Kemal ein Führerkult etabliert wurde . Sein Kult war mit Despotismus verpaart, der bis zum heutigen „Derin Devlet“23 reicht .

Es wird dargelegt, wie die Ermordung der orientalischen Christenheit ein osmanisches/jungtürkisches und später kemalistisches Projekt wurde und durch die fünf in der UN-Genozidkonvention aufgezählten Straftatbestände definiert ist:

a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen

Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die

Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenver-hinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

21 § 301 und § 5816 des türkischen Strafgesetzbuches .22 Jevakhoff, Alexander: Kemaλ Atatoυρκ, όείζά Βιογραφιεσ Π . Τραυλοσ,

1999 . Übersetzung Joannis Karageorgoudis, Berlin 2000 .23 Tiefer Staat .

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e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe .24

Wer die Tragweite der eliminatorischen und genozidalen Elemente in der türkisch-osmanischen Nationalitätenpolitik der Jahre 1885 bis 1938 nachvollziehen will, muss die Motive der Akteure offen-legen, die die Vernichtung und Vertreibung lenkten .

Die makedonische Revolution, so wird der Militärputsch der Jungtürken25 bezeichnet, markiert eine entscheidende Zäsur zwischen einer feudalen osmanischen Militärdespotie und der Gründung eines Nationalstaates .26 Die Jungtürken strebten eine religiös homogene türkische Nation an, die auf neuen Lebens-raum angewiesen war .27

Über diese Zeit existieren in der Türkei, wie früher auch in Deutschland, zwei konträre wissenschaftliche Positionen . Die Intentionalisten meinen, dass Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“28 bereits die Vernichtung der Juden ankündigte, und die Funktionalisten behaupten, es sei irgendwie passiert . Die Letzteren meinen, dass beide Diktatoren durch Sachzwänge zur

24 Zitiert nach Heinsohn, Gunnar: Lexikon der Völkermorde, Stichwort: Geno-zid .

25 Westliche Bezeichnung für: „Young Turks“, türk .: „Yeni Türkler“, für die von jungen Offizieren getragene, nationalistische Bewegung, die im Militärputsch von 1908 die Macht eroberte . Der Begriff wird im Allgemeinen und auch in diesem Buch synonym mit den Mitgliedern und Anhängern der politischen Partei Ittihad ve teraqqui gem iyyeti verwendet . Weitere Synonyme sind Ittihatisten (Ittihadisten) oder Unionisten (von cemiyeti – „Union“, „Komitee“) . Wiedergabe des eigentlich arabischen Wortes als „ittihad“, im Türkischen daraus „ıttihat“ .

26 Davison, Roderic H .: Turkey . Englewood Cliffs, N . J ., 1968, S . 109; ent-nommen: Melson, Robert: Provocation or Nationalism: A Critical Inquiry into the Armenian Genocide of 1915 . In: The Armenian Genocide in Perspective . Ed . by Richard G . Hovannisian, New Brunswick; Oxford 1986, S . 62, 81 .

27 Zur Ideologie und zum Aufstieg der jungtürkischen Bewegung siehe Dabag, Mihran: Jungtürkische Visionen und der Völkermord an den Armeniern, in: Dabag, Mihran/Platt, Kristin (Hrsg .): Genozid und Moderne, Opladen 1998, S . 152 ff .; Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord . Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996, S . 27 ff .

28 Hitler, A .: Mein Kampf, 67 . Auflage, München 1933 .

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deutschen bzw . türkischen „Endlösung“ kamen . Die türkischen Intentionalisten gehen davon aus, dass die Völkermörder nach einem vorgefassten Plan handelten, also den Weltkrieg als Nebel-werfer missbrauchten, um dahinter etwas durchzuführen, was schon länger geplant war und genozidale Innenpolitik genannt werden kann . Die türkischen Funktionalisten meinen, dass es sich bei den Völkermördern um Gelegenheitstäter handelte, die relativ spontan vorgingen . Bezogen auf die Armenier kreist zum Beispiel die Debatte29 darum, wann genau der Beschluss zu ihrer Vernichtung innerhalb des Komitees der Ittihad ve teraqqui gem iyyeti fiel .

In dieser Hypothesenbildung verdeutlicht sich die Scham-abwehr in der Wissenschaftszunft, denn wenn die Verantwortung der Völkermorde den Zwängen zugeschoben werden kann, so hilft dies, den Schuldberg der Tätergesellschaften einzuschmelzen .

Die Zeit der Kontroversen ist zumindest in Deutschland vorbei . Beide Denkrichtungen waren aufgrund ihrer Scham-abwehrfunktion zu theorielastig und zu wenig der Realität ver-pf lichtet30 . Ein Genozid wird inzwischen im wissenschaftlichen Raum als multikausales Unternehmen identif iziert, und der heutige Forschungsstand wurde von mir von der Analyse eines verbrecherischen Staates auf die Untersuchung einer äußerst ge-walttätigen Gesellschaft ausgedehnt, um die Zivilisationsbrüche verdeutlichen zu können .

Die Barbarei war die Zersetzung der moralischen Maßstäbe im normativ geleiteten Handeln der Jungtürken . Die Demontage dieser Maßstäbe wurde aus ihrem Machtzentrum in die staat-lichen Institutionen hineingesteuert . Von dort aus zerstörte sie das Gefüge der osmanischen Gesellschaft . „Es war ein parasitärer Prozess, als dessen Ergebnis sich Barbarei einstellte . Dabei wurden die Formen des Miteinanders, aus denen Zivilisation und Kultur

29 Diesen Gedankengang verdanke ich Tessa Hofmann in einer E-Mail vom 17 .11 .2003 .

30 Gerlach, Nationenbildung im Krieg, in Kieser/Schaller, a . a . O ., S . 352 .

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leben, zu einem Krieg aller gegen alle .“31 Es zeigte sich, dass die jungtürkische Periode bis zur Mehrparteienpolitik im Jahre 1946 ausgedehnt32 werden muss . Mustafa Kemals Regierungszeit offen-bart ein jungtürkisches Politikverständnis, das auch Völkermord als Homogenisierungsstrategie für das Land einschloss, wie der „Schwarze Tag“ der Zaza belegt .

Die Hypothese Hans Mommsens, dass die Moderne Barbarei hervorbringe, wird widerlegt . Es wird aufgezeigt, dass die Barbarei zur Vormoderne gehört und die Moderne erst unter den Be-dingungen eines zivilisatorischen Regresses zu ihr zurückfindet .

Modernität wird von mir verstanden als Teilnahme aller am gesellschaftlichen Prozess durch einen im Prinzip jedem zugäng-lichen gleichen Grundstatus und der Möglichkeit, ein De-jure-Recht33 einzufordern .

Deshalb ist es der Türkei wegen ihrer fehlenden Rechts-staatlichkeit bis heute nicht gelungen, in der Moderne gänzlich anzukommen . Das türkische Militär schützt die Gefolgschafts-beziehungen der Stäbe – dem Patrimonialismus inhärent –, die sich hinter dem Kemalismus verbergen . Dadurch sind aber ge-sellschaftliche Teilhabe des Bürgers an der Macht verhindert und dynamische Gerechtigkeitssysteme nicht entstanden . Die Gerichtsbarkeit ist auch heute noch von politischen Vorgaben abhängig .

31 Vgl . Gerhard, Uta: Charisma und Ohnmacht . In: Bemerkungen zur These der Verwilderung der Herrschaft als Dynamik der Barbarei . In: Modernität und Barbarei, Suhrkamp 1996, Frankfurt/Main, S . 180 .

32 Vgl . Poulton Hugh, a . a . O . S . 88 . Zürcher Jan entwickelte diese Hypothese in: „Yuong Turks, Ottoman Muslims and Turkish Nationalist: Identity Politics 1908–1983“ in Kemak Karpat, Hrsg ., Ottoman Past and Today’s Turkey (Leiden 2000), S . 150–179 .

33 De jure (in der ursprünglichen Form de iure) ist ein lateinischer Ausdruck für „laut Gesetz, nach geltendem Recht, legal, offiziell, amtlich“; de facto ist der lateinische Ausdruck für „nach Tatsachen, nach Lage der Dinge, in der Praxis, tatsächlich“ (vgl . in praxi), auch als faktisch („in Wirklichkeit“) bezeichnet . Mit de facto wird ein Umstand benannt, der als weit verbreitet und allgemein anerkannt gilt, auch wenn er nicht durch entsprechende Institutionen formal als de jure festgelegt ist: de jure bezeichnet den rechtlichen Soll-Zustand, de facto den tatsächlichen Ist-Zustand . © Wikipedia .

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Es wird deutlich gemacht, dass im Untergang des Osmanischen Reiches und in der Nationenbildung der eingeschlagene Weg unter Mustafa Kemal in eine Erziehungsdiktatur mündete . Kenn-zeichnend dafür war die Entkopplung der kulturellen von der ökonomisch-bürokratisch-technischen Moderne, die in eine vormoderne Herrschaftsform, dem Patrimonialismus, mündete . Diese Entkopplung wird im Zusammenhang mit dem Wirken von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, dargestellt . Die Ideo-logieproduktion, die die Entkopplung gestattete, wird anhand der Geschichtsthesen und Sonnensprachentheorie, der Analyse des türkischen Fahnenkultes und der Nationalhymne untersucht .

Mit den Völkermorden in Kleinasien wurde der Kulturrassismus, die Homogenitäts- und Lebensraumthese in Politik verwandelt .

Neuer Lebensraum wurde durch die Ermordung und Ver-treibung der fünf Millionen Christen34 geschaffen . Dieser wurde von den Muhajirs, den vier Millionen „heim ins Reich“ gerufenen Türken aus den verlorenen Kolonien des Osmanischen Reiches, vor dem I . Weltkrieg in Besitz genommen35 .

Als das Machtzentrum der Jungtürken beim Untergang des Osmanischen Reiches zerbrach, hatte die Schwerkraft der Aus-mordung Anatoliens und Thrakiens ein solches Gewicht be-kommen, dass sie bis in die Gründungszeit der türkischen Republik

34 Vgl . Rummel, R . J .: Statistics of Demozid: Genocid and Mass Murder Since 1900 .

35 Tatsächlich ist die starke Auswanderung der muslimischen Bevölkerung aus Makedonien hauptsächlich auf gezielte jungtürkische Propaganda zurückzu-führen . Die Muslime wurden mit dem Versprechen gelockt, sie würden an ihren neuen Wohnorten fruchtbare Gebiete vorfinden und könnten sich in den Häusern ostthrakischer Griechen niederlassen . Damit wollten die Jungtürken die Monoethnisierung bzw . Türkisierung vor allem Ost-Thrakiens sowie der kleinasiatischen Küstenregionen vorantreiben . Deshalb begünstigten sie auch die uneingeschränkte Massenauswanderung der muslimischen Bevölkerung aus Gegenden, die bereits vom osmanischen Herrschaftsgebiet abgetrennt worden waren und vom türkischen Standpunkt aus als verloren betrachtet wurden . Prof . Dr . Konstantin A . Vakalopoulos, Vertreibung der Griechen und Genozid in Ostthrakien (1908–1922), in Hofmann, Tessa (Hrsg .): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, S . 127–135 .

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weiter wirkte . Über diese Barbarei bekam Mustafa Kemal erst 1919 im Pontos an der Schwarzmeerküste die Verfügungsgewalt . Er führte eine genozidale Innenpolitik bis zu seinem Tode weiter .

Die Schwerkraftentwicklung war eine Folge des ungewöhn-lich großen Handlungsspielraumes der Unterführer der Çeten, Seibeken u . a . und erweiterte sich unter der Bedingung des Ost-raums Anatoliens ständig . Er begründete den von den Jungtürken entwickelten neuen Führungstyp, deren Über-Ich in keine Be-fehlsstruktur oder rechtliche und institutionelle Faktoren ein-gebettet war . Robert Köhl führte für die atavistische Form dieses Führungstyps den Begriff des Neofeudalismus ein, um die prä-moderne Herrschaftskultur zu verdeutlichen . Die Ethems, Topal Osmans und Nurettin Paschas, zentrale Figuren der Vernichtung, entsprechen genau diesem Führungstyp, als sie Anatolien weiter-hin ausmordeten, während die osmanische Zentralgewalt unter-ging und sich ins jungtürkische Komitee verlagerte .

Die deutsche SS hatte vier Jahre Zeit für die „Endlösung“ . Die Teskilat-Masusa arbeitete länger . Sie wurde von Offizieren aus dem Komitee der Ittihad ve teraqqui gem iyyeti geleitet . Mustafa Kemal selbst war Mitglied der Teskilat-Masusa . Das unter-scheidet Atatürk von Hitler, der nie Mitglied der SS war, sondern bis zu seinem Selbstmord nur Mitglied der katholischen Kirche und seiner Partei, abgesehen von den an ihn herangetragenen Ehrenmitgliedschaften .

Sowohl die Krise beim Untergang des Osmanischen Reiches als auch die Zwischenkriegskrise in Deutschland gipfelten in der Berufung eines charismatischen Führers, weil sich ein statisches Gleichgewicht offenbarte, dessen Faktoren zwar disparat waren, aber die Schwäche der progressiven Kräfte anzeigten . Keine Gruppe, weder die konservative noch die progressive, hatte die Macht zu siegen . Ein solches Patt evozierte einen charismatischen Retter . Das eine Mal war es ein verkrachter, oral fixierter Möchtegern-künstler aus dem Asozialenmilieu Wiens, das andere Mal ein selbst ernannter General, der auch die große Rede liebte .

Hitler eroberte die Macht über seinen Parteiapparat durch Wahlen . Mustafa Kemal wurde erst vom Militär oder vielleicht

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auch vom Sultan delegiert, um sich später seine Despotie durch eine manipulierte Wahl legitimieren zu lassen .

Mustafa Kemal vertrat eine neue Identitätspolitik, in der die Krone des Menschseins türkisch glänzen sollte und die bei der Türkisierung des Landes in die verschiedenen Ethnozide mündete . In der Umorganisation der primärnarzisstischen Libido durch das Muttersprachen-Verbot für die Nicht-Türkischstämmigen wurden die internalisierten primären Objektrepräsentanzen der frühen Eltern durch den vergöttlichten Vater aller Türken ersetzt . Dieses Unterfangen schuf eine Psychodynamik in der Gesellschaft, die zu dem Führerkult um Kemal Atatürk führte . Dabei wird deut-lich, dass der Kemalismus eine politische Religion ist, getragen von einem Volk, das ein charismatisches Selbstverständnis ent-wickeln musste .

In der Illustrierung des Charismas Atatürks wird die Wechsel-wirkung zwischen ihm und dem Volk aufgezeigt, die er seit dem Kongress in Sivas 1918 selbst gestalten konnte . Die Kehrseite der Liebe in der Idolatrie zu Mustafa Kemal ist der Hass, der vom türkischen Militär in „Odi ergo sum“36 kanalisiert wurde . Er ist verschmolzen mit der markt- und militärgesteuerten Gier der Bourgeoisie, welche die Türkei in ein ökonomisches Dauerdesaster trieb . Einerseits war dies ablesbar an der Zahl der Emigranten in aller Welt, die vor Hunger und Verfolgung f lüchteten, anderer-seits saugte die Militärbourgeoisie, die sich bis vor Kurzem ihre Regierungen hielt, in einem parasitären Prozess die Ressourcen des eigenen Landes aus und ruinierte es fast .

Dieser Aspekt seiner erfolgreichen Lebensrealität schlug auf dem Höhepunkt seiner Macht in einen destruktiven Narzissmus um . Er entfaltete eine Paranoia, die jeder tabu-brechende Führer entwickelt und die verhindert, dass sich sein Charisma zu seinen Lebzeiten verrechtlicht und institutionalisiert . Daraus folgte, dass die alten politischen Stäbe umgebracht werden mussten . Sie hatten mit ihm die Macht errungen und wurden in seiner Paranoia zu

36 Ich hasse, deshalb bin ich .

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Feinden . In der Dekonstruktion seines charismatischen Mythos zeigt sich seine Konstruktion und die eingebetteten Regressions-prozesse, an denen Volk und Führer begeistert partizipierten .

Der sich in der damaligen Konstellation positionierende Mustafa Kemal brachte als private Zutat eine spezielle Persönlichkeits-struktur mit . Sie ermöglichte ihm, sich zum Herrn über Leben und Tod aufzuschwingen . Mit seinen großen rhetorischen Fähig-keiten, die immer ins Emotionale zielten, nahm er in den Köpfen seiner Untertanen den Platz einer lebensspendenden Mutter ein und mobilisierte Erfahrungen aus der Infantilphase seiner Unter-tanen . Ihr liebevoll aufgeladenes inneres Bild wurde ins Charisma Atatürks projiziert, wo es sich zu einem säkularen Gottesbild aus-formte . Damit wurde in der innerpsychischen Realität Atatürk – der Vater der Türken – zu Anatürk .

Diese These blitzte durch die Fehlleistung eines Rundfunk-sprechers, der den türkisierten Namen Atatürks 1935 als Anatürk – Mutter der Türken – verkündete .

Der Leser kann eine Vorstellung entwickeln, wie ein narziss-tisch schwer gestörter Mann trotz seiner Einsamkeit sich die Möglichkeit verschaffte, einen psychischen Fusionsprozess mit seinem Volk zu etablieren . Diese interpersonale Beziehung zwischen Mustafa Kemal und seinem Volk können wir mit dem Begriff des Container und des contained object von Bion37 aus der Psychoanalyse abbilden . Diese basale Kommunikations-form wird von mir benutzt, um die Dynamik zwischen Kemal und den Staatsbürgern der Türkei aufzuzeigen . In dieser Be-trachtungsweise diente Mustafa Kemal als Container, der die projektiven Identif ikationen und Projektionen der Levantiner, Anatolier und Thrakier auf sich zog und in sich barg . In seiner charismatischen Position konnte er sich aus seiner zerbrochenen libidinösen Kommunikation mit den Menschen erlösen, weil die Projektionen der anderen zur Basis seiner Vernetzung mit der Welt wurden . Diese Vernetzung mit der Welt ist neben dem Aus-

37 Vgl . Bion, Wilfried: Lernen durch Erfahrung, Stuttgart 1971 .

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agieren des ganz privaten Größenwahns das eigentliche Motiv vieler Diktatoren . Sie gaukelt ihnen eine Verbundenheit mit Menschen vor, die nur als gemeinsames Phantasma existiert . Da die Größenwahnsinnigen mit ihrem beschädigten Narziss-mus sich mit Rückzug vor den Menschen schützen, sind sie von dieser Vernetzung berauscht . Auf dem Höhepunkt ihrer Macht können sie in der charismatischen Vernetzung mit einer Groß-gruppe eine virtuelle Form von Gemeinschaftlichkeit erleben . Damit partizipieren sie, wie jeder unverstörte Mensch auch, an der Basisüberzeugung, in einer Gemeinschaft geborgen zu sein .

Dieser Prozess, der sich zwischen Mustafa Kemal und seinen Untertanen abspielte, verdeutlicht sich in der Nutzung des psycho-analytischen und soziologischen Erkenntnishorizontes .

Es wird aufgezeigt, dass Völkermord dann auftritt, wenn Unterwerfung und Hingabe an einen charismatischen Führer mit entsprechender Ideologie praktiziert werden . Im zivilisatorischen Regress während des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches trat im Bewusstsein ein Blutkult unter Entfaltung seiner imperativen Macht auf . In diesem Stadium der Regression ist Realitätsprüfung in den Ausrottungseinheiten weitgehend außer Kraft gesetzt . Durch Projektion der Inhalte der Über-Ich-Struktur aus dem Wertekanon des Islam auf den Führer entfaltete der Blutkult in den Köpfen der mordenden Soldaten seine imperative Macht . Er erlaubte ihnen, dass sie wie in Stammeskriegen nach dem Gesetz des Stärkeren zu Herren über Leben und Tod werden konnten . Die Dêsimer Zaza, 1937/38 als letzte nicht sunnitische Minori-tät ausgerottet, waren von der Mehrheit mit Feindbildern aus den tradierten Vorurteilen ausgestattet, die ihre Ausraubung und Vernichtung scheinbar erlaubten .

Wie bewiesen werden wird, war und ist die herrschende türkische Ideologie – der Kemalismus – eine nationalistische und kulturrassistische Religion mit Pervertierung der islamischen Werte . Sie wurde und wird dominiert durch regressive symbiotische Einheitswünsche unter den gestürzten türkischen „Eliten“ des Osmanischen Reiches, die bis in das heutige militärische Establishment reichen . Diese türkische

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Einheitssehnsucht hat eine gemeinsame Schnittmenge mit anderen patrimonialistischen Regimes, die gespeist wurden aus der hängen gebliebenen Veralltäglichung des Charismas ihrer Führer38 . Sie ist auch begründet durch die Fixierung der zivilisatorischen Regression der Türken nach dem Zusammen-bruch des Osmanischen Reiches – ausgelöst durch den Regel-verlust in der Gründungsphase der Republik und dem damit einhergehenden hohen Stresspegel .

Der Begriff der Gleichschaltung aus der Politologie wird hier deckungsgleich mit dem Begriff der Fixierung einer Massen-regression genutzt . Hinter der Gleichschaltung verbirgt sich der Satz aus der Umma, dass „die Einstimmigkeit des Gottes-volkes die Einzigartigkeit Gottes widerspiegele .“39 Er wurde der Großgruppe der sunnitischen Türken und Kurden als Kampf-begriff angeboten und polstert die türkische Einheitsneurose bis heute aus . Der Tribalismus als scheinbar erfüllte Sehnsucht nach Ambivalenzfreiheit braucht deshalb ein Feindbild als Adressat der innergruppalen Destruktivität . Denn der Tribalismus zeichnet sich dadurch aus, dass Differenz von den Großgruppenmit-gliedern als Bedrohung wahrgenommen wird, weil sie Getrennt-heit voraussetzt . Deshalb muss das aus der Differenz entstandene Destruktionspotenzial in ein Feindbild projektiv ausgelagert werden . Es entfaltet sich damit ein Spaltungsmechanismus aus der Infantilphase des Menschen in der Großgruppe der Türken, der in der Gleichschaltung strukturell konserviert wurde, um den Großgruppenzusammenhalt zu garantieren . Selten hat in der modernen Geschichte ein kluger Staatsmann und Henker eine so erfolgreiche Karriere im Bewusstsein der Welt gemacht . Er wird heute noch als Retter des Vaterlandes und anderer unter-drückter Völker gefeiert .

38 I . e . Pfründenfeudalismus mit Zügen des Beutekapitalismus; Vgl . Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Sozialökonomik, Tübingen 1922 . Person, Talcot, Max Weber and the Contemporary Political Crisis 1942a, in Gerhard 1993 .

39 Persönliche Mitteilung von Imam Abdullah Özkan in Istanbul 1980 .

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Selbst die UNESCO verkündete zu seinem 100 . Geburts-tag 197840, dass Atatürk den nationalen Befreiungskampf gegen Imperialismus und Kolonialismus begonnen und mit Erfolg ge-krönt habe . Dort heißt es: „Kemal Atatürk hat den Befreiungs-kampf nicht allein für das türkische Volk geführt . Er hat das Ziel, den unterdrückten und versklavten Völkern des Ostens den Weg zur Befreiung zu zeigen“41 .

In dieser befreiungskämpferischen Rabulistik verbirgt sich die Denkfigur des Erlösers und „heiligen Kriegers“ aus dem Djihad, den die Deutschen in ihrer psychologischen Kriegsführung im I . Weltkrieg anschoben, den der Scheich ül-Islam 1914 in Istanbul verkündet hatte und der sich bis ins Heute verlängert . Diese orientalischen Topoi der Hoffnung füllen bis heute das Charisma des Gazi Mustafa Kemal Atatürks . Er lebt noch heute in den Köpfen der Türken wie ein Gott . Die Hoffnung füllte bis vor Kurzem das Charisma des Militärs, das sich als Mustafa Kemals Erbe versteht und damit einen sakrosankten Status beim Volk er-warb . Dieser Status verschleiert seine Realität in der türkischen Gesellschaft, da er vom Volk als Schutz vor Fundamentalismus und vor den jeweiligen Regierungen interpretiert wird .

Der Justizminister Hasan Deniz Kurdu gestand 1999 in der Öffentlichkeit, dass die Gesetze in der Türkei den Staat vor den Bürgern schützen und nicht, wie es rechtens wäre, die Bürger selbst – gegebenenfalls auch vor dem Staat .42

Wie dies möglich wurde, wird dargelegt .

40 Resolution der UNESCO anlässlich des 100 . Geburtstages von Atatürk .41 Besikci Ismael: „Wir wollen frei und Kurden sein“, Brief an die UNESCO .

Isp-pocket 22, S . 31–33 . Sicher war der Souffleur für die UNESCO vom türkischen Staat gestellt . Dass es kein Aufschrei im Rest der Welt gab, ist in der ausgezeichnet funktionierenden Propaganda der Türken begründet, die den Rest der Welt zur Übernahme des türkischen Geschichtsbildes manipuliert .

42 Hürriyet vom 15 .07 .1999 . Im Verständnis des türkischen Staates steht der Bürger immer unter Verdacht . Dieses Rechtsverständnis konnte die Autorin während langwieriger Verhöre in Desim selbst feststellen .

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1 Gewalt in einer traditionellen Gesellschaftsformation

Das Wort Gewalt bezeichnet einen amorphen Begriff, der jedoch für mich unentbehrlich wird zur Herausarbeitung der Ursprünge von Barbarei . In der Beschreibung der Geschehen, die ich als Herrengewalt, Gewaltmonopol oder als zerstörerisch und ver-nichtend charakterisiere, soll der Begriff sich jedoch immer weiter konturieren . Alle Worte, die die Gewalt konnotieren, haben etwas gemeinsam: einen Angriff auf unbelebte, belebte oder psychische Struktur, einschließlich der unantastbaren Würde der Menschen, der in ihrer Zerstörung mündet .

Norbert Elias war überzeugt, dass die gegenwärtige politische Kultur eines Volkes tiefe Wurzeln in der Vergangenheit hat . In seiner 1989 geschriebenen Einleitung zu den „Studien über die Deutschen“ formuliert er diese Überzeugung als grundlegende Voraussetzung seiner Forschungen zum Nationalcharakter: „Es ist heute noch nicht üblich, den gegenwärtigen sozialen und so auch den nationalen Habitus eines Volkes mit dessen ‚Geschichte‘, wie man es nennt, und besonders mit dessen Staatsentwicklung zu verknüpfen . Viele Menschen scheinen der stillschweigenden Meinung zu sein: ‚Was im 12 ., im 15 ., im 18 . Jahrhundert los war, ist vorbei . Was geht mich das an?‘ In Wirklichkeit aber sind die gegenwärtigen Probleme einer Gruppe entscheidend mit-bestimmt durch ihr früheres Schicksal, durch ihren anfanglosen Werdegang .“43 .

43 Elias, Norbert: Studien über die Deutschen . Machtkämpfe und Habitusent-wicklung im 19 . und 20 . Jahrhundert . Hrsg . von Michael Schröter, Frankfurt/Main 1992, S . 28 .

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1.1 Die Gewalt aus den Stammeskulturen

Um diesen anfanglosen Werdegang zu verdeutlichen, beginne ich mit Anatolien, das seit dem 10 . Jahrhundert von selçukischen nomadischen Turkstämmen überfallen44 worden war . Der byzantinische Kaiser wurde 1055 von ihnen in Manzikert ge-schlagen . Dieser Sieg öffnete den Weg zur Annexion des von den christlichen Lateinern schwer gebeutelten Byzanz . Es war von ihnen mit dem Fluch des Schisma belegt, dessen Auswirkungen bis in die Völkermorde an den Christen Anatoliens des letzten Jahrhunderts reichen .

Die Selçuken verwirklichten ihr vom Islam abgeleitetes Eroberungs- und Herrschaftskonzept . Sie kamen keineswegs, um die nichtislamischen Völker zu islamisieren, sondern weil sie aus dem Koran eine politische Handlungsanweisung heraus-lasen, dass die Herrschaft ihrer islamischen Kagane45 über die nichtmuslimischen Völker eine gottgewollte sei . Habe er doch in seinem letzten Buch, das er Mohammed durch den Engel Gabriel übergeben habe, den Muslimen das Recht zur Herrschaft im Namen Gottes über die Nichtmuslime gegeben . Denn das Recht zur Herrschaft stütze sich auf die Scharia und sei damit für alle Menschen gut .

Jenseits dieser religiösen Eroberungslegitimation suchten selçukische und osmanische Reiternomaden neue Weideplätze . Sie hatten die Mongolen und die immer mehr sich ausdehnende Karak

˙um46 mit anschließender Hungersteppe im Nacken . Sie

44 Klever, Ulrich: Das Weltreich der Türken . Vom Steppenvolk zur modernen Türkei . Hestia, Bayreuth; Auflage: N .-A . (Juni 1983, S . 94 . Steinbach, Udo: Geschichte der Türkei . C . H . Beck, München 2007, 4 . durchgesehene und aktualisierte Auflage, S . 151; Kreutel, Richard F . (Übersetzung): Vom Hirten-zelt zur Hohen Pforte . Frühzeit und Aufstieg des Osmanischen Reiches nach der Chronik vom Derwisch Ahmed, genannt Asik . Pasa Sohn . Graz/Wien/Köln: Styria 1959, S . 24 ff .

45 Fürst .46 Karak

˙um (Schwarzer Kiesel), Sandwüste im Süden des Tieflands von Turan,

Turkmenien, etwa 350 000 km2, z . B . als Weide für Schafe und Kamele ge-nutzt . ©Encarta Weltatlas .

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stießen vor in ein Land, das von armenischen, syrischen, lazischen und griechischen Christen, Zaza und Kurden bewohnt war, die von den Buyiden47 im Südosten Anatoliens und im Norden vom Basileios in Konstantinopel regiert wurden . Die Selçuken herrschten ungefähr zweihundert Jahre im mittleren und zentralen Teil Anatoliens . Die Buyiden, eine Herrscherfamilie aus Daylam, beherrschten den abbasidischen Kalif48 in Bagdad . Sie wurden von den Selçuken besiegt und die türkischstämmigen Mamelucken übernahmen 1055 das Kalifat .

Der Basismythos der islamischen Zivilisation besagt: Gott habe das islamische Volk auserwählt, weil er sein heiliges Buch in arabischer Sprache herabgesandt habe . An dieser Stelle ver-doppelte sich der jüdische Mythos, jedoch mit dem Unterschied, dass der Islam die Werte der Wüste über die des Ackerlandes stellte49 . Durch die nomadische Vergangenheit der Osmanen herrschte die Verachtung des privaten Grundbesitzes . Er hatte zur Vernichtung der eigenen Lebensgrundlage beigetragen und war die Wurzel im jahrhundertealten Hass zwischen den nomadischen Turanern50 und den sesshaften Iranern . Dies ist der historische Kern eines türkischen paranoiden Phantasmas51, das sich in Herrschern entwickelte, die mit Gewalt ein Land er-

47 Tholib, Udjang: The Reign of the Abb sid Caliph al-Q dir bill h (381/991–422/1031) Studies on the political, economic and religious aspects of his caliphate during the Buwayhid rule of Baghd, Stuttgart 2009 . Besonders unter Mo’izz al-Daula .

48 Arab . Al chalifa = der Stellvertreter [des Propheten Mohammeds], Amir al muminin, „Herr aller Gläubigen“, der „Schatten Gottes“, religiös-politisches Oberhaupt der Umma, der Gemeinschaft der Muslime als Ganzes .

49 Vgl . Maccoby Hyam: Der Heilige Henker, Die Menschenopfer und das Ver-mächtnis der Schuld, Thorbecke 1999, S . 291 .

50 Das Tiefland von Turan erstreckt sich zwischen dem flachen Landrücken der Kasachischen Schwelle mit dem Aralsee im Norden, dem stark auf-gegliederten Hochgebirge von Pamir und Hindukusch im Osten, dem mäßig hohen, seismisch aktiven Faltengebirgsstrang des Kopet-Dag im Süden und dem Kaspischen Meer im Westen . Die Karakum ist extrem trocken . Den größten Teil des Gebiets nimmt Sandwüste ein . Sie besteht aus dem Material, das dem Flusstal des Amudarja und zerfallendem Sandstein entstammt .

51 Trugbild, das seinen Träger quält .

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oberten und regierten . Sie fürchteten, dass die Unterworfenen sich erheben könnten .

Deshalb verhinderten sie eine erbliche Machtträgerschaft, weil ihr paranoides Phantasma ihnen die eigene Vernichtung suggerierte52 . Diese aus dem paranoiden Phantasma gespeiste, erbenlose Bodenpolitik verbirgt sich hinter der Sakralisierung der Erde als Gottesbesitz .

Wenn wir das osmanische Kaiserhaus unter dem Fokus seines Umgangs mit der Gewalt betrachten, zeigt sich, dass sich die Zivilisation – deren Kern die gewaltfreie Konf liktlösung ist – nicht verankerte . Wie die Herrschaftssoziologie vermittelt, vollzog sich in der Entstehung des Osmanischen Reichs eine Monopolisierung der Gewalt durch den osmanischen Gebietsver-band zur Absicherung seines Gemeinschaftshandelns . In diesem Gebietsverband wurden die Verhaltensweisen und Anspruchs-haltungen der Steuereintreiber durch den Einsatz physischer Gewalt legitimiert . Das Gewaltmonopol der Eroberer löste die Pf lichtkonf likte aus der türkischen Stammesgesellschaft auf und übertrug sie auf den Kagan in der osmanischen Staatswerdung . Dadurch vollzog sich der entscheidende Schritt vom faktischen Gewaltbesitz zum Gewaltmonopol eines erobernden Staates . Aus dem Zusammenschluss aller türkischen Stämme im Repressions-apparat des Sultans entstand durch Unterwerfungen der Völker das Osmanische Reich .

52 Konstantin aus Ostrovica (16 ./17 . Jh .), Teilnehmer an den Heereszügen Mehmets II . (1451–1481), Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik . „So verhält es sich mit dem ganzen türkischen Staat vom Höchsten bis zum Geringsten . Jeder, sei er reich oder arm, sieht auf die Hand des Sultans; der Sultan aber versorgt alle, jeden gemäß seiner Würde und seinen Ver-diensten . Diesem Brauch zufolge besitzt kein Herr ein eigenes Erbe . Einige große Herren haben allerdings ihr eigenes Erbe, aber das sind nur wenige (…) Denn der Sultan nimmt, wem er will, und gibt, wem er will (…) Die Gründe für das Nehmen der Güter und Verteilen an andere sind folgende: Wenn einer den Armen Unrecht getan hat, so wird das bei niemandem geduldet, sondern der Sultan nimmt ihm, sobald ihm das zu Ohren gekommen ist, sein Gut weg und gibt es einem anderen zu eigen . Wer den Dienst des Sultans vernachlässigt, wer schlecht dient oder nachlässig ist, dem entzieht der Sultan den Lohn und das Gut . Denn jedem wird ein bestimmter Dienst auferlegt .“