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Persönliches Nachwort Persönliches Nachwort Wer sich vier Jahre lang intensiv mit einer Problematik auseinandergesetzt hat und wer – Postmoderne hin, Postmoderne her – dabei manchen spontanen Gedanken der Wissenschaftlichkeit der Gesamtarbeit geopfert hat, der genehmigt sich am Schluß gerne das letzte Wort in Form eines persönlichen Kommentars. Zweifelsohne trägt die Arbeit bereits viel von mir in sich, seien es Sichtweisen, Vorlieben oder Erfahrungen, zumal ich in der Darstellung durchgehend dem “Ich-Erzähler” Vorrang vor dem “allwissenden Erzähler” eingeräumt habe. Dennoch treten naturgemäß in einer wissenschaftlichen Abhandlung die Person und die Handlungen des Autors hinter das Werk zurück. Dies betrifft auch den Entstehungsprozeß der Arbeit, dessen “Biographie” zugunsten einer linearen Argumentation verschwinden mußte. Deshalb sei auf diesen letzten zwei Seiten, denen über zweihundert andere vorausgegangen sind, ein wenig von dieser (und meiner) Biographie die Rede. Beginnen wir mit meinen wissenschaftlichen Prägungen vor der “Geburt” dieser Arbeit: da ist zum einen mein Doppelstudium der Fächer Betriebswirtschaftslehre, Philosophie und Spanisch, das mich erstens sehr früh in meinem wissenschaftlichen Werdegang mit dem Problem verschiedener Sprachspiele vertraut gemacht hat. Statt mich abzuschrecken, ermutigte mich diese Erfahrung, den steten Wechsel der Perspektiven herauszufordern, disziplinäre Grenzen zu überschreiten und statt nach konsistenten Lösungen nach einer kreativen bricolage zu suchen. Sie hat mich auch sehr früh mit einem Problem bekannt gemacht, das ich im Verlauf dieser Arbeit häufig wieder angetroffen habe: interdisziplinär arbeiten heißt, nirgends zu Hause sein, zumindest wenn es um einen Platz in der scientific community geht. Wendet man Philosophie in der Betriebswirtschaftslehre an, ist man den meisten Philosophen zu platt und den meisten Betriebswirtschaftlern zu abgehoben. Ein Dialog könnte hier so viel nützlicher und hilfreicher sein, doch auf Dialoge ist unsere Form der Wissenschaft leider nun einmal nicht ausgelegt. Die zweite prägende Erfahrung der Studienzeit war die Art zu denken, zu argumentieren und Kritik zu üben, die mir mein Philosophiestudium vermittelt hat. Hier hat mich vor allem die sprachanalytische Philosophie zu einer logischen und begrifflichen Genauigkeit “gezwungen”, die meiner Lust an der bricolage diametral entgegengesetzt ist. Ich glaube, aus dieser Spannung viel kreatives Potential zu gewinnen, auch wenn ein solcher Widerspruch nicht immer einfach ist für den, der mittendrin steht. Zum dritten, und das ist wichtig für die Betriebswirtschaftslehre, bin ich aufgewachsen in einem Unternehmen der berühmt-berüchtigten “KMU” und habe dort etwas Wichtiges über den Zusammenhang von betriebswirtschaftlicher Theorie und Praxis erfahren: er ist kaum existent. Auch die betriebliche Praxis ist ein Sprachspiel, und sie ist, zumindest was KMU betrifft, m.E. weiter von der Wissenschaft entfernt als die meisten wissenschaftlichen Sprachspiele voneinander. Die episteme theoretike

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Persönliches Nachwort

Persönliches Nachwort Wer sich vier Jahre lang intensiv mit einer Problematik auseinandergesetzt hat und wer – Postmoderne hin, Postmoderne her – dabei manchen spontanen Gedanken der Wissenschaftlichkeit der Gesamtarbeit geopfert hat, der genehmigt sich am Schluß gerne das letzte Wort in Form eines persönlichen Kommentars. Zweifelsohne trägt die Arbeit bereits viel von mir in sich, seien es Sichtweisen, Vorlieben oder Erfahrungen, zumal ich in der Darstellung durchgehend dem “Ich-Erzähler” Vorrang vor dem “allwissenden Erzähler” eingeräumt habe. Dennoch treten naturgemäß in einer wissenschaftlichen Abhandlung die Person und die Handlungen des Autors hinter das Werk zurück. Dies betrifft auch den Entstehungsprozeß der Arbeit, dessen “Biographie” zugunsten einer linearen Argumentation verschwinden mußte. Deshalb sei auf diesen letzten zwei Seiten, denen über zweihundert andere vorausgegangen sind, ein wenig von dieser (und meiner) Biographie die Rede. Beginnen wir mit meinen wissenschaftlichen Prägungen vor der “Geburt” dieser Arbeit: da ist zum einen mein Doppelstudium der Fächer Betriebswirtschaftslehre, Philosophie und Spanisch, das mich erstens sehr früh in meinem wissenschaftlichen Werdegang mit dem Problem verschiedener Sprachspiele vertraut gemacht hat. Statt mich abzuschrecken, ermutigte mich diese Erfahrung, den steten Wechsel der Perspektiven herauszufordern, disziplinäre Grenzen zu überschreiten und statt nach konsistenten Lösungen nach einer kreativen bricolage zu suchen. Sie hat mich auch sehr früh mit einem Problem bekannt gemacht, das ich im Verlauf dieser Arbeit häufig wieder angetroffen habe: interdisziplinär arbeiten heißt, nirgends zu Hause sein, zumindest wenn es um einen Platz in der scientific community geht. Wendet man Philosophie in der Betriebswirtschaftslehre an, ist man den meisten Philosophen zu platt und den meisten Betriebswirtschaftlern zu abgehoben. Ein Dialog könnte hier so viel nützlicher und hilfreicher sein, doch auf Dialoge ist unsere Form der Wissenschaft leider nun einmal nicht ausgelegt. Die zweite prägende Erfahrung der Studienzeit war die Art zu denken, zu argumentieren und Kritik zu üben, die mir mein Philosophiestudium vermittelt hat. Hier hat mich vor allem die sprachanalytische Philosophie zu einer logischen und begrifflichen Genauigkeit “gezwungen”, die meiner Lust an der bricolage diametral entgegengesetzt ist. Ich glaube, aus dieser Spannung viel kreatives Potential zu gewinnen, auch wenn ein solcher Widerspruch nicht immer einfach ist für den, der mittendrin steht. Zum dritten, und das ist wichtig für die Betriebswirtschaftslehre, bin ich aufgewachsen in einem Unternehmen der berühmt-berüchtigten “KMU” und habe dort etwas Wichtiges über den Zusammenhang von betriebswirtschaftlicher Theorie und Praxis erfahren: er ist kaum existent. Auch die betriebliche Praxis ist ein Sprachspiel, und sie ist, zumindest was KMU betrifft, m.E. weiter von der Wissenschaft entfernt als die meisten wissenschaftlichen Sprachspiele voneinander. Die episteme theoretike

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ist eine grundlegend andere als die episteme praktike. Was Aristoteles vor über 2000 Jahren klar war, treibt die Betriebswirtschaftslehre seit knapp einem Jahrhundert um. Die Diskussion dazu ist sicher nicht abgeschlossen. Vor dieser Ausgangslage beginnen nun die hermeneutischen Zirkel der Anfertigung dieser Arbeit. Zirkel, in denen ich, Neues suchend, Altes fand, Neues fand und Altes fand, das besser war als vorher. Der explorative Charakter der Arbeit war dabei zugleich Lust und Last: die Lust, bis in die Endphase der Arbeit hinein offen bleiben zu können für Autoren und Aspekte; die Last, sich selbst und anderen nie Rechenschaft darüber ablegen zu können, wo man gerade ist und was das eigentlich mit dem Thema zu tun hat. Rückblickend empfehle ich jedem, der explorativ vorgehen will, es nur zu tun, wenn er oder sie gute Nerven, ein gesundes Selbstbewußtsein und genügend Rückhalt hat. Trotzdem überwiegen auch im Rückblick die positiven Seiten, an erster Stelle das Studium von Giddens, vor allem aber von Foucault und Heidegger, die meine Sicht auf die Dinge weit über diese Arbeit hinaus geprägt haben. Das Verhältnis von Autor und Werk ist eben kein einfaches, sondern eines, in dem das Werk auch auf den Autor zurückwirkt und ihn verändert. Als zweites die pure Lust am Lernen, sei es als Wissensgewinn oder als intellektuelle Herausforderung, die vor allem meine Arbeit über die Zeit begleitet hat. Dort war viel Neuland, und ich habe es mit der Begeisterung des Entdeckers betreten. Ich habe zuvor den Rückhalt und den Wunsch nach Dialog angesprochen; das führt mich zum vielleicht schwierigsten Teil dieses Nachwortes: dem Dank an die Gutachter. Er ist nicht schwierig, weil er mir schwerfiele, ganz im Gegenteil, sondern weil er in der literarischen Form “Dissertation” zu einem topos, einem Allgemeinplatz, verkommen ist. Er wird vom Publikum erwartet und ist in nicht wenigen Arbeiten ausgebaut zu einem name dropping, von dem sich nichts weiter sagen läßt als: “Man erkennt die Absicht und ist verstimmt.” Ich hoffe deshalb, meinen Gutachtern Rainhart Lang, Alfred Kieser und Gibson Burrell bei den verschiedenen Gelegenheiten implizit oder explizit, in jedem Falle aber persönlich und vis-à-vis, meinen Dank kundgetan zu haben. Dem “Publikum” sei hier nur folgendes gesagt: ich habe es als Privileg empfunden, mit drei sehr klugen und fachlich überaus kompetenten Menschen einen Dialog führen zu können, dies umso mehr als, wie bereits gesagt, Dialoge etwas Rares sind. Ihr Vertrauen in mich, das nicht selten in Form eines Vorschusses geleistet wurde, weil ich oft nicht sagen konnte, wohin mich meine Reisen am Ende führen würden, war mir gleichermaßen Ansporn wie Verpflichtung. Ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Thematik schließlich empfand ich in keiner Weise als belastend, sondern im Gegenteil als bereichernd – und letztlich als Bestätigung dafür, daß ich meine eigene Sichtweise finden und begründen mußte. Dabei und vor allem bei der Explikation meiner allzu oft impliziten Gedanken waren sie mir eine große Hilfe. Chemnitz, im Dezember 1997 Elke Weik

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1 ZEIT, WANDEL UND TRANSFORMATION IN DER ORGANISATIONSTHEORIE 1

1.1 Einführung in das Thema und Gang der Untersuchung 1

1.2 Die Behandlung der Thematik in der Organisationstheorie 4 1.2.1 Überblicksartige Darstellungen 5 1.2.2 Methodische Überlegungen zur Darstellung 10 1.2.3 Einzeldarstellungen - ein erster Überblick 12

1.2.3.1 Entwicklungs- und Selektionsansätze 12 1.2.3.2 Organisationales Lernen 13 1.2.3.3 Systemtheorie und Selbstorganisation 14 1.2.3.4 Labour Process Theory 16 1.2.3.5 Politikansätze 17 1.2.3.6 Institutionalistische Ansätze 18 1.2.3.7 Das garbage can Modell 19

1.2.4 Zu Absicht und Vorgehensweise der Kritik 20

2 POSTMODERNE WISSENSCHAFTSTHEORIE 22

2.1 Zum Begriff der Postmoderne 22 2.1.1 Postmoderne als Epoche 22 2.1.2 Postmoderne als Epistemologie 24

2.2 Lyotard: Postmodernes Wissenschaftsverständis 27 2.2.1 Zum Verhältnis von Postmoderne und Moderne 30

2.3 Derrida und der Dekonstruktivismus 33

2.4 Foucault: Der Zusammenhang von Wissen, Macht und Subjekt 37

2.5 Kritik und Gegenkritik 38

2.6 Anwendungen in der Organisationstheorie und -forschung 44 2.6.1 Methodische Konsequenzen 44 2.6.2 Themengebiete 47

2.7 Fazit 51

2.8 Postmoderne im weiteren Verlauf dieser Arbeit 52 2.8.1 Moderne und Postmoderne: Einige Bemerkungen zu Vorgehen und Darstellung 52 2.8.2 Postmoderne Leitideen und Kritik bestehender Organisationstheorien 53 2.8.3 Konsequenzen für die Betrachtung von Zeit, Wandel und Transformation 61

3 PHILOSOPHISCHE ZEITKONZEPTE 63

3.1 Aristoteles (384-322 v.Chr.) 64

3.2 Augustinus (354-430) 66

3.3 Henri Bergson (1859-1941) 67

3.4 Fernand Braudel (1902-1985) 69

3.5 Emile Durkheim (1858-1917) 70

3.6 Albert Einstein (1879-1955) 72

3.7 Norbert Elias (1897-1990) 73

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3.8 Edmund Husserl (1859-1938) 74

3.9 Immanuel Kant (1724-1804) 75

3.10 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) 76

3.11 John McTaggart Ellis McTaggart (1866-1925) 77

3.12 George Herbert Mead (1863-1931) 78

3.13 Isaac Newton (1642-1727) 79

3.14 Fazit 81

4 DIE LINEARE WESTLICHE ZEITAUFFASSUNG 84

4.1 Historische Entwicklung 84 4.1.1 Mesopotamien 84 4.1.2 Ägypten 85 4.1.3 Judentum 85 4.1.4 Griechenland 86 4.1.5 Rom 86 4.1.6 Christentum und Mittelalter 87 4.1.7 Renaissance und frühe Neuzeit 88 4.1.8 Achtzehntes und Neunzehntes Jahrhundert 90 4.1.9 Die heutige Zeitauffassung 91 4.1.10 Kritik 92 4.1.11 Fazit 95

4.2 Vergleich mit anderen Kulturen 96 4.2.1 Ethnologische Studien 96 4.2.2 Kritik 99 4.2.3 Studien zum kulturvergleichenden Management 100

4.3 Fazit: Die „Geschichte der westlichen Zeitauffassung 102 4.3.1 Geschichte als Erzählung 102 4.3.2 Zur Funktion der Erzählung 104

5 PSYCHOLOGISCHE UND SOZIOLOGISCHE ASPEKTE DER ZEIT 107

5.1 Psychophysische Voraussetzungen 107

5.2 Entwicklung des Zeitsinns im Kindesalter 110

5.3 Identität und Strukturierung durch Zeit 111

5.4 Zeit und Arbeit in Organisationen 115

5.5 Zusammenfassung 117

6 FAZIT: ZEIT IN POSTMODERNER BETRACHTUNGSWEISE 119

6.1 Die Vielschichtigkeit der zeitlichen Beschreibung von Prozessen 119 6.1.1 Ausnahmeerscheinungen 121 6.1.2 Ebenen 122 6.1.3 Dimensionen 124 6.1.4 Funktionen 125 6.1.5 Sonstige Kontextfaktoren 126

6.1.5.1 Zyklische und lineare Zeit, Spiralzeit 126

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6.1.5.2 Kausalität 128 6.1.5.3 Referenzeinheiten 130

6.1.6 Codes 132

6.2 Zeit und Postmoderne 133

7 ZEIT, WANDEL UND TRANSFORMATION 138

7.1 Begriffliche Abgrenzungen 138 7.1.1 Wandel 138 7.1.2 Transformation 141

7.2 Erste Ergebnisse aus der Betrachtung von Zeit, Wandel und Transformation 143 7.2.1 Das Problem der Präsenz und die „Soziologie des Werdens“ 146 7.2.2 Erzählung 148 7.2.3 Identität 150 7.2.4 Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv 153 7.2.5 Zusammenschau I: Einige Elemente einer postmodernen Theorie der Transformation in der Organisationsforschung 154 7.2.6 Exkurs: Zeit, Wandel und Narration - Die Entstehung eines neuen Mythos? 157

7.3 Überleitung 160 7.3.1 Warum ein Exkurs? 161 7.3.2 Warum Giddens, Heidegger und Foucault? 161

8 DIE STRUKTUR ALS MITTEL UND ERGEBNIS: ANTHONY GIDDENS 164

8.1 Vorbemerkungen 164

8.2 Ausgangspunkt: die Dualität von Struktur 164

8.3 Das erweiterte Modell 166 8.3.1 Handeln und Akteure 166 8.3.2 Strukturen und Systeme 169

8.4 Spezielle Problemkreise 172 8.4.1 Die Spezifik der Moderne: „The Consequences of Modernity“ 172 8.4.2 Moderne und Identität: „Modernity and Self-Identity“ 174

8.5 Zeit und Wandel in der Theorie der Strukturierung 177

8.6 Kritik 181 8.6.1 Allgemeine Einwände 181 8.6.2 Zeitspezifische Kritik 184

9 DIE ZEITKONZEPTION MARTIN HEIDEGGERS 186

9.1 Ontologische Vorüberlegungen: Dasein und Welt 186 9.1.1 In-der-Welt-Sein 186 9.1.2 Erschlossenheit 189

9.1.2.1 Befindlichkeit 190 9.1.2.2 Verstehen 190 9.1.2.3 Verfallen 191

9.1.3 Dasein 192 9.1.3.1 Die Sorgestruktur 193 9.1.3.2 Angst und Tod 194

9.2 Dasein und Zeitlichkeit 196 9.2.1 Ursprüngliche Zeitlichkeit 196

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9.2.2 Weltzeit 198 9.2.3 Vulgäres Zeitverständnis 199 9.2.4 Geschichte und Geschichtlichkeit 200

9.3 Exkurs: Heidegger und die Postmoderne 201

10 DAS SUBJEKT ALS MITTEL UND ERGEBNIS: MICHEL FOUCAULT 203

10.1 Zur Einordnung 203

10.2 Methoden 204 10.2.1 Archäologie 206 10.2.2 Genealogie 208

10.3 Macht 212 10.3.1 Macht und Disziplin 212 10.3.2 Macht und Wissen 213 10.3.3 Macht und das Subjekt 215 10.3.4 Foucaults Machtbegriff 216

10.4 Kritik und Ethik 218

10.5 Probleme 220

11 ZUSAMMENSCHAU: ASPEKTE DER WANDELBESCHREIBUNG BEI GIDDENS, FOUCAULT UND HEIDEGGER 224

12 INDIVIDUUM UND ORGANISATION IN TRANSFORMATIONSPROZESSEN: EIN MODELL 230

12.1 Zum allgemeinen Zusammenhang von Individuum, Organisation, Erzählung und Macht 230

12.2 Individuum, Organisation, Erzählung und Macht in Transformationen 233 12.2.1 Meisterschaft und Existenzialität 233 12.2.2 Auswirkungen der Transformation 234 12.2.3 Individuum und Organisation in Transformationen: eine Detailbetrachtung anhand existentieller Charakteristika 238 12.2.4 Analysebeispiel 242

13 EPILOG: ZUR FUNKTION UND NEUHEIT VON THEORIEN 246

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Einführung in das Thema und Gang der Untersuchung Der Soziologe Klaus Müller (1995:2) zitiert angesichts des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten in Osteuropa Ende der 80er Jahre den „schwarzen Freitag der Sozialwissenschaften“: Die Prognosefähigkeit sämtlicher bekannter Ansätze hatte versagt. In der Folgezeit zeigte sich, daß es nicht nur Ratlosigkeit bezüglich der Prognose war, die die Sozialwissenschaften umtrieb; bereits die adäquate Beschreibung und Erklärung der Vorgänge im Osten stellte sich als Problem dar. Die im Westen und für den Westen entwickelten soziologischen Theorien, etwa die Modernisierungstheorie, erwiesen sich als nicht ohne weiteres übertragbar1

Geht man von der Makro- zur Mesoebene, von der Soziologie zur Organisationstheorie, so zeigt sich hier gar ein doppeltes Auseinanderklaffen: während das Phänomen des unablässigen, radikalen Wandels in nahezu allen Management-Bestsellern thematisiert, ja beschworen, wird und als Begründung jedweder Management-Mode herhalten muß, verharrt die wissenschaftliche Theorie in denselben Modellen, die sie im wesentlichen bereits vor der Transformation der osteuropäischen Staaten beschäftigten. Schlimmer noch, werden viele Konzepte in der Organisationsberatung unter dem Eindruck des „Sieges über den Kommunismus“ unkritischer als je zuvor angewandt. In einer Zeit, in der Osteuropa zum Eldorado der Berater wird, mag man von theoretischen Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit offensichtlich nichts hören - und die Theorie bescheidet sich tatsächlich.

(Müller 1995, Reißig 1994).

„Es kann nicht überraschen, daß es eine Theorie der Transformation nicht gibt [...]. Vielleicht aber mag es den einen oder anderen überraschen, daß es keine, keine speziellen Theorien der heutigen Transformation gibt.“ Was Reißig (1994:32) für die Soziologie bemängelt, läßt sich auch auf die Organisationstheorie übertragen: im Theorie-Turm herrscht weitgehend business as usual, das zeitweise durch empirischen Aktionismus belebt wird. Versuche, die Empirie der Transformation auf eine tragfähige theoretische Basis zu gründen, die Mikro-, Meso- und Makroebene berücksichtigt, sind selten - doch gottlob vorhanden (etwa Müller 1995, Grancelli 1996). In diese Versuche, Elemente einer Theorie der Transformation zu liefern, möchte sich auch die vorliegende Arbeit einreihen. Ihre Entstehung folgt zunächst einer „Logik der Betroffenheit“: als jemand, der zum Zeitpunkt der Niederschrift seit vier Jahren in Ostdeutschland lebt und forscht, muß an dieser Stelle für den weiteren Verlauf der Arbeit vermerkt werden, daß mein Bild der Transformation ganz wesentlich von den unmittelbaren Vorgängen um mich herum geprägt ist. Dies ist wichtig hinsichtlich der Grundannahmen,

1 Was nicht heißen soll, daß sie nicht übertragen wurden (zu diesem Problem vgl. Alt/Lang/Weik 1996).

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Kapitel 1

auf denen diese Arbeit ruht. Sofern sich die hier entwickelten Gedanken jedoch in eine „Theorie der Transformation“ fügen sollen, ist ihr Anspruch naturgemäß weiter und erstreckt sich auf Transformationen im allgemeinen. Transformationen stellen eine Sonderform des Wandels, nämlich abrupten und radikalen Wandel dar2. Es kann deshalb, vornehmlich in den ersten Kapiteln, nicht ausbleiben, auch auf den allgemeinen Wandel-Begriff und seine Behandlung in der Theorie einzugehen. Untersucht man die begrifflich-theoretischen Grundlagen von Transformations- oder Wandelprozessen, so stößt man unmittelbar auf den Begriff der Zeitlichkeit3

Somit ergibt sich, zumindest für eine solch grundsätzliche Herangehensweise, wie sie in dieser Arbeit angestrebt ist, auch die Notwendigkeit, Zeittheorien in Betracht zu ziehen. Dabei verbindet sich, wie ich festgestellt habe, das Nützliche mit dem Angenehmen: da Zeittheorien über die Jahrhunderte bedeutend besser entwickelt sind als Theorien des Wandels, hat es sich sogar angeboten, den Forschungsgang mit ihnen zu beginnen, um der „Natur“ des Phänomens Wandel auf die Spur zu kommen. Diese Vorgehensweise hat mir außerdem geholfen, das Untersuchungsfeld nicht vorzeitig einzuengen, sondern zunächst einmal, gewissermaßen von Nachbars Garten aus, einen Blick darauf zu tun.

. Wandel ist ohne die Annahme einer Zeit, die vergeht, nicht konzipierbar, ebensowenig wie man sich Zeit in einem wandellosen Universum vorstellen kann. Trotz der engen Verwandtschaft beider Begriffe ist die Analyse der Zeit und ihrer Phänomene, seit Jahrhunderten betrieben, bedeutend weiter fortgeschritten, ja, geradezu ein Klassiker wissenschaftlicher Problemgeschichte.

Bezüglich des Argumentationsganges in der Arbeit ergibt sich folgendes Bild (vgl. Abbildung 1): Teil A (Kapitel 1 und 2) ist organisations- und wissenschaftstheoretischen Ausgangsüberlegungen gewidmet. In ihm soll einerseits eine nähere Betrachtung ausgewählter Organisationstheorien zum Thema Wandel erfolgen, die im Sinne einer finis, d.h. Grenze, die neuen Gedanken dieser Arbeit abgrenzen oder definieren sollen. Andererseits soll das 2. Kapitel das wissenschaftstheoretische Fundament umreißen, auf dem die Arbeit ruht. Teil B (Kapitel 3-6) hat die Frage nach Zeit zum Gegenstand. Dabei sollen die Kapitel 3-5 im Sinne der traditionellen Vorgehensweise eine Definition des Untersuchungsgegenstandes geben, der jedoch getreu postmoderner Vorstellungen im selben Maße Problematisierung wie Antwort sein soll. Jedes Kapitel betrachtet Zeit aus dem Blickwinkel einer anderen Disziplin; so ergeben sich philosophische, historische und sozialwissenschaftliche Antworten. Kapitel 6 versucht dann, die aufgeworfenen Widersprüche in einer Systematik zu erfassen - wollte man das Wort „Definition“ sehr weit fassen, wäre sie hier, was den Zeitbegriff angeht, zu finden. In Teil C (Kapitel 7-13) schließen sich dann eine Betrachtung von Wandel und Transformation sowie einige Bausteine einer Theorie der Transformation an. Kapitel 7 liefert dabei eine aus den Überlegungen des Teils B resultierende Definition von Wandel und Transformation sowie erste Ergebnisse hinsichtlich einer neuen Theorie. In ihm werden auch noch einmal die im Teil A vorgestellten 2 Dies als grobe Ausgangsdefinition. Zu einer präzisen Definition des Begriffs siehe Kapitel 7.1.2. An dieser Stelle sei bereits darauf verwiesen, daß es sich auch nicht um vom Management geplanten Wandel handelt. 3 Eine Untersuchung zur Verbindung von Zeitlichkeit und Wandel in Ostdeutschland hat Marz (1993) erstellt, allerdings nicht auf theoretisch-konzeptioneller, sondern auf historisch-empirischer Ebene.

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Organisationstheorien kurz aufgenommen. Die Kapitel 8-10 bereiten dann mit der Vorstellung der Theorien von Giddens, Heidegger und Foucault den Boden für eine systematische Einordnung und Erweiterung der Ergebnisse aus Kapitel 7. Die Theorien werden in Kapitel 11 kurz zusammengefaßt und in Kapitel 12 systematisch in einem Modell verarbeitet. Kapitel 13 schließlich enthält eine kurze Betrachtung zu Fragen der Neuheit von Theorien. Schließlich sei auch noch auf die doppelte Funktion der Postmoderne-Betrachtung in dieser Arbeit hingewiesen. Der in Teil A geschilderte postmoderne Ansatz, der dieser Arbeit zugrundeliegt, wird zum einen als wissenschaftstheoretischer Basis-Ansatz und zum anderen als “Lieferant” inhaltlicher Ansatzpunkte genutzt. Grob gesagt, kann man also zwischen einer “formalen” und einer “inhaltlichen” Anwendung unterscheiden bzw., da diese nicht klar zu trennen sind, die wechselnde Dominanz des einen oder anderen Aspektes in verschiedenen Teilen der Arbeit erkennen. Teil B trägt dabei hauptsächlich Züge der “formalen” Anwendung, da in ihm der Zeitbegriff einer postmodern beeinflußten Analyse unterzogen wird. Hier ist, neben der Gewinnung von postmodernen Resultaten am Ende, bereits der Weg das Ziel, d.h. Neues liegt bereits in der Art der Analyse. Im Teil C wird es dann hauptsächlich darum gehen, postmoderne Inhalte (einschließlich der Resultate aus B) in die Betrachtung von Transformation einfließen zu lassen. Die Vorgehensweise der Arbeit insgesamt ist als explorativ zu bezeichnen, da der zugrundeliegende Gedanke ja gerade der ist, daß es keine zufriedenstellenden Theorien der Transformation gibt, aus denen z.B. Hypothesen abgeleitet werden könnten. Sie ist nicht im gängigen Verständnis empirisch, wenngleich sie vielerorts Überlegungen anstellt, die einer phänomenologischen Empirie nahestehen. Sie ist dafür stark theoretisch, was sich einerseits in einer expliziten wissenschaftstheoretischen Fundierung, andererseits in der Anlehnung an philosophische und sozialtheoretische Theorien niederschlägt. Daß dabei die Organisationstheorie näher an die Sozialtheorie rückt, als es ihre (deutsche) disziplinäre Einordnung u.U. vermuten läßt, ist beabsichtigt. Diese Nähe ist erstens durch den Untersuchungsgegenstand Transformation, der sowohl Mikro- als auch Makroaspekte umfaßt, zweitens durch einen weiten Organisationsbegriff, der Institutionen und gesellschaftliche Praktiken miteinschließt, und drittens durch meine Überzeugung, daß in Philosophie und Sozialtheorie viele gute Theorien ihrer Entdeckung durch die Organisationstheorie harren, begründet. Dennoch kann natürlich auch ein so weiter Rahmen nicht versprechen, alle Aspekte der Transformation abzudecken, und so sind auch die hier zu gewinnenden Theorieelemente oder -bausteine eher so zu verstehen, wie Morgan (1986:13) es für seine Metaphern beschreibt: „In highlighting certain interpretations it tends to force others into a background role.“

TEIL A Organisations-

theorien 1 (Kap. 1.2.3)

Postmoderne (Kap. 2)

wiss.theor. Fundierung

Organisations-theorien 2

(Kap. 2.8.2)

Kriterien der Krtik

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Kapitel 1

Entwicklung eigener

Theorieelemente

TEIL B Philosophische

Betrachtung (Kap. 3)

Historische Betrachtung

(Kap. 4)

Sozialwissen-schaftliche

Betrachtung (Kap. 5)

Was ist Zeit? Problematisierun-

gen

Zeitliche Beschreibung

(Kap. 6)

Systematik

TEIL C

Zeit, Wandel und Transformation

(Kap. 7)

Defintion Wandel, Transformation

Erste Ergebnisse

Giddens (Kap. 8)

Zusammenschau (Kap. 11)

Heidegger (Kap. 9)

Theorien zur Systematisierung und Erweiterung;

Foucault (Kap. 10)

sozialtheor. und philos.

Fundierung Individuum und

Organisation in Transformations-

prozessen (Kap. 12)

Elemente einer Theorie der

Transformation

Schlußbetrach-tung

(Kap. 13)

Abbildung 1: Gang der Untersuchung

Die Behandlung der Thematik in der Organisationstheorie Die Vielfalt organisationstheoretischer Ansätze4

4 Ich verwende in diesem Kapitel die Begriffe „Theorie“ und „Ansatz“ nicht trennscharf.

, die noch dazu in den letzten 20 Jahren sprunghaft angestiegen ist, mag in vielerlei Hinsicht erfreulich sein; beim Versuch, eine überblicksartige Darstellung des state-of-the-art zu geben, ist sie es sicher nicht. Den Gedanken an eine erschöpfende

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Abhandlung möchte ich deshalb bereits an dieser Stelle verabschieden. Es gilt somit, eine begründete Auswahl zu treffen.

Überblicksartige Darstellungen Als hilfreich in diesen Fällen erweisen sich inhaltlich oder methodisch trennende Schemata, wie sie für die Organisationstheorie wohl am bekanntesten durch Burrell/Morgan (1993) und Astley/Van de Ven (1983) vorgelegt wurden. Ich habe weiterhin Morgan (1986) aufgrund seiner originellen Systematisierung mithilfe von Metaphern herangezogen, sowie Levy/Merry5

Solche Schemata haben den Vorteil, ganze Gebiete ein- bzw. ausgrenzen zu können und damit die Suche recht schnell zu fokussieren. Sie haben jedoch auch einige Nachteile, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen.

(1986) und Reed (1992) aufgrund ihrer sehr umfassenden Darstellungen. Als neuere deutsche Publikation mit systematisierendem Anspruch trat schließlich Türk (1989) hinzu.

Autoren wie Chia (1996) kritisieren in ihnen das Problem des Meta-Standpunktes: die Raster ordnen Organisationstheorien nach bestimmten Kriterien (den Achsen) und “vergessen” dabei sich selbst, d.h. tun so, als ob sie diesen Kriterien nicht auch unterlägen. Zweifellos lassen sich Beispiele für diese Art der Vorgehensweise finden, doch scheint mir hier der Theorie-Anspruch der Raster in den meisten Fällen zu hoch angesetzt. Ein Feld anhand von Ähnlichkeiten zu ordnen, bedeutet zunächst nichts weiter als den Satz “Kriterium a trifft auf die Theorie x zu/nicht zu” auszusprechen. Dies stellt noch keine Theorie dar, die sich nach ihren eigenen basic assumptions fragen lassen müßte. M.a.W. ordnen diese Raster Organisationstheorien, sie sind keine6

Die kontrovers diskutierte Frage der Inkommensurabilität der Paradigmen (u.a. Türk 1989, Hassard 1990b, Burrell 1996) möchte ich nicht vertiefen, da es für meine Argumentation, die diese Raster nur zum Ausgangspunkt einer Betrachtung nimmt, keine Rolle spielt, ob und inwiefern die Klassifikationen idealer oder realer Natur sind.

. (Selbst im Falle Morgans, der einer eigenständigen Theorie wohl am nächsten kommt, bleibt diese Trennung von Objekt- und Metaebene sichtbar: er postuliert, daß Organisationen über Metaphern wahrgenommen werden, gibt aber selbst keine Metapher an.)

Der größte Nachteil für mich ist der der starken Aggregation: eine Disziplin anhand von ein oder zwei Kriterien dichotomisieren zu wollen, erfordert eine stark generalisierende bzw. verkürzende Abhandlung der Theorien. Dabei kann es zu Verfälschungen kommen. Es folgt das Problem der Einordnung in das Raster, die, bedenkt man die Ausdifferenzierung innerhalb mancher Theorierichtungen, nicht immer so eindeutig ist, wie es der Trennstrich

5 Die Typologie von Van de Ven/Poole (1995) läßt sich unter Levy/Merry subsumieren. Allerdings enthält sie zusätzlich den klugen Gedanken, daß die meisten Organisationstheorien eine Mischung aus den vorgestellten Typen darstellen. 6 was wiederum nicht heißen muß, daß ihre Autoren an anderer Stelle keine dezidierten Theorien verträten

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Kapitel 1

suggerieren mag. Schließlich ist das Raster selbst nicht unproblematisch: auch hier sind die Kriterien i.a. hochverdichtet7; zudem scheint die Kriterienanzahl öfter der Zweidimensionalität des Mediums Papier geschuldet als irgendwelchen inhaltlichen Überlegungen. Weiterhin sind die verschiedenen Raster nicht in jedem Fall kompatibel, da sie verschiedene „Ebenen“ betrachten: so geht es einmal um soziologische Theorien, ein andermal um Organisationstheorien i.e.S.; einmal um Schulen, ein anderes Mal um Theorieelemente. Schließlich sind diese Raster bereits fünf bis nahezu zwanzig8

Der Grund, weshalb ich sie dennoch zu Rate gezogen habe, ist - neben ihrer leichten Handhabung - in der Tatsache zu sehen, daß ich in der folgenden Behandlung von Organisationstheorien ebenfalls eine eher grundsätzliche Auseinandersetzung mit Basistheorien und -theoremen suche. Es geht mir nicht darum, einzelne Autoren zu kritisieren, obwohl ich, wie unten erläutert, einzelne Autoren betrachten werde. Sie sollen jedoch nur als Vertreter behandelt werden. Es geht mir auch nicht darum, einer theoretischen Schule in ihrer Vielfalt gerecht zu werden, sondern die geteilten Basisüberzeugungen dieser Schule bezüglich Zeit und Wandel in Augenschein zu nehmen. Dies ist auch der Grund, warum z.T. auf Literatur der späten 60er und 70er Jahre zurückgegriffen wird: oft sind in diesen „schulbildenden“ Aufsätzen und Monographien die Kernelemente deutlicher dargestellt als in späteren Werken. Schließlich geht es bei der Behandlung von Zeit und Wandel auch nicht um ein neues - wenn auch aktuelles - Problem, sondern, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen möchte, um ein grundlegendes Problem, dessen individuelle Beantwortung Konsequenzen für die Herangehensweise an andere Themen nach sich zieht.

Jahre alt, noch ein bißchen älter gar, bedenkt man review-Prozesse oder Druckprozeduren. Aktuelle Neu- oder Weiterentwicklungen fehlen somit.

Da sowohl Astley/Van de Ven (1983) als auch Reed (1992) keine Einteilungen vornehmen, in denen Zeit explizit eine Rolle spielt, möchte ich die Auswahl auf die restlichen der o.g. Autoren beschränken. In den nachfolgenden Übersichten sind die Raster jeweils komplett dargestellt; der Teil, der sich explizit mit Zeit beschäftigt, ist fett markiert. In der letzten Spalte sind zur Illustration Ansätze bzw. Autoren9

genannt, die in den Rastern unter den jeweiligen Feldern aufgeführt werden.

7 Man denke etwa an das Kriterium „subjektiv-objektiv“ bei Burrell/Morgan (1993), das aus vier wissenschaftstheoretischen Extrementscheidungen besteht. Abgesehen davon, daß sich mancher Wissenschaftler auf dem Kontinuum zwischen den Extremen bewegen mag, schreibt auch die Entscheidung für eines der vier Extreme nicht zwingend die für die anderen drei (auf derselben Seite) vor. 8 Die Erstauflage von Burrell/Morgan datiert aus dem Jahre 1979. 9 Die Raster vermischen mitunter beide.

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Paradigma Ansätze Entmythologisierung Perrow, Starbuck, Meyer/Rowan organisierte Anarchie

Macht Ressourcen-Abhängigkeits-Modell evolutionstheoretische Modelle

organisationale Mythen, Rituale etc. Konversationsanalyse organisationale Ideologien

Dynamisierung Entwicklungsmodelle Selektionsmodelle Lernmodelle

Rehumanisierung Unternehmenskultur Politisierung Mikropolitik

Mesopolitik Makropolitik

Abbildung 2: Raster nach Türk (1989)

Metapher Ansätze/Autoren (u.a.) Maschinen Fayol, Urwick, Taylor Organismen Hawthorne Studies, Argyris, Systemtheorie, Kontingenzansatz, Mintzberg, Population

Ecology Gehirne Entscheidungsor. Ansatz, Kybernetik, Organisationales Lernen Kulturen Smircich, Garfinkel, Weick Politische Systeme Pfeffer, Perrow Psychische Gefängnisse Bion, Menzies, Jaques, Denhardt Fluß und Transformation

Kybernetik, Selbstorganisation, Dialektik

Herrschaftsinstrumente Marx, Weber, Michels

Abbildung 3: Raster nach Morgan (1986)

Kriterium Paradigma Ansätze/Autoren (u.a.) Soziologie des radikalen Wandels/subjektiv

Radikaler Humanismus Anti-Organisationstheorie

Soziologie des radikalen Wandels/objektiv

Radikaler Strukturalismus

radikale Weberianer, radikale Marxisten (Labour Process)

Soziologie der Regulation/subjektiv Interpretative Ansätze Ethnomethodologie, Symbolischer Interaktionismus

Soziologie der Regulation/objektiv Funktionalismus Taylor, Hawthorne Studies, Barnard, Simon, Kontingenzansatz

Abbildung 4: Raster nach Burrell/Morgan (1993)

Schließlich sei noch das Raster von Levy/Merry (1986) aufgeführt, das sich ausschließlich mit Ansätzen zur Erklärung des Wandels befaßt:

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Kapitel 1

Ursache des Wandels Ansätze/Autoren (u.a.) Management Lindblom, Davis, Child Innovation und Kreativität de Bono, Adams, Kirton, Daft, Hage Politisches Handeln Tuchman, Denhardt, Pondy, Zald/Berger, Freire Natürliche Auslese Aldrich/McKelvey, Pfeffer, Hannan/Freeman Interaktion mit Umwelt Pfeffer/Salancik, Hage, Meyer, Miller/Friesen,

Lawrence/Lorsch, Burns/Stalker Entwicklungsstufen Haire, Mintzberg, Greiner, Miller/Friesen Lernen Argyris/Schön Phänomenologische Perspektive Weick, Luckmann, Pfeffer, Bartunek

Abbildung 5: Raster nach Levy/Merry (1986)

Man sieht schnell, daß bereits hier praktisch kein Konsens darüber zu erzielen ist, welche Organisationstheorien sich mit Zeit, Wandel und Transformation beschäftigen und welche nicht. Was Türk als dynamisiert betrachtet, rangiert bei Morgan nicht unter Transformation; Levy/Merry nehmen fast alle Autoren der beiden in ihre Übersicht zu Wandel auf, während Burrell/Morgan erklären, daß fast niemand von ihnen einer Soziologie des radikalen Wandels zuzurechnen ist. Auch wenn aufgrund der o.g. Nachteile die Raster allein keine tragfähige Aussage darüber zulassen, so halte ich das Ergebnis doch für symptomatisch bezüglich der Abhandlung von Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie, und der nach der Lektüre verschiedenster Abhandlungen während des Einarbeitungsprozesses bereits gewonnene Eindruck verfestigt sich: jeder Autor und jeder Ansatz hat irgend etwas mit Zeit und Wandel zu tun, schon allein deshalb, weil alles und jedes, auch Organisationen, sich ständig irgendwie wandeln. Insofern ist die Darstellung von Levy/Merry nicht falsch. Die meisten dieser Theorien beschäftigen sich jedoch nicht ausschließlich mit Zeit und Wandel, haben oft sogar andere Schwerpunkte. So kommen die Einschätzungen von Morgan und Türk zustande. Die, die sich hauptsächlich mit Zeit und Wandel beschäftigen, tun dies auf verschiedenen Ebenen, weshalb auch diese beiden Autoren differieren. Fragt man schließlich, welche Ansätze sich Wandel nicht nur beschreibend, sondern programmatisch nähern, kommt man zu Burrell/Morgans Einschätzung. Abschließend also – und dies als These, die es im weiteren zu verfestigen gilt: jede Theorie betrachtet Zeit, Wandel und Transformation irgendwie ein bißchen, wenige dezidiert und kaum eine mit einem theoretischen Fundament, das dem Untersuchungsgegenstand Rechnung trägt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Martins (1974:249ff.): wenn Zeit und Wandel betrachtet werden, so geschieht das in den meisten Fällen in Form eines thematischen Temporalismus und selten in Form eines substantiellen Temporalismus. Thematischer Temporalismus liegt für Martins vor, wenn Zeit, Diachronie oder Geschichtlichkeit als Themen wissenschaftlicher Analyse (unter anderen) ernstgenommen werden; substantieller Temporalismus liegt vor, wenn sie als “ontologische Ursprünge sozio-

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

kulturellen Lebens” und als “methodologisch vorgelagert” (1974:250) betrachtet werden. Auch Giddens wiederholt an vielen Stellen (1987;1991a:205;1993:110) seine Auffassung, daß Raum und Zeit „im Herzen“ einer Sozialtheorie liegen müßten statt, wie üblich, nur als Koordinaten benutzt zu werden. Der Versuch, Zeit, Wandel und Transformation bereits in die wissenschaftstheoretischen, epistemologischen und sozialtheoretischen Fundamente einer Organisationstheorie einzubauen, soll in den folgenden Kapiteln unternommen werden. Zuvor möchte ich jedoch noch einmal näher auf die diesbezüglichen Probleme bestehender Organisationstheorien eingehen. Die Auswahl der im Kapitel 1.2.3 beschriebenen Ansätze war von drei Überlegungen geleitet: zum einen sollten die fett markierten Teile der Raster mindestens einen Vertreter finden, zum zweiten sollte es sich nicht um theoretisch “überwundene” Ansätze wie z.B. das Scientific Management oder die Hawthorne Studies handeln, und schließlich sollten die Ansätze kein völliges Exoten-Dasein führen, sondern im mainstream anerkannt sein10

Entwicklungs- und Selektionsansätze aus den Rastern nach Levy/Merry (Natürliche Auslese und Entwicklungsstufen) und Türk

. So entschied ich mich für:

Organisationales Lernen aus den Rastern nach Levy/Merry (Lernen) und Türk

Systemtheorie und Selbstorganisation aus dem Raster nach Morgan Labour Process Theory aus dem Raster nach Burrell/Morgan und Morgan Politikansätze aus dem Raster nach Levy/Merry (Politisches Handeln) Institutionalistische Ansätze aus dem Raster nach Levy/Merry (Interaktion mit

Umwelt, anstatt des älteren Kontingenzansatzes) Unbehandelt bleibt die Anti-Organisationstheorie nach Burrell/Morgan aufgrund ihrer geringen Verbreitung. Die phänomenologische Perspektive nach Levy/Merry geht mit Weick in die Entwicklungs- und Selektionsansätze und mit Berger/Luckmann als Grundlage der Institutionalistischen Ansätze ein. Die ersten beiden Perspektiven nach Levy/Merry möchte ich aufgrund meiner Definition von Transformation, die geplanten Wandel ausschließt (siehe Fußnote 2), ausblenden. Ansätze der organizational transformation, deren Einbezug schon aufgrund des Titels nahegelegen hätte, habe ich nicht betrachtet, weil zum einen einige Autoren (etwa Levy/Merry 1986:3f.) auch dort nur vom Management initiierten, geplanten Wandel untersuchen. Zum anderen, und das ist das wichtigere Merkmal, halte ich ihre Konzentration auf second order change (Levy/Merry 1986:4f., vgl. auch Staehle 1991:854f.) für eine Ebene der Betrachtung, die insofern “quer” zu der von mir angewandten liegt, als es auf meiner eher um die verschiedenen Ursachen, nicht die Intensität von Wandel geht. Den Labour Process und die politischen Ansätze 10 Wie so oft, ist mir auch hier bewußt, daß die letzten beiden Kriterien vage sind, jedoch scheint mir die Begründung der Auswahl, gefolgt von der Begründung der Auswahlkriterien schnell in einen infiniten Regreß zu münden, den ich auf diese Weise, d.h. unter Berufung auf gemeinhin Anerkanntes, zu beenden hoffe .

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Kapitel 1

betrachte ich getrennt, weil ich ersterem eine stärker normative, letzteren eine stärker deskriptive Ausrichtung zuschreibe. Schließlich habe ich aus eigenem Antrieb das garbage can Modell hinzugefügt, da ich seinen Aussagewert, wie noch zu zeigen sein wird, in Bezug auf Zeit und Transformation für groß halte.

Methodische Überlegungen zur Darstellung Nach der Auswahl relevanter Ansätze stellt sich die Frage, wie ein eingegrenztes Gebiet behandelt werden sollte. Die Auseinandersetzung mit einem spezifischen Autor erleichtert den Beleg von kritisierten Elementen, da man sich immer auf ein konkretes Buch beziehen kann. Dafür stellt sich das Problem der Repräsentativität des Autors für das jeweilige Gebiet. Umgekehrtes gilt für die generalisierte Abhandlung. Entschließt man sich für die Behandlung eines Autors, so bleibt oft, gerade bei den „Klassikern“, die Frage nach Früh- oder Spätwerk. Mit Weicks Forschungsuhr gesprochen, ist im Fortschreiten des Forscherlebens häufig eine Tendenz von „einfach-allgemein“ zu „genau“ zu beobachten; Spätwerke gelten als abhoben und schwer lesbar. Allgemeiner gesprochen, muß das theoretisch fundierteste Werk nicht das sein, welches die größte Rezeption erfahren hat. Schließlich ist, gerade bei älteren Werken, zu entscheiden, welche Nachfolgeinterpretationen einzubeziehen sind und wie stark sich diese vom Originalautor entfernt haben11

.

allgemein

einfach

genau

Abbildung 6: Weicks Forschungsuhr (Weick 1985:55)

11 Man denke bspw. an das breite Spektrum unterschiedlichster Autoren, die sich in der Genese ihrer Fragestellung auf Max Weber beziehen (vgl. u.a. Lawler/Bacharach 1983:85f., Burrell/Morgan 1993).

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Da ich eine kritische Auseinandersetzung anstrebe und deshalb gerne Belege für die von mir angegriffenen Positionen geben möchte, werde ich die Theorien anhand von Einzelautoren abhandeln. Die Auswahl der Autoren erfolgte dabei nach Lehrbüchern, Lexika und den o.a. Rastern. Ich beziehe mich auf folgende Autoren und Werke:

Ansatz Autoren Entwicklungs- und Selektionsansätze Weick 1969

Hannan/Freeman 1977 Aldrich/Mueller 1982 Quinn/Cameron 1983 Tushman/Romanelli 1985

Organisationales Lernen March/Olsen 1975 Weick 1979 Duncan/Weiss 1979 Hedberg 1984 Fiol/Lyles 1985 Daft/Huber 1987 Pawlowsky 1992 Argyris 1993 Argyris/Schön 1996

Systemtheorie und Selbstorganisation Katz/Kahn 1966 Ulrich/Probst 1984* Probst/Scheuss 1984 Probst 1987 (Luhmann 1988)12

Kirsch/Knyphausen 1991

Knyphausen 1991 Kasper 1991 Baitsch 1993 Klimecki/Probst/Eberl 1994

Labour Process Theory Braverman 1977 Goldman 1983 Storey 1985 Friedman 1987

Politikansätze Pfeffer 1981 Lawler/Bacharach 1983 Küpper/Ortmann 1986 und 1988* Frost/Egri 1991 Crozier/Friedberg 1995 Neuberger 1995 Bacharach/Bamberger/Sonnenstuhl 1996

Institutionalistische Ansätze Meyer/Rowan 1977 Meyer/Scott/Deal 1981 Zucker 1983 Scott/Meyer 1991* DiMaggio/Powell 1991* Selznick 1996

garbage can Modell Cohen/March/Olsen 1972 Cohen/March 1974 March/Olsen 1976

* = Sammelwerke

Abbildung 7: Betrachtete organisationstheoretische Ansätze und Autoren13

12 Da die Luhmannsche Theorie sehr umfassend ist, habe ich mich nur auf die Teile bezogen, die die anderen Autoren in ihre Überlegungen eingearbeitet haben.

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Kapitel 1

Wer mit den Ansätzen vertraut ist, bemerkt schon hier, daß einige der gewählten Autoren bereits intern, d.h. innerhalb einer Gruppe, unterschiedlich vorgehen und argumentieren (z.B. Zucker vs. Meyer/Rowan oder Duncan/Weiss vs. Argyris). Auch hier hoffe ich, mit einer Abhandlung anhand von Autoren den einzelnen mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen als mit einer generalisierten Abhandlung. Daß dies dennoch nicht immer in vollem Umfang möglich war, ist dem Charakter des Kapitels als Einführung und Überblick geschuldet. Wenn auch die Zuordnung der Autoren zu den Ansätzen meist eindeutig geschehen kann, haben sie sich doch nicht unabhängig voneinander entwickelt. Neben der gemeinsamen Bezugnahme auf „Vordenker“, z.B. Karl Weick oder James March, lassen sich auch konzeptionelle Gemeinsamkeiten - eventuell verschieden stark betont - ausmachen. So partizipieren Institutionalistische, Selbstorganisations- und Lernansätze am Evolutionsgedanken. Politische und Labour Process Ansätze bauen eine starke Interessenperspektive auf und teilen mit den Institutionalistischen Ansätze die Vorliebe für historisch-gesellschaftliche Erklärungen. Nicht-Beherrschbarkeit ist sowohl für das garbage can Modell als auch für bestimmte Evolutions- und Selbstorganisationsansätze von großer Bedeutung. Zweifellos sind es diese Gemeinsamkeiten, die zur Erstellung o.g. oder ähnlicher Typologien verlocken. Ich ziehe es dennoch vor, die Ansätze nicht typologisch zusammenzufassen (oder zu trennen), da ich nicht noch eine weitere Konstruktionsebene in der Rezeption einfügen möchte.

Einzeldarstellungen - ein erster Überblick

Entwicklungs- und Selektionsansätze Hierunter möchte ich all jene Ansätze fassen, die Wandel in und von Organisationen in Analogie zu biologischen14 Prozessen als Wachstums- und Evolutionsprozeß konzeptualisieren. Dazu gehören Lebenszyklus- und Stufenmodelle sowie all jene, bei denen interne und/oder externe Selektion die entscheidende Phase des Wandlungsprozesses ausmacht. Auslöser des Wandels sind entweder Veränderungen in der Umwelt, auf die die Organisation (anpassend15

13 Zur leichteren Identifikation wichtiger Artikel ist das Jahr der Ersterscheinung angegeben. Die Jahreszahlen sind somit z.T. andere als die in der Zitierung im Text verwendeten.

) reagiert, aus verschiedensten Ursachen

14 Hannan/Freeman (1991:339) betonen, daß es sich nicht um einen Transfer von biologischen Modellen, sondern um die Anwendung eines allgemeineren Schemas handelt, das eben auch in der Biologie angewandt wird. Diese Feinheit der Unterscheidung möchte ich nicht weiter verfolgen, da sich zumindest für die Rezeption sagen läßt, daß auf Prämissen aufgebaut wird, die dem Publikum aus der Biologie bekannt sind. Weick (1985:174ff.) betont in Weiterführung des Gedankens ausdrücklich, daß es sich beim Evolutionsgedanken um eine Metapher bzw. um ein Ordnungsraster des Beobachters handelt. 15 Gegen eine reine Theorie der Anpassung haben Hannan/Freeman (1991) aufgrund der structural inertia argumentiert.

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

resultierende Variationen, die nicht negativ selegiert werden, oder nicht näher erläuterte Wachstums- und Reifeprozesse, die in Analogie zur Biologie, einem „inneren Programm“ folgen. Der Erklärungsansatz sieht sich in ausdrücklichem Gegensatz zu intentionalen oder rationalen Beschreibungen von organisationalem Wandel (Kieser 1992), nicht weil er intentionale Handlungen nicht als (eine) Quelle der Variation akzeptieren würde, sondern weil er die eigentliche Erklärungskraft nicht der Variation, sondern der Selektion zuschreibt. Voraussetzung für das Funktionieren der Selektion ist ein Wettbewerb gleichartiger Organisationen, etwa um knappe Ressourcen. Analyseeinheit kann neben der Einzelorganisation auch eine größere Anzahl von Organisationen mit gleichen Eigenschaften, sog. „Populationen“, sein. Kleinere Einheiten, etwa Akteure (Weick 1985), werden seltener gewählt. Somit tritt die Organisation meist als Ganzes handelnd (etwa sich anpassend, lernend etc.) auf. Starkes Gewicht liegt aber auch auf Ereignissen, die die Organisation nicht beeinflussen kann (externe Selektion) oder nicht beeinflussen will (structural inertia). Einige Theorien (Tushman/Romanelli 1985:176, Aldrich/Mueller 1982:39, Hannan/Freeman 1991:333, Probst/Naujoks 1995) äußern sich normativ, indem sie eine positive Selektion als Erfolgskriterium werten. Zeit spielt vor allem in den Wachstumsmodellen eine entscheidende Rolle, da sich hier die Entwicklung quasi „von selbst“ entlang eines Zeitstrahls vollzieht. Wenn auch keine konkreten Zeitangaben für das Verweilen von Organisationen auf den einzelnen Stufen gemacht werden, so ist doch klar, daß ihr aktueller Zustand von vergangenen Zuständen abhängt und im Laufe der Zeit die Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel in die nächste Stufe steigt. Für Evolutionsprozesse auf der Ebene der individuellen Wahrnehmung hat Weick (1985) die Zeit bei der Gestaltung, d.h. retrospektiven Sinngebung, und der Abfolge der Retentionen, d.h. Erinnerungen, thematisiert. Hannan/Freeman (1991:338) räumen ein, daß die Wahl des Zeitpunkts bzw. die Dauer der Beobachtung aus überlebenden (= erfolgreichen) tote (= erfolglose) Organisationen machen kann.

Organisationales Lernen Ansätze des organisationalen Lernens verfolgen vielfach Überlegungen der (kognitiven) evolutorischen Anpassung weiter. Lernen wird hier vornehmlich im Sinne der Stimulus-Response als Aktivität der Fehlerkorrektur, die aus einer Soll-Ist-Differenz entsteht, konzipiert. Nur in seltenen Fällen (Pawlowsky 1992, Reber 1992, Hedberg 1984) tritt ein aktives Lernen „aus Neugier“ hinzu. Die Unterscheidung des organisationalen Lernens vom individuellen Lernen wird auf zwei verschiedene Weisen getroffen: entweder beschreibt organisationales Lernen das Lernen von Individuuen in einem spezifisch organisationalen Kontext (March/Olsen 1990, Argyris 1993, Argyris/Schön16

16 Gegen die Unterscheidung der Autoren fasse ich darunter auch das Lernen von Individuen, die legitimierte Vertreter einer Organisation sind.

1996) oder eine spezielle Form von Wissen, die zwar durch

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Kapitel 1

Individuen erworben und weitergegeben, ihrem Charaker nach jedoch öffentlich bzw. sozial ist (Duncan/Weiss 1979, Pawlowsky 1992). Beide Ansätze orientieren sich damit stark an der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (Argyris 1993, Pawlowsky 1992, Weick 1979, Duncan/Weiss 1979, Schirmer 1992). Der öffentliche Charakter des Wissens impliziert jedoch nicht, daß unbedingt alle Organisationsmitglieder am organisationalen Lernen teilhaben müssen oder können; es geht um potentielle öffentliche Zugänglichkeit, die nach Ansicht mancher Autoren (Duncan/Weiss 1979) nur für die „dominante Koalition“ innerhalb der Organisation relevant ist17. Der Lernprozeß selbst kann Korrekturen innerhalb der geltenden Grundannahmen (single loop learning18), Korrekturen der Grundannahmen selbst (double loop learning) oder Korrekturen am Lernprozeß selbst (deutero learning) umfassen. In wie weit dabei bewußte oder (im Rahmen der theory-in-use) unbewußte Inhalte, Kognitionen oder Praktiken betroffen sind, wird nicht weiter thematisiert19

Zeit, speziell die Vergangenheit, wird vor allem für die zweite Variante des organisatorischen Wissens relevant, wenn nämlich organisationales Wissen aufgrund seiner Speicherung innerhalb der Organisation von Individuen getrennt und unabhängig gemacht wird. Aspekte der Zukunft kommen dagegen - zunächst verwunderlich für eine Theorie des Lernens - relativ wenig vor, da die Wahrnehmung der Soll-Ist-Differenz in der Gegenwart geschieht.

; der individuelle Lernvorgang folgt bekannten psychologischen Lerntheorien (vgl. Hedberg 1984, Reber 1992). In jedem Fall ist das so erworbene Wissen der Organisation zwar eventuell größer als das der Summe ihrer aktuellen Mitglieder, jedoch kleiner als das aller ehemaligen und aktuellen Mitglieder, da die Möglichkeit unvollständiger Lernschleifen bzw. die öffentliche Natur des Wissens reduzierend wirken. Häufig wird auch hier angenommen, daß Lernen zu normativ besserem Verhalten führt (Duncan/Weiss 1979:78, Fiol/Lyles 1985, Pawlowsky 1992:204) bzw. daß „gutes“ und „schlechtes“ Lernen voneinander zu unterscheiden sind und „gutes“ Lernen angestrebt werden kann (Daft/Huber 1987, Argyris 1993, Argyris/Schön 1996). Wie sich eine dynamische Umwelt auf das organisationale Wissen auswirkt, ist nicht eindeutig geklärt, meist wird jedoch auch hier eine individualpsychologische U-Kurve herangezogen, die den Lernerfolg dort am höchsten ansetzt, wo weder völlige Instabilität noch völlige Statik herrschen (Hedberg 1984:12ff.).

Systemtheorie und Selbstorganisation Naturwissenschaftliche und soziologische Systemtheorien haben vor allem über das Konzept der Selbstorganisation Eingang in die Organisationstheorie

17 vgl. etwa auch die Aussage, daß Manager andere Funktionen beim organisationalen Lernen wahrnehmen als Mitarbeiter, z.B. als Designer, Verwalter (steward) und Lehrer (Senge 1990:341ff.) 18 Die verwendeten Begriffe entstammen der Theorie von Argyris/Schön (1996), sind jedoch auf dieselben Sachverhalte in anderen Ansätzen (vgl. Pawlowsky 1992:205) übertragbar. 19 Ausnahme: Weicks (1979) These, daß das Handeln dem Denken vorangeht und die „Rohstoffe“ für die Kognitionen liefert.

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

gefunden. Theoretisch „neu“ ist dabei in der soziologischen Systemtheorie (vgl. Luhmann 1988) wesentlich der Gedanke einer Eigenständigkeit des Sozialen, d.h. daß soziale Entitäten nicht aus den Intentionen der Individuen aufgebaut, sondern eigenständig (z.B. unter Bezug auf Handlungen oder Sinn) konzipiert werden. Selbst Autoren (Ulrich 1984, Hejl 1984), die Individuen als die Elemente des sozialen Systems ansehen, verweisen auf den großen Anteil nicht-intendierter Konsequenzen (unintended consequences) menschlichen Verhaltens, den es zu berücksichtigen gilt. Dies kann nach Auffassung der Autoren nur geschehen, wenn man eine „ganzheitliche“, d.h. systemische Perspektive für die Betrachtung wählt (Lehmann 1992, Probst 1992 und 1987, Ulrich 1984, Malik 1984). Beide Varianten weisen m.E. noch keine wirklich befriedigenden Lösungen der Problematik Individuum-Organisation auf: während Luhmanns Beschreibungen der „Interpenetration“ nicht gerade erhellend wirken20 und seine funktionalistische Reduktion auf Entscheidungen bei Organisationen verhaltenswissenschaftlich kaum überzeugt (vgl. Kirsch/Knyphausen 1991), stößt die Individuen-als-Elemente-Prämisse schnell auf Inkonsistenzen bzgl. der Autopoiese (vgl. Hejl 1984). Dennoch bleibt der Ansatz aufgrund mehrerer Überlegungen interessant: Neben der Eigenständigkeit des Sozialen ist hier die Betonung der Beobachterperspektive sowie der Gedanke der Nicht-Beherrschbarkeit zu nennen. Die Betonung der Beobachterperspektive (Kirsch/Knyphausen 1991, Probst 1987, Hejl 1984, Checkland 1984, Malik 1984) entstammt der naturwissenschaftlichen Systemtheorie (Varela21 1984). Sie faßt die Systemtheorie nicht als Ontologie auf, sondern als eine Variante der Beschreibung unserer Beobachtungen. Dies wird abgeleitet aus der Prämisse, daß Organismen ihre Umwelt selbst konstruieren und somit nur „sehen“ können, was ihrem Bauprinzip entspricht. Damit sagt die Beobachtung mehr über den Beobachter als über das Beobachtete aus. Der Gedanke der Nicht-Beherrschbarkeit folgt aus der Komplexität des Systems und dem daraus resultierenden Eigenverhalten22

20 Luhmann (1988:290) definiert Interpenetration als eine Intersystembeziehung mit folgenden Eigenschaften: 1. Jedes System stellt dem anderen seine Komplexität zum Aufbau zur Verfügung => beide Systeme ermöglichen sich wechselseitig, indem sie ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen. 2. Jedes System wirkt sowohl auf das Verhalten als auch auf die Struktur des anderen.

. Ursache des Wandels ist die Eigendynamik des Systems, die entweder aus von Individuen angestoßenen, aber sich verselbständigenden Prozessen resultiert (Ulrich 1984:81, Malik/Probst 1984:105) oder aus der operationalen Geschlossenheit des Systems, die zur

Zunächst ist anzumerken, daß Begriffe wie „Verhalten“ oder „zur Verfügung stellen“ leicht in Bezug auf das Verhältnis Individuum-soziales System, weniger leicht jedoch z.B. in Bezug auf das Verhältnis psychisches System-Organismus zu verstehen sind, oder anders ausgedrückt: vom „Verhalten“ von sozialen Systemen, Individuen, psychischen Systemen und Nervenzellen zu reden, nimmt der Terminologie einiges von ihrer Schärfe. Weiter verwischt sich mit der engen Bindung zwischen den Systemen die Unterscheidung zwischen einem penetrierendem (selbständigem) und einem Teilsystem. Wollte man sie mit dem Verweis auf die Eigenkomplexität eines selbständigen Systems herstellen, müßte man sicher den Unterschied zwischen Komplexität und Eigenkomplexität eines Systems erläutern, was Luhmann nicht tut. Schließlich ist im gleichen Zusammenhang die Rede davon, daß sich die Systeme gegenseitig „ermöglichen“ nur verständlich, wenn man nicht wie Luhmann annimmt, daß diese „vorkonstituiert“ sind; beides gleichzeitig kann ich nicht nachvollziehen. 21 Varela zweifelt jedoch an der Übertragbarkeit systemtheoretischer Ansätze auf die Sozialwissenschaften (Ulrich/Probst 1984:152). 22 Varela (1984:26) definiert Eigenverhalten: „It is as if once the closure of the system is achieved, it automatically takes care of the generation of its internal regularities.“ Die Geschlossenheit des Systems bezieht sich dabei allein auf die operationale Ebene der Selbstreferenz und -reproduktion; bezüglich der Umwelt handelt es sich bei sozialen Systemen um offene Systeme.

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Kapitel 1

Reproduktion „zwingt“, erklärt wird (Kasper 1991:5, Kirsch/Knyphausen 1991:78f.). Umso überraschender mutet nach diesen Thesen die deutliche Gestaltungsorientierung des Selbstorganisationsansatzes (Probst 1987 und 1984, Malik 1984) an: zwar wird den Managern statt Führung (von Menschen) Steuerung (von Systemen) empfohlen, doch bleibt der Gedanke der Eingriffsmöglichkeiten und -berechtigung von Managern erhalten (Ausnahme: Dachler 1984:143f.). Diese theoretisch nicht ganz saubere Vermengung von Selbst- und Fremdorganisation wurde bereits von externen Kritikern (Kieser 1994) gesehen, wird z.T. aber auch innerhalb des Ansatzes (Probst/Scheuss 1984, Knyphausen 1991) thematisiert. Sie ist m.E. den pragmatischen Anforderungen westlicher Arbeitsstrukturen, die Management in Differenz zu (Mit-)Arbeitern konzipieren, geschuldet und vermutlich aus diesem Grund auch niemals theoretisch konsistent einzubauen. Knyphausens (1991) Argument, daß sich Selbstorganisations-Ansätze gegen eine “harte” fremdorganisierende Führung wenden und eine “Kontextsteuerung” anstreben (ähnlich auch Klimecki et al. 1994:72, Probst 1987), weist natürlich eine pragmatische Richtung auf, kann jedoch theoretisch wenig befriedigen, denn “weiche” Formen der Herrschaftsausübung müssen nicht unbedingt weniger effektiv sein (vgl. etwa an Lukes’ unobtrusive power)23

Neben der Systemrelativität der Zeit, die sich unmittelbar aus den Beobachter-Überlegungen ergibt, wird von manchen Autoren (von Foerster 1984, Malik/Probst 1984, Probst 1992, Baitsch 1993) auch die Bedeutung der Systemvergangenheit für die Beschreibung des Eigenverhaltens betont, d.h. das Eigenverhalten kann für einen Beobachter nur dann (bedingt) verständlich werden, wenn er die Vergangenheit des Systems kennt

.

24

.

Labour Process Theory Die Theorie, die sich weitgehend in der Nachfolge von und Auseinandersetzung mit Braverman (1977) entwickelt hat, versucht, die marxistische Gesellschaftstheorie in die Organisationstheorie oder genauer: in die Analyse des Produktionsprozesses (wieder-)einzuführen. Grundthemen sind dabei der Konflikt zwischen Arbeitern und Managern/Unternehmern25

23 Ich möchte aus diesem Grund im folgenden (v.a. Kapitel 2.8.2) bei der Betrachtung von Selbstorganisations-Ansätzen wesentlich die Komponente “Selbstorganisation” und nicht die Komponente “Fremdorganisation” (die theoretisch nichts Neues bietet) betrachten, da mir die Frage, wann Selbstorganisation ohne Fremdorganisation funktioniert und wann nicht, eine empirisch zu entscheidende zu sein scheint.

sowie die Aspekte der Kontrolle und Dequalifizierung, die damit einhergehen. Analyseeinheit ist weniger die Organisation als vielmehr die in ihr tätigen Gruppen (speziell die

24 Nicht weiter eingehen möchte ich hier auf Luhmanns (1992) „Transformation von Kontingenz“, die auch zeitrelevante Aspekte enthält, da dies einen größeren Exkurs zur Luhmannschen Theorie voraussetzen würde. 25 Die Stellung des Managements ist nicht unproblematisch: während es einerseits Kapitalinteressen vertritt und deshalb als deren Repräsentant behandelt wird, zeigt andererseits bereits Braverman (1977:225ff.), daß auch die Managementfunktion einer beginnenden tayloristischen Trennung von Hand- und Kopfarbeit und damit der Dequalifizierung ausgesetzt ist. Andere Autoren (Thompson 1993, Storey 1985) haben dies zum Anlaß genommen zu fragen, ob das Management überhaupt als geschlossene Gruppe zu betrachten sei.

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Arbeiterklasse); der Fokus liegt auf dem Produktionsprozeß (Goldman 1983:51). Die Wandelbetrachtung entnimmt ihre Dynamik dem dialektischen Verhältnis von Arbeitern und Managern als Vertretern gesellschaftlicher Klassen26

Formal wichtig ist die Zeit, i.e.S. die Geschichte, für die Betrachung der dialektischen Entwicklung der Gesellschaftsformen auf der Makroebene und der Auseinandersetzungen auf der Ebene der Organisation. Inhaltlich spielt die Auseinandersetzung um die Arbeitszeit eine zentrale Rolle, da nach Marx’ (1978) Verständnis ja nicht die Arbeit selbst, sondern die Arbeitszeit bei der Bestimmung des Wertes der Arbeitskraft die entscheidende Rolle spielt und damit zum zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung beider Klassen wird. Schließlich hat Braverman in seiner Kritik des Taylorismus auch aufgezeigt, wie Zeit und Aufteilung von Zeit zum Kontrollinstrument gemacht werden können.

, die sich in einem prinzipiellen Konflikt befinden. Dieser Konflikt beruht auf Widersprüchen innerhalb des kapitalistischen Systems und ist deshalb auch nicht auf der Ebene der Organisation zu lösen. In der Organisation spielt sich der Kampf um die Herrschaft ab, wobei das Management aufgrund des Besitzes der Produktionsmittel stets einen Machtvorsprung besitzt. Deshalb wird die Rolle der Arbeiter meist als „Widerstand gegen...“ umschrieben. Was die „Strategie“ des Managements angeht, so ist umstritten, ob es sich bei Bürokratie,Taylorismus, Dequalifizierung und zunehmender Kontrolle um intendierte Prozesse handelt oder um phänomenologische Trends, die eine gewisse Eigendynamik entwickelt haben. Kritiker der ersten Hypothese (u.a. Thompson 1993a, Friedman 1987) verweisen vor allem auf die panacea fallacy, also das Problem, daß in der Darstellung mancher Labour Process Theoretiker das Management stets die richtige Antwort auf seine Probleme rational und unzweifelhaft zu kennen scheint.

Politikansätze Im politischen Modell entspringt Wandel dem steten Willen der individuellen oder kollektiven Akteure, ihre Interessen durchzusetzen. Da stets mehr als ein Interesse in einer Organisation zu identifizieren ist, ist dafür gesorgt, daß der Prozeß permanent abläuft. Manche Autoren (Pfeffer 1991) schränken diese Aussage dahingehend ein, daß sich politische Prozesse nur in Abwesenheit rationaler Entscheidungsprozesse abspielen; jedoch läßt sich auch in diesem Fall feststellen, daß politisch motivierter Wandel eine zumindest sehr häufige Quelle von Veränderungen ist27

26 Ob es sich dabei im Marxschen Sinne um Klassen „an sich“ oder „für sich“ handelt, ist umstritten. Braverman selbst gibt, einer objektivistischen Epistemologie folgend, an, Klassen „an sich“ zu untersuchen; Burawoy (1982) dagegen benutzt einen individualistischen Ansatz, der von einer Formung des Bewußtseins am Arbeitsplatz ausgeht.

. Politische Wandlungsprozesse können sich sowohl inkremental als auch revolutionär

27 Pfeffer (1991) spricht von einem „law of political entropy“, das besagt, daß auch apolitische (rationale, bürokratische) Entscheidungen in Organisationen die Tendenz haben, politisiert zu werden. Politisierte Entscheidungen können nur noch schwer wieder ent-politisiert werden.

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Kapitel 1

vollziehen. Bei der Frage, auf welche Weise die Akteure ihre Interessen durchsetzen, wird meist auf Machtbetrachtungen in Verbindung mit Ressourcen und Legitimation rekurriert und auf ein weites Feld von Taktiken verwiesen (Neuberger 1995, Pfeffer 1992). Die auf der Mikroebene angesiedelte Betrachtung ist deshalb stark auf empirisches Material angewiesen und beansprucht meist, von wenigen generellen Prinzipien abgesehen, für ihre Erklärungen nur lokale Geltung (Ortmann 1992b, Friedberg 1992; Crozier/Friedberg 1995 sprechen von einer „Heuristik“). Der Interessenbegriff bleibt im Normalfall inhaltlich unausgefüllt, da nur die Form des interessegeleiteten Handeln, nicht sein spezifischer Inhalt von Bedeutung ist (Lawler/Bacharach 1983, Crozier/Friedberg 1995). Die Handlungsfreiheit der Akteure wird von einigen Autoren (u.a. Crozier/Friedberg 1995, Frost/Egri 1991, Küpper/Ortmann 1986) durch die Metapher des Spiels mit akteursunabhängigen Einschränkungen verbunden: das Spiel beschreibt das (arbiträre) Regelwerk, dem sich alle unterwerfen müssen, die an dem Prozeß teilnehmen wollen; es definiert Rationalität, erlaubte Handlungen und Gewinnstrategien. Dabei ist eine Änderung der Spielregeln als politischer Prozeß auf der Metaebene möglich. Eine Organisation kann mehrere Spiele beherbergen. Prinzipiell ist die Geschlossenheit der Organisation nach außen für politische Ansätze kaum relevant, da Akteure z.B. auch auf externe Machtquellen rekurrieren können. Von besonderer Bedeutung sind relationale Definitionen von Macht, Herrschaft, Legitimation, Status etc., die wiederum darauf verweisen, daß es sich auch bei diesen Begriffen nicht um „Dinge“ handelt, sondern um Ergebnisse sozialer Prozesse, die prinzipiell instabil sind. Sieht man von allgemeinen Aussagen zum prozessualen Charakter der Theorien sowie zur Notwendigkeit von historischen Betrachtungen (hier: Entstehungsgeschichte) ab, so spielt Zeit in politischen Ansätzen keine systematische Rolle.

Institutionalistische Ansätze Ähnlich wie in der Systemtheorie steht auch bei diesen Ansätzen die Frage nach den unintended consequences und nach nicht reduzierbaren, überindividuellen Analyseeinheiten im Vordergrund (vgl. DiMaggio/Powell 1991a:8f.). Ihr Augenmerk richten sie auf die Organisation-Umwelt-Beziehung und hier vor allem auf den Einfluß der Institutionalisierung auf den organisationalen Wandel. Zunächst ausgehend von der Tatsache, daß Organisationen außer Effizienz auch soziale Ziele, vornehmlich Legitimation, anstreben und anstreben müssen, um zu „überleben“ (Meyer/Rowan 1992, Zucker 1983), weiteten die Autoren diese These rasch aus: Institutionen28

28 Es ist zu beachten, daß die Defintion von „Institution“ bei den Autoren nicht einheitlich ist (z.B. DiMaggio/Powell 1991a:9 vs. Jepperson 1991:143ff.).

, so die allgemeinere Annahme, schreiben Organisationen im Rahmen dessen, was sie als rational definieren, Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungen vor (Jepperson 1991:157f., Powell 1991:187ff., Jepperson/Meyer 1991,

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Friedland/Alford 1991:250ff.). Wirtschaften ist - trotz der Betonung auf Privateigentum und privatem Interesse - primär öffentlich, da nicht nur die Organisationen, sondern auch das Handeln der Akteure selbst (öffentlich) legitimiert sein muß (Jepperson/Meyer 1991:207f.). Der Anpassungsprozeß der Organisation an die Umwelt wird durch die soziale Konstruktion der Wirklichkeit begründet29: zum einen können keine anderen Probleme und Lösungen gesehen werden als die, die etablierte, sinnstiftende Institutionen zu sehen erlauben, zum anderen läßt ein Abweichen davon die Organisation selbst als Problem erscheinen, was negative Folgen für ihre Interaktionen mit sich bringt. Aus diesem zweiten Grund schließen sich das Streben nach Effizienz und nach Legitimität auch prinzipiell nicht aus. Diese zunächst einfache Wirkungskette wird kompliziert, da man Organisationen selbst Institutionencharakter zuschreiben muß. Organisationen werden also nicht nur beeinflußt, sondern wirken selbst auch als sinn- und rationalitätsstiftende Institutionen. Diese Institutionalisierung der Organisation erklärt z.B. auch die große Verbreitung von Organisationen in der modernen Welt als selbstverstärkenden Prozeß: je mehr Organisationen es gibt, desto rationaler erscheint diese Form (Meyer/Rowan 1992:26ff., Zucker 1983, Jepperson/Meyer 1991). Die Betonung der Institutionalisierung und Routine legt generell ein Bild des inkrementalen Wandels, der höchstens von Krisen unterbrochen wird, nahe30

Mit Ausnahme der notwendigen Abfolge von Generationen bei der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit bzw. von Institutionen (Zucker 1991 in Anlehnung an Berger/Luckmann (1994) werden zeitspezifische Überlegungen in institutionalistischen Ansätzen nicht angestellt.

.

Das garbage can Modell Das Modell kritisiert, ausgehend von empirischen Befunden zu Entscheidung und Entscheidungsprozeß in Organisationen, klassische Modelle der rationalen Wahl, aber auch z.B. Motivationstheorien und politische Modelle. Im Mittelpunkt steht dabei die Überzeugung, daß in mehrdeutigen Situationen keine klaren Aussagen zu Zielen, Technologien (d.h. Zweck-Mittel-Beziehungen) und Entscheidern getroffen werden können. Der sog. vollständige Entscheidungszyklus, d.h. die Abfolge von individuellen Überzeugungen über individuelles Verhalten, organisationales Handeln und Umweltreaktionen zurück zu individuellen Überzeugungen ist an jedem Übergang aus vielfachen Gründen unterbrochen. An seiner Statt wird nun ein Modell konstruiert, in dem sich u.a. verschiedene Probleme, Lösungen, Teilnehmer und Entscheidungsgelegenheiten als Ströme zunächst unabhängig voneinander in der Organisation bewegen. Das „zunächst“ ist dabei weitgehend analytisch zu verstehen; es bedeutet, daß jede Verbindung der Ströme erklärungsbedürftig (z.B. durch Strukturen) ist. Speziell sind 29 siehe dazu jedoch die Einschränkung Seite 56 30 Ausnahme: Friedland/Alford (1991) betonen, ausgehend von institutionellen Widersprüchen, die Erklärungsbedürftigkeit von stabilen Zuständen.

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Kapitel 1

Probleme und Lösungen, Entscheidungen und Entscheidungsprozesse nicht so notwendig miteinander verknüpft, wie dies klassische Modelle annehmen. Bezüglich des Wandels heißt das, daß der Kontext der jeweiligen Entscheidung inklusive Zufälle, Gleichgültigkeit, Zwang, Überlastung, timing usw. maßgeblichen Anteil an der Erklärung hat. Auch zeitliche Überlegungen spielen eine große Rolle. In dem Maße, in dem die vier Ströme nicht mehr inhaltlich-logisch aneinander gebunden sind, wird ihre gleichzeitige Anwesenheit, auch wenn sie nur zufällig ist, wichtig. Je unstrukturierter die Entscheidung, so die weitere Annahme, desto größer ist der Einfluß von zeitlicher Abfolge, Zeitmustern und Zeitbudgets der Teilnehmer.

Zu Absicht und Vorgehensweise der Kritik Wenn die dargestellten Ansätze in den folgenden Kapiteln (vor allem 2.8.2) kritisiert werden sollen, dann halte ich es für notwendig, zunächst einmal den Ausgangspunkt meiner Kritik, d.h. meine eigenen Überzeugungen und Annahmen offenzulegen. Dazu dienen die anschließenden Ausführungen zur postmodernen Wissenschaftstheorie. Der Versuch, Kritik auf „neutrale“ Weise zu üben, kann m.E. nur in zwei Fällen unternommen werden: wenn der Kritiker unreflektiert vorgeht und seinen eigenen Standpunkt

priveligiert, ohne zu sehen, daß er einen einnimmt (was eine unechte Neutralität bedeutet),

wenn die Theorie aufgrund ihrer eigenen Inkonsistenz zu Fall gebracht werden kann.

Da ich schon bei der Auswahl der Theorien nur auf etablierte zurückgegriffen habe, möchte ich annehmen, daß auch dieser zweite Fall nicht auftreten wird. Ich gehe davon aus, daß Ansätze in diesem fortgeschrittenen Stadium weder gravierende noch offensichtliche Inkonsistenzen aufweisen31

31 Wenn ich mich hier etwas vorsichtig-umständlich ausdrücke, so ist das dem Umstand geschuldet, daß die Bescheinigung von „Konsistenz“ meist auch nur hinsichtlich des pragmatischen Umgangs mit Theorien erfolgt - was vollkommen vernünftig ist. Begibt man sich tief genug in die Begriffswelt (im Volksmund als „Haarspalterei“ bezeichnet), kann man fast jede Theorie aufgrund einer Inkonsistenz zu Fall bringen. Dies beabsichtige ich jedoch nicht zu tun.

. Aus der Offenlegung des eigenen Standpunkts folgt sofort, daß die Kritik relativ ist, d.h. die Aussage lautet nicht „Theorie X ist unbrauchbar“, sondern „Wenn man den Standpunkt S teilt, dann wird Theorie X in der Anwendung (bezüglich der Punkte a,b,c) problematisch“. Die Relativierung der Kritik dient an dieser Stelle nicht der leichteren Verteidigung der eigenen Position, sondern der pluralistischen Werthaltung, die ich im folgenden noch ausführlicher erläutern werde. Wenn man wie ich der Auffassung ist, daß die Welt zu komplex ist, um durch eine Theorie beschrieben zu werden, dann kann man nicht dem traditionellen „Gang der Untersuchung“ folgen, der zunächst alle anderen Ansätze erschlägt, um das Feld für den eigenen frei zu machen. Die hier verfolgte Vorgehensweise ist eine Prämissen-orientierte: sie entscheidet sich für bestimmte, legt sie offen und zieht daraus Schlüsse.

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Zeit, Wandel und Transformation in der Organisationstheorie

Das ist die Grundkonzeption der Arbeit. Was andere Ansätze mit anderen Prämissen tun, ist komparativ interessant (im Sinne einer Differenz zum eigenen), aber nicht im Fokus der Betrachtung. Die Wahl der postmodernen Perspektive ist mehreren Gründen geschuldet. Zum einen handelt es sich um einen relativ neuen, viel diskutierten32

32 zumindest in der englischsprachigen Literatur

Ansatz, dessen Möglichkeiten und Grenzen es noch abzustecken gilt. Zum zweiten erlaubt er inhaltlich einen pluralistischen Umgang mit Standpunkten, der auch versucht, Widersprüche zu inkorporieren. Schließlich gilt ihm Wandel und Umbruch als zentrales Thema, was der eingangs gestellten Forderung bezüglich des „Herzens“ der Sozialwissenschaft Vorschub leistet.

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Kapitel 1

22

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Postmoderne Wissenschaftstheorie1

It is time that organisation theory became fully aware of its pedigree. It is time for it to think more consciously about the social philosophy on which it is based. In short, it is time that it became more fully aware of its relationship to the 'big issues'. Only by grounding itself in a knowledge of its past and of the alternative avenues for development can it realise its full potential in the years ahead.

G. Burrell und G. Morgan

Zum Begriff der Postmoderne Das Feld der Postmoderne ist hinsichtlich der vertretenen Konzepte weiter und uneinheitlicher, als es einem, der darüber reflektieren will, lieb sein kann. Allein die Zuordnung von Autoren und Konzepten - vom Verständnis ganz zu schweigen - trifft auf unterschiedlichste Varianten, ja, nicht einmal das Etikett "Postmoderne" ist unumstritten. Häufig finden sich in derselben Verwendung die Termini "Dekonstruktivismus" und "Poststrukturalismus", weniger häufig weitere Komposita mit der Vorsilbe "post", etwa "post-industrielle (Ansätze)" oder "Post-Fordismus". Die folgende Darstellung stellt deshalb, auch wenn sie versucht, einen weitreichenden Überblick zu geben, notwendig meine Version „der“ Postmoderne dar. Es ist bereits zu Beginn hilfreich, Hassard folgend (Hassard 1993:2f.), zwischen Postmoderne als Bezeichnung für eine Epoche und Postmoderne als Epistemologie zu unterscheiden2

.

Postmoderne als Epoche Postmoderne als Epoche identifiziert die aktuellen Phänomene des industriellen Wandels, betitelt mit Schlagwörtern wie "Ende der Massenproduktion", "Flexibilisierung" und "Informationszeitalter", als epochalen gesellschaftlichen Umbruch und Neuanfang. Meist in diesem 1 Die Unterkapitel 2.1 bis 2.7 stellen die überarbeitete und erweiterte Fassung eines publizierten Artikels (Weik 1996) dar. 2 Ähnliche Unterscheidungen treffen Bauman (1988) mit „postmodernity“ (Epistemologie) und „sociology of postmodernity“ (Betrachtung der Epoche), Rouleau/Clegg (1992) mit „postmodernism“ (Epistemologie) und „postmodernity“ (Epoche) oder Parker (1992) mit „postmodern“ (Epistemologie) und „post-modern“ (Epoche).

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Kapitel 2

Zusammenhang werden die oben angeführten "post"-Komposita als Synonyme gebraucht. Für die Organisationswissenschaft relevante Fragen betreffen hier vor allem die Anpassung industrieller Organisationen (an in diesem Sinne) neue Umwelten; hier hat das Schlagwort der „Japanisierung“ in der letzten Dekade für Diskussionen gesorgt. Verändert gegenüber Betrachtungen der vorhergehenden Jahrzehnte hat sich dabei jedoch nur Inhaltliches: es werden neue Mittel (z.B. just-in-time) für die alten Ziele (z.B. Gewinn) im Rahmen der alten Sozialtechnologie vorgeschlagen. Wie Burrell (1989:310) treffend bemerkt, vollzieht sich der Übergang bei den Management-Bestsellern nahtlos: „Without ever embracing modernism, they move from pre- to postmodern times.“ Die alten Schlagwörter werden durch neue ersetzt; der Unwillen zur kritischen Reflexion, differenzierten Betrachtung und wenigstens ansatzweisen theoretischen Fundierung bleibt erhalten (vgl. auch Kieser 1996). Von Betrachtungen dieser Art sind wissenschaftliche, meist soziologische Überlegungen zu trennen, die versuchen, einen gesellschaftlichen Wandel zu identifizieren, der mit Grundtatbeständen der Moderne bricht. Hierunter fallen Becks (1990) Risikogesellschaft ebenso wie Giddens’ Spätmoderne (vgl. Kapitel 8.4.1) oder Lashs (1988) Ent-differenzierung und Figuration. Die Frage, in wie weit diese Phänomene erstens signifikant sind und zweitens Brüche oder Fortsetzungen der Moderne darstellen, möchte ich in dieser Arbeit nicht zu klären unternehmen (vgl. dazu auch Kapitel 2.2.1). Alvessons (1995) Kritik an der Postmoderne als Epoche führt sicher nicht zu Unrecht an, daß zum einen jeder Autor unterschiedliche Charakteristika als „spezifisch postmodern“ identifiziert und zum zweiten die empirische Basis der Beobachtungen meist zu wünschen übrig läßt. Darauf entgegnen Hetrick/Boje (1992), ebenfalls nicht zu unrecht, daß oftmals ein Diskurs über postmoderne Phänomene, der unzweifelhaft vorhanden ist, dieselben Wirkungen zeitigt wie analoge empirische Tatbestände. Doch möchte ich diese Diskussion, wie gesagt, nicht weiter vertiefen. Da diese Arbeit an der postmodernen Wissenschaftstheorie interessiert ist, genügt es zu sagen, daß all die o.a. Betrachtungen dem traditionellen (modernistischen) Wissenschaftsverständnis und seinen Methoden verpflichtet bleiben. Sie streben, wie Clegg (1992:31) es formuliert, „a modernist understanding of postmodernist conditions“ an. Da es mir in dieser Arbeit um ein „postmodernist understanding“ geht, möchte ich mich nun der postmodernen Epistemologie zuwenden3

.

3 Den interessanten Versuch der Verbindung beider Perspektiven unternimmt Bauman (1988), indem er die Postmoderne als Umbruchsphase für einen Teil der Gesellschaft, nämlich die Intellektuellen beschreibt. Nach seiner Darstellung verliert die institutionalisierte Wissenschaft, zumindest in Teilen, zunehmend ihre Hauptfunktion: die Legitimierung staatlicher Ziele und Maßnahmen. Mit dem Verlust der staatlichen Relevanz gehen der Verlust staatlicher Finanzierung und die Freiheit von staatlicher Kontrolle einher. Dies hat wiederum Konsequenzen für das wissenschaftliche Arbeiten, wie es unter dem Stichwort „Postmoderne als Epistemologie“ beschrieben wird: Kritik, Experimente etc. werden im mainstream möglich, allerdings um einen Preis: „Even the most iconoclastic of their products fail to arouse the intended wrath of the dominant classes and in most cases are received with devastating equanimity.“ (1988:224)

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Postmoderne als Epistemologie Gegenstand dieser Epistemologie, auf die auch Begriffe wie "Poststrukturalismus" und "Dekonstruktivismus" verweisen4

Die Bezeichnung "Epistemologie" sollte bei keinem der aufgeführten Autoren darüber hinwegtäuschen, daß die "Theorie" keineswegs wertneutral im Raume steht, sondern, wie es der französischen Philsophie wohl stets stärker als der deutschen eigen war, immer auch politische Motive und Implikationen mit sich bringt. Der ewige trade-off zwischen Pragmatik und logisch zwingender (theoretischer) Argumentation steckt auch hier den Teufel ins Detail: an manchen Stellen erscheint die Argumentation willkürlich, die Sprache hochmetaphorisch und die Lust an Ästhetik und Rhetorik der gedanklichen Stringenz abträglich. Dazu kommt, daß ein einheitliches Theoriegebäude, das auf wenigen Prämissen aufbauend deduziert, gerade einer der wesentlichen Intentionen der Postmoderne widerspräche

, ist im wesentlichen das wissenschaftliche Geschehen: Personen und Institutionen, aber auch wissenschaftliche Aussagen, Theorien und Forschungsansätze. Sie ist m.E. nicht notwendig an die Annahme eines epochalen gesellschaftlichen Umbruches gebunden, obwohl ihre Notwendigkeit von vielen Autoren daraus abgeleitet wird.

5

Was der Leser schließlich erhält, sind einzelne Thesen, die sich einbauen lassen, zentrale Begriffe, die auf ihre Verwendbarkeit im eigenen Kontext geprüft werden können, und eine Gesamtsicht wissenschaftlicher Tätigkeit, die in ihrer (Un-)Begründetheit mit jeder anderen Epistemologie konkurrieren kann - aber daraus wenigstens die entsprechenden Konsequenzen zieht.

.

Grundlegend für ein postmodernes Welt- und Wissenschaftsverständnis ist ein semiotischer Blickwinkel. Die bereits vom Konstruktivismus festgestellte "Unhintergehbarkeit der Sprache", d.h. die Unmöglichkeit, Gedanken und Wahrnehmungen ohne Gebrauch von Zeichen, meist Wörtern, zu kommunizieren, wird hier zum Ausgangspunkt für das gesamte Paradigma. Man geht von Wittgensteinschen Überlegungen aus, wenn man feststellt, daß Sprache nicht nur Realität beschreibt, sondern Realität schafft, indem sie einerseits die Wahrnehmung beeinflußt und andererseits Ausgangspunkt für realitätsbeeinflussende Handlungen sein kann. Da Sprache jedoch durch unsere Lebensform bestimmt wird, die Natur aber nicht, ist anzunehmen, daß es einen dritten Bereich, den des "Unaussprechlichen" gibt (vgl. Hassard 1990b:226f., Lyotard 1985:71). Sprache und Welt besitzen demnach keine deckungsgleiche Extension, und selbst die Annahme einer Strukturähnlichkeit für die "Schnittmenge" bleibt wissenschaftlichen Ansprüchen entzogen, da man, wie Wittgenstein feststellt, durch keinen logischen oder mathematischen Satz ausdrücken kann, was die Strukturähnlichkeit zwischen Welt und Sprache ausmacht (Lyotard 1985:71). Angesichts dieser Eigenständigkeit der Sprache lehnt die postmoderne Philosophie die "flache Vorstellung" der Sprache als Information ab, eine 4 Eine genauere Darstellung des Dekonstruktivismus findet sich in Kapitel 2.3. Foucaults Überlegungen, die oft als „poststrukturalistisch“ etikettiert werden, sind in den Kapiteln 2.4 und 10 dargestellt. 5 vgl. dazu das folgende Kapitel

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Kapitel 2

Vorstellung, die gerade im sog. Kommunikationszeitalter eine starke Verbreitung erfahren hat und erfährt. Lyotard (1985:86) formuliert hier scharf:

"Die Sprache ist kein 'Kommunikationsinstrument', sondern ein höchst komplexer Archipel, der aus Inseln von Sätzen besteht, die ungleichartigen Ordnungen angehören, so daß es unmöglich ist, einen Satz aus einer Ordnung (einen deskriptiven Satz zum Beispiel) in einen Satz einer anderen Ordnung (einen evaluativen oder präskriptiven Satz) zu übersetzen."

Da die Welt ohne Sprache nicht begreifbar ist und umgekehrt nur die begriffliche Welt Gegenstand der Erkenntnis sein kann, steht und fällt jede Art von Wissenschaft mit den apriorischen Einschränkungen, denen Zeichen und Sprache unterliegen. Allgemein, d.h. nicht spezifisch postmodern, lassen sich zwei wesentliche Eigenschaften von Wörtern6

wie folgt formulieren:

1. Wörter sind mehrdeutig. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß Definitionen - die ostentativen ausgenommen - ihrerseits aus Wörtern gebildet sind, die wiederum durch Wörter definiert werden. Es ergeben sich damit Bedeutungsketten, und die Bedeutung des betrachteten Wortes hängt stets von der Bedeutung der in der Kette "vorgelagerten" ab. Machen zwei Personen ein Wort an unterschiedlichen Stellen "fest", weil sie es unterschiedlich verstehen, so ergeben sich entsprechende Auswirkungen auf die anderen Wörter der Bedeutungskette. Zum anderen ist zu beobachten, daß Wörter selten eine scharf umrissene Bedeutung aufweisen. Ausgenommen sind hier die termini technici, die jedoch nur einen geringen Umfang im Gesamtwortschatz einnehmen. Selbst "exakte" Naturwissenschaftler können kein Theoriegebäude allein mit diesen Termini erbauen. Der "verschwimmende Rand" eines semantischen Feldes hängt mit der Vielzahl individueller Konnotationen zusammen, die ein Wort aufwerfen kann. Gerade Begriffe, die kein physikalisch-materielles Denotat besitzen, wie z.B. "Partizipation" oder "Organisationskultur", weisen meist ein weites Feld von Konnotationen auf. Nun kann ein Sender zunächst nicht wissen, welche Vorstellung des Begriffes, welche Konnotationen er im Empfänger wachruft; es ist nur aufgrund der individuellen Biographien kaum davon auszugehen, daß es zufällig genau die gleichen sind. Diese Betrachtungen führen in der postmodernen Philosophie zu folgenden Schlüssen: a. Es gibt keine wertneutralen "Fakten". Jeder Zusammenhang, jede Wahrnehmung ist interpretationsbedürftig, und keine Interpretation ist per se einer anderen überzuordnen. Fakten sind, so Atkins in Anlehnung an Nietzsche (Atkins 1984:121), "nur Interpretationen, die Autorität erlangt haben". b. Konsens bedeutet Unterdrückung. Da von einer zufälligen Übereinstimmung der Interpretationen nicht ausgegangen werden kann, muß ein oder beide Partner Teile der eigenen Interpretation aufgeben, um zu einem Konsens zu gelangen. Da keine Interpretation der anderen per se

6 Ich werde mich im folgenden auf das gesprochene und geschriebene Wort beziehen, weil es in der Wissenschaft das mit weitem Abstand am häufigsten gebrauchte Zeichen darstellt. Das Gesagte gilt jedoch prinzipiell für jede andere Form von Zeichen.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

überlegen ist, kann ein Entscheid darüber, wer seine Interpretation aufgibt, nicht aufgrund übergeordneter Kriterien getroffen werden, ist also nicht im Sinne formaler Rationalität (Raffée 1974:99) zu begründen. c. Der Prozeß des Interpretierens ist von größerer Bedeutung als die (vollendete) Interpretation. Erkenntnis liegt nicht in der Wiedergabe einer letztlich beliebigen Interpretation, sondern in der Dokumentation ihrer Entstehung. Nur hier können Bedeutungsfestlegungen identifiziert, Denkstrukturen offengelegt werden. d. Autor und Leser sind beide für den Text verantwortlich. Der Leser schafft sich seine eigene Interpretation, die nie mit der des Autors übereinstimmen wird; er produziert damit einen eigenen Text, der wiederum dem des Autors weder unter- noch übergeordnet ist (vgl. Atkins 1984:123ff.)7

. Das klassische Problem des Eingriffs des Beobachters in den Versuch wird damit in die andere Richtung gewendet: es gibt niemals eine "objektive" Situation, die durch die Wahrnehmung eines Beobachters verzerrt werden könnte; auch Teilnehmer sind, sobald sie eine Interpretation erstellen, Beobachter der Situation.

2. Wörter gewinnen allein über Differenz Bedeutung. Eingebettet in Bedeutungsketten, wird ein Begriff erst dann faßbar, wenn er sich von anderen abhebt. Dies läßt sich leicht in dem schon von Spinoza entwickelten Konzept der determinatio est negatio fassen: die Definition von "blau" impliziert sofort "nicht-rot", "nicht-grün" etc. In Analogie dazu steht der allgemeinere Grundsatz der Wahrnehmung, nach dem nur erkannt wird, was sich von der Umgebung abhebt. Der Rest bleibt Hintergrundrauschen oder, auf dem Gebiet der Epistemologie, unreflektierte Basisannahmen. Daraus folgt für die Postmoderne: a. Die Wissenschaft muß ihr Augenmerk auf die Differenz und den Dissens richten. Nur sie können Ansatzpunkte für ein ursprüngliches Verständnis bieten. b. Das Bekannte muß verfremdet werden. Alles, was alltäglich, "natürlich" erscheint, muß in neue Kontexte gebettet, mit neuen Interpretationen angegangen werden, um sein volles Potential auszuschöpfen. In Verbindung mit 1c ergibt sich die Überzeugung, daß die größere wissenschaftliche Leistung das Infragestellen von Antworten und nicht das Beantworten von Fragen ist. Hier setzt vor allem der Dekonstruktivismus an. Ausgehend von diesen allgemeinen und systematisierenden Überlegungen möchte ich nun postmodernes Gedankengut anhand der Autoren vorstellen, deren Namen wohl am engsten mit einer postmodernen Wissenschaftstheorie verbunden sind: Lyotard, Derrida und Foucault8

7 Dieser Sachverhalt wird in der Semiotik durch den Begriff "Sympraxis" beschrieben: parallel zur Rezeption der expliziten Informationen eines Textes konstruiert der Leser aus den impliziten Informationen ein vollständiges Bild der dargestellten Situation sowie Erwartungen über den weiteren Verlauf (vgl. auch Fußnote 13).

. Die Abhandlung anhand von Autoren anstatt von weiteren Systematisierungen

8 Ich vernachlässige aufgrund des Zuschnittes der Arbeit Baudrillards Abhandlungen zu Hyperrealität und simulacra.

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Kapitel 2

scheint mir deshalb sinnvoll, weil sie mir einerseits eine Präsentation der die Postmoderne prägenden Gedankengänge entlang der Primärquellen erlaubt und andererseits einen ersten Eindruck der (frühen) Differenzierung innerhalb der Postmoderne vermitteln kann, die ein von mir gewähltes, ordnendes Schema eher “übertüncht” hätte.

Lyotard: Postmodernes Wissenschaftsverständis "Das Ende der Meta-Erzählungen" steht für Lyotard (1986) als Überschrift zum Kapitel Wissenschaft. Meta-Erzählungen sind dabei Legitimationskonzepte, die nach seiner Ansicht für den Bereich der Wissenschaft ebenso wie für den Bereich der gesamten Gesellschaft gescheitert sind. Es gibt kein normatives Konzept mehr, das allgemein anerkannt wäre oder werden müßte; im Pluralismus der Werte dominiert keiner. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß normative Konzepte allgemein letztlich nicht begründbar sind, zum anderen aber auch mit historischen Entwicklungen, vor allem des 20. Jahrhunderts. Die von und seit der Aufklärung vertretene These, Wissenschaft könne dazu dienen, die (bürgerliche) Emanzipation voranzutreiben, könne moralisch bildend einwirken und Nutzen und Fortschritt bringen, findet zunehmend weniger uneingeschränkte Vertreter. Gerade im letzten Viertel dieses Jahrhunderts mehren sich die Stimmen, die auf die Schattenseiten der Technik, auf ökologische Probleme, auf verfeinerte Methoden der Kriegführung und Folterung, auf zunehmende Verrohung und Fachidiotentum hinweisen (u.a. Lyotard 1987:107, Mongardini 1992:59, in nicht-postmoderner Argumentation u.a. Duerr 1990). Ob hier ein Trend richtig oder falsch gedeutet wird, soll dahingestellt bleiben, wichtig ist, daß die Wissenschaft in den Augen der Gesellschaft ihre heilsbringende Funktion eingebüßt hat (Mongardini 1992:57). Die zunehmende Individualisierung, die parallel zu einer Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen verläuft, erschwert darüber hinaus die Verständigung über akzeptierte Werte. Gruppenprozesse wie Abgrenzung, aber auch Sanktion von Verhaltensweisen, beschleunigen den Verfall einer übergeordneten Legitimationsmöglichkeit. Je schneller sich nun der innere Verfall vollzieht, desto stärker wird, so Lyotard (1986:15ff.), an der Fassade der Legitimität gearbeitet, denn die Wissenschaft kann ihre gesellschaftliche Machtposition zur Vermeidung eines divide et impera nur erhalten, wenn sie halbwegs geschlossen auftritt. Der Unterdrückung und Ausgrenzung von Andersdenkenden dient der Moralcode Rationalität; selbst nicht legitimiert, aber im Zirkel der rationalen Produktion von Ergebnissen und ihrer rationalen Verifikation verewigt. Dieser Zirkel ist seinerseits noch einmal in einen ökonomischen eingebettet: je besser anwendbar - im technisch-ökonomischen Sinne - die Forschung ist,

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

desto mehr Geld wird fließen, das wiederum in diese Forschung und in die Bestätigung der Forschungsergebnisse investiert werden kann. Parallel dazu verschiebt sich das Wahrheitskriterium hin zu einem: "Was ich sage, ist wahrer als das, was du sagst, da ich mit dem, was ich sage, 'mehr machen' kann..." (Lyotard 1987:87)

technische

Anwendung

Ergebnis

Finanzierung

Rationalität

Verifikation

Abbildung 1: Die beiden Zirkel

Die Postmoderne sieht sich also einem doppelten Problem gegenüber: zum einen dem Ende der Meta-Erzählungen auf wissenschaftstheoretischer Ebene, zum anderen der engen Verknüpfung von Wissen(schaft), Macht und technisch-ökonomischer Effizienz auf politischer Ebene9

Das wissenschaftstheoretische Problem wird durch die Einführung des Wittgensteinschen Begriffes "Sprachspiel" gelöst. Sprachspiele sind Diskursformen, z.B. Befehle oder Beschreibungen, deren Ablauf durch Regeln determiniert ist. Diese Regeln machen gewisse Sätze als Nachfolger wahrscheinlicher als andere. Sie werden durch die Tradition festgelegt und von den "Spielern" gelernt (Lyotard 1985:72). Wie bei jeder Regel handelt es sich hier um Normen.

.

Der Begriff des Sprachspiels wird anschaulicher, wenn man eine sprachliche Äußerung nicht isoliert betrachtet, sondern in einen situationalen Kontext einbettet. Dann wird deutlich, daß bspw. im Sprachspiel "Wissenschaft" gewisse Erwartungen an den Sprecher/Spieler gestellt werden: ihm wird z.B. unterstellt, daß er nicht lügt und daß er fähig ist, Beweise beizubringen. Dies reduziert die Zahl der möglichen Sätze und Satzanschlüsse und unterwirft die tatsächlich geäußerten einer spezifischen Bewertung. Verschiedene Gruppen besitzen verschiedene Sprachspiele und können sich deshalb nicht miteinander verständigen, ähnlich wie man etwa einen Schachzug nicht innerhalb der Regeln von "Monopoly" bewerten kann. Allen

9 Die in diesem Kapitel getroffenen Unterscheidungen von postmoderner Wissenschaft, Politik, Epistemologie stammen von mir. Die genannten Autoren sehen diese Ebenen nicht getrennt, sondern bewegen sich in ihrer Argumentation meist recht unbekümmert von einer zur anderen.

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Kapitel 2

gemeinsam ist nur die Alltagssprache, die jedoch nicht konsistent ist (Lyotard 1986:128). Das bedeutet, und dies ist die zentrale Aussage der postmodernen Wissenschaftstheorie, daß es nur lokal, nämlich innerhalb eines Sprachspiels, und nur zeitweilig, solange dieses eben gilt, Wahrheit geben kann (Lyotard 1986:128f. und 191). Diese Aussage gilt ohne Einschränkung, und zumindest die postmoderne Philosophie hat sich mit dieser Tatsache abgefunden.

"Die Sprache ist ohne Einheit, es gibt nur Sprachinseln, jede wird von einer anderen Ordnung beherrscht, keine kann in eine anderen übersetzt werden. Diese Zersteuung ist an sich gut, sie muß geachtet werden. Was zur Krankheit führt, ist, daß eine Ordnung über die andere übergreift." (Lyotard 1985:70)

Diesen "Imperialismus" wirft Lyotard (1986:86) dem Sprachspiel der Techno-Wissenschaft vor, deren höchstes Kriterium die Performativität10

Das Performativitätskriterium braucht für seine sinnvolle Anwendung deterministische Zusammenhänge in einem stabilen System, um einen berechenbaren Output zu erzielen. Aus diesem Grund interessiert sich postmoderne Wissenschaft - auch unter Berufung auf die Erkenntnisse der modernen Physik - für "die Unentscheidbaren, für die Grenzen der Präzision der Kontrolle, die Quanten, die Konflikte unvollständiger Information, die 'Frakta', die Katastrophen und pragmatischen Paradoxa" (Lyotard 1986:172f.) - kurz, für alles, was für Anarchie sorgt. Kriterium ist weder die Performativität noch in erster Linie die Wahrheit, sondern: "'Ideen zu haben ist der höchste Erfolg für einen Forscher." (Lyotard 1986:173)

ist. Wird bspw. der wissenschaftliche Beweis ihr untergeordnet, kommt es zum oben geschilderten Kreislauf zwischen Forschungsgeldern und Forschungsergebnissen. Diesen Zusammenhang greifen die postmodernen Kritiker auf der Ebene an, die ich "politisch" genannt habe.

Michael Power (1990:110) faßt das Programm der Postmoderne in dem Satz zusammen: "Postmoderne ist ein Angriff auf die Einheit“11

Mit der Unmöglichkeit, konsistente Antworten und Lösungen zu geben, geht der Verlust von Ansehen für den Wissenschaftler, den Experten einher. Die Ernsthaftigkeit der Wissenschaft wird von der Postmoderne nicht deshalb angegriffen, weil man sich nicht ernsthaft um Wissen bemühen sollte, sondern weil die durch sie legitimierte wissenschaftliche Disziplin, die nur bestimmte Motivationen, bestimmte Aussageformen, bestimmte Erkenntnisquellen anerkennt, zuviel Wissenswertes ausgrenzt. In Anlehnung an Nietzsche wird dagegen das Verlangen nach Kreation und der Spaß an

, und zwar die Einheit der Repräsentation, der Bedeutung und der Theorie. M.E. geht das Programm jedoch noch ein Stück weiter: es ist nicht nur die Totalität eines Konzeptes, sondern bereits seine Hegemonie gegenüber anderen, die angegriffen wird.

10 Als Performativität oder Performanz wird „das bessere Verhältnis von Input/Output“ definiert (Lyotard 1986:135). Eine zweite, sprachtheoretische Definition, an die sich Lyotard (1986:38) anlehnt, ist für die in dieser Arbeit getroffenen Aussagen nicht von Bedeutung. 11 "Postmodernism is an assault on unity."

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

der Wissenschaft als ausreichende Begründung der Tätigkeit gesehen12. Dies sollte gleichzeitig als "Gegengift" zu dem Dünkel wirken, der die Wissenschaft als für die Gesellschaft unentbehrliche Problemlöserin sieht13

.

Zum Verhältnis von Postmoderne und Moderne Die oft thematisierte Frage (vgl. u.a. Hassard 1993, Reed 1993), ob die Postmoderne ein Bruch mit oder eine (radikale) Fortsetzung der Moderne ist, trägt m.E. wenig zum Verständnis der Auffassungen bei: keine Philosophie hat sich je ohne das Wissen um ihre Vorgänger entwickelt und keine ohne Abgrenzung zu ihnen - sonst wäre sie als eigenes Konzept überhaupt nicht erkennbar. In einem solch umfassenden Komplex, der sich noch dazu in ständigem Fluß befindet, bestimmen zu können, ob die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede überwiegen, halte ich für unmöglich. Es wird eine nicht entscheidbare Ansichtssache bleiben, und je nachdem, ob man lieber die Gemeinsamkeiten oder die Trennlinien hervorhebt, wird man zum einen oder zum anderen der oben genannten Schlüsse kommen. Lyotard selbst versteht seine Philosophie sehr wohl als Kampfansage an die Moderne (wie er sie sieht), doch weiß auch er, daß postmoderne Philosophie dieselben Probleme wie die Moderne mit derselben Terminologie untersucht. "Wir verfügen über keine Sprache - über keine Syntax und keine Lexik -, die nicht an dieser Geschichte [der Metaphysik, d.h. der Legitimationserzählungen] beteiligt wäre." (Derrida 1976:425). Und dies gilt - gleichsam in einem Rekurs auf den Rekurs - besonders für das Konzept des "Bruches":

"Der Gedanke der Moderne selbst korreliert eng mit dem Prinzip, daß es möglich und notwendig ist, mit der Tradition zu brechen und eine völlig neue Lebens- und Denkweise einzuführen. Heute haben wir den Verdacht, dieser 'Bruch' sei eher eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu vergessen und zu unterdrücken, das heißt sie zu wiederholen, als sie zu überwinden." (Lyotard 1987:100f.)

Wenn im folgenden also die Grenzlinie zwischen beiden abgeschritten wird, so geschieht das, um die Konturen hervorzuheben, nicht in der Annahme, wir hätten es mit etwas radikal Neuem zu tun. Lyotard (vgl. im folgenden 1986:42ff. und 175ff. ) wendet sich bei seinem Angriff auf die Moderne hauptsächlich gegen zwei Vertreter, nämlich

12 Sehr anschaulich scheint mir hier der von Burrell (1993:78) zitierte Spruch der 68er-Bewegung: "Beneath the pavement, the beach". (Daß in diesem Zusammenhang die "68er" wieder zu Wort kommen, dürfte kaum verwundern.) 13 Es kann wenig überraschen, daß man dieses Argument häufiger bei Kritikern der etablierten Wissenschaft findet. John Locke etwa verbindet 300 Jahre zuvor im Streit gegen Kartesianismus und Scholastik intellektuelle Demut und Bescheidenheit hinsichtlich der wissenschaftlichen Ergebnisse mit dem Motiv der Freude am Forschen: “Jeder Schritt vorwärts, den der Geist auf seinem Wege zur Erkenntnis tut, bringt irgendeine Entdeckung, die nicht nur neu, sondern, im Augenblick wenigstens, auch die wertvollste ist. [...] Jeder Augenblick des Suchens wird seine [des Forschers] Mühe mit irgendeiner Freude belohnen. Und mit Recht wir er seine Zeit nicht für verschwendet halten, selbst wenn er sich keiner besonders großen Beute rühmen kann." (Locke 1981:5f.).

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Kapitel 2

Luhmann als Vertreter der Systemtheorie und Habermas als Vertreter der Kritischen Theorie. Hauptkritikpunkt bezüglich der Systemtheorie ist ihr totalitärer Anspruch. Mit der Metapher der Gesellschaft als Organismus, die später von der des kybernetischen Systems abgelöst wird, schreibt bereits Comte den Gedanken der Einheitlichkeit fest: die Gesellschaft bildet ein organisches Ganzes, weil sie sonst aufhört, Gesellschaft zu sein. Die Systemtheorie nimmt diesen Gedanken auf, indem sie postuliert, daß jede Veränderung, jede Innovation innerhalb des Systems nur auf zwei Arten wirken kann: entweder sie verbessert die Leistungsfähigkeit des Systems oder sie zerstört es. Die Optimierung des Systems wird zum Selbstzweck, dabei ist "die Übereinstimmung der Bedürfnisse und Erwartungen von Individuen und Gruppen mit dem vom System gewährleisteten Funktionen nicht mehr als eine nebensächliche Komponente seines Funktionierens..." (Lyotard 1986:44). Die starke Ausrichtung auf die Interessen des Systems, auf seine Erhaltung und sein Funktionieren, das alle anderen Werte zu Mitteln der Zielerreichung degradiert, ist für Lyotard Anlaß zu deutlichen Worten: "Bei den heutigen deutschen Theoretikern ist die Systemtheorie technokratisch, eigentlich sogar zynisch, um nicht zu sagen hoffnungslos" (Lyotard 1986:44). Die ständige Rückbeziehung jedes Problems auf das System, wie Parsons sie fordert, erleichtert dabei auf der wissenschaftlichen Ebene die Dogmatisierung; Horkheimer beschreibt diese Pathologie m.E. korrekt als "Paranoia" (1986:46). Die Kritische Theorie mit ihrem Vertreter Habermas hat dieser Variante voraus, daß sie von einem Dualismus ausgeht und damit auch das System von außen betrachten kann. Ihr Problem besteht allerdings darin, daß sie politisch und theoretisch auf Konzepte baut, die nicht mehr gültig bzw. im Schwinden begriffen sind. Die politische Ideologie des Klassenkampfes wird im Zuge des Wandels von der industriellen zur post-industriellen Gesellschaft zunehmend wirkungsloser. Gleichzeitig verliert auf der theoretischen Ebene die Meta-Erzählung der Emanzipation ihre Gültigkeit. Auf ihr aber, auf der Vorstellung, daß (geistig) freie Menschen durch Kommunikation und Konsens optimale Lebensbedingungen verwirklichen können, gründet letztendlich die Kritische Theorie. Beruht aber die Legitimation einer Aussage auf ihrem Beitrag zur Emanzipation, so ist dies in den Augen Lyotards nichts anderes als ein Versuch, all den verschiedenen Sprachspielen dieselbe Regel aufzuoktroyieren, ein Versuch, der aufgrund der Heteromorphie der Sprachspiele scheitern muß. Habermas, so Lyotards Kritik, behandelt das "Ungetüm" verschiedenster Aussageklassen, die in der sozialen Pragmatik auftreten, als wären sie durch eine Meta-Regel erfaßbar. Er schafft dadurch den "Terror der Isomorphie" (1986:191). So richtet sich die Kritik an Habermas im Gegensatz zu der an Luhmann nicht auf das Ziel (Widerstand gegen die Totalität des Systems), sondern nur auf die Mittel: "Die Sache ist gut, aber die Argumente sind es nicht." (1986:190). In seiner Kritik an Luhmann geht Lyotard sogar ein gutes Stück Weg mit Habermas, die Geister scheiden sich letztendlich am Streit über die Rolle der Vernunft und des Konsenses: für Habermas die einzige Möglichkeit, die Lebenswelt vor den Übergriffen der "Techno-Wissenschaft" zu schützen, für Lyotard nur eine andere Form der Unterdrückung.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Diese Unterdrückung ist besonders gut sichtbar im Bereich der Wissenschaft; neben den bereits oben beschriebenen Zusammenhängen zwischen Macht, Geld und Forschung sowie Performativität und Wahrheit wären hier als Kennzeichen der modernistischen Wissenschaftsauffassung zu nennen (vgl. Burrell 1993, Atkins 1984, Pym 1993): der Einfluß von Hierarchie und Bürokratie auf wissenschaftliche

Entscheidungen, eine Linearität des Denkens hinsichtlich Form und Inhalt, die zu

monistischen Theorien und strenger Argumentations- und Beweisdisziplin führt,

ein ernsthafter Duktus angesichts der Probleme der Welt; Wissenschaft soll keinen Spaß machen,

der Drang, jeden Lebensbereich offenzulegen, transparent zu machen, rational zu durchdringen, Ordnungsmuster auszumachen,

der Konsum und das Zurschaustellen von Wissen als Statussymbol; Bildung als moralische Überlegenheit,

die Suche nach universellen Wahrheiten oder Gesetzen. Daß die postmodernen Autoren hier zum Teil in unzulässigem Maße verallgemeinern und gewisse (kritische) Strömungen der Moderne unterschlagen, ist von mehreren Kritikern angeführt worden (Tsoukas 1992)14

„‘Postmodernity proclaims the loss of something we were not aware of possessing until we have learned of the loss. [...] The concept of ‘modernity’ has today a quite different content from the one it had before the start of the ‘postmodern’ discourse; there is little point in asking whether it is true or distorted, or in objecting to the way it is handled inside the ‘postmodern’ debate. It is situated in that debate, it draws its meaning from it, and it makes sense only jointly with the other side of the opposition, the concept of ‘postmodernity’...“

. Mir scheint, gerade im Hinblick auf die Diskussion Kontinuität vs. Bruch und auf die meiner Arbeit zugrundeliegenden Intentionen, hier wichtig, daß nicht die programmatische Kampfansage an die Moderne als maßgeblicher Inhalt der Postmoderne betrachtet wird, sondern die Punkte, in denen sie inhaltlich von "modernistischen" Auffassungen - seien sie von der gesamten Moderne oder nur von Teilen getragen - differiert. Anders formuliert, kommt es mir bei der Darstellung postmoderner Kritik auf die für die determinatio wichtige negatio an, weniger darauf, ob und in welchem Maße die Kritik zutrifft. Bauman (1988:218f.) beobachtet m.E. richtig:

14 vgl. auch Kapitel 2.5

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Kapitel 2

Derrida und der Dekonstruktivismus Der von Jacques Derrida entwickelte Dekonstruktivismus ist wohl die konsequenteste Anwendung postmoderner Philosophie im wissenschaftlichen Bereich. Derrida zieht wie Lyotard den Dissens dem Konsens vor; Ziel der Interpretation ist nicht das Verständnis und damit die Verschmelzung der Horizonte von Autor und Leser, sondern das Aufzeigen von und der Umgang mit der Verschiedenheit ihrer Standpunkte. In einer Welt, die grundlegende Ambi- und Polyvalenzen in sich birgt, ist Vieldeutigkeit nicht das Ergebnis einer schlechten Analyse, sondern im Gegenteil das einzig angemessene Ergebnis; konsistente Wiedergabe bedeutete eine Verfälschung. Das Ziel des Dekonstruktivismus ist die Aufdeckung der angesprochenen Polyvalenzen, das Mittel die Dekonstruktion des Textes, also die Umkehrung des Prozesses der Konstruktion, den ein "normaler" Leser unbewußt15

Als zentrale Konzepte des Dekonstruktivismus lassen sich folgende herausarbeiten (vgl. Derrida 1990, Derrida 1976, Chia 1996, Agger 1994, Hassard 1993, Linstead 1993a, Cooper 1989, Cousins 1978):

durchläuft.

1. Gegen Repräsentation. Grundlegend für die modernistische Theorie und Methodologie ist die Vorstellung, daß Wissenschaft die nicht-sprachliche Realität repräsentational beschreiben kann, d.h., daß sprachliche Aussagen Abbilder nicht-sprachlicher Sachverhalte sind. Dies, oft verbunden mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit, läßt die „richtige Abbildung“ (im Gegensatz zur Verzerrung) ins Zentrum der Sorge treten. Um Verzerrungen zu minimieren, werden sämtliche Hinweise auf den Entstehungszusammenhang der Aussage, also Zeit, Ort und Autor, eliminiert. Die Faktizität der Aussage hängt in hohem Maße mit einer Nicht-Subjektivität zusammen. Eine Folge dieses Vorgehens ist die Projektion wissenschaftlicher Erklärungszusammenhänge (z.B. Organisation) in die „Außenwelt“, wo sie dem Forscher plötzlich als „Dinge“ oder „Fakten“ entgegentreten. Gibt man die Repräsentation als grundlegendes Modell auf (was nicht heißt, daß man sie immer und überall aufgeben muß), erhält man statt der Abgrenzung Realität vs. Repräsentation die Chance, die Realität der Repräsentation zu erkennen. Dies weist den Weg zur eigenständigen Wirkung von Zeichen.

2. Schreiben. Diese Eigenständigkeit der Zeichen findet sich in Derridas Konzeption des Vorrangs der Schrift vor dem gesprochenen Wort (als logos). In der abendländischen Metaphysik wird dem Sprechen Vorrang eingeräumt und die Schrift als Derivat des gesprochenen Wortes dargestellt. 15 Wir alle sind von klein auf gewohnt, "Spuren" zu lesen, d.h., kleinste Andeutungen wahrzunehmen und aus ihnen Erwartungen für den weiteren Verlauf zu konstruieren. Das geschieht bspw. auf den ersten Seiten eines Romans, in den ersten Szenen eines Filmes, wo kleinste Indizien (Kleider, Frisuren, Sprache, Hintergrund) die Einordnung der Handlung in Raum und Zeit ermöglichen. Bereits Aufmachung und Titel eines Buches lassen uns Erwartungen darüber bilden, ob es sich um ein wissenschaftliches, pseudo-wissenschaftliches oder belletristisches Werk handelt.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Derrida bezeichnet diese Auffassung als „Phonozentrismus“. Er kehrt diese Hierarchie um, indem er aufzeigt, wie Schrift, nicht nur als Buchstaben-Schrift, sondern als dauerhaftes, dem Gegenstand "eingeritztes" Zeichen, als Fixierung von Wissen, Klassifizierung und Strukturbildung (also Ordnung) dem Sprechen vorangeht. Es ist Voraussetzung jeder Sinnkonstitution, weil nur dieses beharrende Zeichen wieder und wieder gelesen und interpretiert werden kann16

3. Differánce. Dieses von Derrida geschaffene Kunstwort ist abgeleitet aus frz. différer, welches zwei Bedeutungen hat: erstens "differieren, sich unterscheiden" und zweitens "aufschieben, zeitlich verschieben". Das Kunstwort soll substantivisch beide Bedeutungen vereinen. Es beschreibt die wesentlichen Eigenschaften eines Zeichens, nämlich sich von anderen Zeichen und von dem Objekt, das es vertritt, zu unterscheiden und gleichzeitig auf die (momentane) Abwesenheit des von ihm repräsentierten Objekts zu verweisen, seine Anwesenheit also zeitlich nach hinten zu verschieben. Daraus folgt zum einen, daß dem Zeichen immer eine Information mehr innewohnt als dem Bezeichneten, nämlich die Information, daß es sich um ein Zeichen, einen Stellvertreter, handelt. Zum anderen ergibt sich, daß Bedeutung niemals vollständig präsent sein kann, sondern immer auch auf Abwesendes, auf anderes, von dem es sich abgrenzt, verweist. Die Vorstellung, die Bedeutung eines Wortes sei statisch und eindeutig, geht wiederum auf jenen Abbild-Charakter zurück, den Derrida kritisiert. Um der Eigenständigkeit des Zeichens gerecht zu werden, muß man seiner Relation zu anderen Zeichen gewahr werden. Damit ist Bedeutung weniger ein Zustand als ein Prozeß; sie ist niemals vollständig zu fixieren. Ziel der Dekonstruktion ist es u.a., diese Nicht-Fixierbarkeit von Bedeutung aufzuzeigen und dort, wo der Text so „tut“, als wäre sie nicht vorhanden, wiederherzustellen.

. Dabei behauptet Derrida natürlich nicht, daß das Schreiben dem Sprechen historisch vorausgegangen sei; ihm geht es um eine konzeptuelle Priorität. Das historisch Spätere gibt dem historisch Früheren erst seine Form; unser Konzept der „Sprache“ ist von unserem Konzept der „Schrift“ maßgeblich geformt. Diese „Logik der Supplementarität“, in dem das Spätere das Frühere formt, stellt Derrida der „Logik des Ursprungs“ gegenüber, die immer das Frühere als das Originale, Wahre konzipiert.

4. Supplementarität. "Die Moderne denkt in Oppositionen, die Postmoderne in Supplementarität" (Linstead 1993a:56). Der Supplement-Charakter des Zeichens ist ein doppelter: erstens fügt es, wie wir gesehen haben, etwas hinzu, zweitens ersetzt es als Stellvertreter. Es ist ungleich dem, das es ersetzt, aber rundet es zur selben Zeit ab. Am augenfälligsten wird diese Funktion bei Wörtern, die Oppositionen bilden (z.B. rational/irrational, Ursache/Wirkung, Struktur/Prozeß): kein Wort kann ohne Verweis auf sein Gegenteil existieren, dessen Abwesenheit es gleichzeitig behauptet. Nun geht es Derrida allerdings nicht wie Hegel um eine Synthese, in der beide Begriffe (als Komplemente) verschmelzen. Er will sie beide denken, und doch getrennt denken. Die Moderne, so seine Kritik an der traditionellen,

16 Zu denken ist hierbei etwa an das von nahezu allen metaphysisch oder erkenntnistheoretisch interessierten Autoren in irgendeiner Form angeführte "Gesetz der Natur" oder "Gesetz Gottes", das es zu lesen gelte, um die Welt zu verstehen. Auch der Gedanke der göttlichen Vor-schrift führt in diese Richtung. Ethnologisch hat z.B. Goody (1977) aufgezeigt, wie stark orale und schriftliche Kulturen differieren und welche Einflüsse die Schriftlichkeit auf unsere Kultur hat.

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Kapitel 2

nicht-dialektischen Denkweise, denkt nicht nur in Oppositionen, sondern stellt innerhalb dieser Oppositionen eine Hierarchie her, indem sie einen Terminus bevorzugt, ohne diese Bevorzugung i.d.R. explizit zu machen (z.B. rational über irrational). Ziel der Dekonstruktion ist es nun, die dominanten Oppositionen eines Textes aufzuspüren und ihre Hierarchie zu zerstören. Dies geschieht mithilfe der Supplementarität, die einerseits gegen die Moderne die ständige Aufeinanderbezogenheit der beiden Termini thematisieren und andererseits gegen die Dialektik ihre Verschmelzung verhindern soll. 5. Abwesenheit des Zentrums. Jede Struktur wird klassischerweise durch ein Zentrum organisiert, das den Umfang der möglichen Modifikationen innerhalb der Struktur bestimmt, selbst aber nicht verändert werden kann, ohne daß die Identität der Sache verlorenginge. Für die Sprache ist ein solches Zentrum nicht bestimmbar, da jedes Zeichen, das für das Zentrum stehen könnte, es supplementiert, etwas hinzufügt. Zur Benennung bräuchte man einen symbolischen Nullwert, den es jedoch nicht gibt. Derrida will diese Abwesenheit eines Zentrum jedoch nicht als Verlust, sondern als "Bejahung des Nicht-Zentrums" (Derrida 1976:441) verstanden wissen, die einen Umgang mit dem Text ohne Verpflichtung zu einer Wahrheit bzw. einem dominierenden Deutungsschema ermöglicht. Er folgt hier Nietzsche in der "fröhlichen Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist" (Derrida 1976:441). Den geradezu existentiellen Unterschied, der sich aus dieser Position für die Interpretation von Texten (und damit für die Wissenschaft insgesamt) ergibt, schildert er wie folgt:

"Es gibt somit zwei Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat." (Derrida 1976:441)

Aus der Ablehnung des Ursprunges ergibt sich das Interesse an Oberflächen, die jetzt nicht mehr als sichtbare Seiten eines ansonsten unsichtbaren Wesens betrachtet werden (z.B. Artefakte als sichtbare Ausdrücke von tieferliegenden Grundannahmen in der Organisationskultur), sondern als selbständige Phänomene, deren Zusammenhang zu anderem zunächst einmal als nicht gegeben angenommen werden muß.

6. Ent-Subjektivierung. Wenn die erkennbare Welt aus Zeichen besteht, deren Struktur ohne Zentrum, ohne Hierarchie und ohne Grenzen ist, so gibt es keinen Grund, ein Subjekt von einem Objekt ontologisch zu trennen, ein Individuum im Sinne der abendländischen Metaphysik zu postulieren. Auch Individualität ist ein Ergebnis einer Interpretation, ein Artefakt, das sich aus der Wahrnehmung der Differenz gegenüber anderen bildet. Der Dekonstruktivismus sieht das Subjekt nur als einen Ort im Zeichensystem - unter vielen anderen -, eine bestimmte Stelle, an der sich "andere Texte, andere Zeiten" kreuzen (Linstead 1993a:59), einen "Knoten im Kommunikationssystem" (Lyotard 1986:55).

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

So viel sich zum gedanklichen Hintergrund der Dekonstruktion sagen läßt, so wenig läßt sich die eigentliche Vorgehensweise erläutern. Derrida selbst wendet sich ausdrücklich gegen Versuche, den Dekonstruktivismus in Form eines Satzes „S ist P“ zu definieren, da dieser Versuch modernistische Annahmen zugrundelegt. Primär geht es darum, Texte mit einem Blick für ihren logischen Aufbau und ihre dominanten Oppositionen zu lesen. Wichtig ist es, die „stummen“, impliziten Wertungen zu identifizieren. Um die Hierarchie der Oppositionen sichtbar zu machen, werden sie umgekehrt. Damit werden die zuvor eindeutigen Aussagen des Textes ambivalent gemacht. Da diese Ambivalenz eine grundlegende, nämlich an die Natur der Opposition gebundene ist, wird somit die Unentscheidbarkeit des Textes, die Unmöglichkeit einer eindeutigen Aussage aufgezeigt. Das Konzept der Supplementarität hilft schließlich, die Ambivalenz aufrechtzuerhalten und zu vermeiden, daß der Text in eine erneute Erstarrung und Eindeutigkeit zurückfällt. Wesentlich ist, daß die Dekonstruktion aus dem Text heraus entwickelt und nicht von außen (als fremdes, übergeordnetes Wahrheitskriterium) herangetragen wird; der Text muß "durch sein eigenes Gewicht zu Fall gebracht werden" (Linstead 1993a:55). Am anschaulichsten mag vielleicht die Parallele zur sokratischen Maieutik sein: durch beständiges Hinterfragen der vorgetragenen Meinung, niemals durch Hinzufügen von neuem, "äußerem" Wissen zeigt Sokrates Aporien auf. „To know the strategy is not necessarily to be able to practice it“, wie Silverman (1983:105) treffend bemerkt. Es gehört nicht nur ein gewisses Gespür für Texte, sondern auch eine gewisse Erfahrung mit der Dekonstruktion dazu, um befriedigende Ergebnisse zu erzielen. Mit Bezug auf die Intention der Dekonstruktion bleibt schließlich noch zu sagen, daß auch ihr Ziel, wie das der gesamten Postmoderne, ein kritisches und politisches ist. Wenn Derrida verborgene Wertungen aufzeigt, so will er sie thematisieren, um sie diskutieren zu können. Die Dekonstruktion ist keine Literaturkritik, die zeigen will, daß es verschiedene Interpretationen seitens des Lesers geben kann, sondern ein auf alle Texte unserer Gesellschaft anwendbares Verfahren, das die prinzipielle Unmöglichkeit einer eindeutigen nicht-normativen Aussage seitens des Autors thematisiert.

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Kapitel 2

Foucault: Der Zusammenhang von Wissen, Macht und Subjekt Da eine systematische Abhandlung Foucaults in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit erfolgt, möchte ich mich hier nur auf einige inhaltliche Bemerkungen beschränken. Foucault selbst hat sich nicht als „postmodern“ verstanden und der Annahme eines postmodernen Umbruchs - wie allen anderen radikalen Umbrüchen auch - eine Absage erteilt. Dennoch bilden die von ihm entwickelten Konzepte zum Zusammenhang von Macht, Wissen und Subjekt einen wichtigen Bestandteil postmoderner Argumentation. Zentrale Thesen, für deren ausführliche Darstellung und Begründung ich den Leser auf Kapitel 10 verweise, sind hierbei: Wissen und Macht sind untrennbar miteinander verbunden. Dies liegt u.a.

begründet in der Wissensgenerierung, die sich auf Praktiken der Disziplinierung wie bspw. Ausschluß, Normierung/Standardisierung, Glättung, Atomisierung/Individualisierung und Abweichungsmessung stützt. Selbst Forscher, deren Absicht ein „reiner“ Erkenntnisgewinn ist, reproduzieren durch ihre Methoden und Wertungen diese Disziplinierung.

So erstellte wissenschaftliche Aussagen dienen der Legitimation institutioneller Machtausübung, wofür die Wissenschaft im Gegenzug finanzielle und legitimatorische Unterstützung erhält.

Diese Art der Wissensverwertung ist vor allem bei den Humanwissenschaften zu verzeichnen, da der Staat ein vitales Interesse am Wissen über den Menschen hat.

Das Selbstverständnis des Menschen als Subjekt und Individuum ist ebenfalls diesem Zusammenhang geschuldet. Es ist nicht natürlich bzw. a priori gegeben, sondern historisch unter den vorgenannten Bedingungen entstanden. Das Subjekt ist somit nicht Ausgangsbasis, sondern Produkt.

Die Betonung der Unhintergehbarkeit von Sprache ist bei Foucault nicht ganz so ausgeprägt wie bei Lyotard und Derrida, allerdings wendet auch er sich von repräsentationalen Vorstellungen ab und betont, daß Sprache neben der Bezeichnung von Dingen eine wesentliche Funktion der Ordnung und Sinnstiftung erfüllt. Sein Ziel ist, ähnlich wie bei Derrida, durch das Aufdecken verborgener Strukturen die Selbstverständlichkeit moderner Annahmen und Praktiken zu hinterfragen und Möglichkeiten des Widerstandes aufzuzeigen.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Kritik und Gegenkritik

"Postmoderne: Muß Anfang der 80er Jahre und parallel zur "Postbürgerlichkeit" in irgendwelchen obskurantischen aka-demischen Faselrunden begonnen haben..."

E. Henscheid

1. Postmoderne Ansätze liefern keine neuen Erkenntnisse und Methoden; die modernistische Wissenschaft, speziell die Organisationstheorie, ist selbstkritisch genug (Alvesson 1995, Parker 1993, Toukas 1992). Wie ich bereits oben angedeutet habe, scheint mir diese Diskussion müßig. Setzt man das Abstraktionsniveau nur hoch genug an, so ähneln sich die unterschiedlichsten Dinge, und auch wenn die skeptizistische Grundidee zweitausend Jahre alt ist, so unterscheidet sich doch jede konkrete Ausgestaltung. Eine semiotische Begründung des Infragestellens ist zweifellos neu, und das "Ende der Meta-Erzählungen" kann sinnvoll erst im 20. Jahrhundert postuliert werden. Auch inhaltliche Aspekte, besonders die Präferenz von Vieldeutigkeit über Eindeutigkeit, ist mir im wissenschaftlichen mainstream in dieser Konsequenz nicht bekannt. Unter diesem Aspekt ist auch die in Teilen vereinfachte Kritik an Popper, Luhmann und Habermas vielleicht nicht zu akzeptieren, aber zu ertragen, denn die epistemologische Grundlage dieser Ansätze ist korrekt wiedergegeben. Was schließlich die Fähigkeit zur Selbstkritik angeht, so scheint mir die Argumentation etwas problematisch. Schließen wir die Fälle aus, in denen Theorien andere Theorien kritisieren (was nur als Selbstkritik gelten könne, wenn man es mit einem geschlossen-identischen Feld zu tun hätte), so verbleiben nur reflexive Theorien als potentiell selbstkritisch. Wie Chia (1996:67ff.) in seinem dekonstruktivistisch orientierten Buch nachweist, geraten diese schnell in das Münchhausen-Trilemma17

, weil sie die Kriterien ihrer Selbstkritik entweder dogmatisch begründen müssen oder dem infiniten Regreß anheimfallen. Auch wenn Chia m.E. keine überzeugende Lösung dieses Problemes präsentiert, so scheint mir doch die Problematisierung selbst, die durch postmoderne Grundannahmen jedenfalls erleichtert wird, zunächst einmal wichtig.

2. Die aus dem "Ende der Meta-Erzählungen" gezogenen Konsequenzen sind nicht korrekt bzw. nicht notwendig. Tepes Versuch, wenn schon nicht die metaphysisch begründete, so doch die "nicht-metaphysisch überreizte" Wahrheit zu retten (1992:110), mutet bereits seltsam an. Wenn Wahrheit ein normatives Konzept ist, dann kann sie nicht anders als metaphysisch, nämlich weder faktisch noch analytisch, begründet werden. Daß sie ein normatives Konzept ist, bestreiten spätestens seit Kuhn die wenigsten Wissenschaftler; da die postmoderne Philosophie ohnehin

17 Darunter versteht Albert (1987) das Problem der Letztbegründung einer wissenschaftlichen Argumentation. Sie ist auf dreierlei Art möglich: 1. Setzung von Prämissen (Dogmatismus), 2. infinter Regreß, 3. Zirkelschluß.

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Kapitel 2

keinen Unterschied zwischen faktischen und normativen Sätzen macht, dürfte hier die Position klar sein. Damit bestreitet die postmoderne Philosophie jedoch nicht, daß es die aus den Meta-Erzählungen historisch entstandenen Konzepte wie Ordnung, Vernunft und Werte gibt bzw. daß Menschen ein Bedürfnis nach ihnen haben. Lokal haben sie nach wie vor ihre Berechtigung und Begründung; sie können nur nicht aus einem Sprachspiel in ein anderes ohne weiteres - sprich: ohne Legitimierung in diesem - übernommen werden. Jeder Hinweis auf den Zusammenhang von Ordnung und Chaos, auf die notwendige Geschlossenheit einer Disziplin (Tsoukas 1992), auf die Vorteile von Vernunft und Ordnung (Power 1990, Tepe 1992) wird auch von der Postmoderne lokal, begrenzt auf ein Sprachspiel, bejaht, allein die Übertragbarkeit, die globale Geltung wird bestritten, und zwar unter Verweis auf das Fehlen einer sie legitimierenden Meta-Erzählung. Das Fehlen einer Meta-Erzählung selbst zu kritisieren, liefe jedoch darauf hinaus, den Boten für die Nachricht zu bestrafen. Lyotard behauptet andererseits auch nicht, wie Eldridge (1985) annimmt, es könne keine Meta-Erzählungen mehr geben; seine Ausführungen sind in diesem Punkt historisch-deskriptiv. Er konstatiert den schwindenden Glauben in sie, ohne zu postulieren, daß dieser schwinden muß oder mußte. Eine solche Konstruktion läge auch kaum in seinem Sinne, bedenkt man, daß er notwendigen oder gar apriorischen Argumentationen äußerst skeptisch gegenübersteht. Die postmoderne Philosophie lebt und gilt im Heute der industriellen Gesellschaft und Wissenschaft; sie erhebt keine darüber hinausgehenden Ansprüche.

3. Konsens stellt nicht in jedem Falle Unterdrückung dar. Zu recht verweisen Kritiker (Alvesson 1995, Parker 1993) auf die Möglichkeit, sich mit gutem Willen und ohne direkte oder indirekte Gewaltanwendung zu einigen. Die Vorstellung, jeder praktisch erzielte Konsens zwischen zwei oder mehr Leuten, unterdrücke notwendigerweise, erscheint in der Tat überspitzt. Weniger absolut formuliert, lenkt sie jedoch die Aufmerksamkeit auf zwei Sachverhalte, die durchaus mehr wissenschaftliche Zuwendung verdienen, als ihnen bisher zukam. Es handelt sich zum einen um die wissenschaftliche Konstruktion von Einheiten, die nicht ohne weiteres als solche betrachtet werden können; man denke an die Rede von der Kultur, Strategie etc. des Unternehmens. Die Postmoderne will hier den Blick weg von konsensuellen Fassaden (z.B. „geteilte Werte“) auf die Machtkämpfe dahinter lenken. Zum anderen beruht die Idee der Einigung durch Konsens weitgehend auf dem Vertrauen auf rationale Argumentation und Überzeugung, die Lyotard eben nicht zum absoluten Wert erheben will. So sehr Rationalität und Konsens ihre lokale Berechtigung in vielen Sprachspielen haben, so wenig dürfen sie unhinterfragt überall angewandt werden.

4. Die Realität ist nicht beliebig durch Sprache formbar (Parker 1993, Tsoukas 1992). Dies ist grundsätzlich richtig, und es ist zunächst einmal negativ zu vermerken, daß die Postmoderne gern den Anschein erweckt, mit und durch Sprache ließe sich alles bewerkstelligen. Dennoch wird ein solcher Anspruch bei keinem der genannten Autoren explizit vertreten oder

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

gar begründet. Sprache kann keine Materie verformen. Das große Vertrauen, das die Postmoderne dennoch in sie setzt, rührt einmal aus ihrem semiotischen Ursprung, aus der Überzeugung, daß jegliche Kognition Sprache voraussetzt, her, zum anderen aus ihrem Verständnis einer post-industriellen Informationsgesellschaft, in der die wesentlichen Prozesse auf Information und damit nicht auf Materie basieren. M.a.W. behauptet die Postmoderne nicht, die Realität sei insgesamt durch Sprache formbar, sondern große Teile von ihr - vornehmlich die, mit denen sich die Kulturwissenschaften traditionell beschäftigen - seien es, und diese Teile würden noch dazu mit der postulierten Entwicklung der industriellen Gesellschaft immer größer. Daß die Darstellung/Interpretation der Realität durch die Sprache beliebige Formen annehmen kann, ist prinzipiell nicht ausgeschlossen, allerdings gilt auch hier der Verweis auf lokale Kriterien des Sprachspiels, d.h., die Interpretation ist grundsätzlich beliebig, innerhalb eines bestimmten Sprachspiels jedoch nicht. Die Überzeugung, daß eine (nach traditionellem Verständnis) falsche Interpretation oder falsche Methode (etwa der Einsatz von Metaphern) gute, neue Einsichten liefern kann, ist im übrigen in der Logik seit dem Mittelalter formuliert, wo es heißt "Aus Falschem folgt Beliebiges"18

- mitunter auch Gutes, Richtiges und Nützliches.

5. Postmoderne Ansätze sind zu wenig konkretisiert, zu abgehoben und behindern die Theoriebildung (Alvesson 1995, Hassard 1993, Atkins 1984). Auch wenn man bedenkt, daß die Formulierung einer einheitlichen Theorie der postmodernen Intention entgegenstünde, scheint mir Powers (1990) Beobachtung zuzutreffen, daß die Postmoderne vage bleibt aus Angst, eine neue Meta-Erzählung zu kreieren. Dies hindert sie meines Erachtens auch daran, zu einem mit aller Konsequenz verfolgbaren wissenschaftstheoretischen Konzept zu werden. Was sie jedoch - durchaus zeitgemäß - begründen kann, ist der Umgang mit Pluralität19

Wer bei den postmodernen Autoren über die Bedeutung der Ästhetik und die Ablehnung der "harten Fakten" liest, mag sich zu recht an das fin-du-siècle des 19. Jahrhunderts erinnert fühlen, wo in abgeschlossenen intellektuellen Zirkeln "alles interessant, aber nichts bedeutsam" war (Mongardini 1992:58, Power 1990). Unverkennbar ist die Postmoderne ein Kind einer Spätzeit, das sich auf dem Polster traditionell gewonnener Erkenntnis zurücklehnt und nun mit Muße neue Erfahrungen zu machen sucht, nicht unter existentiellem Zwang wie die rational geprägte Wissenschaft ab Descartes. Die Industriegesellschaft hat die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen der frühen Neuzeit überwunden, das Wissen, seit drei Jahrhunderten unter demselben Paradigma kumuliert und deshalb immernoch brauchbar, hat sich

als Pluralität und nicht als Singularität aus wechselnden Perspektiven. In diesem Sinne behindert sie auch die Bildung von einheitlichen Theorien über die Grenzen von Sprachspielen hinaus, nicht innerhalb, wie bereits mehrfach erklärt.

18 In moderner logischer Sprechweise: ist die Wenn-Komponente der Implikation falsch, ist die gesamte Implikation stets wahr, unabhängig davon, ob die Dann-Komponente wahr oder falsch ist. 19 Darin zeigt sich für mich auch der Unterschied zum anfangs angesprochenen Relativismus: dort bleibt jede Position undiskutiert für sich stehen, während die Postmoderne gerade eine theoretische Grundlage für den Umgang mit unterschiedlichen Positionen, für eine Synopse unter Wahrung der Differenz, zu schaffen versucht.

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Kapitel 2

über jede Vorstellungskraft vermehrt. Die Postmoderne sucht nicht, neue Daten zu generieren, sondern die alten in einem neuen Sinne wirksam werden zu lassen - und dies hält sie durchaus für bedeutsam. Der Mangel an konkreten Prinzipien und Arbeitsanleitungen, der das Gefühl theoretischer Vagheit hervorruft, beruht zum einen auf der starken kritischen Orientierung, die die postmoderne Philosophie hat. Der Angriff auf bestehende Konzepte, die Aussage darüber, was Postmoderne nicht will, nimmt einen bedeutend breiteren Raum ein als gegenteilige Gedanken. Dies ist zunächst einmal normal für einen Ansatz, der sich als Kritik versteht, denn Kritik muß sich inhaltlich immer nach dem Kritisierten richten können, d.h. flexibel sein. Zum zweiten ist das Konzept neu, was einmal bedeutet, daß es sich in Abgrenzung definieren muß, zum anderen, daß "die Magma noch im Flusse ist" (vgl. Mongardini 1992:63). Fünf bis zehn Jahre sind keine lange Zeit für die Entwicklung eines so grundlegend anderen Ansatzes, der noch dazu so breit interessierte Autoren besitzt. Der Komplexität soll nicht ausgewichen werden, im Gegenteil:

"Was sich auf diese Weise als Horizont für Dein Jahrhundert [geschrieben an ein Kind] abzeichnet, ist das Anwachsen der Komplexität auf den meisten Gebieten, einschließlich der 'Lebensweisen', des täglichen Lebens. Damit ist eine entscheidende Aufgabe umschrieben: Die Menschheit fähig zu machen, sich sehr komplexen Mitteln des Fühlens, Verstehens und Tuns anzupassen, die über das, was sie verlangt, hinausreichen. Diese Aufgabe beinhaltet mindestens den Widerstand gegen den Simplismus, gegen die vereinfachenden Slogans und gegen das Verlangen nach Klarheit und Leichtigkeit, gegen den Wunsch nach Wiederherstellung sicherer Werte." (Lyotard 1987:110)

Auch Derrida ist sich dieser Unausgegorenheit bewußt, wenn er begründet:

"...weil man erst einmal versuchen muß, den gemeinsamen Boden und die 'differánce' dieser unreduzierbaren Differenz [zu anderen wissenschaftlichen Vorgehensweisen] zu denken und weil es sich hier um einen Typus, sagen wir es noch einmal, historischen Fragens handelt, dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur erst abzuschätzen vermögen." (1976:442)

6. Die Beliebigkeit der Interpretation in der Postmoderne lähmt das Handeln und ist in ihren politischen Konsequenzen gefährlich. Atkins’ (1984:122) Portrait des unentschlossenen Hamlet, der alle Probleme sieht, aber zu keiner konstruktiven Entscheidung fähig ist, spiegelt das Bild vieler Kritiker wider (Power 1990, Mongardini 1992, Parker 1993). Wir erinnern uns auch an Baumans Überlegung, daß sich die Wissenschaft besonders dann postmodernen „Spielereien“ hingeben könne, nachdem sie gesellschaftlich irrelevant geworden ist (vgl. Fußnote Seite 2). Die Kritik ist umso erstaunlicher, als alle drei vorgestellten Autoren explizit den Widerstand zu ihrem Ziel machen. Agger (1994:502) hat diesen Widerspruch in Bezug auf den Dekonstruktivismus wie folgt zu erklären versucht: „Something - politics - was lost in translation when French postmodern theory was shipped to the United States...“ Vielleicht handelt es sich aber auch um das alte, modernistische Fehlverständnis des Verhältnisses von Theorie und Politik, nämlich daß Theorie Politik begründen könne. Das kann und will die Postmoderne nicht, im Gegenteil, sie verweist viele Entscheidungen, die bisher im Bereich der Theorie lagen (etwa die Frage nach Wahrheit und

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Falschheit oder die Frage nach der praktischen Umsetzung theoretischer Lösungen) auf das Gebiet der Politik. Die Postmoderne ist deshalb ein politischer Ansatz, weil sie die politische Natur vieler Grundannahmen und Entscheidungen, die bisher als „rational“ oder „evident“ galten, aufzeigt und eben nicht beansprucht, sie „wissenschaftlich neutral“ lösen zu wollen. Ihr Politikum ist die Herausforderung an das vermeintlich Unpolitische oder Entpolitisierte. Die Lösung im Sinne eines „rechten“ oder „linken“ politischen Spektrums liegt ihr allerdings fern (wenn sie auch traditionell eher zu „links“ tendiert). Daß die moralische Legitimation und die Kriterien des Widerstandes gegen das Etablierte nicht Teil des Ansatzes sind, vermittelt zugegebenermaßen das Gefühl der Unentschlossenheit oder Beliebigkeit; es resultiert jedoch letztlich daraus, daß auch der „Feind“, nämlich das Etablierte, kontingent ist. Foucaults Worte „Ich denke, daß die ethisch-politische Wahl, die wir jeden Tag zu treffen haben, darin besteht zu bestimmen, was die Hauptgefahr ist.“ (vgl. Kapitel 10.4) machen deutlich, daß die Politik der Postmoderne nicht beliebig, aber auch nicht nomologisch abzuleiten ist. Ihr Widerstand richtet sich nicht gegen den Inhalt bestimmter Konzepte (z.B. Rationalität), sondern gegen die Hegemonie jedes beliebigen Konzeptes. Dies sei auch denen (etwa Parker 1993) mit auf den Weg gegeben, die angesichts der „Beliebigkeit“ der Postmoderne keinen Grund mehr sehen, überhaupt noch wissenschaftlich zu arbeiten und argumentieren. Daß sich ihre politische und epistemologische Kritik in der Gesellschaft nur unzureichend bis gar nicht niederschlägt (Power 1990), trifft zu, allerdings teilt sie dieses Schicksal mit vielen anderen Ansätzen, u.a. der Frankfurter Schule. Wissenschaftstheorie verlangt einen hohen Abstraktionsgrad, der sich mit politischen Aktionskonzepten wenig verträgt, und umgekehrt erleichtert der Ruch der "Anarchie" (Tepe 1992) einem theoretischen Konzept nicht gerade das Fortkommen. Nun ist - im Gegensatz zur Politik - praktische Umsetzbarkeit keine conditio sine qua non für eine gute Theorie, auch wenn sie ihre Verbreitung durchaus erleichtert. ("Was ich sage, ist wahrer als das, was du sagst, da ich mit dem, was ich sage, 'mehr machen' kann...")

7. Die Betonung auf Sprache, Interpretation und Text lenkt von der tatsächlichen Machtausübung und den aktuellen gesellschaftlichen Problemen ab. Mongardini (1992) sieht die Postmoderne als „latest ideology of modernity“, die mit ihrer Betonung des Zeichens vor dem Gegenstand, der Interpretation vor der Realität und der Ablehnung von Identität die Angst und das Unbehagen, das die moderne Gesellschaft heraufbeschwört, „anästhetisiert“. Habermas (1981:13) spricht von den „jungen Konservativen“, die vor den Problemen der modernen Gesellschaft in die Ästhetik fliehen: „They remove into the sphere of the far away and the archaic, the spontaneous powers of imagination, of self-experiecne and of emotionality.“ Auch Thompson (1993), Tsoukas (1992) und Parker (1993) verweisen für den engeren Bereich der Organisationstheorie darauf, daß es noch andere Herrschaftsformen gibt als die der Bezeichnung. Zum Vorwurf des Nicht-Politischen und der Flucht möchte ich auf meine obigen Ausführungen verweisen; Thompson und Parker ist entgegenzuhalten, daß

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Kapitel 2

die Postmoderne in meinem Verständnis durchaus nicht nur mit Sprache, aber sehr wohl mit der Vermittlung von nicht-sprachlicher Machtausübung durch Sprache (oder im weiteren Sinne Diskurse) beschäftigt. Sprache ist nicht der einzige Bestandteil gesellschaftlicher Verhältnisse, aber sie ist ein wesentlicher und dazu einer, dessen Bedeutung in den letzten beiden Jahrhunderten unter dem Einfluß der Repräsentations-These vernachlässigt wurde.

8. Die Postmoderne lehnt Rationalität ab. „Reason plays no important role - except as ideological belief“ (Alvesson 1995:1056). Ich denke, hier vermischen die Kritiker mehrere Rationalitäts- und Vernunft-Definitionen. Es steht sicher außer Frage, daß auch postmoderne Wissenschaftler darauf angewiesen sind, sich im Rahmen geltender Regeln der Logik und Vernunft verständlich zu machen; eine solche „basale Rationalität“ würde auch niemand angreifen wollen. Wogegen sich die Postmoderne jedoch wehrt, sind vielfältige Konnotationen, die mit dem Begriff der Vernunft verbunden sind. Lineare Argumentationen, empirische Beweise, ernsthafter Duktus, Distanziertheit u.v.m. sind keineswegs so untrennbar mit Verständlichkeit und Vernünftigkeit verbunden, wie es die Wissenschaftstradition suggeriert. Ironie, Witze, Intuition, Metaphern und Vielstimmigkeit können genauso nachvollziehbar und vernünftig sein. Es geht jedoch nicht nur um ihre Rehabilitation, sondern darum aufzuzeigen, daß ihr Ausschluß unter dem Vorwand der „Nicht-Rationalität“ nicht rational, sondern nur normativ zu begründen ist. M.a.W., auch Rationalität ist ein Moralcode, der zwischen guten und schlechten Wissensformen diskriminiert20

. Daß dieser Code mit all den aufgeführten Konnotationen in vielen Sprachspielen Gültigkeit hat, wird ebenfalls nicht bezweifelt, bezweifelt wird jedoch erneut seine ungeprüfte Übertragung auf andere Sprachspiele.

9. Postmoderne Kritik basiert selbst auf totalisierenden Annahmen; der eigene Standpunkt ist dabei immer im Recht. Auch wenn man einräumt, daß jeder den eigenen Standpunkt für den besseren hält (weil er oder sie ihn sonst nicht vertreten würde), so ist Alvessons (1995) Beobachtung in vielen Fällen korrekt. Aus der oftmals berechtigten Kritik an modernistischen Denkweisen wird eine Opposition Moderne-Postmoderne erstellt, die, um mit Derrida zu sprechen, ebenfalls hierarchisiert ist, dieses Mal zugunsten der Postmoderne. Die Begründung des eigenen Standpunktes erfolgt durch eine negative Beweisführung: weil die Moderne dieses und jenes „falsch“ gemacht hat, muß das Gegenteil „richtig“ sein. Dies führt z.B. Chia (1996:117) - auf im Vergleich zu anderen Aufsätzen trotzdem sehr reflektierter Ebene - vor: „Thus, properties such as unity, identity, permanence, structure and essences, etc., are privileged over dissonance, disparity, plurality, transience and change. [...] Cooper and Law therefore propose a sociology of becoming in which taken-for-granted static states are

20 vgl. etwa Foucaults (1992b:84f.) Aussagen zur Wissenschaftlichkeit: „It is surely the following kinds of question that would need to be posed: What types of knowledge do you want to disqualify in the very instant of your demand: ‘Is it a science’? Which speaking, discoursing subjects - which subjects of experience and knowledge - do you then want to ‘diminish’ when you say: ‘I who conduct this discourse am conducting a scientific discourse, and I am a scientist’?“

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

viewed as effects of complex social processes...“ Es ist sicher zweierlei zu sagen, daß prozessuale Betrachtungen eine notwendige Ergänzung zum bisherigen Vorgehen darstellen, oder zu behaupten, daß dies nun die richtige Vorgehensweise wäre. Hier ist noch etwas Selbstkritik seitens der Postmoderne gefragt, auch wenn - und das soll keineswegs bestritten werden - momentan ein Aufholbedarf an Differenz-, Wandel- und Prozeßperspektiven festzustellen ist. Damit kann jedoch nur eine aktuelle, keine konzeptuelle Priorität etabliert werden; der Gedanke der Supplementarität von Moderne und Postmoderne wäre sicherlich angebracht. Was schließlich kritisch zur Kritik zu vermerken bleibt, ist, daß sie oft genug nur die Urteile postmoderner Philosophie angreift, die Prämissen und Schlüsse jedoch zunächst akzeptiert hat. Dies halte ich für nicht legitim. Eine Kritik, die dem Beginn und Verlauf einer Argumentation zustimmt oder zumindest nicht widerspricht und erst den Schluß ablehnt, macht sich eher der Irrationalität verdächtig als die Argumentation, die so von der Kritik abgelehnt wird.

Anwendungen in der Organisationstheorie und -forschung

Methodische Konsequenzen Ein Kapitel, das sich im Rahmen postmoderner Wissenschaftstheorie mit Methoden auseinandersetzt, fällt – fast möchte man sagen “naturgemäß” – kurz aus. “Naturgemäß” deshalb, weil 1. die zentrale Bedeutung von methodischen Überlegungen und Empfehlungen in der modernistischen Wissenschaft ihren wesentlichen Antrieb in der Korrespondenztheorie der Wahrheit bzw. dem Repräsentationalismus (=> die Methode soll möglichst wenig verzerren) sowie der Forderung der Nachprüfbarkeit bzw. Allgemeinheit findet. Beiden Axiomen begegnet die Postmoderne mit Skepsis, weshalb eine Methoden-Diskussion, die diesen folgt, für sie nur marginal bedeutsam ist21

2. eine pauschale (Vor-)Verurteilung einer bestimmten Methode gerade jene disziplinär-ausschließende Vorgehensweise darstellen würde, die die Postmoderne kritisiert. Postmoderne Methodologie ist eklektisch, nicht exklusiv (Kilduff/Mehra 1997). Methoden sind zunächst Instrumente, die wie alle Instrumente zum Guten und zum Schlechten verwendet werden können, und es ist eben die Absicht und die Verwendungsweise, nicht das Instrument selbst, das darüber entscheidet. Diesem Grundsatz sind jedoch zwei einschränkende Bemerkungen hinzuzufügen: erstens bedeutet dieses

.

21 siehe dazu ausführlicher Kapitel 7.2.1 und 7.2.5

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Kapitel 2

“anything is welcome” nicht ein “anything goes”; man kann Methoden auch in der Postmoderne falsch oder schlecht einsetzen. Dies geschieht eben dann, wenn sie z.B. zur Steigerung der Performanz oder zur Klassifikation von Individuen eingesetzt werden22

2.7

, allgemein also dann, wenn die politischen und epistemologischen Werte der Postmoderne verletzt werden (vgl. dazu auch Kapitel ). Zweitens ist zu bemerken, daß Methoden nicht ganz so neutral sind, wie der Grundsatz suggeriert, sondern daß sie durchaus als Praktiken wirken, die das Denken und Wahrnehmen von Forschern und Beforschten beeinflussen. Foucault hat dies z.B. ausführlich für die Methoden der quantitativen Messung, Durchschnittsbildung, Ranking und Klassifikation gezeigt (vgl. Kapitel 10). Es steht auch zu vermuten, daß bestimmte Methoden historisch eher mit strikt modernistischem Denken verbunden sind als andere, dennoch kann dies keinen Vorab-Ausschluß begründen. Die Wahl der Methode(n) und der Umgang mit ihr in der spezifischen Forschungssituation liegt allein in der Verantwortung des Forschers; seine Intention und Hintergrundannahmen sind wichtiger als die methodische Einzelentscheidung. 3. die Frage nach der Methode oft insofern modernistische Züge trägt, als sie (in Anlehnung an Punkt 1) eine Frage nach der Natur des Ergebnisses darstellt. Nun ist, wie wir gesehen haben, für die Postmoderne der Prozeß der Wissensgenerierung wichtiger als das Ergebnis selbst. Es ist somit wichtiger, die verwendete Methode offenzulegen und kritisch in ihrer Auswirkung auf das Ergebnis zu reflektieren, als sich mithilfe einer “guten” Methode zu legitimieren23

4. neue Sichtweisen auf alte Methoden, ihre Kombination und die Erfindung neuer Methoden, die ja ausdrücklich gefordert werden, durch eine Festschreibung in Methodologien eher behindert als gefördert werden. Ein kreativer Umgang mit bestehenden Methoden setzt vielleicht auch ein Stück methodologischer Unbekümmertheit voraus.

. Es kommt nicht darauf an, sich z.B. zu irgendeinem Zeitpunkt ins qualitative oder ins quantitative Lager zu schlagen und die altbekannten Vor- und Nachteile zu wiederholen oder pflichtbewußt am Anfang des Forschungsberichtes die Nachteile der gewählten Methode zu nennen, um sie später bei der Präsentation der Ergebnisse abhaken (und vergessen) zu können. Nach postmodernem Verständnis ist eher nach den Auswirkungen der Methode auf den Forscher bzw. auf die Ergebniskonstruktion als nach denen auf das Ergebnis zu fragen.

Wenn ich im folgenden dennoch gewisse Methoden benenne, so geschieht dies vornehmlich in deskriptiver Absicht, d.h. um zu zeigen, was postmoderne Arbeiten zu diesem Zeitpunkt tun und vorschlagen. Das zu verzeichnende Übergewicht qualitativer und ideographischer Verfahren scheint mir neben der am Schluß von Punkt 2 genannten Korrelation auch

22 Als abschreckendes Beispiel sei Goodall 1992 zitiert, der ein Handbuch mit der Unternehmensphilosophie einer Firma “dekonstruiert”, indem er jedes Wort für bare Münze nimmt und sich freut, wie gut die Angestellten dort behandelt werden. 23 Kilduff/Mehra (1997:464) bemerken hier, wie ich meine zutreffend: “When a writer invokes a methodology with its panoply of assumptions, value judgments, and exceptions, this invocation is in part a rhetorical attempt to persuade the reader of the scientific authenticity of the document. The danger is that a concern for method can overwhelm a concern for relevance, surprise, challenge, and discovery.”

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

damit zu begründen, daß die Postmoderne sich hier als Gegenbewegung zu einem wahrgenommenen Übergewicht24

Eine quantitative Vorgehensweise wäre außerdem zunächst einmal im Hinblick auf die Interpretation wenig sinnvoll: wenn man zwei oder mehrere Sichtweisen aggregiert, erhält man eben nicht einen von Zufälligkeiten gereinigten Durchschnitt, sondern Unsinn, nämlich eine Interpretation ohne Interpretierenden. Gerade die Unstimmigkeiten und Abweichungen sollen ja untersucht und nicht aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Nur die qualitative Analyse schafft - etwa im Sinne der Hermeneutik - individuelles Verständnis und die Möglichkeit, Differenzen sichtbar zu machen, während die quantitativen Methoden eine Glättung der Daten bewirken. Darüber hinaus betrachten Vertreter der Postmoderne die Anwendung quantitativer Erhebungen geradezu als Paradebeispiel der Machtausübung der "Techno-Wissenschaft", die mit dem Aufteilen, Abzählen, Normieren klassische Machtinstrumente à la Foucault zur Anwendung bringt.

quantitativer Verfahren versteht.

Ähnlich läßt sich auch die Ablehnung deduktiv-nomologischer Verfahren zugunsten ideographischer und/oder hermeneutischer Verfahren begründen. Die große epistemische Bedeutung der Sprache schlägt sich im Einsatz von semiotischen Analysen und Textauswertungen nieder, die bisher wesentlich der Sprach- und Literaturwissenschaft vorbehalten waren. Wie bereits oben angedeutet, scheint diese Vorgehensweise vor allem in Verbindung mit einem interpretativen Grundansatz fruchtbar, und so sind vor allem ethnomethodologische Ansätze in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Sie erfahren in der postmodernen Herangehensweise jedoch insofern eine Modifikation, als nun auch die Interpretation des Beobachters problematisiert und damit sehr stark auf eine reflexive Schiene gelenkt wird. Dabei geht es nicht darum, die Trennung Beobachter-Beobachteter aufrechtzuerhalten, sondern die Konstruktion des eigenen Textes, des eigenen Verständnisses der Situation, mit all ihren Widersprüchen, retardierenden Momenten, äußeren Einflüssen etc. aufmerksam zu verfolgen. Mit der Konstruktion eines eigenen Textes geht auch der Respekt vor der Autorität des (ursprünglichen) Autors verloren; es kann nie auch nur um den Versuch einer "unverfälschten" Wiedergabe von Daten gehen. Sie wird ersetzt durch die Kreation, durch das Aufzeigen von Neuem, (Ver)Fremd(et)em. Der innere Widerspruch, die nie abgeschlossene Vielfalt des Untersuchungsgegenstandes schafft eine Dynamik, die, um wirken zu können, nicht durch die Herstellung von (falscher) Konsistenz überdeckt werden darf. Gut illustriert ist diese Herangehensweise in Jeffcutts (1993) Untersuchung von Geschichten in Unternehmen. Er weist nach, wie sie Autorität erlangen, indem monologische Verfahren der Erzählung angewandt werden. Unter Einbeziehung klassischer literaturwissenschaftlicher Konzepte zeigt er auf, daß Firmengeschichten den Mustern Epos, Romanze, Tragödie und Ironie folgen. Unternehmenskultur wird so zum Instrument, das die chaotisch-komplexe Firmenwelt monologisch-linear ordnet. In einem zweiten, reflexiven Schritt zeigt er auf, daß dieses Ordnungsmuster bei der Erhebung unhinterfragt auch in die Wissenschaft übernommen wird. Die Zuordnung 24 Dieses Übergewicht bezieht sich weniger auf die Verbreitung quantitativer Methoden, sondern auf ihre höhere Bewertung hinsichtlich Genauigkeit, Glaubhaftigkeit und Wissenschaftlichkeit.

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Kapitel 2

‘ein Autor-ein Text’, die Linearität der Ereignisabfolge wie auch der Argumentation sind modernistische Denkfallen, die dazu dienen, die "wahre" Unordnung und Instabilität zu überdecken. Um die Polyvalenz darzustellen und die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Autor und Leser zu verwirklichen, fordert Jeffcutt experimentelle Ausdrucksformen in der Organisationswissenschaft: von dialogischen über polyphone Traktate, Parodien und Lyrik darf keine Art der Darstellung von vorneherein ausgeschlossen werden. Wenn das Verständnis der Organisation abhängig ist von der Organisation des Verständnisses, dann kann man das Verständnis gar nicht auf zu viele verschiedene Weisen organisieren.

Themengebiete Zur Illustration postmoderner Ansätze soll in diesem Kapitel kurz auf einige Anwendungen in der Organisationstheorie eingegangen werden. Die für meine Themenstellung relevanten Überlegungen werden im nächsten Kapitel folgen.

Aufsätze, die sich mit der unvollständigen Rationalität in Organisationen befassen (vgl. DiBella 1992, Turner 1990, Power 1990, Cooper/Burrell 1988), greifen ein bereits existierendes Thema (etwa Starbuck 1982) auf, und betten es in einen postmodernen Kontext. Dadurch wird die grundlegende Argumentation, daß in Organisationen Entscheidungen nicht rational getroffen werden, erleichtert; der Autor steht am Anfang nicht in der Defensive, in der er die "Anomalität" nicht-rationalen Handelns erklären muß, vielmehr geht er vom "normalen Fall" emotionsgeladener, divergierender Interessen aus. Diese treten in besonders ausgeprägter Form - auch das kann den postmodernen Organisationstheoretiker nicht verwundern - in Umbruchsituationen auf, in Fällen geplanten oder ungeplanten Wandels (vgl. DiBella 1992). Eine „höhere Rationalität“, wie sie etwa Cyert und March für Organisationen postulieren, ist dabei nicht auf ein verbessertes Entscheidungsverhalten im Sinne des Organisationalen Lernens, nicht auf „geronnene Erfahrung“, sondern auf eine opportunistische Änderung der Evaluierung von Entscheidungen, auf „geronnene Macht“, zurückzuführen. Umfangreichen Bezug auf das nicht-rationale Handeln in Organisationen nimmt auch die Literatur, die sich vornehmlich mit der Zeichenhaftigkeit organisationalen Geschehens, sei es in Form von Geschichten und Symbolen (Turner 1990, Jeffcutt 1993, Knights/Morgan 1993, Buskirk/McGrath 1992) oder Bildern und Metaphern (Alvesson 1993, Morgan 1980, Morgan 1986) beschäftigt. Auch hier ist nicht in jedem Fall ein expliziter Bezug zur postmodernen Theorie gegeben, jedoch läßt sich wie oben sagen, daß die Postmoderne das Verständnis für die Grundannahmen und die Bedeutung dieser Ansätze verbessert. Geht man von den Geschichten zum übergreifenden Konzept der Organisationskultur, so haben hier vor allem die Post-Fordisten25

25 vgl. die zu Beginn getroffene Unterscheidung

ihr

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Betätigungsfeld gefunden. Daß die Koordination durch Unternehmenskultur in post-industriellen Zeiten ein brauchbares Rezept darstellt, weil sie gewisse Strukturähnlichkeiten (Betonung von Informellem, Nicht-Planbaren, Information/Text) besitzt, ist vielerorts festgestellt worden (vgl. u.a. Clegg 1992, Bardmann/Franzpötter 1990), theoretisch aber nicht besonders aufregend. Erschwerend kommt hinzu, daß vom Standpunkt postmoderner Wissenschaftstheorie aus eine Erhöhung der Performanz gerade nicht gewünscht wird, weshalb in diesem Sinne „postmoderne“ Autoren eher beweisen, daß sie den (epistemologischen) Ansatz ignorieren oder nicht verstanden haben. Überaus kritisch gegenüber dem Konzept der Organisationskultur äußern sich etwa Willmott (1992 und 1993), der von Gedankenkontrolle spricht, und Schultz (1992), die sowohl die praktische Ausformung als auch die theoretische Konzeptualisierung für politisch problematisch hält, weil sie nicht vorhandene Tiefe, Bedeutung und Originalität vorspiegelt. Gee (1996) führt an, daß post-fordistische Managementkonzepte und kognitionswissenschaftliche Lernkonzepte eine bemerkenswerte Konvergenz hinsichtlich Dezentrierung, Ganzheitlichkeit und Flexibilität aufweisen, woraus er den Schluß zieht, daß der „neue Kapitalismus“ dabei ist, sich auf ein weiteres Feld auszudehnen. Wo sich die Postmoderne positiv mit Organisationskultur auseinandersetzt, tut sie dies nicht nur in Ablehnung einer einheitlichen Organisationskultur und unter Verweis auf konflingierende Sub-Kulturen, sondern in einer Aufweitung des Begriffes, in der dann meist nur noch von “Organisation”, “Praktiken” oder “Organisieren” gesprochen wird. Diese werden dann entweder im Sinne Foucaults als unterdrückende Praktiken oder Selbstpraktiken verstanden (s.u. Punkt “Macht”), oder es wird in reflexiver Weise die Darstellung dieser Praktiken durch Wissenschaft oder Unternehmung thematisiert (Hassard 1993, Jeffcutt 1993). Mit ähnlich symbolisch ausgerichtetem Blickwinkel, jedoch semiotisch etwas weiter gefaßt als die übrige Organisationskulturforschung liefert Linstead (1993a) einen Ansatz zu neuen Sichtweisen der Organisation im Sinne postmoderner Theorie. Er geht wie Jeffcutt von einer dekonstruktivistischen Perspektive aus, in der der Gegensatz Subjekt-Objekt, Autor-Text aufgelöst ist, und kommt zu folgenden vier Aspekten: 1. Organisation als Paradox. Aufgrund der verschiedenen Interpretationen der Teilnehmer sowie der Supplementarität der eingesetzten Zeichen kann es nie zu einer "shared meaning" kommen. Nur zeitweilig, solange der Aufschub der differánce durchgehalten werden kann, kann es zu gemeinsamen Werten kommen, prinzipiell jedoch ist die Unternehmenskultur immer als paradox und uneinheitlich zu betrachten. Für die Analyse ist es nicht sinnvoll, von abgeschlossenen Einheiten wie Individuen auszugehen, die evtl. miteinander in Konflikt stehen, sondern von Orten der Intertextualität, die sich und andere definieren.

2. Organisation als Andersartigkeit. Macht in Organisationen beruht auf der Möglichkeit zur Sanktion, die jedoch meist nur im Hintergrund präsent gehalten wird. Unternehmenskultur besteht aus diesen aufgeschobenen Sanktionen und ruft bei den Mitgliedern das Verlangen nach Ausgleich des Machtverhältnisses, nach einem Gleichgewicht, hervor. Dies ist der Ausgangspunkt für das Unterlaufen von rational-formalen Abkommen mit dem Zweck, eine informelle Gegenmacht aufzubauen.

3. Organisation als Verführung. Bei Unternehmenskulturen handelt es sich um eine simulierte Antwort auf einen simulierten Mangel, nämlich dem nach Identität und kollektiver Sicherheit. Simuliert deshalb, weil Unternehmenskulturen nur der Form, nicht aber der Substanz nach diese Möglichkeit einer "orgiastischen" Verschmelzung mit der Masse

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Kapitel 2

anbieten. Es handelt sich, um mit Alvesson zu sprechen, um "Pseudo-Ereignisse, Pseudo-Handlungen und Pseudo-Strukturen".

4. Organisation als Diskurs. Innerhalb von Organisationen strukturiert Macht den Diskurs, vermittels dessen Wissen gewonnen wird. Dieser Diskurs limitiert, was gesagt werden kann, und gibt gleichzeitig Vorgaben für die Produktion von Neuem (Erkenntnissen, Verfahren etc.) Das Verständnis der Organisation beruht auf dem Verständnis dieser Diskursformen, speziell ihrer Gründe, Auswirkungen, Hemmnisse und den Motiven, die ihre Reproduktion wahrscheinlich machen.

Während viele der bisher aufgeführten Überlegungen erst in Ansätzen ausgearbeitet sind, finden sich umfangreiche und bereits ausgereifte Konzepte in Bezug auf die Betrachtung von Macht in Organisationen. Sie rekurrieren im wesentlichen auf Foucault, dessen Rezeption neben der Derridas als die am weitesten fortgeschrittene einzuschätzen ist. Neben der deskriptorischen Verwendbarkeit von Foucaults eigenen Arbeiten26 hat sich besonders sein Konzept von Wissen/Macht als "zwei Seiten derselben Münze" als fruchtbar erwiesen. So hat etwa Townley (1993) seine Anwendbarkeit auf den Bereich des Personalmanagements demonstriert, wobei es ihr im wesentlichen darauf ankommt, den Blick weg von inhaltlichen Aspekten bspw. der Personaleinstellung und -evaluation hin zu deren Verwendung als Zwangs- und Kontrollinstrumente der Personalpolitik aufzuzeigen. Eine analog gerichtete Analyse führt Fletcher (1992) weg von Politikansätzen, die nur die Akteursperspektive einbeziehen, hin zur "unobtrusive power", den Prozessen nämlich, die via Interpretation erst die Interessen der Akteure entstehen lassen. Wieder steht das Ungesagte, das Verdeckte und Unterdrückte, aber auch die Art, wie Normen und Legitimationen entstehen, im Vordergrund. Hetrick und Boje (1992) beginnen dagegen bei der Materie, also bei den Körpern der Organisationsmitglieder, um mit Foucault zu zeigen, wie über die Kontrolle der Körper die Kontrolle des Geistes angestrebt wird bzw. wie, Foucaults These "wo Macht ist, ist auch Widerstand" folgend, diese Kontrolle gebrochen werden kann. Ihr Ziel ist dabei explizit ein politisches, dessen Verwirklichung allerdings nicht erst im Unternehmen, sondern bereits in den Theorien über das Unternehmen beginnt: "There is no reason, in other words, why our theories of social organization have to articulate the interests and biases only of management. The demands of labour, consumers and the environment (i.e. nature) deserve equal attention." (Hetrick/Boje 1992:56). Ähnlich ist der Ansatz, den postmoderne Feministen27

26 hier vor allem „Überwachen und Strafen“ (1994b) sowie „Der Wille zum Wissen“ (1995a)

benutzen, wenn sie bereits der Organisationswissenschaft vorwerfen, sie konzipiere Frauen grundsätzlich als die von der (männlichen) Norm abweichenden und damit problematischen Fälle. Mills (1993) versucht dagegen zu zeigen, daß auch die männliche Identität durch Prozesse innerhalb der Organisation geformt wird und damit die Gleichung "Geschlecht=Frau=Problem" (Calás/Smircich 1992) eine unzulässig verkürzte Variante darstellt. Wie Hearn/Parkin (1993) stellt aber auch er letztlich fest, daß die postmoderne Betrachtungsweise

27 Aus den in diesem Absatz dargelegten Gründen erspare ich mir die Markierung (semiotisch also: die Abweichung von der Norm) demographischer, religiöser, nationaler oder sonstwie persönlicher Merkmale. Um die entsprechende Sozialisation nach mittlerweile gängigem Muster („WissenschaftlerInnen“) deutlich zu machen, wäre es sonst ja auch angebracht, bspw. von einem christlich erzogenen Wissenschaftler als „OrganisationsTHEOretiker“ zu sprechen.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

zwar interessante Einsichten in das Problem liefern kann, für die angestrebte politische Umsetzung der Emanzipation jedoch nicht taugt. Im Sinne Foucaults wird Macht schließlich auch mit der Herstellung von Identität verbunden: Knights/Morgan (1993) richten am Beispiel von Kleidung ihr Augenmerk darauf, wie Organisationen durch die entsprechende Vermarktung ihrer Güter eine Identität beim Käufer produzieren. Daß Konsum ein Thema der Organisationstheorie und nicht nur des Marketing oder der Volkswirtschaftslehre ist, steht im Mittelpunkt ihres Ansatzes:

"The inter-dependence and social constitution of the market, the consumer and the organization is ignored; they exist as separate, independent elements both of the overall system and of the academic disciplines of analysis. The gulf between marketing, economics and organizational behaviour as academic disciplines institutionalizes the conceptual separation of these phenomena.[...] It is time that the study of organizations made this move and instead of continously focusing on problems of production in which the characters of 'workers' and 'managers' dance their never-ending steps, began also to examine some of the ways in which organizations respond to, and change, social relations in the broader society."(Knights/Morgan 1993:214ff.)

In einer weiteren Studie zur Identität von Versicherungsvertretern (Knights/Morgan 1991) zeigen sie auf, wie Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen verinnerlicht und schließlich zur Grundlage der persönlichen Identität gemacht werden. Auch Buskirk und McGrath (1992) liefern anhand einer Fallstudie einer Werbeagentur während einer Reorganisation Beispiele dafür, wie die Darstellung von Unternehmensgeschichte die Wahrnehmung der Mitglieder, ihre Einstellungen und Reaktionen gestaltet und umgekehrt. In Anknüpfung an die Auflösung der Subjektivität verzichten sie darauf, Emotionen als etwas, das "im Menschen" liegt, darzustellen, und bemühen sich vielmehr, die Intertextualität von Emotionen28

Dezidierte Kritik an der klassischen Organisationswissenschaft sei schließlich als letzter Punkt der postmodernen Themen in der Organisationstheorie genannt (vgl. Burrell 1988, Cooper 1989, Burrell 1993, Pym 1990, Marsden 1993). Dabei geht es um das Problem der Disziplinierung, nach Foucault die fundamentale Aufgabe einer wissenschaftlichen Disziplin: Die Organisationswissenschaft faßt empirisch verschiedenartigste Gebilde unter dem Namen "Organisation" zusammen. Damit wird einerseits eine Verdinglichung erreicht; der Gedanke, den man bei der Zusammenfassung hatte, wird in die Außenwelt projeziert; es gibt nun Organisationen. Zum anderen gibt es sofort Kriterien - Normen - dafür, wann ein Ding eine - womöglich gute und effiziente - Organisation ist. Nun impliziert die Klassifikation bereits seit der Genesis die Höherrangigkeit dessen, der klassifiziert; Foucault ordnet sie zusammen mit den verwandten Tätigkeiten der Unterteilung, Normierung, Messung und Glättung unter die

herauszuarbeiten. Gegen die wissenschaftliche Konzeption von „abgeschlossenen“ Individuen, die mit fixen Werten und Präferenzen in das marktliche und organisationale Geschehen eingreifen und dieses unverändert wieder verlassen, wendet sich auch Nooteboom (1992). Bedeutung und Identität werden seiner Auffassung nach erst in der Interaktion produziert und haben deshalb keinen unveränderlichen, generalisierbaren Charakter.

28 Wie bereits oben bemerkt (vgl. Kapitel 2.3), wird das Subjekt als Stelle definiert, an der sich andere Texte, andere Zeiten kreuzen. Damit entfällt die Betrachtungsweise Inneres-Äußeres.

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Kapitel 2

Machtinstrumente ein. Wissen ist hier nicht nur Macht im Sinne eines Informationsvorsprungs, sondern bereits die Herstellung von Wissen setzt Machtstrukturen voraus, die durch seine Weitergabe beständig reproduziert werden. Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen können gar nicht anders als disziplinierend - und damit unterdrückend - tätig werden, wenn sie wissenschaftlich arbeiten wollen. Freilich kann das Maß an Disziplinierung durch die Öffnung von Lehre und Forschung verringert werden. Man kann es zornig ausdrücken wie Pym, wenn er sagt:

"I see old, textbook science and its prescribed research methods as an essentially fraudulent, collusive and debilitating game. Any methodology which denies the anarchistic tradition in discovery, learning and advance is poor science.[...] We, you and I, preserve our employment prospects to the detriment of our souls, our fellow men, and society." (Pym 1990:234)

Oder man kann hoffnungsfroh einige Forderungen einbringen, wie Burrell (1993) getreu dem Grundsatz „beneath language lies desire“, wenn er vorschlägt, universitäres Geschehen mehr um das Verlangen, den Körper, Sex und Bewußtseinserweiterung zu zentrieren.

Fazit Die vorgestellten Ansätze können natürlich das weite Gebiet des möglichen Einsatzes postmoderner Theorie in der Organisationswissenschaft nicht vollständig beschreiben; prinzipiell steht jede Fragestellung offen für eine so geartete Betrachtungsweise. Ein Wort der Vorsicht sollte jedoch nicht fehlen, betrachtet man die Menge an Papier, die bereits in und um die Postmoderne bedruckt wurde. Es ist sicher nicht jedermanns Sache, den mitunter wirren Gedankengängen von Lyotard, Baudrillard, Derrida und Foucault in der Primärquelle zu folgen; wer sich mit postmoderner Theorie eingehender beschäftigen will, wird darum freilich nicht herumkommen. Das bedeutet nicht, wie schon zu Anfang bemerkt, daß diese Überlegungen in toto übernommen werden müssen, es bedeutet aber durchaus, daß bei aller Freiheit, die die Postmoderne sicherlich gewährt, die skeptische Grundhaltung und die Auseinandersetzung mit Prozeßhaftigkeit, Diskontinuität, Vielstimmigkeit und Widerspruch als Anspruch bestehen bleiben sollten. Dabei zählt das Ergebnis vielleicht sogar weniger als der Versuch. Wie besonders die Arbeiten von Derrida und Foucault zeigen, beruht die Freiheit und spielerische Leichtigkeit im Umgang mit etablierten Meinungen und Methoden nicht auf oberflächlichem “Gelabere”, sondern auf einer fundierten Kenntnis derselben. Die Kunst (als Ideal) scheint darin zu bestehen, eine Disziplin virtuos zu beherrschen, ohne von ihr so “verbildet” zu sein, daß man ihre Widersprüche und Eitelkeiten nicht mehr erkennt.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Wissenschaft im postmodernen Sinne verwirklicht schließlich m.E. mit aller Konsequenz zwei Aufgaben der Wissenschaft, nämlich das Bemühen um Erkenntnis und Kritik, um die dritte, nämlich die der praktischen, „performativen“ Gestaltung, mit kühner Geste abzutun. Hier scheiden sich, gerade in einer so anwendungsbezogenen Wissenschaft wie der Betriebswirtschaftslehre, sicher die Geister. Mit der Wahl der postmodernen Perspektive als der dieser Arbeit zugrundeliegenden Wissenschaftstheorie habe ich meine Entscheidung für eine kritisch-theoretische, nicht gestalterische Abhandlung getroffen. Auf welche Themengebiete aus dem weiten Feld der dargestellten und möglichen ich mich konkret beschränken möchte, sei im folgenden Kapitel ausgeführt.

Postmoderne im weiteren Verlauf dieser Arbeit

Moderne und Postmoderne: Einige Bemerkungen zu Vorgehen und Darstellung Wie eingangs schon bemerkt, ist es ein Anliegen dieser Arbeit, postmoderne Wissenschaftstheorie anzuwenden, d.h. ein “postmodernist understanding” in eine wissenschaftlichen Arbeit mit einer bestimmten Problemstellung einzubringen. Diese Aufgabe bringt eine Reihe von Problemen mit sich, die ich nicht für grundsätzlich lösbar halte, sondern die stets im Einzelfall (pragmatisch) entschieden werden müssen. Ob der Leser jede dieser Einzelentscheidungen gutheißt, muß dahingestellt bleiben; es scheint mir an dieser Stelle jedoch notwendig, zumindest über die grundsätzlichen Dilemmata zu reflektieren. Die Auseinandersetzung Moderne-Postmoderne ist, wie bereits in Kapitel 2.2.1 beschrieben, sicherlich notwendig zum Verständnis der Postmoderne, dennoch muß die Reflexion dem postmodernen Wissenschaftler zeigen, daß auch er auf modernistische Annahmen und Folgerungen nicht verzichten kann. Dies beginnt beim Leserkreis. Wiewohl es richtig und wichtig sein mag, Bekanntes zu verfremden und infragezustellen, kann die Verfremdung doch keine 100 % erreichen, da sie sonst in Unverständlichkeit umschlagen würde. M.a.W.: auch eine postmoderne Arbeit enthält nur zu einem geringen Prozentsatz “Postmodernes” im Sinne von neuen Sichtweisen; der Rest sind bekannte, klassische Autoren, Erkenntnisse, Darstellungsweisen und Schlußverfahren. Ein modernistisches Publikum meint offensichtlich, ohne Linearität, Definitionen, Tabellen und Dichotomien nicht auskommen zu können29

29 nicht selten hat es sogar recht

, und wer gänzlich auf sie verzichtet, betreibt Exklusion auf eine andere Weise, nämlich im Ausschluß von Leserschaft. Für diese Arbeit, die als Dissertation verfaßt wurde, tritt ein weiterer, normativ-disziplinärer Aspekt hinzu: Dissertationen sind rites de passage, mit denen der zu Initiierende beweisen soll, daß er die Regeln der Kunst beherrscht. Befolgt man sie nicht, läßt das nicht in jedem Falle deutlich erkennen, ob es aus

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Kapitel 2

Unvermögen/Ignoranz oder aus postmoderner Kritik geschah. Andererseits schmälert es natürlich die Glaubwürdigkeit der Kritik, wenn modernistische Darstellungsformen kritisiert und gleichzeitig selbst angewendet werden. Ich habe mich in dieser Arbeit bemüht, offensichtlich modernistische Darstellungsformen wie Tabellen, Di-/Trichotomien und reduktionistische Graphiken nur dort einzusetzen, wo sie entweder zitierte modernistischen Argumentationen ergänzen oder wo sie als Überblick (meist abschließend im Sinne einer Zusammenfassung) dem Leser bei der Verarbeitung der Stoffülle helfen sollen. Sie sind in diesen Fällen stets von, wie ich hoffe, umfassenderen und die Grenzen problematisierenden Textpassagen begleitet. Dieses weitgehend formale30 Problem wird um eine normative Ebene erweitert, wenn man fragt, auf welcher (Wert-)Grundlage der postmoderne politische Anspruch steht. Die Aufhebung von Unterdrückung, Gleichberechtigung und Widerstand gegen dominante Formen von Macht und Wissen sind keine originär postmodernen Werte, ja, unter anderen historischen Vorzeichen Werte der Aufklärung selbst. Auch postmoderne Wissenschaft schließt aus und wertet, nur eben anders und anderes31

. Die zugrundeliegende Ethik ist nach dem Wegfall der Meta-Erzählungen eine rein individualistische; was bleibt, ist der Appell an die Verantwortung des Wissenschaftlers. Diesen Appell zu koppeln mit der Kritik an dem Zeitalter, das ihn historisch vermutlich hervorgebracht hat – nämlich die Aufklärung -, baut eine in meinen Augen nicht geringe Spannung auf.

Postmoderne Leitideen und Kritik bestehender Organisationstheorien Mit dem Einbezug postmoderner Wissenschaftstheorie ergeben sich einige Leitideen und -grundsätze für die Bearbeitung des Themas im restlichen Teil der Arbeit. Sie bilden gleichzeitig auch die Grundlage einer ersten Kritik der im Kapitel 1.2.3 vorgestellten Organisationstheorien.

1. Prinzip der Vielheit. Die Annahme von Einheiten, z.B. Organisationen, Interessengruppen oder Systemen, wird einer kritischen Betrachtung unterzogen. Bei Konstruktionen wie „die x“ oder „der y“ muß immer wieder gefragt werden, ob die Einheit so unproblematisch aufrechterhalten werden kann oder ob es nicht Gegenströmungen und Widersprüche innerhalb des Konzeptes gibt. Natürlich müssen gewissen Einheiten der Betrachtung zugrundegelegt werden - schon die Verwendung abstrakter Begriffe verlangt das -, aber jede generelle Aussage über solche Einheiten muß prinzipiell als unvollständig betrachtet und durch lokale bzw. konkrete Widersprüche ergänzt werden. Eine solche Ergänzung wird nicht wie im Kritischen 30 Eine scharfe Trennung zwischen Form und Inhalt ist, wie wir gesehen haben, nicht möglich; die Form der Darstellung wirkt immer auch auf den Inhalt. 31 Vgl. ausführlicher Kapitel 2.5, Punkte 6 und 9. Der Glaube, man könne unter dem Etikett “Postmoderne” alles, insbesondere jegliche Form von Ungereimtheit verkaufen, scheint jedoch nicht ausrottbar.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Rationalismus als Falsifikation betrachtet, da nach dem Gedanken der Supplementarität jede Idee auf ihre Opposition verweist. Morgan (1986:224f.) spricht, wenn auch vor einem psychologischen Hintergrund, sehr anschaulich von einem „Schatten“, der jedes Konzept (z.B. Rationalität) in Form seiner Negation begleitet. Die Affirmation einer generellen Aussage erfolgt also immer mit einem „ja, aber...“. Als Einheiten gelten auch Fakten und traditionelle Sichtweisen, die als selbstverständlich akzeptiert werden. Auch hier ist es natürlich möglich, mit ihnen zu arbeiten, doch müssen sie als Produkte eines Prozesses der Wissensgenerierung begriffen werden, der nicht ohne Fragezeichen vonstatten ging und geht. Die radikale Form des Einbezugs von Widersprüchen in generelle Aussagen stellt Chias (1996:92) Einweg-Erklärung (throw-away explanation) dar, die nur noch Geltung für den Einzelfall beansprucht. Vielleicht bedeutet die Ablehnung von Einheit in letzter Konsequenz tatsächlich eine Abkehr vom wissenschaftlichen Ideal der Allgemeinheit und Notwendigkeit, dessen Verbindung zur Sozialtechnologie sicher nicht zu leugnen ist. Ich möchte dennoch versuchen, eine Zwischenlösung dergestalt zu finden, daß gewisse generelle Grundaussagen mit lokalen Erklärungen verbunden werden können. Die Ablehnung von Einheit bringt, wie oben bereits gezeigt, auch eine Ablehnung des Idee des Ursprungs mit sich. Die Analyse muß deshalb immer die Möglichkeit verschiedener, nebeneinander existierender Realitäten miteinbeziehen und kann nicht davon ausgehen, daß Erscheinungen auf der Oberfläche in einer „tieferen“ Schicht miteinander verbunden sind. Die Kritik der Behandlung von Organisationen als Einheiten trifft vor allem Entwicklungsansätze (mit Ausnahme von Weick), die Organisationen in Analogie zu Organismen konzipieren, und System-/Selbstorganisations-Ansätze, bei denen bereits das Wort „Selbst-“ eine Identität des Untersuchungsgegenstandes impliziert32

32 Klimecki et al. (1994:72) formulieren: “Selbstorganisierend können nur Ganzheiten sein; Einheiten, die ein Selbst, eine Identität haben.”

. Auch die Annahme einer operationalen Geschlossenheit sowie die Rede vom System, das „reagiert“ oder „handelt“, legen eine einheitliche Betrachtungsweise nahe. Der Verweis, es handele sich dabei nur um Beschreibungen von Phänomenen, nicht ontologischen Aussagen, muß sicher entkräftend wirken, allerdings bleibt dennoch, sobald man sich von der rein deskriptiven zur explanatorischen Ebene bewegt, ein integrierender Bezug auf das Funktionieren eines (Gesamt-)Systems festzustellen. Dies gilt auch für die Fälle, in denen das Gesamtsystem in Subsysteme, die ihrerseits wieder als Einheiten gelten können, zerlegt wird. Ansätze des Organisationalen Lernens teilen, sofern sie systemisch argumentieren, diese Annahmen. Die Abgrenzung von Organisation und Umwelt läßt auch bei Institutionalistischen Ansätzen das Bild einer einheitlichen Organisation entstehen (so Scott/Meyer 1992, dagegen: Powell/DiMaggio 1991a), allerdings ist sie hier für die Systematik des Ansatzes nicht entscheidend, und bspw. die Entkopplung von Effizienz und Legitimität läßt andere Möglichkeiten der Konzeptualisierung zu. Konsequent uneinheitlich, nämlich dialektisch oder weiter fragmentiert, stellen sich Organisationen in Politik-, Labour Process- und garbage can-Modellen dar, allerdings sind hier zumindest für den Labour Process und manche Politikansätze relativ monolithische Untereinheiten (z.B. Arbeiter, Manager) zu identifizieren. Das Problem verlagert sich damit

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Kapitel 2

nur auf eine andere Ebene. Im Labour Process findet sich aufgrund der dialektischen Vorgehensweise auch eine systematische Eingliederung von Widersprüchen, allerdings basieren sie inhaltlich auf der Annahme von Widersprüchen des Kapitalismus, was sowohl den Gedanken der Einheit als auch des Ursprungs in sich trägt. Zumindest Gefahr, als tieferliegende, ursprüngliche Kräfte identifiziert zu werden, laufen systemtheoretische Begriffe wie „Eigenverhalten“ und „Eigendynamik“, sofern nicht konsequent betont wird, daß es sich um Namen für Oberflächenphänomene (d.h. es erscheint dem Beobachter, als ob es tieferliegende Prozesse gäbe) handelt (s.o.). Konsequent bekennt sich nur der Institutionalistische Ansatz zu einer „reinen“ Betrachtung der Phänomene (Zucker 1983, Meyer/Rowan 1992). Die prozessuale Betrachtungsweise ist praktisch allen Ansätzen eigen, allerdings verbleibt sie oft (speziell Entwicklungsansätze, Organisationales Lernen) auf der Ebene der Phänomene und thematisiert nicht die Prozessualität von Fakten und Wissen. Dies ist besonders verwunderlich bei manchen Ansätzen des Organisationalen Lernens (z.B. Duncan/Weiss 1979), die Informationen wie kleine Materie-Pakete behandeln, die man erwerben, austauschen, speichern und teilen kann. Für das Zustandekommen von Rationalität interessieren sich diejenigen Theorien, die auch die Wertfreiheit angreifen (vgl. Punkt 4). Lokale Geltung ihrer Erklärungen beanspruchen in voller Deutlichkeit nur Politik-Ansätze. Das garbage can-Modell bemüht sich nur um generelle Erklärungen für eine bestimmte Klasse von Organisationen, nämlich organisierte Anarchien; Institutionalistische Ansätze schränken ihre Aussagen ebenfalls auf ein, wenn auch nicht gerade kleines Feld ein. Die übrigen Theorien beanspruchen universelle Geltung für Organisationen industrieller bzw. post-industrieller Gesellschaften. Dabei ist aufgrund des großen Abstraktheitsgrades vor allem die Systemtheorie hochgeneralisiert. Die Möglichkeit verschiedener Realitäten (nicht: verschiedener Wahrnehmungen und Interpretationen33) ist in keinem Ansatz, der auf einer realistischen (im Gegensatz zu einer nominalistischen) Epistemologie basiert, angesprochen. Dazu gehören die Institutionalistischen Ansätze, der garbage can, die Evolutionstheorien, Labour Process und politische Ansätze. Ohne größere Änderungen einbauen ließe sie sich, soweit ich sehe, auch nur im garbage can-Modell, da hier nur etwas über die Zusammenkunft der Ströme, nichts über ihre Herkunft und sonstigen Verbleib gesagt wird. Der nominalistisch orientierte radikale Konstruktivismus, an den sich die konstruktivistische Systemtheorie (Baitsch 1993, Klimecki et al. 1994) anlehnt, bejaht zunächst verschiedene Realitäten auf der individuellen Seite, scheint mir jedoch auf der System- bzw. Organisationsseite unter dem Stichwort “soziale Konstruktion der Wirklichkeit” wieder auf eine geteilte, und d.h. eine Realität einzuschwenken34

33 Als Realitäten möchte ich in diesem Zusammenhang die Objekte von Wahrnehmungen bzw. Interpretationen bezeichnen.

(vgl. dazu auch den folgenden Punkt).

34 Diese Einheit wird, soweit ich sehe, nicht nur aus pragmatischen Gründen von den genannten Autoren verwendet, sondern wird theoretisch benötigt, um ein soziales System als Einheit konzipieren zu können. Nur über eine “geteilte Wirklichkeit” können die relativ solipsistisch konstruierten Individuen des radikalen Konstruktivismus überhaupt zueinander finden. Berger/Luckmann (1994) füllen damit (in nicht-

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

2. Betonung der Sprache. Die Selbständigkeit der Sprache wird aus der Infragestellung des klassichen Repräsentationsmodells gewonnen. Wenn Sprache keine Abbildung von Realität ist, ist es möglich, die Opposition Sprache vs. Realität aufzugeben und Sprache als (eine Form von) Realität zu konzipieren. Auch hier geht es weniger darum, den Repräsentationalismus in Bausch und Bogen abzuschaffen, sondern darum, andere Sichtweisen, die bisher unterdrückt wurden, zu Worte kommen zu lassen. Inhaltlich rücken damit u.a. Fragen der Rhetorik und Fragen zu Grenzen des sprachlichen Ausdrucks, die bisher den Sprach- und Literaturwissenschaften vorbehalten waren, in das Zentrum sozialwissenschaftlicher Analyse. Die Ablehnung des Repräsentationalismus führt weg von der Korrespondenztheorie zu einer sozialen Theorie der Wahrheit. Im Gegensatz zu Konstruktivismus und Pragmatismus geht es jedoch dabei nicht um das Einnehmen einer relativistischen Position, sondern um die Thematisierung des Relativismus selbst35

Auch wenn der Anspruch auf Objektivität in fast allen Ansätzen (Ausnahme: Populationsökologie, Teile des Labour Process) zugunsten einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit aufgegeben ist, so wird mit dieser häufig umgegangen, als sei tatsächlich nur das Wort „objektiv“ durch das Wort „intersubjektiv“ oder „sozial“ ersetzt. Zwischen Subjekt und Welt wird einfach ein Konsens, ein geteiltes Etwas eingefügt, das im weiteren stabil und unproblematisch bleibt. Selbst z.B. Probsts (1987:71) expliziter Verweis auf Berger/Luckmann begnügt sich mit der Passiv-Konstruktion, daß Wirklichkeit „konstruiert wird“ und bezeichnet sie wenig später gar als „emergenten Prozeß“ ohne Verweis auf Akteure, Interessen und Sprache. Vor allem Ansätzen mit einem gestalterischen Anspruch (Organisationales Lernen, z.T. Selbstorganisation) fällt es schwer, auf die Repräsentation der Realität zu verzichten. Auch die Angabe von mathematischen Wahrscheinlichkeiten und

: die zugrundeliegenden Normen müssen sichtbar gemacht und diskutiert, nicht als „Basis-Werturteile“ stillschweigend dem Einzelnen überlassen werden. Mit dem Problem der Korrespondenz verschwinden zentrale Fragen der Methodologie, die auf eine „unverzerrte“ Abbildung zielten, mit ihr verschwindet auch das Problem der Objektivität und die zentrale Begründungskraft der Empirie. Im Umkehrschluß können so Aussagen in Form von Raum, Zeit und Autorenschaft wieder „kontextualisiert“ werden, ohne ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu verlieren. Aus dem Beobachter von Tatsachen wird ein Produzent von Aussagen; aus deskriptiver Sprache eine interessengeleitete Wissensgenerierung. Schließlich müssen die spezifischen Bedingungen der Schriftlichkeit, die unser Verstehen formen, in die Überlegung miteinbezogen werden.

systemtheoretischer Weise) den Luhmannschen Begriff der Interpenetration mit Leben. Ob die Annahme verschiedener individueller Realitäten notwendig aus der operationalen Geschlossenheit psychischer Systeme folgt oder ob es sich um eine Vermischung von zwei Ebenen, nämlich Denkakt und Denkinhalt, und damit einen Fehlschluß handelt, muß dahingestellt bleiben und kann im Rahmen dieser Arbeit leider nicht diskutiert werden. 35 „... while both constructionists/pragmatists and proponents of deconstruction are agreed that they cannot by an effort of self-scrutiny or theoretical enquiry get outside of the framework of beliefs and assumptions within which they operate, for deconstructionists this does not mean that we should not worry about how these have been brought about. Instead, the very questioning of such beliefs, assumptions and conceptual categories as well as institutional procedures are what intellectual inquiry is all about.“ (Chia 1996:18)

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Kapitel 2

Algorithmen36 im garbage can suggeriert eine repräsentationale Modellierung der Realität, und daß Entwicklungsmodellen die empirische Basis fehlt, wird als Manko angesehen. Die Realität von Sprache und ihre Ordnungsfunktion wird kaum thematisiert; Ausnahmen sind hier Überlegungen zur indirekten Machtausübung durch Sinnstiftung und Sozialisation (etwa die unobtrusive power von Lukes), wie sie von einigen Autoren des Labour Process, von politischen und institutionalistischen Ansätzen, allerdings nicht an zentraler Stelle, angestellt werden. Wiederum ist verwunderlich, wie unreflektiert Ansätze des Organisationalen Lernens, bei denen Kommunikation ja im Zentrum steht, in dieser Hinsicht mit Sprache umgehen. Sie spielt eine reine, neutrale Vermittlerrolle, die individuelle Erfahrungen anderen zugänglich macht (z.B. Pawlowsky 1992:220); auch die „ideale Kommunikation“, die als Netzwerk konzipiert ist, hinterläßt eher den Eindruck eines Kanals oder Mediums, das Menschen verbindet, ohne selbst beteiligt zu sein. Systemtheorie und Selbstorganisation thematisieren Sprache trotz ihrer konstruktivistischen Epistemologie ebenfalls kaum37

Aussagen zur Grenzen der Sprachlichkeit (Ausnahme: Systemtheorie, Weick), Schriftlichkeit und solche, in denen sich der Beobachter selbst thematisiert (Re-Kontextualisierung, interessengeleitete Wissensgenerierung), habe ich nicht gefunden. Noch immer scheint die Anstandsregel die zu sein, so zu tun, als habe man als Autor an den beschriebenen Vorgängen keinen Anteil.

. Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz treten positiv und an zentraler Stelle bei Weick und im garbage can-Modell auf, während Politik-Ansätze ihnen aus pragmatischen Gründen (muß reduziert werden, um handeln zu können) ambivalent gegenüberstehen. Auf eine Beseitigung derselben drängen Theorien des Organisationalen Lernens (z.B. Argyris/Schön 1996), da sie Mitarbeiter verunsichere und zu schlechten Entscheidungen führe.

3. Organisieren statt Organisation. Aus den ersten beiden Punkten läßt sich eine Betonung des Organisierens gegenüber der Organisation38

36 wobei das Modell m.E. auch ohne diese leben kann

ableiten. Die Reifizierung des Organisationsbegriffes leistet einem Verständnis der Organisation als Einheit Vorschub, das bereits in Punkt 1 problematisiert wurde. Doch auch bei der Prozeßbetrachtung des Organisierens ist darauf zu achten, daß so wenig wie möglich auf unhinterfragte, stabile Untereinheiten (z.B. Klassen, Manager) rekurriert wird. Wenn die Flußmetapher ernst genommen wird, so muß man davon ausgehen, daß sich auch die „Elemente“ des Organisierens in einem ständigen Fluß befinden. Unter Einbeziehung der Foucaultschen Überlegungen (vgl. Kapitel 10) könnte es durchaus interessant sein,

37 Probst (1987:105ff.) macht eine Ausnahme, jedoch behandelt auch er Sprache primär als Informationsträger. Stärker noch betont Baitsch (1993:32) den gestaltenden und legitimierende Charakter von Kommunikation, doch stellt die Rede von “Kommunikation” in größerem Maße auf Handlung ab als die Rede von “Sprache”. Somit wird unentscheidbar, ob die Gestaltung von der Sprache oder vom Sprechakt als Handlung ausgeht. 38 Die Begrifflichkeit ist etwas künstlich, da dem Wort “Organisation” im Literalsinne durchaus auch eine prozessuale Komponente eigen ist, d.h., wir können das Wort sowohl für den Prozeß als auch für das Ergebnis des Organisierens verwenden. Da es jedoch häufiger für das Ergebnis verwendet wird und ich eine deutliche Abgrenzung zwischen beiden Bedeutungen suchte, habe ich statt “Organisation” als Prozeß das seltener gebrauchte “Organisieren” eingesetzt.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

Organisieren mit dem „Willen zum Wissen“, der sich durch die moderne Wissenschaft und Gesellschaft zieht, in Verbindung zu bringen. In jedem Falle ist eine so betrachtete Organisationswissenschaft weiter gefaßt, als es die deutsche disziplinäre Einordnung in der Betriebswirtschaftslehre suggeriert, denn Organisieren findet sicherlich auf einer bedeutend breiteren Basis als der Wirtschaft statt. Dies ist, aus dieser Perspektive, auch glücklicherweise so, da eine solche Betrachtungsweise kaum noch performativ-gestalterische Aussagen erlaubt. Der Blickpunkt, sei er auch politisch motiviert und Unwägbarkeiten und Widersprüchen zugeneigt, ist ein theoretisch-abstrakter. Eine der ersten Forderungen in dieser Richtung stammt von Weick selbst, doch haben sich andere Theorien der Entwicklung und Selektion dieser nicht angeschlossen. Sie behandeln Organisationen, die leben, sterben oder sich entwickeln, und nur selten (etwa bei Mintzberg) finden sich ansatzweise Überlegungen zum Prozeß der Organisation. Auch die institutionelle Perspektive beschäftigt sich z.T. mit Organisationen als Institutionen, auch wenn Überlegungen zur Entwicklung der Organisation in der Moderne (Zucker 1983, Meyer/Rowan 1992, Jepperson/Meyer 1991) leicht durch eine Perspektive des Organisierens in der Moderne ergänzt werden könnten. Trotz seiner prozessualen Perspektive stellt das Organisationale Lernen eher auf Lernen in oder von Organisationen als auf Lernen beim Organisieren o.ä. ab; beim Vorgang der Speicherung fungieren Organisationen in einem kaum metaphorischen Sinne als Container. Theorien zur Selbstorganisation nehmen aufgrund ihrer reflexiven Betrachtung („Organisationen organisieren sich“) eine Mittelstellung zwischen beiden Punkten ein, allerdings tritt auch hier häufig die Organisation als Handelnde in den Vordergrund. Prozesse des Organisierens stehen andererseits bei Politik- und Labour Process-Ansätzen sowie beim garbage can, allerdings hier auf Entscheidungen reduziert, im Vordergrund. Vor allem die Labour Process Theory beschäftigt sich sehr ausführlich damit, wie das Organisieren des Arbeitsprozesses auf Kontrolle, Dequalifizierung etc. wirkt. Wird nicht die Organisation selbst als Einheit betrachtet (s.o.), so wird doch in den meisten Fällen auf stabile Untereinheiten in Form von Klassen (Labour Process), Individuen (Organisationales Lernen, z.T. Systemtheorie/Selbstorganisation), Akteuren oder Gruppen (Politik-Ansätze, Ausnahmen: Ortmann 1992b, Frost/Egri 1991) rekurriert. Eine Ausnahme bilden hier Teile der Systemtheorie, die Handlungen als Elemente definieren, und der garbage can, der im wesentlichen ohne präexistierende Ziele, die durch jemanden verkörpert werden müssen, auskommen kann. Gestalterische Absichten mit dem Ziel der Erhöhung der Performanz finden sich in einigen Entwicklungsmodellen (Weick 1985, Tushman/Romanelli 1985), vor allem aber bei Ansätzen des Organisationalen Lernens und der Selbstorganisation (z.T. abgeschwächt als “Erhöhung des systemischen Problemlösungspotentials” bei Klimecki et al. 1994:24). Für die Selbstorganisation ist hier ein gewisser Widerspruch zu eigenen Grundsätzen, etwa der Nicht-Steuerbarkeit oder der Verteilung von Wissen im System, zu vermerken, die zumindest die Funktion des Managers theoretisch fragwürdig erscheinen lassen (vgl. Kapitel 1.2.3.3).

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Kapitel 2

4. Normativität der Deskription. Die Theorie kann für das Handeln keine Anweisungen liefern, sie kann allerdings andere Theorien angreifen, die das mit Argumenten der Notwendigkeit, Einheit und Faktizität zu tun versuchen. Das Ziel ist dabei das Aufzeigen und die Befreiung von wissenschaftlicher Bevormundung, nicht ein Verbot jeglicher Zusammenarbeit zwischen Theorie und Praxis. Es geht darum zu zeigen, daß jedes Handeln politisch-normative Entscheidungen erfordert, die nicht durch „wertneutrale“ Wissenschaftlichkeit ersetzt werden können, weil es eine solche nicht gibt. Auch „Fakten“ und „Sachzwänge“ der Praxis sind nicht als objektiv gegeben hinzunehmen, sondern auf ihre Dienlichkeit für bestimmte Interessengruppen zu untersuchen. Der Verdacht ist dabei stets, daß „Neutralität“ den status quo zu Ungunsten marginalisierter Gruppen und Ansichten befördert. Die Postmoderne geht damit von einem moralischen Standpunkt aus, der Totalisierung bzw. Hegemonie als schlecht oder zumindest legitimationsbedürftig empfindet. Der Pluralismus bzw. Relativismus der Postmoderne ist in viel stärkerem Maße ein ethischer denn ein epistemologischer: „...it is [the seekers of universal standards] who are pressed to justify their hatred of relativism, and clear themselves of the charges of dogmatism, ethnocentrism, intellectual imperialism or whatever else their work may seem to imply when gazed upon from the relativist positions.“ (Bauman 1988:228). Der Versuch, wertneutrale Aussagen zu machen, ist vor allem in Entwicklungsansätzen (in Analogie zur Naturwissenschaft) und in Institutionalistischen Ansätze zu beobachten und korrespondiert mit der Intention einer „reinen Beschreibung“. Auch die deskriptiv orientierten systemtheoretischen Ansätze bemühen sich, dem Zwang zur Wertung durch eine hochabstrakte Betrachtungsweise zu entgehen39. Dort, wo, wie in den gestaltenden Ansätzen der Selbstorganisation, Normen unvermeidlich sind, wird wohl eine Position eingenommen, die der klassischen Manager-Macht entgegensteht und ein empowerment befürwortet, jedoch scheint mir hier oftmals die Frage danach, wer die Prozesse der Beteiligung wohin lenkt, unterbelichtet. Außerdem steht auch dieser Einbezug der Betroffenen nicht selten (Ausnahme: Klimecki et al. 1994) unter den Vorzeichen der Performanz: sie werden nicht einbezogen, weil dies moralisch wünschenswert wäre, sondern weil die Steuerung anders nicht funktioniert. Der garbage can hingegen spricht, zumindest an einigen Stellen (Cohen/March 1992), recht deutlich von der Notwendigkeit einer normativen Theorie des Handelns, allerdings ohne diese inhaltlich auszufüllen. Mit einer explizit politisch-wertenden Grundeinstellung gehen die Labour Process Theory sowie - erstaunlich wenige - Autoren von Politik-Ansätzen (Frost/Egri 1991) heran. Die stumme konservative und funktionalistische Grundhaltung aller Ansätze, die sich mit dem „Überleben“ von Organisationen beschäftigen, ist bereits vielfach bemerkt und kritisiert worden. Inhaltlich beschäftigen sich vor allem Politik-Ansätze und der Labour Process mit Fragen der Macht, Kontrolle und Legitimation und hinterfragen gemeinsam mit Institutionalistischen Ansätzen40

39 vgl. hierzu etwa die Kritik von Becker/Küpper/Ortmann (1992:102ff.) an Luhmann

die vermeintlich wertfreien Konzepte von Rationalität und Sachzwängen.

40 DiMaggio/Powell 1991a:27f. sehen die Einbettung von Macht und Konflikt als wichtige zukünftige Aufgabe in Institutionalistischen Ansätzen.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

5. Politisierung der Wissenschaft. Neben o.g. Überlegungen spielen hier die Fragen der Disziplinierung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen ebenso eine Rolle wie die politische Natur der Institution Wissenschaft. Insofern Wissen im Sinne Foucaults disqualifiziert, kann Wissenschaft von Beginn an nicht unpolitisch sein. Insofern sie Wissen aus seinem Entstehungszusammenhang reißt und andernorts anwendet, insofern sie disziplinierende Methoden benutzt oder Studenten ausbildet, reproduziert sie die enge Verbindung von Macht und Wissen. Gänzlich entgehen kann sie ihr ohnehin nicht, doch steht zu hoffen, daß die Bereitschaft zur Reflexion und Selbstkritik eine positive Selbstbeschränkung auslöst. Wie bereits oben mehrfach angesprochen, gilt auch hier: selbst wenn man das Problem nicht lösen kann, so ist es doch notwendig, es anzusprechen. Auch der Versuch, pluralistisch, d.h. mit verschiedenen Methoden, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit verschiedenen Diskursen, an ein Problem heranzugehen, wirkt der Totalisierung entgegen. Darunter fällt u.a. auch die Gleichheit von Beobachter und Beobachtetem: die wissenschaftliche Perspektive ist keine privilegierte, die in irgendeiner Form klüger oder näher an der Wahrheit wäre als die „Versuchspersonen“ oder „Arbeitnehmer“. Die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft und bei der Herstellung von Wissen wird wiederum von denen thematisiert, die auch schon die Wertfreiheit problematisiert hatten: Politik-Ansätze, Labour Process, Institutionalistische Ansätze, wobei allen dreien die Radikalität Foucaults fehlt. Die Teile der Systemtheorie, die die Wissenschaft behandeln, konzipieren sie als getrenntes Subsystem, was das Erkennen von Einflüssen und Zusammenhängen nicht unbedingt erleichtert; Theorien der Selbstorganisation konzentrieren sich auf den wirtschaftlichen Bereich. Dennoch ist der Systemtheorie prinzipiell ein hohes Maß zumindest an epistemischer Reflexion zuzusprechen. Wie bereits erwähnt, fehlt erstaunlicherweise gerade Ansätzen des Organisationalen Lernens ein Gespür für die Zusammenhänge von Wissen und Macht. Praktische Konsequenzen in der wissenschaftlichen Arbeit wie o.g. Pluralismus und die Gleichstellung von Beobachter und Beobachteten, sind, soweit ich sehe, nirgends gezogen. Selbst konstruktivistisch argumentierende Autoren (etwa Baitsch 1993:70f., ähnlich Wollnik 1995 für die interpretativen Ansätze) lassen den Beobachter in einer Doppelrolle als “Interaktionspartner und Protokollant” verharren, die sich von der des Beobachteten unterscheidet. Eine gewisse Bescheidenheit ist ansatzweise nur im garbage can-Modell verwirklicht, wo die organisationale Anarchie mit Humor und Selbstironie beschrieben und in Gestaltungsfragen letztlich auf die Moral der Führungskraft rekurriert wird (Cohen/March 1992).

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Kapitel 2

Konsequenzen für die Betrachtung von Zeit, Wandel und Transformation Da ich im ersten Kapitel die Bedeutung von Zeit für die Wandelbetrachtung hervorgehoben und einen substantiellen Temporalismus im Sinne Martins’ (1974) gefordert habe, ist es nach der Diskussion des wissenschaftstheoretischen Fundamentes nun sicher nötig, den Begriff der Zeit ausgiebiger zu analysieren. Dieser Aufgabe sind die nächsten vier Kapitel gewidmet. Sie sollen – mit den in Kapitel 2.8.1 gemachten Einschränkungen – zeigen, wie eine postmoderne Analyse des Begriffes Zeit aussehen kann. Will man die genannten Leitideen in die Betrachtung aufnehmen, so ergibt sich dabei eine Vorgehensweise, die mit allergrößter Vorsicht nach dem „was“, dem „Wesen“ von Zeit, Transformation und Wandel fragt. Ontologie, Epistemologie und Semiotik werden, so steht zu erwarten, nicht leicht in der Antwort zu trennen sein. Die Vorsicht gilt auch dem Mißtrauen gegenüber tradierten Einheiten, Notwendigkeiten und Fakten in den jeweiligen Feldern. Um ihm gerecht zu werden, werde ich versuchen, auch den Prozeß der Wissensgenerierung aufzuzeigen, und aus verschiedenen Blickwinkeln, sprich Disziplinen, auf den Gegenstand schauen. Widersprüche möchte ich, so lange als möglich, beibehalten. Schließlich soll nicht nur die Organisation, sondern auch der Prozeß des Organisierens und sein Zusammenhang mit Zeit, Wandel und Transformation thematisiert werden. Aus der o.g. Kritik der verschiedenen Organisationstheorien resultierend, möchte ich an dieser Stelle bereits die Entwicklungs- und Selektionsansätze mit Ausnahme von Weick sowie die Ansätze des Organisationalen Lernens ausscheiden, da sie, wie ich zu zeigen versucht habe, nur wenig in die von mir angestrebte Betrachtungsweise passen.

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Postmoderne Wissenschaftstheorie

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Kapitel 2

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Philosophische Zeitkonzepte

Philosophische Zeitkonzepte

It is impossible to meditate on time and the creative passage of nature without an overwhelming emotion at the limitations of human intelligence.

A.Whitehead Die folgenden Kapitel sollen einen kleinen Einblick in die Begriffsgeschichte der Zeit vermitteln, indem sie anhand von „Klassikern“ aufzeigen, wie Zeit in ihren problematischen und unproblematischen Aspekten konzipiert wurde und wird, was somit die Quellen jener Vorstellungen sind, die in unser Zeitverständnis Eingang fanden. Wenn Derrida sagt, daß wir kein Wort gebrauchen können, ohne die gesamte abendländische Metaphysik mitzudenken, so trifft das auf die alltäglichen Begriffe, also auch auf "Zeit", besonders zu. Die nun vorgestellten Autoren sollen deshalb den gedanklichen Rahmen abstecken, in dem sich die Analyse der folgenden Kapitel bewegt und nur bewegen kann. Daß dabei eine Auswahl getroffen werden mußte, erübrigt sich fast zu erwähnen. Mit Bedauern habe ich auf die Darstellung von Platon, Albertus Magnus, William James, Russell u.a. verzichtet, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen. In meiner Auswahl habe ich versucht, mich an den meistzitierten1

Der Stellenwert des Kapitels im Rahmen der gesamten Arbeit ließ schließlich auch nur die Darstellung der Hauptgedanken zu. Dennoch habe ich mich bemüht, den Autoren insofern gerecht zu werden, als ich Einschränkungen der Hauptargumente, die auf eine andere Lösung des Problems verweisen, zur Sprache bringe. Eine solche Vorgehensweise habe ich bei vielen der angegebenen Autoren der Sekundärliteratur weitgehend vermißt. Ihnen schien es mehr darauf anzukommen, den Autor innerhalb ihrer meist dichotomen Schemata einzuordnen

Autoren zu orientieren; ein Kriterium, über dessen Grenzen ich mir durchaus bewußt bin. Zugänglichkeit zu den Originalwerken schränkte den Kreis, vor allem hinsichtlich antiker und mittelalterlicher Autoren, weiter ein.

2

Vor allem aus diesem Grund habe ich bei der Anordnung der Kapitel auf jede inhaltliche Systematik verzichtet. Bereits eine zeitliche Ordnung schien

, als eine halbwegs angemessene Darstellung seiner Philosophie zu geben. Ich halte diese Vorgehensweise nicht nur für wissenschaftlich fragwürdig, sie vermittelt darüber hinaus den Eindruck, daß Scheinprobleme seit Jahrhunderten existierten, die nun der jeweilige Verfasser zu lösen anhebt.

1 Der Auswahl lagen als Sekundärliteratur zugrunde: Allgöwer 1992, Arcaya 1992, Benjamin 1981, Bergmann 1988 und 1992, Bluedorn/Denhardt 1988, Castoriadis 1991, Clark 1985 und 1990, Dietl 1993, Dreyfus 1975, Georgescu 1988, Gurvitch 1964, Hassard 1989c und 1990a, Hernadi 1992, Hohn 1988, Jaques 1990, Lundmark 1993, Maines 1987, Nassehi 1993, Nowotny 1992, Pasero 1994, Russell 1981, Schmied 1989, Smith 1991, Starkey 1989, Whitrow 1988, Zerubavel 1978. 2 vgl. dazu explizit Kapitel 3.1 und 3.2. Ähnliches läßt sich zumindest für alle älteren (Primär-)Autoren nachweisen.

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Kapitel 3

mir zu rasch zur Entdeckung von "Kontinuitäten" einzuladen3

. So ist die Reihenfolge rein alphabetisch gewählt.

Aristoteles (384-322 v.Chr.)4

Aristoteles beginnt seine Überlegungen zum Wesen der Zeit mit zwei Aporien: 1. Wenn Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, so besteht sie zum allergrößten Teil aus Elementen, die nicht mehr oder noch nicht sind. Wie kann etwas existieren, das aus Elementen zusammengesetzt ist, die nicht existieren? 2. Wenn Zeit eine Folge von (gegenwärtigen) Momenten ist, so müssen diese Momente entweder dieselben bleiben oder verschieden sein. Sie können aber nicht dieselben sein, da sonst ein vergangener Moment auch ein gegenwärtiger wäre und man nicht von früher-später sprechen könnte. Sie können auch nicht verschieden sein, denn dann müßte ein Moment "vergehen" (= aufhören zu existieren), bevor der andere beginnt. Wann sollte er jedoch vergehen? Er kann nicht vergehen, solange er dauert, er kann aber auch nicht vergehen in einem anderen Moment, in dem er ja per definitionem nicht mehr ist. Diese Aporien lassen Aristoteles annehmen, daß Zeit nicht aus einer Folge von Momenten besteht bzw. durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklärt werden kann. Er wendet sich deshalb traditionellen Definitionen der Zeit als Bewegung/Wandel5

1. Wandel sich in der Sache oder am Ort der Sache vollzieht, während Zeit überall ist,

zu. Zeit, so argumentiert er, kann jedoch nicht identisch mit Bewegung/Wandel sein, da

2. Wandel sich - im Gegensatz zur Zeit - schnell oder langsam vollziehen kann. Zur Bestimmung des Schnell oder Langsam ist Zeit notwendig. Wenn Zeit nicht identisch mit Wandel/Bewegung ist, so ist sie doch ohne diese nicht denkbar. Zeit wird immer nur wahrgenommen, wenn sich ein Wandel vollzieht, deshalb ist Zeit nicht unabhängig von Wandel. Dinge, die stets zusammen wahrgenommen werden, sind entweder identisch, oder eins ist Bestandteil des anderen. Da ersteres bereits ausgeschlossen wurde, muß letzteres gelten. 3 vgl. Kapitel 4.1.10 4 Der Darstellung liegen die Ausführungen des 4.Buches der Physik, Kap. 10-14 im griechischen Original, zwei deutschen und einer englischen Übersetzung zugrunde. 5 Aristoteles spricht hier von Bewegung (kinesis) und Wandel (metabolé) und betont, daß er im Folgenden keinen Unterschied zwischen beiden machen will. Unter dem Begriff sind somit alle Arten des Wandels, die er in Physik III definiert hat, zu verstehen: Wandel der Qualität nach, der Quantität nach, Werden/Vergehen und Wechsel des Ortes. Wie aus 223b hervorgeht, räumt er dem letzten jedoch eine gewissen Priorität ein.

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Philosophische Zeitkonzepte

Da Wandel immer eine Ausdehnung besitzt6

Die Wahrnehmung der Zeit nun ist an das Vorher-Nachher

und die Ausdehnung kontinuierlich ist, muß Wandel und als sein Bestandteil die Zeit kontinuierlich sein.

7

der Bewegung gebunden, und so definiert Aristoteles schließlich: "Denn eben das ist Zeit: die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des 'davor' und 'danach'" (219b). "Meßzahl" (arithmós, dt. auch als "Anzahl" wiederzugeben) meint hierbei, so führt er anschließend aus, nicht das, womit wir zählen, sondern das, was (als Ergebnis) gezählt wird. Und nun kehrt er auch wieder zu den Momenten zurück und definiert, daß diese im Wesen gleich, aber in ihren Attributen verschieden seien. Wie ein Körper, der, wenn er herumgetragen wird, in seinem Wesen gleichbleibt, aber in seinen Attributen (wozu der Ort gehört) wechselt, so bleiben die Momente gleich im Wesen und ändern sich in ihren Attributen. Durch ihre Veränderung werden wir uns der Zeit bewußt; durch die Differenz von Vorher-Nachher ihrer selbst. Die Momente als das Gezählte sind stets verbunden mit der Zeit als ihrer Meßzahl. Zeit ist damit gleichzeitig kontinuierlich und teilbar.

Bemerkenswert an dieser Definition sind m.E. folgende Dinge: 1. Zeit ist hier, soweit ich weiß, erstmals relational definiert. 2. Zeit als Maß der Bewegung umfaßt nach der griechischen Begriffsdefinition auch qualitative Vorgänge; bei der gängigen Einordnung von Aristoteles auf der Seite der Verfechter einer quantitativen (im Gegensatz zur qualitativen) Zeitauffassung ist deshalb Vorsicht geboten. 3. Ähnliches gilt für die Einordnung unter die objektiven8

4. Wenig später wendet er sich auch kurz dem Problem pluraler Zeiten, die etwa voneinander verschiedene Wandlungsprozesse begleiten könnten, zu und kommt zu dem Schluß:

(im Gegensatz zu den subjektiven) Zeitauffassungen (vgl. Nassehi 1993, Castoriadis 1991, Dietl 1993): Aristoteles spricht mehrfach davon, daß die Seele das Vorher-Nachher wahrnimmt bzw. selbst erzeugen kann. Er behandelt sogar ausführlich die Frage, ob Zeit existiert, wenn keine Seele existiert (wobei er zu dem Schluß kommt, daß dies möglich ist). Hier zunächst eine zeit-objektive Argumentation hineinzuinterpretieren, um ihm dann Inkonsistenz in derselben anzulasten (Castoriadis 1991:47, Nassehi 1993:23), scheint mir der Gipfel voreingenommener (nämlich im Sinne der Dichotomie beeinflußter) Interpretation. Ich halte es für bedeutend wahrscheinlicher, daß Aristoteles diese Dichotomie als unsinnig betrachtet hätte.

"Denn denken wir uns sieben Hunde und sieben Pferde: ihr Anzahl ist die nämliche. Genauso haben auch die simultanen Prozesse nur eine und dieselbe Zeit, wobei ruhig der eine schnell, der andere langsam ablaufen mag, der eine eine Ortsbewegung, der andere 6 Hier ist daran zu denken, daß Bewegung sich in einem Medium vollzieht, das nach der nicht-atomistischen aristotelischen Physik kontinuierlich ist. 7 griech. próteron/hysteron haben wie im Deutschen sowohl räumlichen als auch zeitlichen Bezug 8 Ohnehin ist bei diesen beiden Begriffen in der Philosophiegeschichte Vorsicht geboten: ab dem Mittelalter bis ins 18. Jhdt. werden sie nämlich genau gegensätzlich zu unserem heutigen Verständnis gebraucht. „Subjekt“ bezeichnet da den zugrundeliegenden Gegenstand der Betrachtung, während „Objekt“ die Vorstellung oder Aussage, die man von ihm macht, bedeutet (vgl. Hoffmeister 1955:438f.).

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Kapitel 3

eine Qualitätsveränderung darstellen mag. Trotz solcher Unterschiede ist die Zeit für die Qualitätsänderung und für die Ortsbewegung eine und dieselbe, wenn nur die Zahl (der beiden artverschiedenen Prozesse) gleichgroß ist und (die Prozesse) simultan verlaufen. Und deshalb können die Prozesse untereinander ruhig verschieden und gegeneinander selbständig sein, die Zeit ist doch in ihrer Breite eine und dieselbe, und dies deswegen, weil auch die Zahlbestimmtheit der gleichlangen und simultanen Prozesse in der ganzen Breite (dieser Prozesse) eine und dieselbe ist." (223b) Ausgehend von dem Begriff der "Zahlbestimmtheit" kann der Abschnitt m.E. auch wie folgt interpretiert werden: Veränderungsprozesse unterliegen alle der Zeit, insofern sie alle zeitlich meßbar und erfaßbar sind. Dies scheint mir mit "Zahlbestimmtheit" gemeint. Dem widerspräche nicht die Ansicht, verschiedene Prozesse könnten verschiedene zeitliche Meßskalen beanspruchen, die durchaus unter den Oberbegriff "Zeitmessung" gefaßt werden könnten. Nur so scheint mir auch die Einschränkung auf "gleichlange und simultane" Prozesse erklärbar, denn ginge Aristoteles von einer Skala aus, müßten die Prozesse nicht simultan ablaufen, um die gleiche Zeit aufzuweisen. "Zeit" ist hier wohl eher eine Universalie, eben das allen "Zeiten" gemeinsame, insofern sie "Zeit" heißen können.

Augustinus (354-430)9

Augustinus geht zunächst von derselben Aporie aus, die auch Aristoteles beschäftigt: Wie kann Zeit existieren, wenn sie aus Vergangenheit, unausgedehnter Gegenwart und Zukunft besteht? Ein Indiz dafür, daß Zeit dennoch existieren muß, sieht er in der Tatsache, daß das menschliche Bewußtsein in der Lage ist, Zeit zu fühlen und zu messen bzw. bezüglich ihrer Länge zu vergleichen. Zunächst einmal präzisiert er dahingehend, daß Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges nur als existierend gedacht werden können, insofern sie im Bewußtsein sind; man müßte also korrekterweise statt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von "Erinnerung, Wahrnehmung/Aufmerksamkeit und Erwartung" sprechen. Was das Bewußtsein dabei vergleicht, ist nicht die Zeit, während sie vergeht, sondern abgeschlossene Zeitintervalle in der Erinnerung. Zeitmessung ist deshalb, so sagt er explizit, allein eine Angelegenheit des Bewußtseins: "Der Eindruck, der von den Erscheinungen bei ihrem Vorüberziehen in dir erzeugt wird und dir zurückbleibt, wenn die Erscheinungen vorüber sind, der ist es, den ich messe als etwas Gegenwärtiges, nicht das, was da, den Eindruck erzeugend, vorüberging; nur ihn, den Eindruck messe ich, wenn ich Zeiten messe." (XI,27) Besondere Aufmerksamkeit widmet er in diesem Zusammenhang der Widerlegung der These, Zeit sei aus der Bewegung der Sterne abgeleitet10

9 Der Text folgt Confessiones XI, 14-28 in lateinischen Original, in deutscher und englischer Übersetzung.

.

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Philosophische Zeitkonzepte

Hier argumentiert er, daß bspw. nicht die Dauer des Laufes der Sonne um die Erde die Länge des Tages bestimmt, denn Gott könnte diese Dauer verkürzen oder die Sonne anhalten (wovon die Bibel berichtet), und wir sprächen dennoch von einem Tag - ein, wie ich meine, schönes Beispiel für Zeitbestimmung durch Konvention. Dennoch spricht er an anderer Stelle (XI,13) davon, daß Gott die Zeit simultan mit den sich wandelnden Dingen geschaffen habe, was auf einen "objektiven" Charakter hindeutet. Hier scheint mir der Unterschied zwischen ontologischer und epistemologischer Betrachtung der Zeit, auf den ich später (Kapitel 6.1.2) näher eingehen werde, zum ersten Mal augenfällig: Der Schöpfungsakt (oder bei Aristoteles die ewige Bewegung der Himmelskörper) beschreiben den ontologischen Grund/Beginn der Zeit; ihre Wahrnehmung durch das Bewußtsein eine epistemologische Komponente. Wiederum kann ich Castoriadis' Auffassung von einem Widerspruch (Castoriadis 1991:48) nicht teilen. Klassischerweise wird in der augustinischen Philosophie die Gegenposition zur aristotelischen aufgebaut. Auch hier möchte ich meine Bedenken anmelden. Unzweifelhaft spricht Augustinus davon, daß Zeitmessung nicht objektiv sei, er hält es aber durchaus für vertretbar anzunehmen, daß sie durch ein Äußeres (nämlich Gott) geschaffen wurde. Der Behauptung hingegen, er hielte Zeit für nicht meßbar (Gurvitch 1990:36), kann angesichts der Tatsache, daß die gesamte Argumentation auf der Meßbarkeit aufbaut, nur mit Staunen begegnet werden. Dietl (Dietl 1993:2) schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er von Absolutheit und Objektivität als aristotelischen Eigenschaften bzw. Relativität und Subjektivität als augustinischen Eigenschaften spricht. Beides ist, wie ich bereits oben dargelegt habe, aufgrund der Primärquellen nicht haltbar. Die Zeitbetrachtungen des Aristoteles und Augustinus sind, obwohl nicht perfekt, doch bedeutend komplexer, als manche moderne Autoren sich das anscheinend vorstellen können.

Henri Bergson (1859-1941)11

Bergson unterscheidet zwei grundsätzliche Arten der Vorstellung von Vielfachen: eine diskrete, die einzelne Objekte im Raum anordnet, etwa um

10 Die Annahme, Augustinus beziehe sich hier auf Aristoteles (Lundmark 1993:64, Castoriadis 1991:43) ist nicht so offensichtlich, wie sie scheint. Augustinus waren vom aristotelischen Korpus nur die "Kategorien" im Primärtext bekannt (Ritter/Gründer 1971:513); er kann sich hier also, wenn überhaupt, nur auf (falsche) Sekundärtexte bezogen haben. 11 Die Ausführungen folgen den Schriften „Zeit und Freiheit“ (1994), „Denken und schöpferisches Werden“ (1993b), beide in deutscher Übersetzung, sowie „An Introduction to Metaphysics“ (1993a) in englischer Übersetzung.

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Kapitel 3

sie zu zählen, und eine kontinuierliche, die die Objekte verschmelzen läßt und einen Gesamteindruck (z.B. Melodie) wahrnimmt (1994:68f.). Die eine Vorstellungsart ist quantitativ, die andere qualitativ. Die erste eignet sich für die Betrachtung materieller Objekte, da wir die Materie als undurchdringlich betrachten und damit Objekte diskret anordnen müssen, die zweite für geistige Zustände, die nicht als diskret betrachtet werden können, da sonst leere Zwischenräume angenommen werden müßten. Die reine Dauer (durée), die wir im Bewußtsein empfinden, fällt unter die zweite Kategorie (1994:71). Die erste Vorstellungsart kann nur erfolgen, wenn ein homogener Raum angenommen wird, in dem die Objekte (geistig oder tatsächlich) aufgereiht werden (1994:75ff.). Dieser homogene Raum besitzt keine spezifischen Qualitäten und erlaubt so, an einer Menge von Objekten Abstraktionen, z.B. Unterscheidungen oder Zählungen, vorzunehmen. Zählbare/meßbare Zeit ist somit ein Derivat des Raumes. Auch Empfindungen, die unterscheidbar und sukzessiv wahrgenommen werden, sind von räumlichem Denken beeinflußt. Reine, intuitive Empfindungen dagegen sind simultan, ineinanderfließend und nicht voneinander abgrenzbar; man stellt sie sich nicht räumlich vor. Da Sukzession Abgrenzbarkeit voraussetzt, enthält auch sie die Idee des Raumes. Eine Dauer (im Gegensatz zur Sukzession) von externen Objekten ist jedoch nur wahrnehmbar, wenn es ein wahrnehmendes Bewußtsein gibt, das selbst andauert, da sich sonst die externe Dauer in eine Abfolge von unverbundenen Momenten auflösen würde (1994:83ff.). In dieser (abgeleiteten) Dauer der externen Objekte liegt auch der Ursprung der homogenen Uhrzeit. Es ist jedoch zu sehen, daß sich hier zwei trennbare Bereiche überlappen (Endosmose), nämlich die innere, heterogene Dauer und der reale Raum, der selbst (ohne Bewußtsein) keine Dauer enthält. Ähnliches gilt für die Bewegung, die eben nicht den vom Bewegten durchlaufenen (unbewegten) Raum bezeichnet, sondern ein geistiges Konzept, das Bergson mit dem Wort "Fortschritt" umschreibt. Auch hier ist zur Erkenntnis Endosmose notwendig (1994:85). Unser Denken ist, so Bergson, in solchem Maße von der Idee des Räumlichen durchdrungen, daß es schwerfällt, sich auf die Vorstellung der reinen Dauer zu konzentrieren. Dies gelingt leicht erst, wenn das Bewußtsein, etwa im Traum, "zurückgeschaltet" wird (1994:95). Die Wissenschaft hat von den qualitativen Elementen der Zeit und des Bewußtseins abstrahiert (1994:88ff., 1993b:224ff.), da sie analytische und quantitative Operationen vollziehen muß, die einen homogenen Untersuchungsgegenstand voraussetzen. Es ist ihr dadurch jedoch nicht möglich, die Realität, die ein ständiges Werden darstellt (1993a:84), durch ihre statisch-unveränderlichen Begriffe zu erfassen. Keine Empfindung oder Wahrnehmung ist wiederholbar12

Dieses Problem stellt sich auch bei der Beschreibung der reinen Dauer, die nicht durch Begriffe erklärt, sondern nur aufgrund von Introspektion gewonnen werden kann (1993a:74f., 1993b:225ff.). Sie beinhaltet aufgrund

, dennoch ist für die empirische Wissenschaft Wiederholbarkeit eine conditio sine qua non.

12 denn eine Wiederholung würde immer das Attribut des „zum zweiten (dritten...) Mal“ mit sich führen - vergleichbar der Anschauung, man könne niemals zweimal in denselben Fluß steigen.

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Philosophische Zeitkonzepte

ihrer Heterogenität wesentlich die Möglichkeit zur Schaffung von Neuem, Kreativem und ist die Voraussetzung für den freien, nicht determinierten Willen (1993b:236).

Fernand Braudel (1902-1985)13

Der Historiker Braudel untersucht die Zeit der Geschichtswissenschaft in ihrer Abgrenzung zur Zeit der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften. Dabei unterscheidet er drei Ebenen der Analyse (21f.): 1. Lange Dauer (longue durée): die Zeit der fast unbewegten Geschichte, die das geographische und klimatische Milieu der Kulturen beschreibt. Sie kennt nur langsame Wandlungen, die sich meist in Zyklen vollziehen. 2. Langsame Rhythmen (conjonctures): im wesentlichen die Sozialgeschichte, die Geschichte der Ökonomien, Staaten, Gesellschaften und Zivilisationen. Hier geht es um die "in der Tiefe wirkenden Kräfte" geschichtlicher Entwicklungen. 3. Traditionelle Geschichte (histoire événementielle): die "ruhelos wogende" Geschichte der Individuen, heftig erregt, mit kurzen, raschen und nervösen Schwankungen. Seine persönliche Präferenz gilt dabei den ersten beiden, wenn er zur dritten ausführt: "Mißtrauen wir dieser Geschichte, deren Glut noch nicht abgekühlt ist [...] Eine Welt heftiger Leidenschaften, gewiß; blind wie jene lebendige Welt, wie die unsere [...] deren Zauber wir jedoch gebannt haben werden, sobald wir die großen, lautlosen Strömungen in der Tiefe kennen [...] Die dröhnenden Ereignisse sind oft nur Augenblicke, nur Erscheinungen jener großen Schicksale und erklären sich aus diesen." (22) Änderungen von Denkgewohnheiten und Einstellungen vollziehen sich seiner Meinung nach nur langsam; zäh halten sich überkommene Werte am Leben, auch wenn ihre Problemlösungskraft längst aufgebraucht ist (58f.) Dies gilt stärker noch für Strukturen, einer "Realität, der die Zeit nicht mehr viel anhaben kann und die sie deshalb sehr lange mitschleppt". (57) Um ihre Verläufe und Änderungen aufzuzeichnen, bedarf es der ersten beiden Analyseebenen, und dies zu tun, ist für Braudel eine vornehmliche Aufgabe des Historikers. Wenngleich sich auch die übrigen Sozialwissenschaften mit der Zeit (vornehmlich auf der dritten Ebene) beschäftigen, erfährt ihre Zeit (die "Zeit der Soziologen", wie Braudel sie nennt) doch eine kategorial andere Einordnung: sie ist, im Gegensatz zu der des Historikers, weniger 13 Den Darstellungen liegen drei aufeinanderfolgende Artikel aus Braudels „Schriften zur Geschichte“ in deutscher Übersetzung zugrunde.

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Kapitel 3

beherrschend, weniger konkret und weniger mit dem Kern des Problems verknüpft (80). Deshalb kann die Soziologie auch mit verschiedenen Zeiten operieren14

"...beginnt und endet alles mit der Zeit, einer mathematischen, demiurgischen Zeit [...], einer den Menschen äußerlichen, 'exogenen' Zeit, wie die Ökonomen sagen würden, die uns antreibt, zwingt und unsere privaten, unterschiedlich gearteten Zeiten in ihrem Strom mit fortreißt - mit einem Wort: der die ganze Welt beherrschenden Zeit."(81)

, wo für die Geschichtswissenschaft nur eine Zeit existieren kann, von der er ausführt:

Emile Durkheim (1858-1917)15

Die Kategorie der Zeit (wie die des Raumes, der Kausalität u.a.) sind für Durkheim Denksysteme, feste Regeln des Denkens, von denen wir uns nicht lösen können. Sie ist aus der Religion entstanden und wie diese sozial bzw. reich an sozialen Elementen. Eine Zeit ohne Messung, d.h. ohne Orientierung an zyklisch wiederkehrenden Punkten (Kalender, Uhr) ist, wie er ausführt, „fast unvorstellbar“. Den sozialen Ursprung der Zeit begründet er in zwei lose verbundenen Argumentationssträngen, nämlich einmal (27ff.) im Widerspruch gegen die Zeitvorstellungen der Empiristen und der „Aprioristen“ (man darf sich Kant vorstellen), zum zweiten (577ff.) indem er aufzeigt, daß die Religion Ursprung aller logisch-abstrakten Begrifflichkeit ist: 1.Gegen die Empiristen bringt er vor, daß Vernunft nicht allein aus der Erfahrung resultierend bzw. gleichgesetzt mit ihr gedacht werden darf. Kategorien wie die Zeit sind universal (d.h. unabhängig von Einzelerscheinungen) und notwendig (d.h. sie beherrschen unser Denken; wir können uns ihnen nicht entziehen). Empirische Vorstellungen sind dagegen wesentlich individuell und subjektiv, vor allem aber nicht bindend in ihrer Anwendung. Aufgrund dieser Eigenschaften sind Begriffe der logischen Vernunft nicht auf die Erfahrung zurückführbar bzw. reduzierbar. Den Aprioristen kreidet er an, daß sie zwar den erfahrungsunabhängigen Teil des Verstandes korrekt beschrieben hätten, ihm aber einen Ursprung außerhalb der Natur (z.B. im göttlichen Intellekt) zuwiesen. Dem steht entgegen, daß kategoriale Begriffe „in Raum und Zeit“ durchaus Veränderungen erfahren haben. Die von ihm postulierte soziale Natur der Begriffe löst das Problem, indem der erfahrungsunabhängige Teil des Verstandes als unabhängig von der individuellen Erfahrung bestehen bleibt, gleichzeitig aber sein Ursprung sehr wohl im wissenschaftlich erfaßbaren Rahmen der Kulturgeschichte verbleibt. Es ergeben sich damit zwei Teile der Vernunft: ein individueller, getragen 14 An dieser Stelle (83) setzt er sich auch mit Gurvitchs Zeitkonzeption auseinander. 15 Die Abhandlung folgt den „Elementaren Formen des religiösen Lebens“ in deutscher Übersetzung.

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Philosophische Zeitkonzepte

von der individuellen empirischen Erfahrung, und ein kollektiver, beruhend auf dem kumulierten Wissen der Generationen. Die Tatsache des sozialen Ursprungs erklärt auch den „Denkzwang“, den wir angesichts der Kategorien empfinden, denn, so Durkheim, diese Kategorien sind so wesentlich für das soziale Leben und Überleben, daß die Gesellschaft es sich nicht erlauben kann, ihre Kontrolle den Individuen zu überlassen. Dieser „logische Konformismus“ ist lebensnotwendig und so tief in uns verankert, daß wir uns seiner nicht erwehren können16

Daß diese ursprünglich sozialen Kategorien auch auf die natürliche Umwelt anwendbar sind, liegt seiner Meinung nach darin begründet, daß die Gesellschaft selbst ja Teil der Natur ist und somit diese Kategorien nicht „funktionieren“ könnten, wenn sie nicht auch in der Natur der Dinge begründet lägen (39f.).

.

2. Die Religion sieht Durkheim als Ursprung der Philosophie und Wissenschaft. Dies hängt zunächst einmal mit den Eigenschaften des logisch-begrifflichen Denkens zusammen, die er als universal anwendbar, intersubjektiv verständlich, unpersönlich und statisch/nicht dem Wandel unterworfen kennzeichnet. Sie stehen damit, wie bereits oben bemerkt, im Gegensatz zu Begriffen, die aus der persönlichen Wahrnehmung abgeleitet sind. Nun ist die Religion die erste „Wissenschaft“, deren Grundsätze nicht aus der Anschauung, sondern aus Begrifflichkeiten gebildet werden, da Götter nicht anschaulich sind. Was noch wichtiger ist, diese Eigenschaften prädestinieren die logischen Begriffe für die Verwendung im sozialen Umgang, da sie eben nicht an das Individuum gebunden sind. Durkheim wehrt sich in diesem Zusammenhang explizit gegen die Vermutung, es könnte sich um Abstrakta handeln, die aus den Konkreta der persönlichen Erfahrung gewonnen wurden. Solche Abstrakta müßten als Ableitungen zwangsläufig ärmer sein als die Konkreta; für die kollektiven Begriffe aber gilt, daß sie an kumuliertem Wissen reicher sind. Außer der Verwendung kollektiver Begriffe sind der Religion und der Wissenschaft weitere Eigenschaften gemeinsam: beide können nur bestehen, wenn die Gesellschaft (zumindest wesentliche Teile) an sie glaubt (586), beide haben dasselbe Ziel, nämlich die „inneren Verbindungen“ der Dinge nachzuweisen und zu klassifizieren. „Das wissenschaftliche Denken ist nur eine vollkommenere Form des religiösen Denkens.“ (574) Aber die Zeit ist nicht nur als Begriff und damit als Bezeichnung sozial, auch das von ihr Bezeichnete ist sozial (588). Dieser Schluß ergibt sich für Durkheim wiederum aus der oben angesprochenen Parallelität von menschlichen Konstrukten und natürlichen Dingen: um beherrschende (denknotwendige) Begriffe zu sein, müssen die Kategorien beherrschenden Dingen nachgebaut sein (588). Ebensowenig wie der Begriff der Zeit allein aus der individuellen Erfahrung gewonnen werden kann, kann das „Ding“ Zeit allein etwas Persönliches, „meine Zeit“, sein:

„Da die Welt, die das Gesamtbegriffssystem ausdrückt, die Welt ist, die sich die Gesellschaft vorstellt, kann uns allein die Gesellschaft die allgemeinsten Begriffe liefern, nach denen die Welt vorgestellt werden muß. Nur ein Subjekt, das alle Einzelsubjekte umfaßt, kann ein

16 In einer Anmerkung verweist Durkheim als weiteres Indiz für diesen Zusammenhang darauf, daß soziale Verwirrung die geistige vervielfältige (39).

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Kapitel 3

solches Objekt umfassen. Da das Universum nur insofern existiert, als es gedacht wird, und da es total nur durch die Gesellschaft gedacht wird, geht es in diese ein. Es wird ein Element des inneren Lebens der Gesellschaft...“ (590)

Und wenig später: „Schließlich setzt jede Einberufung zu einem Fest, zu einer Jagd, zu einem Kriegszug voraus, daß man die jeweiligen Zeitpunkte fixiert und festgelegt hat und daß folglich eine gemeinsame Zeit ausgebildet wurde, die alle Welt auf die gleiche Art versteht. [...] Es ist also nicht weiter erstaunlich, wenn die soziale Zeit, der soziale Raum, die soziale Klasse und die kollektive Kausalität den entsprechenden Kategorien zugrunde liegen, da die verschiedenen Relationen vom menschlichen Bewußtsein zunächst nur in ihren sozialen Formen mit einiger Klarheit erfaßt worden sind.“ (593)

Daß Durkheim, wie Hassard (1990a:2) ausführt, ein qualitatives Konzept der Zeit entwickelt hat, das „far removed from writers who present it as measured duration“ ist, scheint mir wiederum nur für Verfechter von Dichotomien nachvollziehbar. Durkheims Betonung der Rhythmen des sozialen Lebens, sein expliziter Bezug auf Kalender sowie Wochen, Monate und Jahre (29), scheinen mir jedenfalls nicht allzu weit vom Konzept einer meßbaren Zeit entfernt.

Albert Einstein (1879-1955)17

Einstein bricht mit der Zeitvorstellung der klassischen Physik an zwei Punkten: er widerlegt die Unabhängigkeit der Dimension Zeit zum einen bezüglich der drei Raumkoordinaten, zum anderen bezüglich des Referenzsystems des Beobachters. Was den Beobachter angeht, so muß nach Einstein angenommen werden, daß der Zeitablauf eines Referenzsystems dem System inhärent ist und so nur für dieses System gilt. Deshalb können Ereignisse, die gleichzeitig an verschiedenen Orten stattfinden, nicht unmittelbar als simultan betrachtet werden (1993:202). Einstein führt als Beispiel einen Beobachter M’ in einem fahrenden Zug und einen M auf dem Bahnsteig an: M’ →

fahrender Zug → A B

Bahnsteig M 17 Die Überlegungen entstammen der Allgemeinen und Speziellen Relativitätstheorie im deutschen Original (1988) und in englischer Übersetzung (1993).

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Philosophische Zeitkonzepte

Treffen zwei Blitze gleichzeitig in den Punkten A und B auf, so nimmt der Beobachter M sie als simultan wahr, der Beobachter M' jedoch B vor A, da er das Licht von B aufgrund der geringeren Distanz zuerst wahrnimmt. Mit der Abhängigkeit der Simultaneität von der Bewegung des Zuges ist auch klar, daß Zeit vom Raum abhängig ist18

Neben diesen physikalisch-theoretischen Ausführungen zur Zeit spricht Einstein das Problem der subjektiven Zeit in einem Anhang (1993:236ff.) an. Seiner Meinung nach entsteht sie durch die Tätigkeit des Ordnens von Sinneseindrücken bzw. deren Erinnerung in einer temporalen Abfolge. Wird diese Abfolge kommuniziert, entsteht die "objektive Zeit" der "realen, externen Welt". Zeit ist also in erster Linie ein vom menschlichen Verstand geschaffenes Instrument, wenn auch eines, das, so Einstein, empirische Quellen besitzt. Aufgabe der Physik ist es, diese "irdische Herkunft" der "olympischen Konzepte" aufzuzeigen mit dem Ziel "diese Begriffe von dem an ihnen haftenden Tabu zu befreien, und damit größere Freiheit in der Begriffsbildung zu erlangen.“ (1988:97)

. An anderer Stelle, in der Allgemeinen Relativitätstheorie (1993:223f.), führt Einstein aus, daß auch die Bewegung einer Uhr (oder jedes anderen Zeitmeßgeräts) von der Gravitation, d.h. von der Verteilung der Materie im Raum, abhängt.

Norbert Elias (1897-1990)19

Elias betrachtet Zeit als ein Symbol zum Vergleich von Nacheinanderliegendem, als ein Instrument, das es erlaubt, nicht simultan ablaufende Ereignisse nachträglich zueinander in Beziehung zu setzen (§21). Als Symbol ist sie keine Entität der Außenwelt, sondern wie die Kausalität und die mathematischen Beziehungen ein reines Produkt der menschlichen Abstraktion. Sie ist, so führt er in Abgrenzung zu Einstein aus (§§4,28), nicht die vierte Dimension der physikalischen Welt, sondern auf der fünften Dimension, der Meta-Ebene der Sprache, angesiedelt. Allein das Nomen "Zeit" führt irre (§4), da die substantivische Bezeichnung ein existierendes Bezeichnetes impliziert; Elias hielte ein Verb "zeiten" (ähnlich dem englischen timing) für angebrachter, den der Gebrauch von Zeit ist eine Tätigkeit der gedanklichen Synchronisation verschiedener Abläufe. Nach Elias findet sie sich nur in hohen Kulturstufen, da einerseits genügend 18 Formal kann dies (1993:204) aus der 4.Gleichung der Lorentz-Transformation mit t als Zeit und x als der räumlichen Dimension, in der sich die gerichtete Bewegung vollzieht, abgeleitet werden. Für kleine Geschwindigkeiten v ergibt sich das t=t', das der klassischen Physik als Unabhängigkeit der Zeit galt:

tt v

cx

vc

'*

=−

2

2

21

19 Die Darstellung folgt „Über die Zeit“.

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Kapitel 3

Wissen für diese abstrakte gedankliche Operation20

Mit dem Gebrauch von Zeit, der somit eng an das soziale Geschehen gekoppelt ist, verbindet sich Macht, weshalb, so Elias, in der Vergangenheit die Zeitmessung den Priestern vorbehalten war (§§8,36). Der soziale Habitus des Umgangs mit und Lebens in der Zeit wird dann allmählich verinnerlicht und zum Selbstzwang umgewandelt (§32). Im selben Maße, wie dieser Selbstzwang allmählich alle Lebens- und Gefühlsbereiche durchdringt, wird Zeit als nicht mehr partikulär bedeutsam (einzelne Feste oder Gemeinschaftsleistungen), sondern kontinuierlich empfunden.

(§39), andererseits aber auch ein genügend großer Bedarf zur Synchronisierung, hervorgerufen durch Spezialisierung und hohe Interdependenz, vorhanden sein muß (§25).

Einen wichtigen Beitrag hierzu leisten die Naturwissenschaften (§§22ff.), die seit Galileo die Zeit als unabhängiges und ewiges (naturgesetzliches) Phänomen zu beschreiben suchen. Erst unter ihrem Postulat der wissenschaftlichen Distanzierung vom Untersuchungsgegenstand wird Zeit in die Außenwelt "verlegt". Man spricht schließlich sogar davon, Zeit zu messen, obwohl sie keinerlei sensorische Qualitäten aufweist. Für die Sozialwissenschaften ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, daß Elias jede Art von ahistorischer Betrachtung ablehnt: da eben Zeit kein unveränderliches Ding ist, kann man nicht davon ausgehen, daß alle Epochen dasselbe Zeitverständnis hatten (§25).

Edmund Husserl (1859-1938)21

Husserl untersucht, den Grundsätzen der phänomenologischen Analyse folgend, nicht die objektive, natürliche Zeit, wie sie in der Welt (vielleicht) gegeben ist, sondern die Zeitempfindungen des Bewußtseins, die immanente oder subjektive Zeit als primäre Quelle menschlicher Zeiterfahrung. Aus ihr konstituiert sich erst in einem zweiten Schritt durch Hinzufügen von Ordnungsmustern und Gesetzmäßigkeiten die objektive Zeit (§1). Für die subjektive Zeit ergibt sich wiederum die Frage nach der Möglichkeit von Kontinuität in einer Abfolge von (unausgedehnten) Gegenwarten. Husserl löst dieses Problem, indem er zum punktuellen Teil der gegenwärtigen Wahrnehmung Retention und Protention treten läßt (§7). Alle drei Elemente zusammen bilden den Wahrnehmungsakt. Retention bezeichnet dabei das Gegenwärtighalten der soeben vergangenen Gegenwart, bei Husserl veranschaulicht durch das Beispiel einer Melodie, bei der man einen Ton aktuell hört, seinen Vorgänger aber noch (als vergangen) präsent hält (§8). Nur so kann eine Gesamtwahrnehmung der 20 Die Bildung der Zahl Vier und der mathematische Umgang mit ihr ist auf einer höheren Abstraktionsebene angesiedelt als das Konzept von bspw. "vier Kühen" (§29). 21 Die Abhandlung folgt „Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“.

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Philosophische Zeitkonzepte

Melodie erfolgen. Dabei ist die Retention im Gegensatz zur (normalen) Erinnerung aber immer und unmittelbar mit der aktuellen Wahrnehmung ("Ur-Impression") verbunden oder, wie Husserl sagt, ein "Kometenschweif, der sich an die jeweilige Wahrnehmung anschließt" (§14) und mit zunehmender Distanz von ihr verblaßt, während die Erinnerung in zeitlich unbestimmter Distanz von der Wahrnehmung erfolgen kann22

Die Protention, die Erwartung des Zukünftigen, ist in der aktuellen Wahrnehmung nahezu leer; sie ist dazu da, dem Künftigen, wie es auch aussehen mag, eine Anschlußmöglichkeit an die Gegenwart zu verschaffen (§24). In der Wiedererinnerung, wo sie nicht auf die eigentliche Zukunft, sondern auf die Zukunft von Vergangenem gerichtet ist, ist sie inhaltlich erfüllter und gerichteter. Die Möglichkeit des Andersseins oder Nichtseins, die bei der primären Protention gleichwertig ist, wird nun nur noch unvollkommen erinnert.

. Husserl spricht deshalb auch von "primärer" und "sekundärer" Erinnerung.

Für die Wahrnehmung von Abfolge und Dauer selbst sind primäre und sekundäre Erinnerung gleichermaßen notwendig (§18), denn zunächst muß mir durch die Retention eine dauernde Wahrnehmung A und, darauf folgend, eine dauernde Wahrnehmung B gegeben sein. Um von ihnen jedoch die Phänomene Dauer und Abfolge selbst zu abstrahieren, muß ich sie wiedererinnern, da die primäre Erinnerung zu schnell verblaßt, als daß man solche Operationen vornehmen könnte. Für das Bewußtsein, in dem sich diese Prozesse abspielen, gebraucht Husserl das Bild des Flusses oder Bewußtseinsstromes. Er betont jedoch, daß dies nur ein unvollkommenes Bild ist, da das Bewußtsein, das die Zeit konstituiert, selbst nicht zeitlich ist (§§34ff.). Im Gegensatz zu den in der Zeit konstituierten Objekten und Prozessen kann man beim Zeitkonstituierenden selbst nicht von Abfolge, Gleichzeitigkeit, Beschleunigung o.ä. sprechen. "Wir können nicht anders sagen als: Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich "Objektives". Es ist die absolute Subjektivtät [...] Für all das fehlen uns die Namen." (§36)

Immanuel Kant (1724-1804)23

Zeit gilt Kant als a priori gegeben (§4), da sie 1. die Wahrnehmung eines empirischen Zugleich oder Nacheinander erst ermöglicht. Sie kann deshalb nicht empirisch ableitbar sein. 2. eine notwendige Vorstellung ist, die allen Anschauungen zugrundeliegt. Sie kann nicht aus den Erscheinungen weggedacht werden, sondern bildet die "Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen". 22 Husserl gibt §§19ff. weitere Unterscheidungsmerkmale zwischen Retention und Erinnerung (Reproduktion) an. 23 Die Darstellung folgt der „Kritik der reinen Vernunft“.

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Kapitel 3

So ist sie an die empirische Dinge gebunden, ohne eine Eigenschaft von ihnen zu sein (da sie ihnen vorausgeht). Wichtiger ist jedoch ihre Bindung an das erkennende Subjekt. Zeit, so Kant, verschwindet, wenn man von der sinnlichen Anschauung abstrahiert und das Ding an sich betrachtet. Deshalb ist sie "an sich, außer dem Subjekte, nichts" (§6). Sie ist die Form des inneren Sinns, da sie das Verhältnis der Vorstellungen zueinander bestimmt und damit die Bedingung aller inneren und äußeren Wahrnehmung. Als Form des inneren Sinns ist sie gestaltlos, wird aber häufig durch die Analogie der Linie begrifflich gefaßt. Durch ihre Bindung an das Subjekt ist sie subjektiv real; betrachtet man die Dinge als Erscheinungen, ist sie objektiv gültig und empirisch real. Da sie keine Eigenschaft der Dinge an sich ist, sondern nur Form der inneren Anschauung, kommt ihr jedoch keine absolute Realität zu24

. (Kant äußert diese These in Abgrenzung zu den "mathematischen Naturforschern", die ein absolutes Sein der Zeit postulieren (§7).) Erkenntnisse, die sich aus der Betrachtung der Zeit gewinnen lassen, geben deshalb auch nur Auskunft über die empirischen Dinge, nicht über die Dinge an sich.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)25

Leibniz schreibt der Zeit kein von den Dingen unabhängiges Sein zu. Die Zeit ist für ihn ein Ordnungsprinzip (1990:371), eine ewige Wahrheit, die mögliche und wirkliche Dinge gleichermaßen umfaßt (1971:139), die aber als Relation niemals ohne sie gedacht werden kann. Sie wird dabei nicht unmittelbar aus der Erfahrung abgeleitet, da nichts in der Natur so gleichförmig bewegt ist wie die Zeit. Vielmehr wird sie gewonnen aus der Rückführung der Gesetze über ungleichförmige Bewegungen in Gesetze über gleichförmige, die dann als Maß der ungleichförmigen gebraucht werden (1971:137). Die Leugnung eines absoluten Seins der Zeit war auch Gegenstand der Auseinandersetzung mit Newton, die sich ein Jahr vor seinem Tod über den Briefwechsel mit S. Clarke vollzog. Als Rechtfertigung für seine Position führt Leibniz das Axiom des zureichenden Grundes26

24 Da Kant zwischen dem Ding in unserer Anschauung/Wahrnehmung und dem Ding an sich unterscheidet, kommt er analog zu einem Unterschied zwischen empirischer und absoluter/transzendentaler Realität.

an: Läge die Zeit außerhalb der Dinge und hätte Gott die Welt ein Jahr früher erschaffen, als er es tat,

25 Die Überlegungen sind den „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ (1971) in deutscher Übersetzung und den „Briefen“ (1990) im französischen Original und in deutscher Übersetzung entnommen. 26 Dieses läßt sich in mehreren Varianten formulieren (vgl. Röd 1984:87): 1) Es gibt keine grundlosen Wahrheiten. 2) Es gibt und geschieht nichts, von dem nicht (mindestens vor einem allwissenden Wesen) Rechenschaft abgelegt werden könnte. 3) Es gibt keinen Vorgang ohne Ursache. Für die beschriebene Argumentation ist Variante 2 von Bedeutung.

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Philosophische Zeitkonzepte

gäbe es dafür keinen Grund, was ein Widerspruch zu o.g. Prinzip wäre. Nur wenn man annimmt, daß die Zeit notwendig gleichzeitig mit den Dingen entstanden ist (nämlich als ihre Relation), kann man diesem Widerspruch entgehen, da es dann kein Früher gibt (1990:373f.). Für Clarks Aussage „Leibniz argued for the recognition of a diverse plurality of ‘chronological codes’ or ‘time reckoning systems’“ (Clark 1990:141), für die er leider keine Quelle gibt, konnte ich in den einschlägigen Stellen bei Leibniz keinen Anhaltspunkt finden. Vielmehr betont dieser, daß „alle Zeiten und alle Räume an sich selbst vollkommen gleichförmig und ununterscheidbar sind“ (1990:429, im Original: „tous les temps, et tous les espaces, en eux mêmes, estant parfaitement uniformes et indiscernables“).

John McTaggart Ellis McTaggart (1866-1925)27

In seinem Beweis zur Irrealität der Zeit geht McTaggart von drei Sequenzen aus: - auf der A-Reihe sind die Ereignisse als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig geordnet - auf der B-Reihe sind sie in Bezug auf früher-später geordnet - auf der C-Reihe sind sie nicht zeitlich geordnet, sondern nur als Reihenfolge28

Zeit ist nur anhand der A- und B-Reihe beobachtbar. Die Relationen der Ereignisse auf der B-Reihe können als permanent angesehen werden, die der A-Reihe nicht, da sie mit der Veränderung des Bezugspunktes „Gegenwart“ wechseln.

Im 1.Teil seiner Argumentation weist McTaggart nach, daß - entgegen der Intuition - nur die A-Reihe, nicht jedoch die B-Reihe für die Bestimmung der Zeit notwendig ist. Sein Beweis lautet wie folgt: Zeit ist nur aufgrund von Veränderung beobachtbar. Damit man von Veränderung sprechen kann, muß sich das Ereignis in mindestens einer Hinsicht ändern, ansonsten aber dasselbe bleiben. Da sich ein Ereignis nicht in Bezug auf sein früher-später zu anderen Ereignissen (B-Reihe) ändern kann, kann es sich nur innerhalb der A-Reihe ändern, nämlich indem es bspw. von der Gegenwart in die Vergangenheit wechselt. Veränderung kann also nur mithilfe der A-Reihe beobachtet werden. Die A-Reihe selbst ist "unhintergehbar", d.h. kann nicht unter Rückführung auf eine andere definiert werden. Auch die C-Reihe mit ihren permanenten Reihenfolgen ist unhintergehbar. Da Permanenz eine Eigenschaft der B-Reihe ist, kann man, nimmt man A und C zusammen, aus ihnen die B-Reihe ableiten. 27 Die Überlegungen entstammen dem Artikel „Die Irrealität der Zeit“ (deutsche Übersetzung). 28 Beispiele wären hier die Zahlen oder Relationen in einem statischen, zeitlosen Universum.

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Kapitel 3

Im 2.Teil weist er nun nach, daß die Anwendung der A-Reihe auf die Wirklichkeit zu einem Widerspruch führt: Sagt man von einem Objekt simultan aus, es sei vergangen, gegenwärtig und zukünftig, so führt dies sofort zu einem Widerspruch. Er kann nur aufgelöst werden, wenn man davon spricht, daß dasselbe Objekt "zukünftig war", "gegenwärtig ist" und "vergangen sein wird". Dazu braucht man jedoch Verben, die ihrerseits eine Zeitform, also eine weitere A-Reihe, enthalten. Dies führt zu einem infiniten Regreß. "Wir sind also jetzt zu dem Schluß gelangt, daß die Anwendung der A-Reihe auf die Wirklichkeit einen Widerspruch enthält und daß folglich die A-Reihe nicht auf die Wirklichkeit zutreffen kann. Da außerdem die Zeit die A-Reihe einschließt, folgt, daß die Zeit nicht auf die Wirklichkeit zutreffen kann. Wann immer wir über irgend etwas urteilen, es existiere in der Zeit, befinden wir uns im Irrtum." (81) Der Beweis hat Schwächen und wurde in der Folge, u.a. von Bertrand Russell und John Smart, heftig attackiert, so daß er heute als widerlegt gilt (Zimmerli/Sandbothe 1993:15, dagegen: Dummett 1993). Dennoch hat die Begrifflichkeit der A- und B-Reihen Eingang in verschiedene Zeitkonzeptionen gefunden, und so McTaggarts Philosophie am Leben erhalten.

George Herbert Mead (1863-1931)29

Mead wendet sich gegen die Annahme einer andauernden Gegenwart, da sonst die Charakteristika von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verlorengingen. Zur Natur eines Ereignisses (event) gehört es zu beginnen und aufzuhören: "To extend this fraction of a minute into the whole process of which it is a fragment [...] would be to wipe out its nature as an event. Such a conspectus of existence would not be an eternal present, for it would not be a present at all. Nor would it be an existence. For a Parmenidean reality does not exist. Existence involves non-existence; it does take place. The world is a world of events." (1) Dennoch sind Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart verknüpft und verändern sich zusammen mit ihr. Was zukünftige Erwartungen angeht, ist die Feststellung trivial, Mead betont aber, daß diese Eigenschaft auch für die Vergangenheit gilt: "... the past (or the meaningful structure of the past) is as hypothetical as the future." (12) Jedes Neue, das in der Gegenwart entsteht (the emergent), muß in die vorher bestehende Welt eingebettet werden und verändert sie damit. Da das Vergangene aber das Gegenwärtige hervorgebracht hat, ist es in ihm gegenwärtig - allerdings verändert, denn bevor das Gegenwärtige existierte, war das jetzt Vergangene in andere Strukturen eingebettet, als es nun ist. Weniger kosmologisch läßt sich dies

29 Die Darstellung folgt der „Philosophy of the Present“ im englischen Original.

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Philosophische Zeitkonzepte

als beständige Neuinterpretation vergangener Ereignisse ausdrücken. Die Perspektive, aus der wir auf die Vergangenheit schauen, ändert sich ständig und beleuchtet Aspekte, die zuvor nicht sichtbar waren oder sein konnten. Eine feststehende, von der Gegenwart unabhängige Vergangenheit ist zwar denkbar, aber, so Mead (7) irrelevant für die wissenschaftliche Problemlösung - wie mir scheint, eine Analogie zur Frage der Existenz der Welt außerhalb unserer Wahrnehmung. Trotz dieser Veränderlichkeit ist für Mead (14ff.) die Vergangenheit zur gleichen Zeit auch unwiderruflich (irrevocable). Dies hängt mit unserem Bestreben zusammen, die Zukunft vorherzusehen und zu kontrollieren. Die Irreversibilität der Zeit gibt den Entwicklungen eine Richtung, und zusammen mit gefundenen Gesetzmäßigkeiten kann aus dem Geschehenen das Zukünftige prognostiziert werden: "We orient ourselves not with reference to the past which was a present within which the emergent appeared, but in such a restatement of the past as conditioning the future that we may control its reappearance." (15)

Isaac Newton (1642-1727)30

Bereits auf den ersten Seiten seiner "Mathematischen Prinzipien" legt Newton den Unterschied zwischen seinen beiden Zeitkonzepten dar: "Absolute, true, and mathematical time, of itself, and from its own nature, flows equably without relation to anything external, and by another name is called duration: relative, apparent, and common time, is some sensible and external (whether accurate or unequable) measure of duration by the means of motion, which is commonly used instead of true time; such as an hour, a day, a month, a year." (8) Die relative Zeit wird aus den Beobachtungen des Alltags abgeleitet; sie dient auch zur Messung. Jedoch ist, so Newton, kein empirisches Phänomen, etwa die Tageslänge, so konstant in seinen Bewegungen, daß die mit ihm verbundene Zeitmessung nicht ab und an der Korrektur bedürfe. Aus dieser Möglichkeit der Korrektur, die ja nur gegen ein zweites Maß geschehen kann, leitet er die mathematische Zeit ab, die unveränderlich, gleichförmig und unabhängig von allen äußeren Gegebenheiten dahinfließt. Er ist sich dabei dessen bewußt, daß diese Zeit vielleicht niemals gemessen werden kann, da es empirisch keine gleichförmige Bewegung geben mag (9). Da alle Dinge aufgrund ihrer Abfolge in der Zeit lokalisiert werden können (ebenso wie sie aufgrund ihrer Position im Raum lokalisiert werden), bilden Raum und Zeit die Orte (places) aller Dinge. Nun kann man Zeit nicht als veränderlich annehmen, da sie sich nicht aus sich selbst heraus bewegen

30 Der Darstellung liegt die „Principia Mathematica“ in englischer Übersetzung zugrunde.

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Kapitel 3

kann (anders gesagt: wenn sie sich veränderte, müßte sie sich ja in der Zeit verändern). Deshalb sind Zeit und Raum unveränderlich (10). Interessanterweise kannte Newton bereits das Problem der Gravitationsabhängigkeit von Uhren (291ff.), das uns bei Einstein wiederbegegnet. Er führt hierzu mehrere Messungen anderer Wissenschaftler an, die beobachteten, daß der Pendelschlag einer Uhr abhängig von der Nähe zum Äquator variiert. Newton führt dies auf die Gravitation zurück und folgert, daß die Erde eine zu den Polen abgeflachte Gestalt besitzt. Daneben gibt er Formeln für die Umrechnung des Pendelschlages in Abhängigkeit von der geographischen Breite und Länge an. Benjamin (1981:18) merkt an, daß es zunächst erstaunlich anmutet, daß in einer ausdrücklich empirisch angelegten Arbeit31 eine absolute Zeit mit den oben genannten Eigenschaften postuliert wird. Praktische Bedeutung für die Zeitmessung, das hat bereits Newton selbst gesehen, konnte sie nicht erlangen. Lundmark (1993:65f.) betont darüber hinaus, daß zum einen Newton die relative Zeit als für den Alltag genügend bezeichnet hat und daß zum zweiten das Adjektiv "wahr" nicht im metaphysischen, sondern im meßtechnischen Sinn ("präzise") gebraucht wird32

Auch mir scheint der Meßzusammenhang zur Erklärung des Verhältnisses der Konzepte wichtig. Newton führt unmittelbar vor der o.g. Definition aus, daß die sinnliche Wahrnehmung Verzerrungen und Fehlurteile mit sich bringen kann. Diese Verzerrungen können jedoch nur korrigiert werden in Bezug auf ein Anderes, das als Maßstab dient, und das selbst natürlich nicht der sinnlichen Wahrnehmung entspringen bzw. unterliegen darf.

.

31 Explizit konstatiert Newton dies mit dem berühmten Hypotheses non fingo („Ich stelle keine Hypothesen auf“. 371). Anzumerken ist jedoch, daß für ihn Theorien, die durch Experimente bestätigt sind (etwa die der Gravitation), nicht als Hypothesen gelten (Röd 1984:428). 32 nach Lundmark lautet das Original: "ex veriore tempore mensurent".

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Philosophische Zeitkonzepte

Fazit

When the logic of time leads to a contradiction, so much the worse for our logic.

C.D.Broad Um nach den Einzeldarstellungen einen Überblick zu ermöglichen, sollen im folgenden kurze, wenn auch z.T. verkürzte, Antworten der Autoren zu bestimmten zentralen Fragestellungen gegeben werden.

Was ist Zeit? Gibt es verschiedene Arten von Zeit bzw. ist Zeit ein heterogenes Konzept?

Zeit ist ein Bestandteil von quantitativem oder qualitativem Wandel. Sie ist das Ergebnis der Messung seiner Bewegung. Auch wenn es verschiedene Zeiten gibt, so können sie doch, insofern sie Zeit sind, unter einen Oberbegriff Zeit subsumiert werden. (Aristoteles)

Zeit wird wahrgenommen als das Ergebnis einer Vergleichsoperation in der Seele. Sie beruht auf Konvention, ist aber von Gott zusammen mit den Dingen geschaffen. (Augustinus)

Die reine Dauer ist eine kontinuierliche Vorstellung; sie ist heterogen und kreativ. Die meßbare Zeit ist eine Vorstellung, die aus der des Raumes abgeleitet ist; sie ist homogen und dient quantitativen Operationen. (Bergson)

Die Zeit der Soziologen ist heterogen und betrachtet Oberflächenerscheinungen. Die Zeit der Historiker ist eine exogene, mathematische, demiurgische, die den verschiedenen privaten Zeiten übergeordnet ist und sie alle in sich birgt. (Braudel)

Die Zeit ist eine Regel des Denkens, die einen sozialen Ursprung besitzt. Da die Gesellschaft ein Teil der Natur ist, ist sie auch natürlich. Sie ist keine Abstraktion, sondern eine über-individuelle Erfahrung. (Durkheim)

Die objektive Zeit entsteht durch subjektive Ordnungsvorgänge, die kommuniziert werden. Sie besitzt jedoch empirische Quellen. Die objektive Zeit ist abhängig von Materie, Raum und Referenzsystem. (Einstein)

Die Zeit ist ein Symbol, das das Ergebnis einer Vergleichstätigkeit darstellt. Sie ist nur in hohen Kulturstufen zu finden. Verschiedene Epochen bzw. Kulturen haben verschiedene Zeiten. (Elias)

Die Zeit ist eine subjektive Vorstellung, die durch Hinzufügen von Gesetzmäßigkeiten objektiviert wird. Das Bewußtsein, das die Zeit wahrnimmt, ist selbst nicht zeitlich, „fließt“ aber. (Husserl)

Die Zeit ist die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen. Sie ist die gestaltlose Form des inneren Sinns. Sie ist keine Eigenschaft der Dinge an sich. (Kant)

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Kapitel 3

Die Zeit ist ein Ordnungsprinzip. Sie besitzt kein absolutes Sein, ist aber auch nicht unabhängig von den Dingen. Sie ist uniform; verschiedene Zeiten sind nicht unterscheidbar. (Leibniz)

Die Zeit ist irreal; sie ist ein widersprüchliches Konstrukt. (McTaggart)

Die Zeit besteht aus unausgedehnten Momenten. Vergangenheit und Zukunft ändern sich mit der Gegenwart. (Mead)

Die Zeit ist zusammen mit dem Raum der Ort aller Dinge. Sie ist unveränderlich. Die relative Zeit ist aus der Beobachtung abgeleitet und dient der Messung. Die mathematische Zeit ist eine Abstraktion, die der Korrektur der relativen dient. Die mathematische Zeit ist unveränderlich, uniform, homogen; die relative nicht. (Newton)

Welche Eigenschaften hat die Zeit? Ist sie subjektiv oder objektiv, sozial oder individuell, sozial oder natürlich, diskret oder kontinuierlich, quantitativ oder qualitativ, absolut oder relativ, abstrakt oder real, meßbar oder nicht, a priori gegeben oder empirisch?

Sie ist kontinuierlich und teilbar. Sie ist an die Dinge gebunden und damit objektiv, obwohl die Seele bei der Zählung eine wichtige Rolle spielt. (Aristoteles)

Die Zeit ist von Gott geschaffen, wird aber nur in der Seele wahrgenommen. Sie ist meßbar. Sie beruht auf Konventionen. (Augustinus)

Die reine Dauer ist kontinuierlich, rein qualitativ, nicht meßbar, subjektiv; die abgeleitete Zeit ist diskret, meßbar, quantitativ, objektiv. (Bergson)

Die Zeit der Historiker ist uniform, quantitativ, absolut, real, exogen; die Zeit der Soziologen ist dies nicht. (Braudel)

Die Zeit ist sozial, natürlich, meßbar, intersubjektiv, keine Abstraktion aus individuellen Erfahrungen. (Durkheim)

Die Zeit ist empirisch, meßbar, relativ, intersubjektiv. Sie ist ein Konstrukt. (Einstein)

Die Zeit (bzw. die Tätigkeit) ist sozial, intersubjektiv, meßbar, abstrakt. (Elias)

Die subjektive Zeit ist individuell, kontinuierlich; die objektive meßbar, relativ. (Husserl)

Die Zeit ist a priori gegeben, subjektiv real, objektiv gültig, empirisch real, nicht absolut real. (Kant)

Die Zeit ist ewig, abstrakt, nicht absolut, uniform, ein Konstrukt. (Leibniz)

Die Zeit ist irreal, ein Konstrukt. (McTaggart)

Die Zeit ist relativ, nicht objektiv, diskret. (Mead)

Die mathematische Zeit ist absolut, uniform, abstrakt; die relative Zeit empirisch, nicht uniform, objektiv, meßbar. (Newton)

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Philosophische Zeitkonzepte

Bereits jetzt muß klar werden, daß eine einheitliche Definition der Natur der Zeit und ihrer Eigenschaften nicht gegeben werden kann. Das war, wie anfangs erläutert, auch nicht meine Absicht. Wichtig war mir, das Feld der Analyse aufzuspannen. Ein erstes Ergebnis dieses Aufspannens ist, daß, sobald man tiefer in die Materie eindringt, Zeit sehr schnell den natürlichen und selbstverständlichen Charakter des Alltags-Zeitbegriffes ablegt. Es genügt offensichtlich nicht, bei „Zeit“ an „Uhrzeit“ zu denken; der Begriff ist unendlich vielschichtiger und widersprüchlicher. Zum zweiten scheinen die in der letzten Frage aufgestellten Dichotomien - wie schon Derrida vermuten ließ - für die Bestimmung des Zeitbegriffes nicht sinnvoll zu sein. Nicht nur zeigt sich, daß es auf jeder Seite gute Gründe gibt; vor allem die älteren Autoren machen deutlich, daß diese Dichotomien selbst nicht unabhängig von einem Betrachtungsrahmen sind. Wer, wie bspw. Durkheim, annimmt, daß die Gesellschaft ein Teil der Natur mit analogen Strukturen ist, für den ist Soziales auch immer Natürliches; wer, wie bspw. Augustinus, glaubt, daß Gott sowohl die innere wie auch die äußere Realität geschaffen hat, für den wird die Unterscheidung subjektiv-objektiv sinnlos. Ich möchte somit im Fortgang der Arbeit ebenfalls keine Positionierung bezüglich dieser Pole treffen, sondern ihren Supplement-Charakter beibehalten. M.a.W. werde ich Zeit behandeln, als habe sie alle diese Eigenschaften (bzw. als sei sie ein heterogenes Konzept); einen teilweisen Ordnungsversuch werde ich in Kapitel 0 unternehmen. Um den Vorwurf des logischen Widerspruches bereits an dieser Stelle zu entkräften, weise ich darauf hin, daß erstens Dichotomien nicht in jedem Fall konträre Begriffe sind und zweitens ein Widerspruch nur vorliegt, wenn das konträre Begriffspaar hinsichtlich desselben Aspektes verwandt wird33

Weitere wichtige Gedanken aus den Überlegungen der Autoren, die ich in die folgenden Kapitel einbeziehen will, seien hier kurz in Form einer Aufzählung genannt:

.

Es ist notwendig, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die Betrachtung einzubeziehen.

Zeit befriedigt Interessen und Bedürfnisse; sie ist nicht machtneutral. Prozesse des ständigen Werdens (Emergenz) können sprachlich (und damit

wissenschaftlich) nicht adäquat erfaßt werden. Es muß jedoch eine Erklärung dafür geben, daß die meisten der obigen Überlegungen dem Alltagsverständnis zuwiderlaufen und daß „Zeit“ als ein so simples, wenig reichhaltiges Konzept behandelt wird. Deshalb soll das nächste Kapitel der Entstehung unseres Alltagsverständnisses von Zeit und seiner Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen gewidmet sein.

33 M.a.W.: ein Widerspruch entsteht, wenn einem Inhalt Gegenteiliges zur selben Zeit und in derselben Hinsicht zugesprochen wird. Ein Mensch kann z.B. bzgl. einer Sache lügen und bzgl. einer anderen die Wahrheit sagen, ohne daß dies einen Widerspruch darstellt.

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Kapitel 3

22

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Die lineare westliche Zeitauffassung Das folgende Kapitel soll einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung unseres Zeitverständnisses, seine Quellen und Variationen, geben. Es handelt sich in den Unterabschnitten 4.1.1 bis 4.1.9 und 4.2.1 um eine referierende Darstellung, an die sich jeweils eine Kritik anschließen wird. Ausdrücklich sei auch gesagt, daß sich Generalisierungen wie „die westliche“, „unsere“ o.ä. nur auf den deskriptiven1

Gehalt der Zeitauffassung, d.h. die Frage, was Zeit ist, bezieht, für die sich m.E. und nach Ansicht der meisten Autoren eine geteilte Auffassung in allen westlichen Industrieländern ausmachen läßt. Diesem deskriptiven Gehalt gilt allein die nachfolgende Darstellung.

Historische Entwicklung

Mesopotamien Bereits in diesen frühen Hochkulturen spielt das älteste Meßinstrument, der Kalender, eine bedeutende Rolle (vgl. zum folgenden Wendorff 1985:13ff.). Seine Berechnung erfolgt im Zusammenhang mit den astronomisch-mathematischen Interessen der Priester. In der sumerischen Kultur, wo der Mond Hauptgott ist, wird die Einteilung in Mondmonate entwickelt, die später, als in Babylonien die Sonne zum Hauptgott wird, in ein Sonnenjahr umgewandelt wird. Zugrunde liegt beiden ein 360-Tage-Jahr, das sich aus der Anzahl der Grade eines Kreises ableitet. Obwohl nun die Länge der Monate nicht mehr an die Mondphasen gebunden ist, ergeben sich aus dieser Tageszahl natürlich Probleme mit dem tatsächlichen Sonnenumlauf, die durch unsystematische Kalenderkorrekturen von Zeit zu Zeit behoben werden. Dennoch wird an der Zahl 360, die mathematisch (und deshalb wohl auch religiös) "Sinn macht", festgehalten. Weiter auf den Mondphasen beruht dagegen die Einteilung der Woche in sieben Tage, die von Babylon über Israel in die christliche Kultur Eingang gefunden hat. Der letzte Tag der Woche gilt dabei als gefährlich, weshalb man an ihm besser keiner Arbeit nachgeht und stattdessen versucht, die Götter gnädig zu stimmen (Whitrow 1988:32f.). Neben dem starken religiösen Einfluß auf die Zeitrechnung, können in Babylonien erstmals auch praktische Notwendigkeiten für sie ausgemacht werden: die Stadtstaaten brauchen zur Lösung von großen Gemeinschaftsaufgaben (Bewässerung, Tempel- und Palastbauten) die Zeit

1 im Gegensatz zu normativen Aspekten wie z.B. Pünktlichkeit

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Kapitel 4

zur Koordination, außerdem gibt es bereits Banken, die Geld gegen Zins verleihen. Politisch tritt hier, wie etwa auch in China, die Sitte auf, daß der König das neue Jahr verkündet und damit seinen Machtanspruch zyklisch erneuert. (Der Zusammenhang mit den Neujahrsansprachen heutiger Staatsoberhäupter kommt nicht von ungefähr.)

Ägypten Die ägyptische Hochkultur steht dem Fluß der Zeit negativ gegenüber; ihre Religion und Philosophie, aber auch ihre Baudenkmäler und die Art der Totenbestattung zielen darauf ab, den Mensch diesem Fluß zu entziehen, eine wandellose Ewigkeit zu schaffen (vgl. Brandon 1981:145ff., Wendorff 1985:39ff., Whitrow 1988:25ff.). Zeit spielt nur im profanen Leben eine Rolle: Sonnen- und Wasseruhren messen die Stunden, und erstmals wird, nun nicht mehr an heilige Zahlen gebunden, das 365-Tage-Jahr eingeführt, weil es "praktischer" ist, nämlich die Nilüberschwemmung exakter berechnet.

Judentum In der jüdischen Religion finden sich zwei Merkmale, die auch bestimmend in die spätere christliche eingehen: zum einen eine lineare Zeitauffassung und zum zweiten die Vorstellung von Geschichte als durch das Handeln Gottes und der Menschen gefüllte Zeit. Die lineare Zeitauffassung ergibt sich wesentlich aus dem Warten auf die Rettung durch den Messias, ein einmaliges und sicher nicht zyklisch wiederkehrendes Ereignis. Diese Errettung liegt zugleich nicht in utopisch entfernter Zukunft, sondern innerhalb der geschichtlichen, überschaubaren Zeit (Whitrow 1988:51f.). Zum anderen setzt sich die jüdische Vergangenheit aus geschichtlich datierbaren Ereignissen (z.B. der Babylonischen Gefangenschaft), nicht Mythen, zusammen. Dies ist wichtig, da, wie Wendorff (1989:28) bemerkt, es aufgrund der schwierigen politischen Verhältnisse bald dazu kommt, daß die Geschichte dem jüdischen Volk die Heimat ersetzt. Diese Geschichte, die wesentlich die Geschichte dieses einen Volkes ist, ist damit auch stark geprägt vom Handeln geschichtlicher Personen und vom Handeln Gottes, der planmäßig zur Rettung und Bestrafung seines Volkes eingreift (Brandon 1981:147f.). Auch in der hebräischen Sprache, die nur zwei Tempusformen, nämlich das Vollbracht und das Unvollbracht, kennt (Wendorff 1985:26f.), wird die Zeit stark an das Handeln gekoppelt.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Durch diese enge Bindung an das intentionale Handeln entzieht sich die Zukunft mathematischer Berechnung; sie muß geschaut, verkündet und geglaubt werden. So kommt es, daß die Juden wenig Interesse an Weiterentwicklungen der Zeitmessung haben; sie übernehmen im wesentlichen die mesopotamische (Whitrow 1988:54f.).

Griechenland Für die Griechen birgt die Zeit weder religiöse noch (aufgrund der geringen Größe der Stadtstaaten) praktische Probleme, sie ist hier besonders ein philosophisches Problem. Erstmals wird sich abstrakt mit dem Wesen der Zeit befaßt. Dabei setzt sich allmählich die u.a. von Parmendides, Zenon von Elea und Platon vertretene Lehre durch, nach der der Fluß der Zeit und die Veränderung der Dinge nur Täuschungen bzw. Ereignisse einer geringeren Seinsstufe sind, während das wahre Wesen der Dinge stets unverändert beharrt. Aufgabe des gebildeten Menschen ist es, dieses Wesen zu erforschen, d.h. von zeitlicher Veränderung zu abstrahieren. Es ist möglich, daß diese Betonung des Unvergänglichen mit der eher pessimistischen Einstellung der Philosophen zur Zukunft zusammenhängt: da werden bestenfalls zyklische Prozesse angenommen, oft jedoch auch eine fallende Linie von einem vergangen "Goldenen Zeitalter" ausgemacht (Whitrow 1988:38ff.). Berücksichtigt man dazu die starke Gegenwartsorientierung der Griechen, ihr Interesse am kairos, der Gunst der Stunde (Wendorff 1985:55), dazu ihr Individualismus (Friedell 1987), so verwundert es kaum, daß jede Polis ihren eigenen Kalender besitzt2

, der zudem häufigen Reformen unterworfen wird (Whitrow 1988:44, Wendorff 1985:67f., Pauly 1979:61).

Rom Der römische Kalender ist ein politischer Kalender, ebenso wie die römischen Interessen stark an politisch-pragmatische Fragen gebunden sind. Die Zukunft ist wichtig in dem Maße, in dem sie, etwa bei Feldzügen, überschaubar und planbar ist, die Vergangenheit ist die "große" Vergangenheit der römischen Gentilfamilien, die Roms Anspruch auf Weltherrschaft legitimiert (vgl. Wendorff 1985:71f.). Im Alltagsleben, das durch den Ahnenkult einen starken Vergangenheitsbezug aufweist, taucht nun auch das Bedürfnis auf, kleine Zeiteinheiten der Gegenwart wie Stunden und Minuten zu messen; im selben Maß steigt die Verbreitung von - wenn

2 Die bekannte Zählung nach Olympiaden wurde erst zu Beginn des 3.Jahrhunderts v.Chr. eingeführt und folgend nur in Gelehrtenkreisen (Astronomen und Historiker) gebraucht (Whitrow 1988:67).

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Kapitel 4

auch ungenauen - Uhren in Privathäusern (Wendorff 1985:76, Whitrow 1988:66). Für nachfolgende Generationen wichtig sind jedoch die julianische und augustinische Kalenderreform, beides Paradebeispiele für die politische Bedeutung von Zeit: Die Berechnung des Kalenders liegt traditionell in den Händen der Pontifices, die damit u.a. auch über die Länge von Amtszeiten entscheiden und diese Befugnis oft zu Ungunsten einer genauen Zeitmessung ausdehnen. Da damit bald Kalender und natürlicher Jahresablauf nicht mehr übereinstimmen, müssen bei der julianischen Reform 46 v.Chr. 90(!) Tage ausgeglichen werden (Whitrow 1988:66, Pauly 1979:63). Es wird nun das Mondjahr aufgegeben und ein 365-Tage-Jahr mit einem Schalttag alle vier Jahre eingeführt. Zunächst haben alle Monate in diesem Kalender abwechselnd 30 und 31 Tage, bis auf den Februar der 29 oder 30 Tage zählt. Diese Regelung wird 7 v.Chr. durch Augustus aufgehoben, der den sechsten Monat (das römische Jahr beginnt im März) nach sich benennt und ihn in der Länge Cäsars Monat Julius angleicht. Der zusätzliche Tag wird, auch wenn dadurch jegliche Logik verlorengeht, dem Februar abgezogen (Whitrow 1988:66f.).

Christentum und Mittelalter Die christliche Lehre übernimmt vor allem die Betonung der Geschichtlichkeit und Linearität aus dem Judentum: die Bedeutung von Geburt, Tod und Auferstehung Jesu zehrt wesentlich von der Tatsache, daß es sich um einzigartige, historisch datierbare Ereignisse handelt (Hohn 1988, Russell 1981:63, Whitrow 1988:57, Wendorff 1985:79). Von dort aus bis zum Jüngsten Gericht vollzieht sich die Geschichte nach einem Heilsplan; die Zukunft ist also nicht offen und unsicher, sondern bereits nach Gottes Plan be- und geschlossen (Hohn 1988:126f., Wendorff 1985:96ff.). Die Erwartung des Eschaton mahnt den Christen auch zu ständigem Bereitsein, zum tätigen Ausfüllen der Zeit, über die er am Ende Rechenschaft ablegen muß (Russell 1981:66, Wendorff 1985:87). Dabei kann es sich jedoch stets nur um eine Beschäftigung in der Zeit, nicht um eine Beschäftigung mit der Zeit handeln, da die Zeit als Seine Schöpfung "in Gottes Händen steht" und ihr instrumenteller Gebrauch (z.B. in Form des Zinses) als Sünde betrachtet wird (Seifert 1988:15, Hohn 1988:133ff.). Da Gott und mit ihm sein Heilsplan jederzeit (simultan) anwesend sind, ist es auch nicht notwendig, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scharf zu trennen. Weiterhin entspricht dieser Vorstellung ein relationales Zeitkonzept, wie es in Prediger 3 zum Ausdruck kommt: "Ein jegliches hat seine Zeit...". Dieses Zeitkonzept, verbunden mit Bibelstellen, aus denen hervorgeht, daß Gott die Sonne stillstehen ließ, gerät bei den Scholastikern des Hoch- und Spätmittelalters rasch in Konflikt mit der aristotelischen Vorstellung einer uniformen Zeit (vgl. Lundmark 1993:64f.), denn, so sinnvoll die Annahme einer solchen Zeit auch scheint, sie kann nirgends empirisch gemessen werden. Gleichzeitig ist es den Scholastikern unmöglich anzunehmen, ein so wesentliches Konzept, auf dem alle Zeitmessung

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Die lineare westliche Zeitauffassung

beruht, könne wirklich nur ein Konzept, eine menschliche Abstraktion sein. Nicholas Bonet geht im 14.Jahrhundert schließlich so weit, ihr ein esse mathematicum zuzusprechen - Newton hatte also keinen allzu weiten Weg mehr zurückzulegen. Von diesen wenigen Wissenschaftlern abgesehen, ist die Zeitanschauung noch wesentlich figural geprägt, d.h., die Zeit dient dazu, Werdensprozesse zu veranschaulichen (Hohn 1988:122, Seifert 1988:6). Sie ist zudem qualitativ durch Werk- und Festtage, durch Zeiten, für die Zeit relevant und solche, für die sie nicht relevant ist, geprägt (Whitrow 1988:108, Eriksson 1990). Erst im Spätmittelalter dringen Begriffe für Zeitspannen ohne inhaltliche Ausfüllung3

Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts bilden Uhren, angebracht an den Stadttürmen, ein wichtiges säkulares Prestigeobjekt (Dohrn 1988:102ff.); ihnen geht die Erfindung des mechanischen Uhrantriebes um 1270 voraus (Whitrow 1988:103, Dohrn 1988:100).

und Gedanken des "Zeit haben/nicht haben" in die Sprache ein (Wendorff 1985:131). In diesen Zeitraum fällt auch die Ausbreitung der Äquinoktialstunde, also der 60-Minuten-Stunde, die die nach Jahreszeiten verschieden lange Stunde ablöst (Seifert 1988:12f., Wendorff 1985:146).

Was die Geschichtsauffassung anbelangt, so ist sie noch weit bis in die Neuzeit an das relationale Konzept gebunden. Das Mittelalter kennt Geschichten, die Geschichte kennt es nicht. Diese Geschichten stehen vor allem deshalb relativ unverbunden nebeneinander, weil man sie im Sinne der exempla, der beispielhaften Lehrstücke, versteht, die zum guten Leben anleiten sollen (Hohn 1988:126), daher auch der Gedanke der (exemplarischen) Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens (historia magistra vitae). Wenn dabei keine großen Fortschrittshoffnungen bezüglich der Zukunft gehegt werden, ja modernus gar ein abwertender Begriff ist, dann hängt dies zum einen mit der engen Verwobenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, die keinen Platz für evolutorische Sprünge läßt, zum andern, wie Russell (1981:70) richtig bemerkt, mit der für den mittelalterlichen Mitteleuropäer "sichtbaren Realität", die aus den Ruinen untergegangener Hochkulturen und der weitgehenden (wenn auch nicht anerkannten) Überlegenheit des arabischen Kulturraumes besteht und insgesamt wenig Anlaß zu übertriebenem Optimismus gibt.

Renaissance und frühe Neuzeit Wie viele andere Bereiche, so profaniert sich in der Renaissance auch die Auffassung der Zeit; der Mensch als Mittelpunkt dieser neuen Welt kann nun auch über die Zeit verfügen, er kann Zins erheben, Investitionen tätigen und bald auch durch geschicktes Wirtschaften Zeit sparen. All diese Veränderungen stehen hinter LeGoffs Ausspruch, die "Zeit der Kirche" sei

3 Bis dahin galt das Wort "Stunde" als Bezeichnung eines Zeitpunktes, nicht einer -dauer (Whitrow 1988:83)

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Kapitel 4

durch die "Zeit der Händler" abgelöst worden (vgl. Seifert 1988:14ff., Dohrn 1988, Grossin 1993, Whitrow 1988:110). Dennoch ist damit die christlich geprägte Zeitauffassung nicht abgeschafft, im Gegenteil, bis weit ins 17.Jahrhundert hinein sind Philosophie und die mit ihr verbundene Naturwissenschaft religiös geprägt (Haber 1975:399, Whitrow 1988:130ff.). Umfangreiche wissenschaftliche Korrespondenz wird, etwa von Newton, der genauen Datierung der Erschaffung der Welt gewidmet4

Die größte technische Weiterentwicklung gelingt Christiaan Huygens 1657, als er den Pendelantrieb für Uhren perfektioniert und damit die durchschnittliche Abweichung von fünf Minuten auf zwanzig Sekunden pro Tag reduziert (Wendorff 1985:247). Eine präzisere Zeitmessung erleichtert nun umgekehrt auch den Glauben an eine uniforme, objektive Zeit. Für die Wissenschaftler der frühen Neuzeit teilt sie die Eigenschaften aller Naturgesetze: sie ist objektiv, selbständig, kontinuierlich, in allen Teilen gleichartig und nicht beeinflußbar (Wendorff 1985:204).

. Die Uhr gilt als Abbild des Weltalls; Gott wird oft mit einem Uhrmacher verglichen. Der Newtonschen Auffassung, Gott müsse dabei von Zeit zu Zeit in die Schöpfung eingreifen und sie wieder "richten", widerspricht u.a. Leibniz, der fragt, was für ein Uhrmacher das sei, der freiwillig eine Uhr erschafft, die er von Zeit zu Zeit reparieren muß. Daß Uhren für diese Epoche mehr sind als nur ein Instrument der Zeitmessung, führt Haber (1975:401f.) anschaulich anhand des Straßburger Münsters aus: seine Uhr, ca. acht Meter breit und zwanzig Meter hoch, zeigte u.a. die drei Schicksalsgöttinnen, die vier biblischen Weltreiche, Schöpfung, Auferstehung, Jüngstes Gericht, Laster und Unschuld, das Straßburger Wappen, ein Portrait von Kopernikus, einen Kalender, einen Tierkreis, ein Astrolabium, die Planeten, die Mondphasen, die Tage der Woche, die vier Lebensalter des Menschen und den Tod. Diese Uhr war "a huge visual aid, or mechanized teaching machine, rehearsing the meaning of life and the epitome of the microcosm-macrocosm relationship" (Haber 1975:404).

Eine letzte Neuerung auf dem Gebiet der Uhren ergibt sich durch die Verbreitung der Sanduhren (Wendorff 1985:189ff., Whitrow 1988:101), die gegen Ende des 13.Jahrhunderts erfunden werden. Durch sie ergibt sich vor allem im Alltag die Möglichkeit, billig und wetterunabhängig kurze Zeitspannen zu messen. Sie finden rasch Eingang in Gerichte, Rathäuser, Schulen und Kirchen. Für den Kalender ergibt sich neben der Einführung des 1.Januar als Jahresbeginn (abweichend vom Kirchenjahr) die größte Veränderung durch die Gregorianische Reform von 1582, durch die das Jahr exakter auf den Sonnenumlauf eingestellt wird. Trotz unbestreitbarer praktischer Vorteile wird diese Reform des Papstes erst 100 Jahre später von den protestantischen Ländern, 1752 von England und 1923 von der orthodoxen Kirche übernommen. Die Mönche des Athos erkennen sie bis heute nicht an (Whitrow 1988:118ff.). Gleichzeitig wird im 16.Jahrhundert der Schreibkalender neben der Bibel zum verbreitetsten Druckerzeugnis (Wendorff 1985:186ff.).

4 Allgemeiner Konsens kann dabei für eine Datierung zwischen 4000 und 6000 v.Chr. gefunden werden, wobei manche die Berechnung stundengenau vollziehen (Whitrow 1988:131).

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Die qualitative Unterscheidung der Tage in Fest- und Werktage wird von den Puritanern ebenfalls abgelehnt. Mit Ausnahme des Sonntags sind für sie alle Tage gleich zu behandeln (Whitrow 1988:110). Schließlich zeigt sich erstmals, wohl auch unterstützt durch die Entdeckungen auf geographischem und naturwissenschaftlichem Gebiet, eine optimistische Einschätzung der Zukunft: wenn auch viel noch im Dunkeln liegt, so ist die Wahrheit eine Tochter der Zeit (veritas filia temporis) und wird schließlich ans Licht kommen (Whitrow 1988:135).

Achtzehntes und Neunzehntes Jahrhundert Aufgenommen und verstärkt wird dieser Optimismus durch die Aufklärung, die den Mensch als Gestalter einer Zukunft sieht, die moralisch, technisch, wirtschaftlich und kulturell jedem anderen Zeitalter überlegen sein wird. Tatsächlich durchzieht die rationalistisch-quantitative Zeitauffassung bald viele Bereiche: die Arbeitszeitdisziplin der Fabriken (Seifert 1988:21ff., Dan 1992:35ff.), das Aufkommen von Aktienspekulation und Warentermingeschäften (Wendorff 1985:426f.), erste Zeitstudien (Wendorff 1985:382ff.), aber auch das protestantische Lebensgefühl, das Aufkommen des Entwicklungsromans sowie indirekt der Protest der Romantik gegen diese quantitativen Entwicklungen (vgl. Wendorff 1985) können als Beispiele dienen. Uhren werden billiger und kleiner, damit steigt ihr Verbreitungsgrad (Wendorff 1985:429ff., Dan 1992:37, Whitrow 1988:163). Die Ausweitung und Beschleunigung des Verkehrswesens, v.a. Schiff und Eisenbahn, machen eine präzise und einheitliche Zeitmessung erforderlich. Der seit 1587 immer wieder ausgelobte Preis zur Bestimmung des Längengrades auf See5

Auf wissenschaftlicher Ebene sind jedoch zwei andere Entdeckungen entscheidend (vgl. Wendorff 1985:378ff., Russell 1981:73ff., Whitrow 1988:152ff), zum einen die des Erdalters durch die Geologie und die der Evolution der Arten durch Darwin. Beide erschüttern u.a. die christliche Zeitauffassung in ihren Grundfesten, da sie nachweisen, daß die Erde bedeutend älter als die bisher zugestandenen 6000 Jahre sein muß. Der Gedanke einer (linearen) Entwicklung der Natur und der Menschheit beginnt sich immer stärker zu verfestigen. Im (prä-)soziologischen Bereich tragen dazu auch Entwicklungs- und Fortschrittstheorien von Condorcet, Hegel, Marx u.v.a. bei (vgl. Wendorff 1985:395ff., Russell 1981:72ff., Whitrow

kann im letzten Viertel des 18. Jhdts. vergeben werden (Whitrow 1988:139ff., Dan 1992:30ff.) und mündet 1884 in die Einführung der Greenwich-Zeit (Wendorff 1985:267, Dan 1992:31). Zuvor hatte bereits die Eisenbahn England (1880) eine einheitliche und den USA (1870) vier Zeitzonen gebracht (Dan 1992:32f., Wendorff 1985:390, Whitrow 1988:164f.).

5 Im Gegensatz zum Breitengrad, der auf See relativ leicht am Sonnenstand abgelesen werden kann, gibt es keine natürlichen Anhaltspunkte für den Längengrad. Dies führte bei einer weltweiten Seefahrt zu erheblichen Navigationsproblemen und verlustreichen Unglücken. Für eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen und politischen Vorgänge um die Vergabe des Preises siehe Sobel (1995).

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Kapitel 4

1988:146ff.). Die Physik schließlich zementiert mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik die Irreversibilität jener Zeit, die nun immer öfter als Pfeil dargestellt wird (Wendorff 1985:380f., Whitrow 1988:157). Die Geschichte gewinnt unter Männern wie Mommsen und Droysen eigenständige Bedeutung als Wissenschaft und betont wie alle anderen den Gedanken, daß man die vergangene Entwicklungslinie eines Ereignisses oder Dings kennen muß, um seine gegenwärtige Form zu verstehen. Erst jetzt setzt sich auch eine einheitliche Datierung aller Ereignisse der "Weltgeschichte" durch (Lundmark 1993:67).

Die heutige Zeitauffassung Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche im 20.Jahrhundert wird die lineare Zeitauffassung mehr und mehr festgeschrieben. Zeit wird als quantitativ exakt meßbar, unendlich teilbar, in allen Teilen gleichwertig, objektiv existierend, homogen und uniform angesehen; man kann sie sparen oder verschenken, man hat sie oder hat sie nicht, sie ist knapp und deshalb kostbar. Sie durchdringt alle Lebensbereiche, wird mit entsprechenden Machtbefugnissen zur Koordination und Disziplinierung eingesetzt... kurz, um es mit dem vielzitierten Lewis Mumford (1934:14) zu sagen: "The clock, not the steam engine, is the key machine of the modern industrial age". Dabei bewegt sie sich irreversibel auf einem Pfeil mit fixierter Vergangenheit, ephemerer Gegenwart und nur sehr begrenzt voraussehbarer Zukunft, die alle klar voneinander unterscheidbar sind. Jedes Ereignis ist seiner Natur nach einzigartig; nichts kehrt so wieder, wie es einmal war. Dies gibt dem Menschen Raum, schöpferisch einzugreifen, nie zuvor Dagewesenes zu schaffen, die Dinge zum Besseren (oder Schlechteren) zu wenden. Dies bindet ihn auch in anderer Hinsicht: persönlich durch das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit - bildlich so treffend dargestellt durch Gevatter Tod mit der Sanduhr -, unpersönlich durch die unaufhaltsame Abfolge der Ereignisse, die wir als Kausalität bezeichnen, das propter hoc, das sich in einem post hoc manifestiert.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Kritik

The unsuccessful act is one of the essential data of human evolution.

M.Bloch Wenn so viele mehr oder minder unabhängige Autoren dieselbe Geschichte von der Entstehung des westlichen Zeitbegriffs erzählen, so muß das den postmodern beeinflußten Wissenschaftler (und vielleicht nicht nur ihn) stutzig werden lassen. Wenn ich auf den vorangegangenen Seiten diese Geschichte nur skizzenhaft und ohne die vielen überaus anschaulichen Beispiele wiedergeben konnte, so hoffe ich, diesen Mangel durch eine klarere Kontur der (abgespeckten) Entwicklungslinie kompensiert zu haben. Ich bin zudem der Meinung, daß die dieser Kurzversion nun folgende Kritik ohne Einschränkung auch für die jeweiligen Langfassungen der Darstellungen gilt. Zuerst kämpfen sie alle natürlich mit den Problemen, die jede historische Abhandlung hat, wenn sie ein bestimmtes Entwicklungsprinzip über alle Epochen sichtbar machen will:

1. Die zusammengefaßten Zeiträume sind zu groß. Keine Gesellschaft ist jemals so statisch, daß 300 Jahre wie ein Tag behandelt werden können. "Die" griechische oder römische Meinung zu einem so komplexen Thema wie Zeit finden zu wollen, ist mit einem Minimum an historischer Genauigkeit nicht machbar; für einen Zeitraum von 800 Jahren, wie ihn das Mittelalter umfaßt, ist eine solche Intention in meinen Augen fast als böswillig anzusehen. "Die" Meinung einer Epoche ist bestenfalls eine Glättung (im Foucaultschen Sinne), aus der Konflikt und Dynamik entfernt wurden, schlimmstenfalls eine verfälschende Reduktion. M.E. hilft hier auch der Hinweis, es habe in dieser Epoche verschiedene Ansichten gegeben, wenig, wenn man danach mit eben der (und nur der) Ansicht fortfährt, die ins Konzept paßt.

2. Es werden bestimmte geistige Strömungen herausgepickt. Die Menschheitsgeschichte bietet eine so reichhaltige Materialsammlung, daß sich vermutlich ein Beleg für jede Annahme finden läßt. Auch Geschichtsdaten entstehen durch Interpretation, und was die „maßgeblichen“ Ereignisse, wer die „meinungsbildenden“ Autoren waren, läßt sich nicht immer ohne weiteres feststellen. Die Selektion, die jeder Verfasser in der Gegenwart anstellen muß, wird wiederum zwangsläufig von der eigenen Überzeugung geprägt (vgl. auch letzter Punkt).

3. Es wird kein Unterschied zwischen den Gelehrten und dem Volk gemacht. Nur weil Luther, Leibniz oder Goethe eine Meinung publizierten, muß dies nicht "die" Meinung der Zeit gewesen sein. Zwischen Böll und Popper einerseits und dem durchschnittlichen Bundesbürger andererseits klaffen auch heute Welten. Ohne eine explizite Theorie darüber, wie und welches Wissen sich erhält und tradiert wird, bleibt wiederum die Zuordnung wahllos.

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Kapitel 4

4. Die kausale Verknüpfung der Ereignisse ist nicht ohne weiteres gegeben. Auch hier gelten die Anmerkungen zu Reduktion und Tradition. Das Problem der Kausalanalyse historischer Prozesse wird in der Geschichtswissenschaft ausgiebig diskutiert (Abbott 1983, Abbott 1990, Koselleck 1994, Porter 1981, Goldstein 1988). Ohne tiefer darauf eingehen zu wollen, schiene es mir bei vielen Autoren angebrachter, konsistent und offen teleologisch zu argumentieren statt unglaubwürdige Induktionen aus dem unendlichen Datenmaterial der Geschichte vorzuführen.

5. Macht wird z.T. ausgeblendet. Außerhalb der institutionalisierten Herrschaftsbereiche werden Entwicklungen oft mit einer Zwangsläufigkeit dargestellt, die eher an eine innere Logik als an menschliches Handeln gemahnt. Diese Zwangsläufigkeit ist nicht nur deshalb problematisch, weil sie retrospektiv konstruiert wird (die Zeitgenossen hielten Entwicklungen meist nicht für zwangsläufig), sondern auch weil Prozesse oder Strukturen reifiziert werden und die Akteure aus dem Blickfeld verschwinden.

6. Die Quellenlage ist für Antike und Mittelalter problematisch. Oft sind es historische Zufälle und nicht die Bedeutung eines Autors, die darüber entscheiden, ob wir ihn heute kennen. Doch auch wenn Dokumente vorhanden sind, so ist deren Interpretation nicht immer unproblematisch: fehlende Textpassagen, Kopierfehler, veränderte Wortbedeutungen tragen hierzu ihr Scherflein bei.

7. Die Interpretation erfolgt stets aus heutiger Sicht. Was sich aus heutiger Sicht logisch in die Entwicklungslinie einfügt, muß aus damaliger Sicht überhaupt nicht maßgebend gewesen sein. Ein heutiger Autor kann nicht mehr die Perspektive der Zeitgenossen einnehmen und sein retrospektives Wissen vergessen. Eine Erklärung des Heute, die das Gestern aus der Sicht des Heute heranzieht, steht vielleicht noch nicht im, aber immerhin nahe am Zirkel.

Konkret sehen solche argumentativen Schwächen dann etwa so aus: Wendorff (1985)6

6 dem ansonsten allein aufgrund der großen Materialsammlung uneingeschränkt Lob gezollt werden muß

gerät spätestens ab der Renaissance, wohl aufgrund der exponentiell angewachsenen Quellen, in Argumentationsnöte. Joachim von Fiore (1132-1202), in den drei Mittelalter-Kapiteln nicht erwähnt, wird nun im Renaissance-Kapitel ausgiebig zitiert (175ff.); dafür scheinen Shakespeares Verse besser zu dem Zeitgefühl zu passen, welches Wendorff als barockes betrachtet (214ff.). Stellt sich eine Epoche dem Trend zur Linearisierung entgegen, wird sie wegerklärt: Das zyklische Denken der Renaissance konnte sich nicht durchsetzen, weil, so Wendorff, das "allgemeine Bewußtsein" nur wenig durch den "Bereich der Gebildeten" beeinflußt wurde (212). Daß er für die folgenden Jahrhunderte aber ebenso ausschließlich den Bereich der Gebildeten anführt, nun allerdings ohne Durchsetzungsprobleme, läßt den Glanz des Arguments doch verblassen. Ähnliches widerfährt später den Romantik, die im Gegensatz zu Goethe und Beethoven nur eine "Gegenströmung" ist, die "nicht den Gesamtcharakter einiger Jahrzehnte [bestimmt]" (358). "Dem 18.Jahrhundert kommt in unserer Problematik eine ganz besondere Bedeutung zu, weil in ihm das [...]

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Fortschrittsdenken konstituiert wird..." (253) - dies gilt jedoch nicht, wie man wenig später erfährt (255), für die ersten 50 Jahre dieses Jahrhunderts. Sind diese Fehler immerhin noch mit der Fülle des auf über 700 Seiten dargebotenen Materials zu entschuldigen, bildet Grossins (1993) Abhandlung auf sechs Seiten für mich den Tiefpunkt historischer Argumentation: Er beginnt seine Ausführungen mit "archaischen Gesellschaften", zu denen neben nicht spezifizierten europäischen auch amerikanische und afrikanische Stämme zählen. Der Leser erfährt hier so interessante Details, wie etwa daß es in ihrer Sprache (Singular!) nicht möglich ist, Vergangenheit und Zukunft auszudrücken. Diesen Gesellschaften steht idealtypisch die "bäuerliche Gemeinschaft" gegenüber. Ihre Zeitvorstellung "fits in with the placid attitudes and the level-headed behaviour of peasants." Als drittes nun die mittelalterliche Stadt, in der die Gegenwart ewig wiederkehrt "in sclerosed morrows which keep up tradition to such an extent that no one imagines it could be otherwise." Der Leser kann schließlich gar nicht anders als froh sein, im letzten Kapitel dann endlich in die heile, dynamische, vernünftige Welt der Industriegesellschaft einzutreten. Doch es sind nicht nur grundsätzliche Probleme methodischer oder argumentativer Natur, die die Geschichte von der Entwicklung der westlichen Zeit fragwürdig erscheinen lassen. Eine Reihe Autoren zweifelt schlicht die genannten Fakten an: So muß Annahme einer linearen mittelalterlichen Heilsauffassung und die Gleichsetzung von Mittelalter und Christentum sicherlich in mehreren Punkten qualifiziert werden: die christliche Kirche der damaligen Zeit lehrte mit Sicherheit explizit keine verbindliche Zeitauffassung (Russell 1981:59). In die Werke der gebildeten Kleriker, etwa Augustinus, gingen nicht nur jüdisches, sondern auch griechisches Gedankengut ein: so ist die Vorstellung, daß Gott Zeit und Werden transzendiert, eine explizit platonische, von Aristoteles stammt die Idee der ewigen Formen, und schließlich nahm man durchaus an, daß die in zyklischen Bahnen verlaufenden Planeten Einfluß auf irdisches Geschehen nahmen (vgl. Russell 1981:66ff.). Die Theorie der ewigen Wiederkehr allen Geschehens findet sich noch in den Pariser Thesen von 1277 (Russell 1981:70). Zudem müssen für die nord- und mitteleuropäischen Länder starke heidnische Einflüsse berücksichtigt werden und es ist durchaus plausibel, mit Hohn (1988:124f.) anzunehmen, daß über weite Strecken des Mittelalters nur Adel und Klerus ein relativ "reines" Christentum praktizierten, während beim Volk die alten Bräuche nur christlich überformt wurden. Daß in allen mir zur Verfügung stehenden Büchern nur Griechen und Römer (unsere „zivilisierten“ Vorfahren), nie jedoch Germanen und Kelten, betrachtet wurden, scheint mir ein weiteres Indiz für den Artefaktcharakter dieser "Geschichte". So wenig wie die mittelalterliche Zeit eine "Zeit der Kirche" war, so wenig ist die These von der "Zeit der Händler" zu belegen (vgl. Dohrn 1988). Für die Bedeutung gemessener Zeit gibt es in den kommerziellen Dokumenten, so Dohrn (1988:96), keinen Hinweis. Umgekehrt konnten die Händler des 13.Jahrhunderts augenscheinlich auch ohne eine „Zeit der Händler“ eine nie zuvor dagewesene Expansion vollziehen (Abu-Lughod 1989). Die Einführung von städtischen Uhren wurde in fast allen Fällen von den jeweiligen

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Kapitel 4

Herrschern betrieben oder gar bezahlt (Dohrn 1988:104), und nirgends erhob die Kirche gegen sie Einspruch. Einschränkungen bezüglich der Linearität müssen auch für den Protestantismus gemacht werden, dessen Grundgedanke der Re-formation, der Rückkehr zur "Urkirche", nur mit Schwierigkeiten unter die linearen Konzepte eingereiht werden kann (Smith 1991:75f.). Haber verweist für Zeitraum der Renaissance und Reformation auf eine so vielfältige und komplexe Zeitauffassung, daß sie von den meisten Autoren kommentarlos übergangen wird: "The utilitarian histories of the mechanical clock tend to leave a barren plateau between these two innovations [...] The reduction of the history of the pre-Galilean clock to the single function of timekeeping makes these clocks seem redundant and a miscarriage of effort." (Haber 1975:400) Die Einführung der Fabrikdisziplin wird spätestens seit der Untersuchung von Thompson (1967) gerne als Schwelle betrachtet, ab der die quantifizierte Zeit in das Alltagsleben der einfachen Bevölkerung eindrang; die harten Kämpfe, die sie begleiteten, als instinktive Abwehr gegen Disziplin. Auch hier sind einige Einschränkungen zu machen7

. O'Malley (1992:354), der Dokumente aus der Zeit dieser Arbeitskämpfe untersucht hat, zitiert einige, in denen es durchaus nicht um die Annahme der Uhrzeit oder Arbeitsdisziplin geht, sondern darum, daß die Uhren von den Fabrikeignern manipuliert wurden, um längere Arbeitszeiten zu erschwindeln. Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit sind darüber hinaus bereits für das späte Mittelalter dokumentiert, wo etwa nach der Großen Pest sich die Klagen über Lohnarbeiter häufen, die zu lange Pausen machen und zu früh die Arbeitsstätte verlassen (Dohrn 1988:113). Auch hier wurde seitens der Arbeitgeber unnachgiebig verfahren. Verzerrend wirkt aber vor allem die von Thompson in diesem Zusammenhang gemachte Feststellung, die vorindustrielle Zeitauffassung, die er mit "task orientation" umschreibt, sei "wasteful" und "lacking in urgency" (Thompson 1967:60). Führungskräfte, Landwirte und Angehörige von Pflege- und Freien Berufen mag diese Aussage unmittelbar verwundern, auch Wissenschaftler haben ihr widersprochen (Glennie/Thrift 1996, Davies 1994, Inhetveen 1994). O'Malley (1992:344ff.) argumentiert überzeugend, daß die Dringlichkeit einer Aufgabe in jedem Fall eine kulturspezifische Norm ist und daß es überall Menschen gibt, die sich an die Norm halten und solche, die es nicht tun: "Lazy, sloppy farmers live side by side with busy farmers in any society, and for every example of western industry, a slothful example of western indolence sits idly by in the shade, laughing." (O'Malley 1992:348)

Fazit Der erste Blick auf die Geschichte zeigt, daß Zeit niemals etwas war, was man einfach abgelesen hat, weil es da war. Bereits vor 3000 Jahren ging es

7 Zu einer umfassenden Kritik an Thompson vgl. Glennie/Thrift 1996.

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weniger darum, zur Sonne oder sonstigen natürlichen Markierungen zu schauen, weil man wissen wollte, wie spät es ist; es ging um religiöse und philosophische Konzepte (z.B. den Kreis mit 360°, das ewig Wahre, Gottes Heilsplan), es ging um pragmatische Koordination (z.B. beim Bau von Großprojekten, Ausweitung des Verkehrswesens), und es ging um Politik und Macht (z.B. römischer Kalender, Fabrikdisziplin). Der Bedarf an Zeitberechnung und -messung ist augenscheinlich mehr an das soziale und kulturelle Leben gebunden als an natürliche Vorgänge, seien sie physiologisch oder physikalisch. Auch Zeit-Artefakte, z.B. Uhren und Kalender, entstehen nicht als Repräsentationen von natürlichen Vorgängen, sondern aus pragmatischen Erfordernissen und Wünschen. Nach der Schaffung der Artefakte wird das, was sie symbolisieren, nach außen projeziert und reifiziert, und schließlich erscheinen sie als Repräsentationen. Die Artefakte wirken jedoch nicht nur auf der konzeptuellen Ebene, sie verändern auch Techniken und Praktiken und haben dadurch eine weitreichende Wirkung auf das soziale Leben8

Es kann also getrost behauptet werden, daß der Umgang mit Zeit sehr viel über die Kultur, die ihn betreibt, aussagt. Unter diesem Aspekt verwundert auch nicht die enge Verbindung zur Sprache, die sich in den grammatikalischen Tempusformen niederschlägt. Beides, sowohl die Sprache als auch die Zeitauffassung i.e.S., sind sehr grundlegende Muster einer Kultur, derer man sich im unbefangenen Umgang nur selten bewußt ist.

.

Um den Blick weiter für die Besonderheiten der westlichen Zeitauffassung zu schärfen, möchte ich nach der diachronischen nun eine synchronisch vergleichende Analyse, die sich mit anderen Kulturen als der westlichen befaßt, anstellen.

Vergleich mit anderen Kulturen

Ethnologische Studien

‘If you don’t have a history,’ I say to her, ‘how am I going to tell your story?’ ‘Is a ladder the way to climb a mountain?’ she says. I sulk.

Le Guin Verschiede ethnologische Studien haben sich ebenfalls bemüht, Eigentümlichkeiten westlicher Zeitauffassung in Abgrenzung zu anderen Kulturen explizit oder implizit darzustellen.

8 Eine Studie moderner Zeit-Artefakte hat Nowotny (1989) angefertigt.

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Kapitel 4

Raybecks (1992) Studie der Kelantanesen (Malaysia) betont die Unterordnung zeitlicher Normen unter soziale Erfordernisse. Pünktlichkeit wird nicht verlangt, da der Vorwurf der Unpünktlichkeit ehrenrührig wäre. Menschen, die durch Hast versuchen, Zeit zu gewinnen, werden als unzivilisiert gebrandmarkt, da ihnen keine Zeit bleibt, ihre sozialen Kontakte zu pflegen. Tages- und Jahreszeit werden durch Sonnenstand oder Klima markiert, wobei diese eng an Arbeitsrhythmen (z.B. Arbeit im Haus während der heißen Mittagsstunden) gekoppelt sind. Die so gewonnene Zeiteinteilung lebt sehr stark von der Interpretation des Einzelnen (z.B. kann die Angabe, wann die „Erntezeit“ beginnt, zwischen Juli und Oktober variieren, abhängig davon, welche Frucht die befragte Person bevorzugt). Soziale Ereignisse, etwa ein gemeinsames Essen oder eine Theatervorstellung, beginnen entweder auf Zuruf, oder jeder kommt, wann er kann. Dabeisein ist auf jeden Fall wichtiger als pünktlich sein. Natürlich ist den Kelantanesen inzwischen auch die westliche Zeit bekannt, und es gibt Auseinandersetzungen zwischen „Traditionalisten“ und „Progressiven“, in denen deutlich wird, daß zumindest den Traditionalisten die Funktion ihrer Zeitauffassung bewußt ist: ihre Argumente gegen die Übernahme westlicher Zeit beruhen sehr stark darauf, daß diese Zeit ihre kulturell hochbewertete Gemeinschaft und Harmonie des Dorfes angreift und zerstört. In der Studie von Blythe (1992) zur Kultur der Unea (Pazifik) wird ebenfalls die politische Dimension der Zeit, hier in Bezug auf die Vergangenheit, erläutert. Nicht das Datum der Geburt spielt eine Rolle, wohl aber die Geburtsfolge, die innerhalb der Gemeinschaft eine soziale Rangfolge festlegt. Die Genealogie einer Person kann z.T. bis zur 16.Generation erinnert werden, da dies für die Landverteilung wichtig ist, ist aber gleichzeitig auf die Linie Vater-Sohn reduziert, so daß bspw. Onkel und Tanten keinerlei Bedeutung zukommt. Dies ermöglicht auch eine Einordnung lang vergangener Ereignisse entlang der Vater-Sohn-Linie, während Ereignisse in der nahen Verwandtschaft keine Verankerung erhalten. Die starke Abhängigkeit der Zeitmessung von den Koordinationsbedürfnissen hat Malinowski (1990) anhand der Kultur der Trobrianden (Melanesien) aufgezeigt. Hier erfolgt die Unterteilung des Jahres nominell nach Monden, praktisch jedoch nach den jeweils anfallenden Gartenarbeiten, da Gartenarbeit die wichtigste Tätigkeit der Insulaner darstellt. Die Zählung nach Monden wird nur angewandt für bedeutende religiöse oder politische (z.B. Versammlung der Ältesten) Ereignisse. Dabei ist die Zahl der Monde (nämlich 13) bzw. ihre Namen vollständig nur den Ältesten bekannt; auf Anfrage erhält man, je nach sozialem Rang und Alter des Befragten, jede Zahl zwischen zwei und acht genannt. Der Bekanntheitsgrad eines Mondes hängt von der Jahreszeit ab: die Monde, die allen oder den meisten bekannt sind, sind die der Erntezeit und der großen Feste, die Monde der klimatisch ungünstigen Zeit kennen nur die Gelehrten. Die Bindung von Zeitmarkierung und -dauer an Tätigkeiten des Alltags ist durch Bourdieu (1990) auch für die Kabylen (Algerien) dokumentiert. Dabei ist es eine Frage des Selbstrespektes für den Kabylen, immer beschäftigt zu sein. Auch kosmische Symbolik ist stark mit den Jahreszeiten verknüpft und verhindert die Annahme eines gleichförmigen Zeitablaufs. Die Zukunft birgt viele Möglichkeiten, wird aber nicht im westlichen Sinne als offen betrachtet.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Allah entscheidet, und es gilt als ein Zeichen von Dummheit und Überheblichkeit zu glauben, man könne die Zukunft planen und beherrschen. Zudem ist die Sicht zukünftiger Potentiale stark in die Gegenwart eingebunden, so daß keine klare Trennung zwischen Gegenwart und Zukunft erfolgen muß: das Korn, das heranreift, kann (eines Tages) gegessen werden, und diese Eigenschaft wird semantisch und grammatikalisch ebenso behandelt wie eine gegenwärtig sichtbare, etwa die Farbe. Auf diese nahe Zukunft, in der sich das in der Gegenwart angelegte erfüllt, folgt sofort die weit entfernte Zukunft der Träume; ein „mittelfristiger Planungshorizont“ fehlt. Die Zukunft ist auch durch die traditionale Lebensweise an die Vergangenheit gebunden; „Vorausschau“ bedeutet nicht, neue Wege zu gehen, sondern die Einhaltung des bestehenden Ehrenkodex zu sichern. Eine ähnliche Trennung in „objektive Realität“ und „subjektive Realität“ läßt sich in der Sprache der Hopi-Indianer finden (Cottle/Klineberg 1974:171). Ihre Grammatik kennt nur zwei Tempora: die eine, stark angelehnt an „Fakten“, umfaßt selbst erlebte oder als geschehen erachtete Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und in der Gegenwart angelegten Zukunft, die zweite subjektive Gedanken, Gefühle, Träume, egal in welcher Zeit sie angesiedelt sind9

Smith (1952) schließlich hat in einer kulturvergleichenden Studie die Beziehung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die westliche Welt, China, den Hinduismus und die Coast Salish (kanadische Indianer) untersucht. Sie konstatiert für die westliche Welt eine starke Zukunftsorientierung, die sich in Streben nach (Nach-) Ruhm und Aufgabe gegenwärtiger Vorteile zugunsten zukünftiger äußert. Auch das Ich (die Seele) hat in der westlichen Metaphysik keine (oder eine kurze) vorgeburtliche Vergangenheit, dafür aber Unsterblichkeit. Für den Hindu äußert sich der Zwang, für die Zukunft zu sorgen, nicht so drückend, da er durch die Reinkarnation fast unbegrenzt „Zeit hat“, ans Ziel zu gelangen. Neben diesen beiden individuell ausgerichteten Philosophien zeigt die chinesische eine starke Betonung der Familienkontinuität, die sich in einer gleichwertigen Hinwendung an Zukunft und Vergangenheit (Ahnenkult) äußert. Die Coast Salish schließlich leben fast ausschließlich gegenwartsbezogen mit einer unbekannten Vergangenheit und einer von der Gegenwart kaum zu unterscheidenden Zukunft. Sie sind dafür eher „lateral“ eingebunden, indem sie beständig Beziehungen zu nicht-menschlichen Entitäten, etwa Tier- und Pflanzengeistern, suchen, um sich mit ihnen (bzw. ihren Eigenschaften) zu verbinden.

. Ein Kontinuum im Sinne einer linearen Logik weist diese letzte Form nicht auf.

Zusammenfassend (vgl. auch Nowotny 1975, Schmied 1985) läßt sich für diese und andere Studien, die sich mit sog. „archaischen“ Kulturen10

9 Aus Brights Artikel (1993:763) geht einschränkend hervor, daß diese Tempora (er spricht von dreien) zwar durchaus primär modale, aber auch temporale Funktion haben, insofern als zumindest das Futur von Imperfekt/Präsens/Gerundium, die mit der gleichen Form ausgedrückt werden, getrennt werden kann. Dieses Primat der modalen über die temporale Bedeutung ist bereits bei Cassirer (1994a:180) u.a. für die indianischen Sprachen aufgeführt, der in guter reflexiver Tradition hinzufügt, daß die jeweiligen Bedeutungen “einem Europäer vielleicht überhaupt unzugänglich bleibe[n]”.

befassen, das Bild von Zeitauffassungen konstruieren, die zyklisch orientiert

10 Smith (1952) fällt nicht unter diese Gruppe.

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Kapitel 4

sind und natürliche Zeitmarkierungen verwenden. Diese Markierungen sind stets nur so genau, wie es für das Koordinations- und Orientierungsbedürfnis der Gesellschaft notwendig ist. Abstrakte, unausgefüllte Zeit kommt nicht vor; ein uniformes Fließen wird nicht angenommen. Die Gesellschaften sind stärker vergangenheits- oder vornehmlich gegenwartsorientiert; der Zukunft wird keine große Bedeutung beigemessen. Ein „Diktat“ der Zeit wird nicht aufgezeigt, sondern Muße durchzieht einen gleichmäßigen Lebensablauf.

Kritik Auch diese Studien haben ihre Kritiker. Sie zielen zunächst auf das Problem der Datenerhebung und -interpretation. Malinowski selbst (1990:209) hat die Ethnozentriertheit des Forschers thematisiert, der vorschnell Probleme und Lösungen erkennt, die in der untersuchten Kultur nicht als solche gelten. Dies beginnt mit der linguistischen Frage, inwieweit bspw. ein polynesisches Wort, ins Deutsche übersetzt, seine Bedeutung und Konnotationen behält, und setzt sich fort mit der Frage, ob die vom Ethnologen gespeicherten Daten und Zusammenhänge so überhaupt geäußert wurden. Ein in einem anderen Zusammenhang angestelltes Experiment (Boscolo/Bertrando 1992:125f.) mag dies veranschaulichen: gebeten, einen (für westliche Ohren) unzusammenhängenden Hopi-Mythos wiederzugeben, brachten die meisten Versuchspersonen die Geschichte „in Ordnung“, indem sie die Fakten zu einer logisch abfolgenden Geschichte mit Anfang, Mitte und Schluß umbauten. Wenn auch Ethnologen sicherlich verantwortungsvoller mit ihrem Datenmaterial umgehen, so unterliegen sie letztendlich doch dem Zwang, dies spätestens bei der Publikation einem westlichen Publikum „sinnvoll“ zu präsentieren und daraus Folgerungen gleicher Qualität abzuleiten. Der Ethnologe Goody (1991) verweist darüber hinaus auf die große Beliebtheit von Mythen, die die Basis vieler ethnologischer Studien bilden. Obwohl sie außerordentlich gut dokumentiert sind, kommt ihnen, seiner Meinung nach, keineswegs die zugeschriebene Bedeutung zu, gleichsam der Schlüssel zum Gedankengut einer Kultur zu sein - jedenfalls nicht mehr, als dies für „Schneewittchen“ und unsere Kultur zutrifft. Der Grund, warum dennoch so viel über sie gesprochen wird, ist, daß europäische Forscher ausdrücklich Geschichten von den Eingeborenen verlangen und erhalten, die sie dann hypostasieren. Dabei ist ihr Verständnis von Geschichten so von europäischer Erzähltradition und Literazität (Schriftlichkeit, literarische Genres) geprägt, daß die gesammelten Erzählungen in der Wiedergabe unvermeidlich verfälscht werden. Mit konkretem Blick auf das Thema Zeit muß außerdem hinzugefügt werden, daß diese „archaischen“ Gesellschaften heute tatsächlich nur noch in Nischen existieren. Abgesehen davon, daß nur wenige noch nicht mit westlicher Kultur in Berührung gekommen sind, handelt es sich ausnahmslos um zahlenmäßig sehr kleine Stämme, die auf begrenztem Raum leben. Ob sie repräsentative Vertreter „archaischer“ Kulturen sind, sollte zumindest nicht ungeprüft angenommen werden.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Daß der Versuch der Abgrenzung schließlich sogar zu verfälschenden Darstellungen führt, weist Schmied (1985:80ff.) für die klassische Studie von Evans-Pritchard über die Nuer nach. Die Intention, deren Zeitauffassung als rein sozial erscheinen zu lassen, führt zur Ausklammerung von astronomisch berechneter Zeit. Dabei, so Schmied (Schmied 1985:81) erbrachte „keine der erfaßten Arbeiten über Zeitvorstellungen in sog. primitiven Gesellschaften [...] einen Hinweis darauf, daß Ethnien existieren, deren Mitglieder Zeit im Alltag nur nach sozialen Aktivitäten einteilen. Die Sonne, die den Tag gliedert, und der Mond in seiner wechselnden Gestalt sind sicherlich die ältesten Chronometer.“ Dies führt im schlimmsten Fall zu Abhandlungen, die die Information zugunsten der Ideologie völlig aufgegeben haben. Als abschreckendes Beispiel sei hier Wendorff (1989:105ff.) angeführt, der zum „typischen“ Zeitbewußtsein in Entwicklungsländern folgendes zu schreiben weiß: die Entwicklungsländer wissen nichts von unserem „anspruchsvollen“ Zeitsystem, sie kennen nicht die „innerhalb einer Stunde von 60 Minuten mögliche Wertschöpfung, ihren Reiz und ihren Lohn“. Von Übel ist auch die „Überbetonung der Vergangenheit, deren Traditionswerte sich gegen Zukunfts- und Änderungsideen stellen. So fehlt oft die beflügelnde Kraft eines Selbstvertrauen und Mut fördernden Optimismus.“ Der Tugendkatalog westlicher Zeitauffassung ließe sich aus dem Text beliebig fortsetzen - dies scheint auch die eigentliche Intention des Textes zu sein. Wenn dies auch ein extremes Beispiel (schlechter) kulturvergleichender Forschung ist, so kann dies nicht über eine grundsätzliche Ideologiegebundenheit aller von mir zitierten Studien hinwegtäuschen, die Fabian so beschreibt:

„A discourse employing terms such as primitive, savage (but also tribal, traditional, Third World, or whatever euphemism is current) does not think, or observe, or critically study, the ‘primitive’; it thinks, observes, studies in terms of the primitive. Primitive being, essentially a temporal concept, is a category, not an object, of Western thought.“ (Fabian 1991:199)

Studien zum kulturvergleichenden Management Studien, die ihren Ausgangspunkt im Management - und damit in einer Institution westlicher Industrienationen - nehmen, betrachten fremde Kulturen unter anderen Gesichtspunkten als Ethnologen; hier ist das Verständnisziel meist einem performativen untergeordnet, die „anderen“ sollen möglichst reibungslos ins eigene, evtl. leicht zu modifizierende, System integriert werden.

Es kann somit nicht verwundern, daß Unterschiede negativ formuliert werden, etwa wenn Dülfer (1995:274) die fremden Normen bezüglich Pünktlichkeit und Zeitplanung aus einem „Mangel an Information über die Beziehung zwischen Zeit- und Arbeitsergebnis, der durchaus behoben werden kann“ erklärt. Auch die später noch anzutreffende (Fußnote 13) Pan-Babylonische Abgrenzung zwischen „uns“ und dem Rest der Welt, der als „Subsistenzwirtschaft“ charakterisiert wird und die Dritte Welt samt Mittlerem

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Kapitel 4

Osten und Ostasien umfaßt, begegnet hier wieder: auch Dülfer (1995:274) wendet hierfür die Unterscheidung zyklisch-linear an, allerdings nun noch mit dem Zusatz, daß die zyklische Auffassung einen „Mangel an linearem Zeitbewußtsein“ darstellt. Badran (1995), dem11

Differenzierter und neutraler setzt sich Hofstede (1993:183ff.) mit einem Indikator auseinander, der auf der Basis seiner Methode für China und den ostasiatischen Raum entwickelt wurde und der eine „nicht-westliche Verzerrung“, die der westlichen entgegenwirkt, schaffen sollte. Im Vergleich der westlichen und östlichen Studie ergab sich, daß der Indikator „Unsicherheitsvermeidung“ im Osten als nicht relevant erachtet wurde. An seine Stelle trat dort der Indikator „Konfuzianische Dynamik“ mit den Ausprägungen „langfristige vs. kurzfristige Orientierung“

beim Kapitel zum Zeitbewußtsein der Araber leider nichts besseres einfällt, als sich auf Dülfer zu stützen, führt das Paradox gekonnt zu Ende: auf die „Mängel“ der arabischen Zeitauffassung folgt eine Begründung, warum arabische Manager so handeln, wie sie handeln (z.B. weil erwartet wird, daß sie Zeit für Familie, Freunde und unangemeldete Besucher haben), die mit dem lakonischen Satz endet, daß „die strategische Bedeutung der Zeit (‘Speed-Management’) im Wettbewerb von den Arabern noch nicht berücksichtigt und verstanden“ wurde (Badran 1995:154), gefolgt von Schlagworten des „Speed-Management“. Es scheint letztlich mehr um das Abhaken einer westlichen Checkliste (vorhanden-nicht vorhanden) zu gehen, als um die Deutung einer Kultur.

12

Insgesamt tritt bei allen dreien im Vergleich zu ethnologischen Studien der normative Gesichtspunkt von Zeit stärker in den Vordergrund. Dies ist, wie bereits oben festgestellt, nicht weiter problematisch, solange die normativen Aspekte nur beschrieben werden. Es ist jedoch in allen drei Abhandlungen festzustellen, daß sich die Forscher von ihrer (normativen) Ethnozentriertheit nicht lösen können oder wollen, was zumindest den komparativ-deskriptiven Gehalt der Studien schmälert.

, wobei westliche Kulturen deutlich am kurzfristigen Pol liegen. Auch hier bleibt die Wertung nicht aus, auch wenn sie dieses Mal zum umgekehrten Ergebnis führt: langfristige Orientierung ist wünschenswert (Hofstede 1993:198). Die zeitliche Zuordnung, die die Termini „langfristig“ und „kurzfristig“ implizieren, ist allerdings nur begrenzt nachzuvollziehen, betrachtet man sich die vom Autor (1993:197) aufgeführten Hauptunterschiede zwischen beiden. Warum Respekt vor Traditionen kurzfristig, deren Anpassung aber langfristig ist, warum die Wahrung des „Gesichts“ kurzfristig, Unterordnung aber langfristig ist, oder warum das Streben nach Besitz der Wahrheit zur kurzfristigen, das Streben nach Beachtung der Tugendgebote jedoch zur langfristigen Orientierung zählt, kann ich jedenfalls nicht ohne weiteres verstehen. Mir scheint, daß hier östliche Werte mit einem positiv besetzten westlichen Begriff von Langfristigkeit assoziiert werden, ohne daß dafür mehr als eine sehr weite inhaltliche Verwandtschaft gegeben ist.

11 Ich konnte aufgrund meiner fehlenden Kenntnisse der arabischen Kultur leider nicht ausmachen, ob der Vorname des Autors männlich oder weiblich ist. Ich habe mich für männlich entschieden. 12 Hofstedes Geschick im Auffinden unglücklicher Bezeichnungen für seine Indikatoren, die sich schon bei „Maskulinität/Femininität“ abzeichnete, setzt sich hier zweifellos fort.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

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Kapitel 4

Fazit: Die „Geschichte der westlichen Zeitauffassung

Geschichte als Erzählung

It has been said that the last thing which a dweller in the deep sea would be likely to discover would be water.

R.Linton Wie bereits im Kapitel 3 begegnen uns also auch hier starke Zweifel an der Evidenz und Unveränderlichkeit unseres Zeitbegriffes. Sowohl die synchrone als auch die diachrone Betrachtung zeigen, wie vielfältig zeitrelevante Lösungen ausfallen können. Doch es ist nicht nur die historische Bedingtheit, Kontingenz oder kulturelle Eigentümlichkeit des westlichen Modells, die thematisiert werden sollte, sondern auch die Zweifel an denen, die eine gerade Entwicklungslinie und klare Konturen dieses Modells spinnen. Die Frage, die sich bereits am Ende des Kapitels 3 gestellt hat, muß wiederholt werden: Warum wird trotz aller Gegenstimmen die Zeit so konzipiert, wie wir sie im Alltag finden; warum wird ihre Geschichte so erzählt? Dabei ist die durch die Kritik an den Fakten aufgeworfene Frage, ob es nun „so war“ oder „nicht so war“ m.E. eine falsche, die das Augenmerk von bedeutend spannenderen Fragen ablenkt. Vergangene Ereignisse bzw. kulturfremde Anschauungen können nur (re-)konstruiert werden, und eine Konstruktion durch eine andere zu ersetzen, ändert nichts am grundsätzlichen Vorgehen. Akzeptiert man hingegen die Rede von der Erzählung, öffnet sich schnell das Feld der intentionalen Betrachtung, zu der ich im Folgenden einige Überlegungen anstellen möchte. Betrachtet man das zusammengestellte Material, so wird rasch klar, daß die Erzählung von der westlichen Zeitauffassung mehr ist als eine Darstellung. Wie zur Interpretation jeder Erzählung nicht nur der Inhalt, sondern auch der Anlaß, der Kontext und die Art und Weise der Darstellung gehören, so läßt sich auch hier weit mehr aufzeigen als die o.g. Inhalte hinsichtlich der Zeitauffassung. Zunächst einmal scheint es mir bezüglich des Erzählerkreises unnötig, sich auf die wissenschaftliche Ebene zu beschränken, wenn es sich auch bei dem von mir zitierten Material um wissenschaftliches handelt. Die lineare Zeitauffassung ist jedem erwachsenen Mitglied des westlichen Kulturkreises so vertraut, daß es sie als intuitiv betrachtet. Trotz dieses intuitiven Wissens ist die Wiedergabe und Tradierung der Erzählung eine aktive Handlung, die mit bestimmten Absichten verbunden ist. Zunächst ist hier die Absicht der Abgrenzung von anderen zu nennen: wenn gleiche Zeitauffassungen eine gemeinschaftsstiftende Funktion ausüben, dann führen unterschiedliche zu einer Abgrenzung. Zerubavel (1982) hat dies anhand der Verschiebung des Osterfestes illustriert: kirchliche und weltliche Dekrete bestimmten eine Neuberechnung dieses höchsten christlichen Festes, um es vom jüdischen Passahfest - an dem Christus laut Bibel gekreuzigt wurde - zeitlich zu scheiden. Nach dieser

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Neufestlegung kommt es seither in keinem Jahr zu einer Überschneidung des jüdischen und christlichen Festtages. Ähnliche Überlegungen bezüglich der Abgrenzung der jüdisch-christlichen Tradition von anderen haben, so Smith (1991), auch auf wissenschaftlicher Ebene gewirkt, als im 19.Jahrhundert die Sprachen der frühen Hochkulturen entziffert werden konnten und man in einem „Kulturschock“ erkennen mußte, daß Israel und Griechenland nicht die einzigen alten Zivilisationen bilden. Damals entwickelte eine Gruppe deutscher Wissenschaftler, die sog. „Pan-Babylonische Schule“, eine Einteilung der alten Religionen/Kosmogonien, die im wesentlichen die Dichotomie zyklisch-linear begründet hat13. Diese Dichotomie läßt sich jedoch durch keinerlei Daten stützen. Einzige Erklärung, so Smith, ist, daß so die Bibel vor Vergleichen geschützt wurde, ihre „Einzigartigkeit“ und „Originalität“14

Je zentraler die Norm für die Identität der Gruppe ist, desto wichtiger ist die Abgrenzung, und so wird die Linearität der westlichen Zeitauffassung als einzigartig unter allen Kulturen aller Zeiten dargestellt (vgl. die Zusammenfassung Kapitel 4.3). Neben dieser primären Funktion erleichtert die Abgrenzung auch den (Nicht-)Umgang mit andersartigen Kulturen, deren Vorzüge gegenüber dem eigenen System aufgrund ihrer „grundlegenden Verschiedenheit“ nicht als solche thematisiert werden müssen.

begründet wurde.

Einen zweiten Punkt bildet die Tatsache, daß die Erzählung eine Richtung besitzt, an deren Ende die westliche Kultur lokalisiert wird. Offensichtlich ist dies bei diachronen Betrachtungen, aber auch die synchronen Kulturvergleiche implizieren durch die Verwendung von Begriffen wie „archaisch“ oder „primitiv“ ein zeitliches Früher jener Kulturen. Verbunden mit dem beliebten Thema der Evolution ergibt sich für Optimisten eine klare Spitzenstellung der westlichen Zivilisation auf einer ansteigenden Linie, aber auch eine „wertfreie“ evolutorische These räumt dem evolutorisch Folgenden eine privilegierte Stellung15

„Certain other cultures, or certain traits in our own culture, become omens when, although we experience them in the present, we construct them as past because their striking otherness confers (additional) meaning on ‘civilization’, on its perils as well as its precarious achievements. Now, to find and interpret omens is the business of divination, and if there is one candidate for the most divinatory approach in the social sciences it would be, I am arguing, the theory of cultural evolution. Not [...] because it is guesswork (although much of it is), but because it makes otherness ominous by construing it as ‘past future’.“ (Fabian 1991:195)

gegenüber dem Vorausgegangenen ein - mit entsprechenden Potentialen der Legitimation und Machtausübung. Die Vorstellung der Evolution bringt dabei auch eine gewisse Sicherheit mit sich, denn alles, was zur Zeit (noch) anders ist, wird sich nach den Gesetzen der Evolution auf den eigenen Zustand zubewegen.

13 Die Wissenschaftler unterschieden zwischen drei Typen von Weltanschauungen: den „babylonischen“, der astronomische Zyklen zugrundelegte, den „kanaanitischen“, der jahreszeitliche Zyklen zugrundelegte, und den „israelitischen“, der menschliche Aktivitäten zugrundelegte. Die beiden zyklischen Muster galten als „mythisch“, das dritte, lineare als „historisch“. Smith (1991:69) schätzt ein: „...their project has been taken as self-evident by scholars in religion ever since...“ 14 im Gegensatz zur „Repetition“ des zyklischen Schemas 15 Sie gilt zumindest als „komplexer“ oder „differenzierter“ - beides positiv belegte Wörter.

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Kapitel 4

Zur Funktion der Erzählung Zu fragen bleibt schließlich, warum die lineare Zeit ein so wichtiges Konzept für unsere Kultur ist. Ins Auge fällt zunächst, daß sie in ungleich stärkerem Maße als die zyklische Zeitauffassung die Einmaligkeit eines Ereignisses oder einer Person betont. Wenn sich (im wesentlichen) nichts wiederholt, dann hat dies vor allem große Bedeutung für die einzelne Person, deren Lebenslauf einzigartig und nur schwach bestimmt vom Leben ihrer Vorfahren und Zeitgenossen ist. Damit einher gehen hohe Wertungen der Begriffe "originell" und "kreativ", die als Schaffung von Neuem im Gegensatz zur Variation - oder noch schlimmer: Repetition - von Bekanntem höchstes Ansehen genießen. Im Vergleich dazu sehen sich Vertreter zyklischer Kulturen viel stärker an perpetuierende Momente einer Gemeinschaft gebunden, die weit in Vergangenheit und Zukunft reicht; der Verteidiger der Tradition hat Vorbildcharakter, und Lob wird dem Künstler dann gezollt, wenn er nicht Neues erfindet, sondern Bekanntes kunstvoll variiert und ausschmückt.

Ist die "Gefahr" der Wiederkehr gebannt, wird die Zukunft offen für menschliche Gestaltung; im positiven Ansatz lassen sich hier alle Ziele der Aufklärung ("Fortschritt") einbetten. Gleichzeitig legitimiert diese Zukunftsorientierung die Forderung nach "Opfern" in der Gegenwart (Belohnungsaufschub). Gegenwärtige Entscheidungen werden gar in "vorauseilendem Gehorsam" getroffen, indem nämlich bereits in der gegenwärtigen Phase eine zukünftige Situation erdacht wird, in deren Rückblick sich die gegenwärtige Entscheidung logisch einfügen muß (vgl. Crang 1994:31f.). Zukunftsorientierung beinhaltet darüber hinaus Zielerreichung, die in enger Verbindung mit Leistungsmessung (und daraus resultierender Zufriedenheit) steht. Wie wichtig diese Zielerreichung geworden ist, zeigt Davies (1994) am Beispiel der Pflegeberufe, wo der Zeitaufwand für bestimmte Tätigkeiten (z.B. ein Kind zu trösten, mit einem Kranken zu sprechen) nur schwer berechnet und geplant werden kann. Angehörige dieser Berufe klagen oft über Unzufriedenheit, das Gefühl, "heute nichts getan (erreicht) zu haben" und über einen "chaotischen" Arbeitsablauf.

Mit der Gestaltbarkeit läßt sich auch der Ressourcenbegriff der Zeit verbinden, der sie in ihrer Berechenbarkeit, Knappheit, Teilbarkeit und Austauschbarkeit in erster Linie zu einem bedeutenden Wirtschaftsgut macht. Eine Voraussetzung für diese Offenheit der Zukunft ist erstaunlicherweise die größere Sicherheit, die die moderne Zukunft mit sich bringt (Schuller 1993:341, ähnlich Elias 1990:157ff.). Erst wenn der Einzelne und seine Gemeinschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, in absehbarer Zukunft am Leben zu bleiben und dieselben16

16 Man denke etwa an die starke Institutionalisierung des Lebensplanes in westlichen Industrieländern durch Schule, Berufsausbildung, Rentenstand etc. Ich nehme diese These bewußt in Distanzierung bekannter Klagelieder um die "Dynamisierung" und "Komplexisierung" unserer Gesellschaft auf.

Bedingungen vorzufinden, machen Planung und Zukunftsorientierung überhaupt Sinn und scheint auch das emotionale Sicherheitsbedürfnis so weit gedeckt, daß man eine offene Zukunft überhaupt denken kann.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

Eine lineare Zeitauffassung ist darüber hinaus Bedingung für strikte Kausalität, die nach dem Bedeutungsverlust von Teleologien und Theologien das zentrale metaphysische Konzept unserer Kultur und speziell ihrer Wissenschaft darstellt17

Während zyklische Zeitauffassungen meist antagonistische Kräfte annehmen müssen, um die Übergänge der einzelnen Phasen des Zyklus zu erklären, und diese Kräfte oft zusätzliche theologische oder ethische Komponenten enthalten, präsentieren sich Zeit und Kausalität wie alle westlichen Naturgesetze sinnentleert: sie sind ewig und ubiquitär, aber warum bzw. mit welchem Sinn sie wirken, weiß (oder fragt) niemand.

. Kausalität ist bekanntlich empirisch nur als Abfolge beobachtbar, und so ist die Annahme einer linearen, irreversiblen Zeit eine conditio sine qua non für die Übertragung von früher-später in Ursache (die a priori früher ist) und Wirkung (die a priori nachfolgt).

Liegt Zeit nicht mehr in den Dingen, sondern ist eine exogene Größe, kann sie verfügbar gemacht werden und als zusätzliche Machtquelle dienen. Dies zeigen sowohl die Kämpfe um die Einführung der Fabrikdisziplin als auch später die Zeitstudien Taylors. In beiden Fällen wurde die Arbeit (und mit ihr der Arbeiter) Zeitzwängen unterworfen, die nicht mehr (objektiv) durch das Objekt der Tätigkeit, sondern durch das Interesse des Stärkeren definiert wurden. Auch außerhalb des ökonomischen Bereiches erleichtert die Quantifizierung der Zeit Machtausübung im Foucaultschen Sinne. Ihre Linearität unterstützt die Totalisierung, die Ausklammerung von Alternativen und die Dominanz des Monologes18

Die mit der Zukunftsorientierung und dem Neuerungswillen einhergehende Abwertung der Vergangenheit macht zudem den Gedanken unwahrscheinlich, daß sie uns eines Tages „einholen“ wird. Sie wird als abgeschlossen beschrieben durch objektivierte Daten und Personen, deren Bezug zur Gegenwart nur noch eine geringe Identifikationskomponente („Gegenwärtigkeit“) enthält (Luhmann 1972:100). Alte Menschen, die zum einen stärkere persönliche Bezüge zur Vergangenheit besitzen, zum anderen aber auch allgemein eine größere Neigung verspüren, Ereignisse als „bekannt“, „schon einmal dagewesen“ (und damit zyklisch) einzuordnen (Kastenbaum 1975, Green 1975), werden häufig ausgegrenzt, ihre Weltsicht abgewertet. Ihrer „patterned experience“ (Kastenbaum 1975:35) wird die „Unverbrauchtheit“ und „Progressivität“ der Jugend entgegengesetzt

, während der Zyklus aus o.g. Gründen eher dialogische oder plurale Formen inkorporieren kann.

19

Die Annahme einer Linie, besonders einer aufsteigenden, erlaubt es auch, unbegrenztes Wachstum auf allen Gebieten anzunehmen, eine Prämisse, die im ökonomischen und wissenschaftlichen Bereich nicht wegzudenken ist.

.

17 Ein anschauliches Beispiel für die Heftigkeit, mit der der Absolutheitsanspruch dieses Konzepts verteidigt wurde und - mit Ausnahme weniger theoretischer Physiker - auch noch wird, kann die Diskussion um die von C.G.Jung in Zusammenarbeit mit dem Nobelpreisträger W. Pauli entwickelte Theorie der Synchronizität liefern (vgl. Franz 1981, Peat 1989). 18 Auch hier finden sich Parallelen zur Kausalität, etwa wenn in der Wissenschaft die stark ausschließende Form der "stringenten" Argumentation gesucht wird. 19 Selbst Bereiche, in denen Alter mit positiven Attributen assoziiert wird, wie z.B. mit Erfahrung und staatsmännischem Auftreten in der Politik, bricht der „Druck“ der Jugendlichkeit von Zeit zu Zeit durch, vor allem dann, wenn verbundene positive Zuschreibungen, z.B. der Staatsmann als Vaterfigur, an Bedeutung verlieren. So hatte etwa im US-Präsidentschafts-Wahlkampf 1996 der Herausforderer Dole aufgrund seines Alters Imageprobleme, denen sich seine Vorgänger kaum stellen mußten.

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Kapitel 4

Der Gedanke des Regelkreises, der zyklischen Zeitauffassungen vertraut ist, hat erst in den letzten Jahren zögernd handlungsrelevante Beachtung erfahren. Betrachtet man den zentralen Stellenwert, den die dargestellten Gedanken in unserer Kultur besitzen, und folgt man meiner Argumentation, daß sie eng mit dem linearen Zeitkonzept verbunden sind20

20 Es erscheint mir nicht möglich, eine über die enge Verbundenheit hinausgehende kausale, monokausale oder gar monokausal gerichtete Bestimmung anzugeben.

, so scheint mir hier eine ausreichende Erklärung dafür gegeben, warum diese Erzählung der Linearität so beständig und mit soviel Sorgfalt tradiert wird. Änderungen des Zeitkonzepts führen zu und spiegeln (je nach Richtung der Betrachtung), wie ich meine, grundlegende Änderungen in der Konstitution einer Gesellschaft wider.

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Die lineare westliche Zeitauffassung

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

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Kapitel 5

Occasionally, it hits me how marvelous a creature Man is. Among all his numerous talents, the one that fascinates me most is his ability to create abstract notions out of something which he does not really understand. The emergence of the abstract notion of time is obviously the case in point.

M.Toda Der Konstruktcharakter der Zeit bildet auch den Gegenstand psychologischer und soziologischer Forschung. Da das Feld naturgemäß weit ist und jeder einzelne Punkt der Betrachtung wiederum Ausgangspunkt für selbständige Forschungsarbeiten sein könnte, kann ich in diesem Rahmen nur eine Auswahl von Aspekten und auch diese nur kursorisch vorstellen. Zur Vertiefung verweise ich auf die angegebene Literatur. Nachdem Zeit in den letzten beiden Kapiteln auf einer konzeptuell hohen Abstraktionsebene betrachtet wurde, möchte ich mich in diesem Kapitel mit den Wirkungen von Zeit auf das Individuum beschäftigen. Ich möchte zeigen, daß sich Zeitauffassungen nicht nur langsam (im Sinne der longue durée oder conjonctures) ändern, sondern auch in der sozialen Gegenwart, in der Lebensspanne eines Individuums. Zeitauffassungen differieren nicht nur zwischen Kulturen, sondern auch zwischen einzelnen Menschen und Gruppen. Um diesen Punkt zu illustrieren, wende ich mich im folgenden der individuellen Physiologie und Ontogenese sowie Fragen der Identität und Organisation, die in späteren Kapiteln aufgenommen werden sollen, zu. Spätestens hier sollte auch deutlich werden, daß Zeit ein hoch normatives, keinesfalls neutrales Konstrukt ist.

Psychophysische Voraussetzungen Da die chemischen und neuronalen Prozesse innerhalb von Gehirn und Nervensystem ebenfalls in der Zeit ablaufen, sind der menschlichen Zeitwahrnehmung bereits physische Restriktionen gesetzt, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte. Die grundlegende zeitliche Wahrnehmung ist die von der Gleichzeitigkeit bzw. Ungleichzeitigkeit zweier Reize. Ihre Schwelle ist für jeden Sinn unterschiedlich, wobei der akustische Sinn das höchste Auflösungsvermögen vorweist: Töne können in einem Abstand von 2-3 Millisekunden als ungleichzeitig erkannt

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

werden, visuelle Reize bspw. erst ab 20 Millisekunden (Pöppel 1989:12f., Cohen 1981:260). Erstaunlicherweise kann allerdings auf dieser Stufe noch nicht entschieden werden, welcher Reiz früher aufgetreten ist, dazu muß die Schwelle beim Hören, Sehen und Tasten auf ca. 30 Millisekunden angehoben werden. Dies läßt den Schluß zu, daß zwar die Umwandlung der physikalischen Reize je unterschiedlich, die Umsetzung in eine zeitliche Abfolge jedoch für die drei Sinne einheitlich erfolgt. Weiter lassen sich Aussagen treffen, innerhalb welcher Zeit verschiedene Reize zu einem (Wahrnehmungs-)Ereignis zusammengefaßt werden (Integration). Dies wäre also die Länge einer „psychologischen Gegenwart“. Hier werden drei Sekunden angegeben, wobei sich diese Zeitspanne ungefähr auch in nicht-experimentellen Abläufen findet. Beispielsweise legen Sprecher spontan nach zwei bis vier Sekunden Pausen ein, auch in Musik und Dichtung wird eine ähnliche Segmentierung der Motive unbewußt vorgenommen (Pöppel 1989:14ff.). Dies deutet auf eine natürliche Rhythmik hin, die sich unbewußt bereits dem Kleinkind vermittelt. Wird diese Zeitspanne überschritten, verblaßt der vorangehende Reiz zusehends, und der nachfolgende wird überbewertet, so daß die Wahrnehmung in ein vergangenes und ein gegenwärtiges Ereignis zerfällt. Neben diesen Wahrnehmungsschwellen scheint es „psychologische Konstanten“ zu geben, die bei allen Erwachsenen - zumindest statistisch - die Einschätzung zeitlicher Vorgänge (im Sinne des objektiven Paradigma) verzerrend beeinflussen. Hier wären zu nennen (vgl. Cohen 1981, Piaget 1981):

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Kapitel 5

Schätzungen der1 werden beeinflußt durch... Erläuterung/Beispiel Simultaneität Geschwindigkeit Von zwei gleichzeitig beendeten

Bewegungen scheint die schnellere früher geendet zu haben.

Simultaneität Intensität Von zwei simultanen Reizen wird der stärkere zuerst wahrgenommen.

Geschwindigkeit Körpertemperatur Personen, deren Körpertemperatur natürlich oder künstlich angehoben wurde, unterschätzten die Geschwindigkeit ablaufender Prozesse.

Geschwindigkeit Entfernung/Dauer Von zwei gleichschnellen Reisen scheint diejenige schneller zu sein, die die geringere Entfernung/Dauer aufzuweisen hat.

Dauer Beschleunigung Ein schnelleres Objekt scheint sich länger bewegt zu haben.

Dauer Dauer Kürzere Intervalle werden präziser geschätzt als längere.

Dauer Intensität Intensiv erlebte Zeitspannen scheinen kürzer zu sein.

Dauer Frequenz Eine mit vielen Reizen ausgefüllte Zeitspanne scheint kürzer zu sein.

Dauer Alter der Person Mit zunehmendem Alter scheinen die Jahre kürzer zu werden.

zeitliche Distanz zeitliche Distanz Bis zu 6 Monaten wird die zeitliche Distanz zum Jetzt mit zunehmender Entfernung proportional verkürzt. „Vor einem Monat“ ist weniger als viermal so lange her wie „vor einer Woche“.

Dauer Entfernung/Geschwindigkeit Von zwei gleichlangen Reisen scheint diejenige länger gedauert zu haben, die die größere Entfernung/Geschwindigkeit aufzuweisen hat.

Abbildung 1: Beeinflussungen der Zeitschätzung

1 Es ist zu beachten, daß Geschwindigkeit, Beschleunigung, Entfernung und Dauer physikalisch zusammenhängen.

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

Entwicklung des Zeitsinns im Kindesalter Bereits in den ersten Lebensmonaten wird das Baby mit externen Rhythmen (Lichtwechsel, Fütterung) konfrontiert und lernt allmählich, seine internen Rhythmen nach diesen auszurichten. Es wird vermutet, daß die Erfahrung dieser internen Rhythmen bereits die Zeiterfahrung vorstrukturiert und es dem Kind ermöglicht, bei genügend ausgebildeter Reizwahrnehmung und -verarbeitung externe Reize als Rhythmen zu erkennen (vgl. auch zum folgenden Pouthas et al. 1993). Während zunächst Reize vor allem aufgrund ihrer Intensität wahrgenommen werden, tritt ab etwa dem 6. Lebensmonat die Häufigkeit in den Vordergrund. Auch hier „lernt“ der akustische Sinn schneller als der visuelle. Der Umgang mit den zeitlichen Dimensionen wird schrittweise erlernt, wobei zunächst die Synchronisation (z.B. eines visuellen mit einem akustischen Reiz), dann (nicht synchrone) Dauer, Frequenz und schließlich Rhythmus der Reize den eigenen Reaktionen zugrundegelegt werden. Der nächste Schritt der Entwicklung liegt darin, nicht nur auf die Reize zu reagieren, sondern sie zu reflektieren, d.h. sie mit Ereignissen zu verbinden und zu erinnern. Diese Sequenzen von Ereignissen können z.T. bereits mit 16 Monaten korrekt wiedergegeben werden, wenn es sich um bekannte Ereignisabfolgen handelt, mit 20 Monaten bei unbekannten, aber inhaltlich (kausal) verknüpften, mit 28 Monaten bei reversen und erst ab 36 Monaten bei zufälligen Sequenzen. Erst ab diesem Alter scheint also die abstrakte Repräsentation genügend ausgebildet. Zur selben Zeit formen Kinder für bekannte Abläufe auch ein abstraktes Konzept einer Früher-Später-Relation. Andere nicht durch Augenschein gegebene Zusammenhänge wie z.B. zwischen Geschwindigkeit, Dauer und Entfernung gelangen im 8.-9. Lebensjahr zur Reife (Piaget 1981). Während bei Kleinkindern zunächst die Puppe, die zuerst ankommt, später die, die die andere überholt, die schnellere ist, wird nun der Abstand zwischen den Puppen und die zurückgelegte Entfernung in die Überlegungen miteinbezogen. Auch die o.a. Fehlschätzung von Erwachsenen, nämlich daß viele auftretende Ereignisse eine Zeitspanne subjektiv verkürzen, stellt sich erst zu dieser Zeit ein; vorher glauben Kinder, die Zeitspanne habe sich verlängert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden etwa ab dem 4. Lebensjahr rudimentär, d.h. für die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft, konzeptualisiert. Diese Vorstellungen gleichen aber eher einem zeitlichen Flickenteppich als einer stringenten Linie; zukunftsgerichtetes Handeln setzt ein, ist aber noch auf die nahe Zukunft beschränkt (Cottle/Klineberg 1974:72ff.). „Reale“ Anreize in der Gegenwart werden zukünftigen, seien sie auch noch so groß, vorgezogen; überhaupt muß alles gleich erfüllt und genossen werden, da die Zukunft noch nicht ausreichend konzeptualisiert und deshalb unbekannt/ungewiß ist. Erst mit zunehmendem Alter rückt die Zukunft vom

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Kapitel 5

Phantasiebereich in den Bereich des realistisch Planbaren, wobei dieser Prozeß für die nahe Zukunft im Alter von 10-12 Jahren, für die ferne Zukunft erst in der Pubertät abgeschlossen ist2

. In dieser Entwicklungsphase ist dann auch das logische Abstraktionsvermögen weit genug ausgebildet, um die Zeit abstrakt zu konzipieren.

Identität und Strukturierung durch Zeit Das Vorhandensein von zeitlichen Markierungen, seien es Entwicklungspfade oder Kreisläufe, prägt unser Leben in erheblichem Maße. Was wir erreicht haben, aber auch was wir erstreben, ist eingeordnet in ein Zeitmuster, das zu einem wesentlichen Teil unsere Identität bestimmt. Entfallen diese zeitlichen Markierungen, etwa durch Isolation vom gesellschaftlichen Leben, so wird dies als gravierender Mangel empfunden, dem mit verschiedenen Strategien begegnet wird. Langzeitinhaftierte, Menschen also, die eine ein bis mehrere Jahrzehnte dauernde Haftstrafe zu verbüßen haben, geben diesen „Kampf gegen die Stunden“ als eine der schwierigsten Bewährungsproben ihrer Haftzeit an (vgl. Cohen/Taylor 1990)3

passing time: Der Patient nimmt an Aktivitäten teil, aber nur, damit die Zeit vergeht. Er hält sich an die Rhythmen des Personals, um nicht anzuecken.

. Wenn die eigene Zukunft auf Jahrzehnte von fremden, nicht selbstgewählten Routinen bestimmt wird, scheint sich die Gegenwart unerträglich auszudehnen. Eine oft verfolgte Strategie, nämlich eigene Fortschritte, seien sie im Fitneßraum oder bei Studien, zur Zeitmarkierung zu verwenden, versagt meist nach den ersten Jahren, wenn die Fähigkeit zur ausschließlichen Konzentration auf diese Tätigkeit nachläßt. Auch die Übernahme von Aufgaben innerhalb des Gefängnisses kann diesen Mangel nicht überzeugend verdecken: „There are a few in prison who feel [working] to be better than nothing. They admit that it is a self-deception, but claim that there is no alternative.“ (Cohen/Taylor 1990:187). Andere Strategien im Umgang mit unmarkierter Zeit hat Calkins (1970) für Rehabilitationspatienten aufgezeigt:

waiting: Die Zeit bis zur Entlassung wird genau markiert. Der Patient nimmt an keinerlei Aktivitäten teil.

doing time: Der Patient hat keinerlei Vorstellungen darüber, wann er das Zentrum verlassen wird. Er tut, was man ihm sagt. („Dead wood“)

2 Inwieweit dieser Prozeß von Umweltfaktoren beeinflußt ist, wird im folgenden Kapitel dargestellt. 3 „You do your time in little daily jerks, living from one microscopic pleasure to the next - from breakfast pancakes to a flash of blue sky... Try it another way and you’ll be pounding the walls, screaming until your lungs give out.“ (Cohen/Taylor 1991:179)

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

making time: Der Patient ist ständig aktiv, imitiert die Rhythmen des Personals. Er kennt schnell die Regeln der Organisation und empfindet Kontrolle über seine Zeit. Er hat auch nie Zeit.

filling time: Der Patient verhält sich distanziert, kann aber an ihn herangetragene Situationen zu seinem Vorteil manipulieren.

killing time: Der Patient tut bevorzugt Verbotenes, will die Gegenwart ändern. Seine Zeit wird durch selbstgeschaffene Krisen markiert, über die er die Kontrolle besitzt.

Auch von anderen Kranken und alten Menschen bekannte Verhaltensweisen wie die exzessive Beschäftigung mit dem eigenen Krankheitsverlauf, dem (auch normativ) minutiösen Umgang mit der Gegenwart, der ständigen Registrierung von An- und Abwesenheit bei Personal und Patienten, dem Rückzug in die Vergangenheit können als Versuche gedeutet werden, im Überfluß vorhandene Zeit zu strukturieren. Für den nicht-isolierten Menschen entfällt diese Aufgabe, zumindest als bewußtes Handeln, weitgehend. Die erfahrenen Markierungen von Vergangenheit und Gegenwart fügen sich mit projizierten Markierungen zukünftiger Ereignisse zu einem Bild zusammen, das die eigene Persönlichkeit und ihren Lebenslauf beschreibt; dabei unterliegen Vergangenheit und Zukunft, wie von Mead beschrieben, einer ständigen Neuinterpretation (Cottle/Klineberg 1974:10ff.). In welchem Maße dabei die drei Zeitformen als kausal-kontinuierlich aufeinander folgend empfunden werden, hängt wesentlich von der Kontinuität der eigenen Lebensumstände ab (Wertheim 1982:9ff., Cottle/Klineberg 1974:10ff., Green 1975:2f.). Sog. „zerrüttete Verhältnisse“, aber auch umfassende gesellschaftliche Transformationen (z.B. Kriege) lassen den Zusammenhang häufig verlorengehen, wobei der Verlust der Vergangenheit („Der Sieger schreibt die Geschichte.“) sich ebenso gravierend auf die Identität auswirkt wie der der Zukunft. Einige Autoren (Wertheim 1982:9ff., Pasero 1994:188ff., Schuller 1993) postulieren diese Tendenz auch für die westliche Industriegesellschaft, deren hohe Dynamik dafür sorgt, daß die Gegenwart sehr schnell veraltet und die Zukunft nicht mehr prognostizierbar ist. Dies, zusammen mit dem Wegfall von allgemein akzeptierten Markierungen wie z.B. rites de passage oder kirchlichen Fasten- und Festzeiten, könnte durchaus zum Gefühl des Sinnverlustes beitragen. Von den drei Zeitformen hat in unserem Kulturkreis, wie bereits in Kapitel 4.2.1 festgestellt, die Zukunft die größte Bedeutung für das Individuum. Etwa ab der Pubertät stellt sich nicht nur die Fähigkeit zum vernünftigen Umgang mit ihr ein, sie wird nun auch von außen als identitätskonstituierend an den Jugendlichen herangetragen (Cottle/Klineberg 1974:88ff.). Es wird auf konkrete Lebens- und Berufspläne gedrängt; das, „was aus ihm/ihr wird“ ersetzt im Bild der Erwachsenen das, „was er/sie ist“. (Bezeichnenderweise kümmern sich die peer groups in diesem Alter explizit nicht um die Zukunft.) „The very young upper-class child who wants to be an iceman, or fireman, or policeman, may be indulged or even encouraged. After the attainment of adolescence, however, [...] the child’s parents are not likely to find such notions amusing.“ (Cottle/Klineberg 1974:88)

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Kapitel 5

Eine unglückliche Kindheit und Jugend kann zu einem unrealistischen Umgang mit der Zukunft führen. So ergaben Versuche mit Jungen im Alter von 10-12 Jahren, daß als „schwererziehbar“ eingestufte Kinder signifikant optimistischere (eher jedoch märchenhafte) Zukunftsvorstellungen hatten, die auch in einer bedeutend weiter entfernten Zukunft angesiedelt waren. Auf die Bitte, zu einem Bild eines Jungen, der an einem Tisch sitzt, auf dem eine Violine liegt, eine Geschichte zu erzählen, erzählt einer der „schwererziehbaren“ Jungen die folgende (Cottle/Klineberg 1974:83f.):

„It’s a little boy who wants to learn how to play the violin, but he can’t find any friends to teach him how. He decides to study by himself so that later he can play in a big orchestra. But learning all alone is difficult, and he decides to change instruments. He takes up the harmonica. Then he learns how to play, and later he goes into a big orchestra.“ (Time span of the action described: ten years.)

Ein Gleichaltriger aus „normalen“ Verhältnissen:

„It’s a little boy whose parents want him to play the violin, but he doesn’t want to. The parents are not very happy about this, and they ask the music teacher what they can do to make him practice. The teacher says that if he studies the violin, he could become famous. So the parents tell this to their son, but he still refuses to become a great violinist. The next day, they return to the teacher to ask for another solution. The teacher tells them to get really tough, to take away his dessert every day and to stop him from watching his favorite television programs. This time, the child really wants to study the violin, because television is one of his favorite things.“ (Time span of the action described: two days.)

Nach Abschluß der Pubertät scheint sich diese Einstellung zu verkehren: nun zeigen die Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen starken Pessimismus bezüglich ihrer Zukunft; eine fernere Zukunft thematisieren sie überhaupt nicht mehr4

Welche generellen Einstellungen (Cottle/Klineberg 1974:82ff.).

5

So nennen Personen, die ausschließlich oder als Doppelbelastung in „Familienpflichten“, d.h. nicht als (Erwerbs-)Arbeit anerkannte, stark emotional geprägte und oft schwer planbare Arbeit eingebunden sind

das Individuum der Zukunft gegenüber hegt, hängt aber nicht nur von persönlichen Erlebnissen und Eigenschaften, sondern auch von der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen ab.

6

4 Die Autoren bezeichnen dieses allgemeine Phänomen, sich bei schlechten Zukunftsaussichten auf die Gegenwart zurückzuziehen, als „Antepression“.

, mehr individuelle oder private, familienbezogene Erwartungen für die Zukunft (Trommsdorff/Lamm 1975:354). Ihre Zukunftserwartungen sind weniger strukturiert, d.h. an einem Zeitplan ausgerichtet; allgemein erweisen sie sich als stärker vergangenheitsorientiert (Usunier/Valette-Florence 1994:233).

5 Hier wären u.a. zu nennen (vgl. Trommsdorff/Lamm 1975, Holman/Venkatesan 1979, Staats et al. 1994): Länge des Zukunftshorizontes, inhaltlich-logischer Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Optimismus/Pessimismus, Detaillierung von Plänen und Erwartungen, Varietät erwarteter Ereignisse. 6 Ich halte die Klassifikation „Frauen“ an dieser Stelle für wissenschaftlich problematisch. Die von mir genannte Beschreibung besitzt m.E. den Vorteil, nicht nur auch auf Männer in der gleichen Situation anwendbar zu sein, sondern auch den Sachverhalt ohne weitere Ausführungen erklären zu können.

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

Für die sozialen Unterschichten stellt Nowotny zusammenfassend fest: „The poor have less time“ (Nowotny 1975:327). Der Wille, die Bedürfnisbefriedigung zugunsten eines späteren größeren Nutzens aufzuschieben (Belohnungsaufschub), den unser Wirtschaftssystem mit dem Bild des Investors hypostasiert hat, findet sich gerade in Unterschichten selten und wird auch heute noch wahlweise als Rechtfertigung ihrer Lage oder als Folge intellektueller Unzulänglichkeit ausgelegt. Es wird dabei übersehen, daß Belohnungsaufschub nur in stabilen, vom Individuum bis zu einem gewissen Grad beeinflußbaren Umwelten eine rationale Verhaltensweise ist (Nowotny 1975:327f., Coser/Coser 1990:194, Cottle/Klineberg 1974:186ff.). Den Umkehrschluß zieht Nowotny auch mit der These, daß eine langfristige Planung nur für die Oberschichten Sinn macht, da nur sie die Mittel besitzen, die Umwelt zum Erhalt ihrer gesellschaftlichen Macht zu manipulieren. So haben Trommsdorff/Lamm (Trommsdorff/Lamm 1975:353f.) für Angehörige der Oberschichten auch einen größeren Zukunftshorizont und eine größere Varietät vorgestellter Ereignisse, inklusive Ängste und Hoffnungen, festgestellt.

Vielleicht der bekannteste Zusammenhang ist der mit dem Alter der befragten Personen. Es bedarf, denke ich, keiner Erklärung, daß Jugendliche, wenn befragt, mehr private (im Gegensatz zu öffentlich-gesellschaftlichen) Erwartungen nennen (Trommsdorff/Lamm 1975:354), weniger strukturierte Zeit bevorzugen und allgemein eine stärkere Zukunftsorientierung aufweisen (Usunier/Valette-Florence 1994:233). Der Eindruck, daß etwa ein Jahr relativ langsam vergeht, steht im bekannten Gegensatz zur Klage des Alters, daß „die Zeit rennt“. (Sozial-)Psychologische Gründe liegen hier in der mit dem Lebensalter zunehmenden Ritualisierung und dem Gefühl der Wiederkehr von Bekanntem (Kastenbaum 1975, Green 1975, Starkey 1989:40f.). Im hohen Alter geht zunehmend das Gefühl der (im doppelten Sinne) eigenen Zukunft oder gar Gegenwart verloren; Weggefährten sind gestorben, man selbst und die Umwelt haben sich so stark geändert, daß die Herstellung der Identität bedroht ist. Zugleich steht am Ende der (objektiv) kurzen Zukunftsspanne, die verbleibt, ein für die meisten nicht besonders erfreuliches Ereignis. Die Konsequenz ist oft eine Hinwendung zur Vergangenheit (Kastenbaum 1975:32ff.).

Auch unterschiedliche Berufe können die Zeitstrukturierung beeinflussen und somit auf die Identität zurückwirken. So kontrastiert - mit den entsprechenden Vereinfachungen, aber, wie ich meine, sehr anschaulich - Dubinskas (1988b) „Manager“ und „Forscher“ in einem Labor für Gentechnik: Die „Forscher“ besitzen eine langfristige, relativ unbestimmte Perspektive, in der zeitliche und inhaltliche Festlegungen nicht sinnvoll sind, da Entdeckungen keine absehbaren Ereignisse darstellen. Für sie liegen die „wirklich wichtigen Dinge“ in einer nicht zeitlich umrissenen Zukunft; sie sprechen hier auch von der Fähigkeit, „Visionen“ zu haben. Ihre Vorstellung vom eigenen Lebenslauf ist der eines nicht abgeschlossenen, des ständigen Dazu- und Umlernens in Begleitung ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Der Alltag der „Manager“ dagegen ist stark zergliedert; für sie ist das Kurzfristige das „Reale“, und für das Langfristige ist keine Zeit. Konkrete Pläne sind in ihren Augen unerläßlich für den Fortbestand des Unternehmens. Sie sehen ihre Ausbildung als abgeschlossen an und setzen nun ihre erworbenen Fähigkeiten um. Als weitere, relativ

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Kapitel 5

abgeschlossene Gruppe können Bauern identifiziert werden (vgl. auch Kapitel 4.1.10), deren Alltag ein hohes Maß an Selbstbestimmung und Aufgabenorientierung aufweist, gleichzeitig aber keine Abgrenzung einer Freizeit ermöglicht (Inhetveen 19947

). Die Zeit ist hier vornehmlich rhythmisch-zyklisch organisiert mit einer stärkeren Bindung an das, was Braudel conjonctures nennen würde. Doch besagt dies noch nichts über die Zufriedenheit. Gerade die Abwesenheit einer klar umgrenzten Freizeit vermittelt das Gefühl, „zu wenig Zeit für sich“ zu haben.

Zeit und Arbeit in Organisationen Zu den wichtigsten Formen der zeitlichen Konditionierung zählt sicherlich die Arbeit (McGrath/Kelly 1992, Hassard 1989b, Schriber/Gutek 1987, Starkey 1989, Zerubavel 1990). Sie bestimmt den täglichen Lebensablauf ebenso wie unsere normativen Vorstellungen etwa zur Zeitdisziplin. Im Normalfall greift sie sogar in den ihr konträr zugeordneten Bereich der Freizeit ein, der ihr gegenüber als Residuale definiert ist. Büroöffnungs- und -schlußzeiten, Werk- und Brückentage spielen dabei nicht nur für den Einzelnen eine Rolle, sondern bestimmen auch den makrosozialen Rhythmus in erheblicher, tiefgreifender Weise. Eine Änderung dieser Rhythmen geht deshalb meist nur langsam vonstatten (Beispiel Ladenschluß), z.T. zieht man andere einschneidende Maßnahmen vor. So hat man bei der Einführung der „Sommerzeit“ lieber mit der „natürlichen“ Zeitvorstellung gebrochen, als alle Leute eine Stunde früher ins Büro zu schicken. Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeit läßt manche Autoren (Urry 1994, Boulin 1993, Pasero 1994) eine weitere Fragmentierung des gesellschaftlichen Lebens mit aufbrechenden Konflikten um den Zugriff auf (nur zu bestimmten Zeiten verfügbare) Freizeitangebote befürchten. Aber auch für die Definition der Arbeit selbst hat die Zeit zunehmende Bedeutung gewonnen. Beginnend mit Marx’ These, die Auseinandersetzungen zwischen Kapitalist und Arbeiter materialisierten sich letztlich in einem Kampf um die Arbeitszeit (1978:264f.), hat in unserem Jahrhundert vor allem die Bürokratisierung eine Verschiebung weg von der räumlichen hin zur zeitlichen Definition bewirkt (Zerubavel 1990:169). Mit zunehmender Zeitknappheit steigt nicht nur der Wert der Ressource selbst, auch die Verfügbar- und Erreichbarkeit einer Person wird zum wertbestimmenden Kriterium (Zerubavel 1981:153). Das Kriterium schlechthin bleibt im Zusammenhang von Zeit und Arbeit jedoch die Karriere (Hassard 1989b, Cottle/Klineberg 1974:186ff.). Bereits der Begriff

7 Die Studie bezieht sich ausschließlich auf Bäuerinnen, ich halte die von mir zitierten Ergebnisse aber für verallgemeinerbar.

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

selbst birgt normative Konnotationen oder wie Cottle/Klineberg (1974:186) es umschreiben: „Upper-middle-class people do not have jobs, but occupy positions; they do not work, they pursue careers“. Zeitpunkt, Dauer und Abfolge von Tätigkeiten entscheiden hier stärker als ihr Inhalt darüber, welchen Wert sie zugeordnet bekommen. So ist es z.B. entscheidend, ob man mit 14, 19 oder 40 Jahren das Abitur macht (normativer Zeitpunkt), ob man 8 oder 17 Semester studiert (normative Dauer), ob man vor oder nach dem Berufseintritt Kinder bekommt (normative Sequenz). Als Vermittler zwischen den Zeitbedürfnissen des Individuums und der Organisation treten bei entsprechender Strukturierung die Arbeitsgruppen auf (Starkey 1989:37). Sie verteilen jedoch nicht nur die organisatorisch vorgeschriebenen Zeitlasten auf ihre Mitglieder, sondern entwerfen, etwa im Zusammenhang mit Ritualen, eigene, zusätzliche Zeitstrukturen, die die Gruppenidentität fördern. Bei Desintegrationserscheinungen innerhalb der Gruppe ist deshalb oft als erstes ein Wegfallen dieser „Gruppenzeiten“ zu beobachten (vgl. Roy 1990). Auch andere zeitliche Normen tragen zur Gruppenkultur bei; man vergleiche den Zeithorizont der Strategischen Planung mit dem der Buchhaltung, den Rhythmus der Fließbandarbeit mit der der Qualitätskontrolle („calm and crisis“). Der oben dargestellte Fall der „Forscher“ und „Manager“ ist genauso ein Beispiel wie die auf einer Röntgenstation vorgefundenen monochronen und polychronen8

Daß an Orten, wo diese unterschiedlichen Zeitkulturen aufeinandertreffen, Konflikte geradezu vorprogrammiert sind, erübrigt sich fast zu sagen. Aber auch die Anforderungen der jeweils einzelnen Kultur können mit den Zeitbedürfnissen und -vorstellungen des Einzelnen kollidieren. „Streß“ als Form der zeitlichen Überforderung ist sicherlich die bekannteste Form, aber auch Entfremdung kann als Dominanz eines maschinellen Rhythmus über den „natürlichen“ (sprich: aufgabenorientierten) gedeutet werden (Hassard 1989a:19f.). Rollenkonflikte resultieren oft nicht aus einer inhaltlichen Unvereinbarkeit der Rollen, sondern dem Gefühl „nicht alles zur selben Zeit tun (sein) zu können“ (McGrath/Rotchford 1983:87ff.). Berufe mit einer relativ freien Zeiteinteilung neigen zu einer sytematischen zeitlichen Selbstüberforderung, da die Arbeit als das zentrale Lebensinteresse angesehen wird (Starkey 1989:51). Positiven Einfluß auf die Arbeitszufriedenheit hat umgekehrt die Wahrnehmung der Dauer von Aktivitäten (Gupta/Cummings 1986). Versuchspersonen, die die

Kulturen der Röntgentechniker bzw. -ärzte (Barley 1988). Barley beschreibt hier in Anlehnung an Hall (1959) die Techniker mit einer stark routinisierten, genau planbaren Tätigkeit (monochron) im Konflikt mit den Ärzten, deren Arbeitsalltag weitgehend unstrukturiert, mit mehreren gleichzeitig auszuführenden Tätigkeiten (polychron) ist. Neben diesen gleichberechtigten Gruppen finden sich natürlich auch Beispiele für zeitlich manifestierte Hierarchien, etwa in der unterschiedlichen Bewertung einer Manager- und einer Arbeiterstunde (Nowotny 1978:417f.), aber auch im Umfang der Zeit, die ohne externe Bestimmungen und Kontrolle eigenständig verplant werden kann (Starkey 1989:48f.).

8 Nicht zu verwechseln mit „monochrom/polychrom“ in Kapitel 6.1.2.

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Kapitel 5

tatsächliche Dauer einer Aufgabe unterschätzten9

Auftretende zeitliche Konflikte werden in der Regel durch Synchronisation bzw. Desychronisation (= Sequenzierung) zu lösen versucht, wobei auch in diesen Prozessen Macht bzw. Dominanz eines Zeitmusters eine große Rolle spielen, da Prioritäten gesetzt werden müssen, meist eine nicht-freiwillige Unterordnung erfolgt und normative Aspekte wie Pünktlichkeit eine große Bedeutung gewinnen (Zerubavel 1978, Hassard 1989b, McGrath/Rotchford 1983). In der Regel nehmen die Abhängigkeitsbeziehungen. Exaktes Zeitmanagement trägt dabei schon die eigene Dysfunktion in sich, da eine exaktere Abstimmung der Tätigkeiten meist „Zeit spart“, die durch Aufnahme neuer Tätigkeiten „genutzt“ wird, die wiederum für erhöhten Koordinationsbedarf sorgen (McGrath/Rotchford 1983:88). „Co-ordination goes hand in glove with acceleration“ (Starkey 1989:45).

, d.h. solche, für die die Zeit „schnell“ verging, wiesen eine signifikant höhere Arbeitszufriedenheit auf.

Schultz (1992, ähnlich Alvesson 1990) argumentiert, daß Zeit auch bei der Koordination durch Organisationskultur eine Rolle spielt, dort allerdings auf einer symbolischen Ebene: durch die rituelle Wiederholung von Formen wird ein substantieller Gehalt vorgekaukelt, der das Bedürfnis nach Sinnstiftung der Mitarbeiter erfüllen soll10

Eine wichtige Rolle spielt Zeit darüber hinaus im Entscheidungsprozeß (vgl. Jacoby/Szybillo/Kohn 1976, Zakay/Lomranz 1993, Bluedorn/Denhardt 1988:309f.). Einerseits beeinflussen die zeitlichen Dimensionen der Alternativen (z.B. Dauer und Zeitpunkt der Anwesenheit) und Zeitdruck die Alternativenwahrnehmung und -auswahl, andererseits wirken nicht-zeitliche Qualitäten der Entscheidung (z.B. Freiwilligkeit, Wunsch nach Komplexitätsreduktion, Wichtigkeit) auf die zeitlichen Dimensionen des Entscheidungsprozesses. Gerade für komplexe Entscheidungssituationen wird im Nachhinein anhand eines (angeblich) linearen Prozeßverlaufes (Suche → Entscheidung → Bewertung) die (angebliche) Rationalität des Verfahrens konstruiert (Whipp 1994, Bucciarelli 1988). Zyklisch wiederkehrende Entscheidungen werden anders behandelt als solche, die eine „Wende“ in der Unternehmung herbeiführen sollen - auch wenn es sich inhaltlich um dieselbe Sache handelt (vgl. Gherardi/Strati 1988).

. Ein Vorgang, der einmalig als altmodisch, befremdend oder belächelnswert dastünde, erhält durch seine ständige Wiederholung eine Bedeutung, die nicht in ihm selbst liegt, sondern hineininterpretiert wird, weil Mitarbeiter annehmen, daß etwas, was so oft gesagt oder getan wird, einen Sinn haben muß.

Allgemein ist beim Umgang mit Zeit in Organisationen eine starke Betonung der Linearität gegeben, wie ja überhaupt wesentliche organisationale Charakteristika in metaphorischen oder realen Linien beschreibbar sind (vgl. Burrell 1997:10): man denke an Leitungsspannen, vertikale und horizontale Kommunikation, Wertschöpfungsketten und Fließbänder. Als Zeitbegriffe

9 Die Unterschätzung kam dabei nicht durch eine interessante Tätigkeit, sondern durch physiologische Stimulierung mit Koffein zustande. 10 Zum Zusammenhang von Wiederholung und Realität vgl. vor allem Kapitel 6.1.5.1.

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

relevant sind hier vor allem die Karriere und die (Spanne der) Arbeitszeit. Ohne auf die in Kapitel 4.3.1 ausführlich beschriebenen Konnotationen erneut eingehen zu wollen, die sicher auch und besonders für den Bereich von (Profit-)Organisationen wichtig sind, sei an dieser Stelle nur noch einmal die Bedeutung der Koordination und Kontrolle durch eine sequenzierbare, meßbare und unterteilbare Zeit hervorgehoben.

Zusammenfassung Es kristallisiert sich auch hier heraus, daß ein enger Zusammenhang zwischen der individuellen Zeitauffassung und der sozialen Umwelt gegeben ist. Der lange Lernprozeß, an den der Zeiterwerb gekoppelt ist, mag als Indiz für die Komplexität gelten, die mit jenem uns so „natürlich“, „selbstverständlich gegebenen“ Begriff verbunden ist. Selbst in der Ontogenese lassen sich noch die Elemente separat ausmachen, die nacheinander auch von unserer Kultur entwickelt werden mußten, bevor sie bei unserem heutigen Zeitkonzept angelangte. Diese unbedingte Kopplung von Zeit und Lernen verschafft auch sozialen, sozialisierten Differenzen Eingang in die individuelle Zeitvorstellung; sie kann, je nach Geschlecht, Alter und Herkunft, stark unterschiedlich ausfallen. Auch der Instrumentcharakter der Zeit tritt in der Konstituierung von Identität und der Bewältigung von (Lebens-)Aufgaben stark hervor. Kein Lebensbereich, kein soziales Phänomen, das für das Individuum relevant ist, ist dabei von zeitlicher Durchdringung ausgenommen; im besonderen Maße gilt dies für die Arbeit.

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Psychologische und soziologische Aspekte der Zeit

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Kapitel 6

Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

Die Vielschichtigkeit der zeitlichen Beschreibung von Prozessen

For the social scientist, time adopts the somewhat discourteous practice of wearing different hats which are seldom raised to greet the unwary researcher with an unambiguous meaning.

T.Carlstein/D.Parkes/N.Thrift Die philosophischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Betrachtungen zum Thema hatten zum Zweck, den vermeintlich einfachen Begriff der Zeit in seinen zahlreichen Facetten zu zeigen und zu problematisieren. Um die Fäden nun wieder zu vereinen, werde ich im folgenden eine Systematik entwickeln, die die bisherigen Ergebnisse einzubetten versucht. Ausgehen möchte ich dabei von den Überlegungen zur Erzählung, die ich im Kapitel 4.3 angestellt habe. Wie bei der Erzählung von der westlichen Zeitauffassung möchte ich auch jetzt nicht fragen, welcher Zeitbegriff nun der richtige ist, sondern möchte die verschiedenen Zeitkonzepte als Ordnungsraster auffassen, die bestimmte Erzählungen (mit verschiedenen Inhalten, Stilen, vermittelten Werten u.a.) nahelegen. Die Auswahl des Ordnungsrasters kann in manchen Fällen bewußt und intentional erfolgen; in anderen Fällen bestimmen, wie wir gesehen haben, u.U. soziale Normen und Festlegungen, in die der Forscher eingebunden ist, welches Zeitkonzept allein als vernünftig gelten darf. Dennoch sollte sich der Wissenschaftler auch in diesem Fall darüber im klaren sein, welches Zeitkonzept ihm als „einzig mögliches“ nahegelegt wird. Für all die Fälle, in denen verschiedene Herangehensweisen erlaubt sind, ist es umso wichtiger zu überlegen, welche Blickrichtungen sich mit welchen Zeitkonzepten verbinden, welche Ergebnisse zu erwarten sind und wo die „blinden Flecken“, die jedes Ordnungsschema nun einmal aufweist, zu vermuten sind. M.a.W. geht es (wieder einmal) darum, sich der eigenen Prämissen bewußt zu werden. Hat man dies erst einmal erreicht, fällt der Blick auf andere, seien es Forscher oder Beforschte, natürlich leichter, und es mag sich ergeben, daß sich hinter demselben Wort „Zeit“ konträre Auffassungen verbergen. Ein pragmatischer Anfang wäre schon gemacht, wenn Publikationen künftig nicht mehr summa summarum über „Zeit“ sprächen, wenn sie nur „Abfolge“, „soziale Zeit“, „Wahrnehmung von Zeit“ o.a. meinen... Man hätte bis zu diesem Punkt wenig verstanden, glaubte man, daß die folgende Systematik vollständig ist. Sie setzt sich im wesentlichen aus den Eigenschaften zusammen, die in den letzten drei Kapiteln zur Sprache gekommen sind. Die Liste potentieller Eigenschaften und Konnotationen ist

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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vermutlich unendlich. So ist dieses Kapitel wohl eher als ein Anfang zu lesen und als Anregung für jeden, seinen eigenen Zeitbegriff zu hinterfragen.

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Abbildung 1: Systematik der zeitlichen Beschreibung von Prozessen

Um zu zeigen, wie die Entscheidung für bestimmte Orte in der Systematik aussehen kann und wie sie die Fokussierung und Ergebnisse der Betrachtung beeinflußt, sind der Systematik zur Illustration Beispiele aus der

Zeit sui generis

Zeit als Fluß

Zeitlosigkeit, Simultanität, kairos, Punktzeit

Umgang mit Zeit (normativ i.e.S.)

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Kapitel 6

sozialwissenschaftlichen Zeit-Literatur beigefügt. Diese Literatur ist überaus umfangreich, wenn auch vielerorts eine Vernachlässigung des Zeit-Problems aufgrund seiner interdisziplinären Natur, beklagt wird (vgl. Bluedorn/Denhardt 1988, Hassard 1990a, Aminzade 1992, Bergmann 1988, Luckmann 1991). Dieser Widerspruch kann mit Bergmann (1992:82) aufgelöst werden, wenn man beobachtet, daß die meisten dieser Untersuchungen wenig bis gar nicht auf verwandte Studien zurückgreifen und stattdessen das Rad immer wieder neu erfinden. Vielleicht ist auch unter diesem Aspekt eine Systematik angebracht.

Ausnahmeerscheinungen Einige Konzepte widersetzen sich bereits der naivsten Vorstellung von Zeit, nämlich der, daß sie vergeht. Zeitlosigkeit wird meist als Utopie, etwa in der Beschreibung des Paradieses, thematisiert, aber von einigen auch bereits im irdischen Leben erfahren. Dies geschieht vor allem in ekstatischen Zuständen (Fraser 1989, Franz 1981, Schmied 1985, Cohen 1981), hervorgerufen durch Sexualität, Religion, Drogen oder Situationen am Rande des psychischen oder physischen Zusammenbruchs. Neben allgemein bekannten Daten zu den erstgenannten, sind Beispiele für das letztgenannte u.a. dokumentiert für Insassen von Konzentrationslagern (Cottle/Klineberg 1974:22), lebenslänglich Inhaftierte (Cohen/Taylor 1990) oder alte Menschen in Pflegeheimen (Cottle/Klineberg 1974). Minder schwere Isolationssituationen, etwa Langzeitarbeitslosigkeit (Starkey 1989) oder längere Krankenhausaufenthalte (Calkins 1970), aber auch identitätsgefährdende Lebenskrisen (Alheit 1994), führen zumindest zu einem teilweisen Verlust gängiger Zeitvorstellungen. Hinzu kommt das weite Feld der Geisteskrankheiten oder physischen Hirschäden, die Zeitverlust erzeugen (Franz 1981, Payk 1989, Schmied 1985). Simultan erfahrene Geschehnisse, die eine Einordnung in den Zeitablauf unmöglich machen, finden sich ebenfalls in Träumen und archaischen Mythen, was manche Psychologen, vor allem der Jung-Schule, dazu bewegt, eine "primordiale", archetypische Zeit anzunehmen, die große Ähnlichkeit zur durée Bergsons aufweist (Franz 1981). Auch die Psychoanalyse in der Tradition von Freud nimmt für das Unbewußte atemporale Charakteristika an (vgl. Freud 1984:263ff.). Dies ist besonders insofern bedeutsam, als das Unbewußte jede Wahrnehmung begleitet und somit in jeder Gegenwart (als Wahrnehmung) ein nicht-zeitliches Element im Spiel ist (Malpas 1996). Eine weitere ungewöhnliche Variante der Zeitkonzeption sind punktuelle Beschreibungen. Hier kann zunächst an das kairos der griechischen Antike, an die "Gunst der Stunde", gedacht werden, die einen Zeitpunkt aus dem Fluß heraushebt und ihn metaphysisch auszeichnet (Miller 1993, Jaques 1990), aber auch an Überlegungen zur "Punktzeit" moderner Datenverarbeitung, in der sich Vorgänge unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle abspielen und deshalb nicht mehr als Dauer,

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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sondern nur noch als Punkt erkannt werden können (Gendolla 1989, Urry 1994)1

Festzuhalten bleibt für alle diese Konzepte, daß es sich um Phänomene handelt, die sich in marginalen (oder marginalisierten) Gruppen und Erfahrungsbereichen unserer Kultur abspielen. Deskription und Normativität vermischen sich, wie in vielen zeitrelevanten Beschreibungen, auch an dieser Stelle - was den postmodernen Wissenschaftler nicht verwundert.

.

Die ausführliche Behandlung normativer Zeitkonzepte i.e.S. wie Pünktlichkeit, Zeitmanagement und timing, die auf dem korrekten oder effizienten Umgang mit Zeit beruhen, möchte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht leisten; ich verweise hier auf die entsprechende Ratgeber-Literatur.

Ebenen Im Kapitel 3 kamen eine Reihe von Dichotomien zur Sprache, zwischen denen man sich bei der Konzeptualisierung von Zeit entscheiden muß. Will man Zeit behandeln als: - kontinuierlich oder diskret - objektiv oder subjektiv oder intersubjektiv - qualitativ oder quantitativ - absolut oder relativ - physikalisch real oder ein Konstrukt - empirisch oder abstrakt oder a priori gegeben - natürlich oder sozial - uniform oder nicht - Uhrzeit oder Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Dabei ist es aufgrund einer fokussierten Betrachtungsweise i.d.R. nicht notwendig, sich über alle Dichotomien Gedanken zu machen; auch legt die Entscheidung für bestimmte Pole die Entscheidung für andere Pole (z.B. natürlich und objektiv) zumindest nahe. Schließlich muß sie oftmals nicht kategorisch für einen Pol getroffen werden. Auch wenn eine solche Entscheidung legitim ist, empfiehlt es sich bei einer tiefergehenden Analyse doch, den Gegenpol als Supplement im Sinne Derridas „im Auge zu behalten“. Die Vielzahl der Begriffspaare legt es nahe, sie bestimmten philosophischen Ebenen zuzuordnen2

1 Kritisch ist hier sicher anzumerken, daß die Abwesenheit von sensorischer Wahrnehmung kein Problem für die gedankliche Konzipierung darstellt. Die Abfolge zweier Millisekunden ist genauso gut zu denken wie die Abfolge zweier Stunden. Die Autoren übersehen hier m.E. die (gedankliche) Ordnungsfunktion der Zeit, die eben nicht oder nur zum Teil auf der physikalischen Welt fußt.

, um so die Entscheidung transparenter zu machen. Auf

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Kapitel 6

der ontologischen Ebene angesiedelt sind all die Paare, die sich mit dem Wesen und der Beschaffenheit von Zeit befassen, also: kontinuierlich-diskret, absolut-relativ, physikalisch real-Konstrukt, natürlich-sozial, uniform-nicht uniform. Auf der erkenntnistheoretischen Ebene spielen sich Entscheidungen ab, die die Wahrnehmung von Zeit betreffen, also: objektiv-subjektiv-intersubjektiv, empirisch-abstrakt-a priori. Auf der methodologischen Ebene treten Fragen der Erfassung und Messung in den Vordergrund, also: qualitativ-quantitativ, Uhrzeit-VGZ. Im folgenden werden Beispiele für je ein Begriffspaar aus jeder Ebene aufgeführt. Es sei angemerkt, daß es mir rein um die Illustration geht und ich nicht in jedem Fall die Auffassungen der Autoren teile. Der weitaus größte Teil der Autoren beschäftigt sich mit dem Gegensatz natürliche vs. soziale Zeit. Soziale Zeit wird dabei definiert als die spezifische Zeit der menschlichen Gesellschaften (Nowotny 1992:421), die intersubjektiv geteilt wird und als Konstrukt durch soziale Interaktion entsteht (Nowotny 1975:326, Hayden 1987:1282ff.). Sie beschreibt soziale Phänomene, die sie unter Referenz auf andere soziale Phänomene (z.B Festtage) ausdrückt (Hassard 1990a:8, Sorokin/Merton 1990:58, Lewis/Weigart 1990:78). Dem Individuum3

An die Probleme der Meßbarkeit knüpft sich im wesentlichen auch die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Zeit, wobei auch hier die quantitative Zeit die Züge der oben beschriebenen natürlichen Zeit bezüglich Homogeneität, Kontinuität, Teilbarkeit, Uniformität, Objektivität und Linearität trägt. Qualitative Zeit dagegen wird als den Ereignissen innewohnend, mit Bedeutung verknüpft, komplex und nicht kontinuierlich aufgefaßt (Hassard 1989c, Sorokin/Merton 1990:56).

wird sie durch soziale Konditionierung vermittelt (Hassard 1991:105). Sie ist nicht homogen und kontinuierlich, sondern in unterschiedlichem Maße von Bedeutung durchdrungen (Payk 1989:70, Sorokin/Merton 1990:58). Damit knüpfen sich an sie auch Emotionen und Erwartungen (Jaques 1990:22). Ihre Momente sind nicht wiederholbar und mathematischen Operationen nur bedingt unterwerfbar (Payk 1989:70). Aufgrund ihrer Bindung an die unterschiedlichsten sozialen Vorgänge, wird sie auch häufig als Menge verschiedener Zeiten oder „polychrom“ definiert (Georgescu 1988:48). Im Gegensatz dazu weist die natürliche (auch: astronomische, physikalische, biologische, mathematische oder einfach Uhr-) Zeit einen monochromen, homogenen, kontinuierlichen und quantitativ meßbaren Verlauf auf. Sie wird entweder exogen, also der "Außenwelt" angehörig, konzipiert (Hassard 1991:107, Jaques 1990:22, Payk 1989:70, Sorokin/Merton 1990:56f., Lewis/Weigart 1990:79) oder als spezielle Form des gesellschaftlichen Konstruktes aus der sozialen abgeleitet (Hayden 1987:1282, Schmied 1985, Yamamoto 1975:237; kritisch zu beiden: Adam 1988 und 1992).

2 Die Zuordnung erfolgt nicht überschneidungsfrei. Auf der ontologischen Ebene angesiedelte Unterscheidungen können bspw. auch methodologische Konsequenzen nach sich ziehen. 3 Manche Autoren (Payk 1989, Lewis/Weigart 1990) erweitern die Dichotomie an dieser Stelle um die "Zeit des Individuums". Dies scheint mir, da ich die kategoriale Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft nur für bedingt tragfähig halte (in Anlehnung an Elias 1989 und 1990), nicht sinnvoll. Manche der dort genannten Charakteristika tauchen darüber hinaus in der subjektiven Zeitauffassung wieder auf.

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

7

Der Gegensatz subjektiv vs. objektiv wird aus der Frage nach dem inneren Zeitbewußtsein abgeleitet (Lundmark 1993:68). Die subjektive Zeit richtet dabei ihr Augenmerk auf Fragen der Bedeutung von zeitlichen Abläufen für das Individuum, auf Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, auf das Erleben von (ausgedehnten) Momenten und das Phänomen der "inneren Uhr" (Cohen 1991, Yamamoto 1975). Neben phänomenologische Betrachtungen treten hier auch Studien zur Psychophysik (McGrath/Rotchford 1983). Die objektive Zeit dagegen ist die Zeit der Gesellschaft bzw. Außenwelt, die unabhängig vom jeweiligen Beobachter existiert. Trotz der z.T. eingehenden Beschreibung dieser Dichotomie legen die meisten Autoren (Castoriadis 1991, Yamamoto 1975:234, Hernadi 1992, Lawrence 1975) Wert auf die Feststellung, daß eine scharfe Trennung nicht möglich bzw. für die Sozialwissenschaften nicht sinnvoll ist.

Dimensionen Beschreibungen von Zeit, egal auf welcher Ebene, besitzen einige gemeinsame Dimensionen, die der Erfassung zeitlicher Vorgänge dienen. Aus verschiedenen Ansätzen (Hall 1959:132ff., Aminzade 1992:459ff., Starkey 1989:40, Barley 1988:128f., Zerubavel 1978:89f.) schienen mir die folgenden geeignet:

• Der Zeitpunkt des Vorgangs bestimmt sich unter Referenz auf eine außerhalb von ihm liegende Zeitmarkierung.

• Die Dauer des Vorgangs beschreibt die zeitliche Strecke zwischen Beginn und Ende, evtl. abzüglich Unterbrechungen. Dabei kann es vorkommen, daß Beginn, Ende und Unterbrechungen nicht scharf umrissen, sondern nur pragmatisch formuliert werden können.

• Die Abfolge bestimmt die Einordnung des Vorgangs in eine Sequenz von Ereignissen, die früher bzw. später liegen. Diese Ordnung kann bereits Hinweise auf inhaltliche (bspw. kausale) Zusammenhänge liefern oder im Sinne einer path dependency zukünftige Ereignisse aufgrund vergangener ausschließen.

• Die Häufigkeit von Ereignissen in einem bestimmten Zeitabschnitt erlaubt u.a. Aussagen zu aktiven/relevanten Phasen im Gegensatz zu Ruhephasen.

• Die Wiederholung von Ereignissen ist grundlegend für die zeitliche Markierung durch Rhythmen. Umgekehrt ist eine geringe Wiederholungsrate mit einer hohen Varietät der Ereignisse gekoppelt.

All diese Dimensionen sind nicht nur deskriptiver Natur, sondern werden auch normativ im Sinne eines „richtigen Zeitpunkts“, einer "angemessenen Dauer" etc. gebraucht.

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Kapitel 6

Funktionen Die Intention des Erzählers ist nicht unwesentlich an die Funktion von Zeit im jeweiligen Kontext gebunden. Ich möchte im folgenden eine pragmatische, politische und ordnungsstiftende Funktion, allerdings nur analytisch, unterscheiden.

Die pragmatische Funktion umfaßt den Umgang mit Zeit zur Erledigung von Aufgaben. Im Vordergrund steht dabei die (bewußte) Koordination durch Zeit, die bereits im Kapitel 5.4 zur Sprache gebracht wurde, aber auch die soziale (unbewußte) Abstimmung mithilfe zyklisch wiederkehrender Ereignisse, z.B. Rhythmen und Routinen (u.a. Sorokin/Merton 1990, Witte 1988, Clark 1978, Hassard 1991). Zu den Auswirkungen solcher Koordination gehören sowohl interpersonale Konsequenzen, die bereits wesentlich in die politische Funktion hineinspielen, als auch intrapersonale Konsequenzen wie z.B. Streß und Rollenkonflikte (u.a. Starkey 1989, McGrath/Rotchford 1983).Thematisiert werden kann hier ebenfalls der Einsatz von Zeit-Artefakten und ihre Wirkung auf die Strukturierung der Aufgabe bzw. des Aufgabenkontextes (Seifert 1988, Nowotny 1989).

Die politische Funktion ist zunächst wesentlich von dem Gedanken der Zeit als Machtressource geprägt. Dies ist sie zum einen als Geld-Äquivalent („Zeit ist Geld“), zum anderen als Disziplinierungsinstrument, mit dem unmittelbar Macht über andere ausgeübt werden kann. Höherrangige können die Zeitpläne von Niederrangigen bestimmen, können Termine setzen oder durch geschickte Wahl des Zeitpunktes Agenden diktieren (Nowotny 1975 und 1978, Zerubavel 1978). Zeitliche Zugänglichkeit, die i.d.R. mit zunehmendem Rang abnimmt, ist umgekehrt ein Prestige- und Machtfaktor (Shaw 1994, Zerubavel 1990). Darüber hinaus spielen in den politischen Bereich natürlich alle normativen Zeitkonzepte hinein, wie z.B. die Entscheidung, ob etwas veraltet ist, zu früh oder zu langsam kommt, zum falschen Zeitpunkt auftaucht oder noch unterentwickelt ist. Solche Normen sind wiederum bedeutsam für das Zustandekommen von Gruppen-Solidarität (Schriber/Gutek 1987, Zerubavel 1982, Boulin 1993, Coser/Coser 1990). Die Zukunft hat aufgrund ihrer Verbindung mit Erwartungen und Befürchtungen ein hohes normatives Potential (Staats et al. 1993, Trommsdorff/Lamm 1975), wie auch die Vergangenheit aufgrund ihres legitimatorischen Charakters (Koselleck 1994, Assmann 1992, Lübbe 1989).

Die ordnungsstiftende Funktion schließlich ist zunächst festgelegt in unserem „Denkzwang“ der temporalen Abfolge, der in höher integrierten Konzepten wie „Sinn“ und „Entwicklung“ nicht fehlen darf. Diese Abfolge in Verbindung mit der Markierung von Ereignissen durch Zeit führt auf der gesellschaftlichen Ebene zum Begriff der Geschichte, auf der persönlichen zur Biographie und zur Identität (Alheit 1994, Arcaya 1992, Calkins 1970). Die enge Verbindung von Zeit und Sprache bzw. Narration ist ein Indiz dafür, wie eng Ordnung durch Zeit mit Ordnung durch andere grundlegende Konzepte, z.B. Kausalität oder Finalität, verknüpft ist (Schmied 1985,

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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Ricoeur 1980, vgl. auch Kapitel 6.1.5.2). Auch die meist transzendentalen „großen“ Fragen nach Ewigkeit, Wahrheit oder Sinn des Lebens sind mit der Zeit verbunden (Haber 1975, Toda 1975, Jaques 1990).

Sonstige Kontextfaktoren

Zyklische und lineare Zeit, Spiralzeit Wie bereits in Kapitel 4 dargestellt, hängt die Konzipierung von Zeit auch wesentlich davon ab, ob man ein zyklisches oder lineares Zeitmodell zugrundelegt. Nachdem ich dort auf die Konsequenzen der linearen Konzeption bereits eingegangen bin, möchte ich nun kurz Konnotationen der zyklischen darstellen.

Der dominierende Eindruck der Wiederkehr im zyklischen Modell läßt mehrere Interpretationen zu. Zum ersten ergibt sich ein, gleichsam kybernetischer, Eindruck des Ausgleichs. Das mittelalterliche Rad der Fortuna, in dem was heute hoch steht, einmal fallen muß und umgekehrt das Tieferliegende nach oben befördert wird, ist dafür ebenso ein Bild wie die natürlichen Rhythmen des Wachsens und Vergehens (Inayatullah 1993, Schmied 1989, Inhetveen 1994). In diesem Zusammenhang wird ein Leben nach einem zyklischen Zeitmuster oft auch als „natürlicher“ empfunden, was nicht selten zu bukolischen Idyllen und Romantisierungen im Stile des „glücklichen Wilden“ führt. In jedem Fall sperren sich diese Szenarien gegen die Möglichkeit eines ungebremsten Fortschrittes und eines Gewinnes, der nicht mit Verlusten einhergeht. Es mag bezeichnend sein, daß zyklische Modelle in unserem Jahrhundert mit den Werken von Spengler und Toynbee nach dem 1. Weltkrieg wieder in Mode kamen (Schmied 1985); analog dazu auch die Volksmeinung von der „Notwendigkeit“ von Kriegen, nachdem eine Satisfizierung der Bedürfnisse eingetreten ist. Ebenfalls eng verbunden mit der Wiederkehr ist der Begriff der Wiederholung, einmal im Sinne der Routine, aber auch im Sinne der Überwindung (irdischer) Historizität (vgl. Zerubavel 1981:112ff., Inayatullah 1993:251). Beide erzeugen ein Gefühl der Zeitlosigkeit, eines Prozesses ohne Anfang und Ende. Während dies in der Religion als Ewigkeit (im Sinne perpetuierender Präsenz) interpretiert wird, vermitteln die Routinen des Alltags einerseits ein Gefühl der Unentrinnbarkeit, aber natürlich auch der Sicherheit. In beiden Fällen ist ein erhöhtes Gefühl von Wirklichkeit festzustellen, das sich durch die Wiederholung der Handlungen und Abläufe einstellt. Wie auch in der wissenschaftlichen Empirie besitzen hier wiederholbare Ereignisse ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit (Schmied 1985). Liegt die Betonung auf Wiederkehr, so scheint es auch angemessen, der Tradition eine große Bedeutung einzuräumen. Wie bereits im Kapitel 4.2.1 dargestellt, findet sich in zyklisch orientierten Gesellschaften häufiger eine

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Kapitel 6

Höherbewertung der Kontinuität gegenüber dem Neuen und der Gedanke, daß das Alte brauchbar ist oder wieder werden wird. Die westliche Zeitauffassung räumt zyklische Muster vor allem in biologischen Rhythmen (Wachen-Schlafen, Menstruation), aber auch in sozial bestimmten Abläufen (Arbeitstage-Wochenende, Schichten) ein. Gerade die Aufgabe der Koordinierung sozialen Geschehens scheinen zyklische Muster besser (weil mit weniger Aufwand) zu lösen als lineare (Inayatullah 1993, Schmied 1989). Interessanterweise wird die zyklisch geordnete Zeit gerade in neueren Publikationen als „Freiraum“ gegenüber der linearen dargestellt, etwa wenn Hassard (1989c) selbstorganisierende Einheiten einer tayloristisch-fordistischen Produktion oder Alheit (1994) die Möglichkeit der individuellen Ausfüllung alltäglicher Routinen dem sozial normierten linearen Lebensplan (Schule → Lehre → Beruf → Rente) gegenüberstellt. Diese enge Verknüpfung von Linearität und Norm bzw. Berechenbarkeit scheint auch der Grund für die Forderung nach einer verstärkt interpretativen, mindestens aber qualitativen Erfassung der zyklischen Zeitmuster (Hassard 1989c, Inayatullah 1993). Spätestens anhand dieser Einordnung der sozialen Prozesse sollte m.E., besonders unter Berücksichtigung der in Kapitel 4.1.10 angestellten Überlegungen, klar werden, daß zyklische und lineare Zeit in weitaus stärkerem Maße Hand in Hand gehen als die in Kapitel 6.1.2 dargestellten Dichotomien4

Wenn Schmied (1989:163) davon spricht, daß die zyklische Zeitauffassung eine Komplexitätsreduktion darstellt, so gilt gleiches für eine einseitig lineare Betrachtung. Um beiden Aspekten gerecht zu werden, wird von manchen Autoren (Filipcova/Filipec 1986, Burrell 1992, Inayatullah 1993) eine „Spiralzeit“ vorgeschlagen, die zyklische und lineare Zeit vereinigt. Ihr Vorteil liegt vor allem in einer komplexeren Erfassung von Wandlungsvorgängen, die nicht als „völlig neu“ (linear) oder „im Prinzip dasselbe wie früher“ (zyklisch) erkannt werden, sondern die Konzeption eines allmählichen Fortschreitens mit zeitweisen, u.U auch ausgedehnten, Rückschritten ermöglicht. Daß dabei die Richtung (Fortschritt/Rückschritt) nur aus der Distanz erkennbar ist, nicht aber für denjenigen, der sich in der Spirale befindet, fügt ein m.E. angemessenes Moment der Unentscheidbarkeit (Burrell 1992:179ff.) hinzu.

. So hängt es z.B. wesentlich vom Aggregrationsniveau ab, ob ein Prozeß ein lineares oder zyklisches Muster aufweist (Zerubavel 1978:90): individuell als einzigartig erscheinende Ereignisse (z.B. Geburt oder Tod) tragen für bestimmte Berufsgruppen (Hebammen, Totengräber) vornehmlich wiederkehrende Züge; auch kann ein linear ablaufendes Ritual (z.B. ein Ostergottesdienst) jährlich wiederkehren. Die Uhrzeit, Paradebeispiel der linearen Auffassung, wird nichtsdestotrotz durch den kreisförmigen Umlauf eines Zeigers oder die gleichförmigen Schwingungen eines Quarzes „gemessen“, wie überhaupt eine strenge Linearität ohne Wiederkehr von gleichen oder ähnlichen Markierungen keinerlei Anhaltspunkte für eine Zeitmessung geben könnte.

4 weshalb sie auch an anderer Stelle eingeordnet sind

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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Kausalität Auch das Verständnis von Kausalität hängt eng mit der Konzeption der Zeit zusammen. So betrachtet Abbott (Abbott 1990) eine kausale vs. eine narrative Beschreibung von Karriereverläufen, in der unterschiedliche Annahmen zu grundlegenden kausalen Prozessen getroffen werden5

(vgl. Abbildung 11). Die kausale Betrachtungsweise betrachtet Karrieren als Sequenzen von Variablenausprägungen und setzt sich das Ziel, die jeweilige Variablenausprägung unter Rückführung auf "tieferliegende" Ursachen zu erklären. Diese Ursachen sind, einmal postuliert, für alle Karriereverläufe in gleichem Maße und zeitunabhängig wirksam und relevant (wenn nicht, ist dies separat erklärungsbedürftig); das Voranschreiten der Kausalprozesse ist gleichförmig. Dagegen betrachtet der narrative Ansatz jede Karriere als eine eigenständige Einheit, die vor allem intentional geprägt ist. Sie sucht nach typischen Mustern in Karriereverläufen, ohne diese a priori unter dieselben Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu subsumieren. Das Tempo der Kausalprozesse kann variieren, eine Ursache kann hier zu manchen Zeiten wirksam werden, zu anderen nicht, ohne daß dies eine Abweichung vom Erklärungsschema bedeutete. Soziale Prozesse sind deshalb wesentlich diskontinuierlich.

Kausale Beschreibung Narrative Beschreibung Welt besteht aus... gegebenen Fällen mit

variierenden Eigenschaften Subjekten, die an Ereignissen teilnehmen

Ein Ereignis ist... die Realisierung eines Bernoulli-Prozesses

eine komplexe Struktur

Eine Karriere ist... eine Sequenz von Variablenausprägungen

ein einheitliches Geschehen

Das Ordnungsmuster ist...

in allen Fällen gleich (Ordnung der Variablen)

Ziel der Analyse

Das Tempo der Kausalprozesse ist...

gleichförmig. Variationen müssen erklärt werden

variierend

Der Wissenschaftler sucht nach...

Ursachen typischen Mustern

Das methodische Vorgehen besteht in...

der Annahme von Ursachen der direkten Analyse der Karrieren

Die Basis-Analyseeinheit ist...

Wirkungen und Ursachen Ereignisse und Interaktionen

5 Diese Beschreibungsarten sind nicht kategorial verschieden, sondern können, allerdings unter großem Aufwand, ineinander übersetzt werden.

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Kapitel 6

Narrative Strukturen... dienen der Darstellung von Plausibilitäten

sind fundamental für die Analyse

Abbildung 2: Kausale und narrative Beschreibung von Karriereverläufen (nach Abbott 1990)

Eine ähnliche Unterscheidung betrifft die Konzeption von Kausalzusammenhängen unter den Stichwörtern small events vs. big events (Eriksson 1990). Eriksson postuliert hier eine Veränderung in der Erklärung von historischen Prozessen weg von den big und hin zu den small events. Big events gehen dabei von großen, wichtigen, einzigartigen Personen oder Handlungen aus, die den Wandel innerhalb des Systems induzieren, ohne selbst Teil des Systems zu sein bzw. durch das System erklärt werden zu können. Man denke hierbei bspw. an die Athenische Gesetzesreform durch Solon oder die Schaffung des angelsächsischen Rechts unter König Alfred. Erhält die Historie durch solche "Schöpfer" eine neue Wendung, die endogen nicht erklärt wird, prägt sich ein diskontinuierlicher Charakter aus; es gibt Zeiten, in denen etwas passiert, und diese unterscheiden sich qualitativ von anderen, die für den Wandel irrelevant sind. Mit zunehmendem Interesse an Entwicklungstheorien (etwa ab 1750) verschiebt sich der Schwerpunkt der Erklärung zugunsten der small events: kleine, unpersönliche, endogene und reproduzierbare Faktoren, die allmählich und kontinuierlich den Wandel herbeiführen. Wichtig ist auch hier, daß diese Faktoren nun immer wirken, daß es keine irrelevanten Zeiten mehr gibt. Ähnlich wie die big events ist auch Paines (1992) simultaneity, in der ablaufende Geschehnisse eng in Vergangenheit und Zukunft eingebettet und oft an eine weitere, nicht-pragmatische Bedeutungsebene gekoppelt sind, narrativ geprägt. Zu denken ist etwa an religiöse vitae, die das Leben eines Heiligen mit dem göttlichen Heilsplan und der Gegenwart der Gläubigen in Verbindung bringen. In Gegensatz dazu stellt Paine die weitgehende Auflösung kausaler Zusammenhänge in der (post-)modernen Medienwelt wird durch die gleichzeitige Präsentation unterschiedlichster Bilder und Nachrichten erreicht. Paine spricht von der meanwhileness klassischer Nachrichtensendungen, die Geschehnisse als gleichzeitig ablaufend, jedoch ohne inneren Zusammenhang porträtieren ("...Flutkatastrophe in China. Währenddessen wurde in Paris die neue Wintermode..."). Diese Entkopplung von Bedeutungen, das gleichzeitige Ablaufen verschiedenster Handlungsstränge im Leben des Individuums wird oft sogar zu den Charakteristika moderner Lebensweise gezählt. Der Zusammenhang geht endgültig verloren in der video time (Urry 1994), wo im berüchtigten zapping Bilder so schnell wechseln, daß ihnen nicht einmal mehr innerer Sinn, geschweige denn Zusammenhang, zugesprochen werden kann. Diese vollständige Fragmentierung hebt auch die Zeit als Ordnungsmuster auf, da weder Erinnerung noch Erwartung eine Rolle spielen.

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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Zusammenfassend lassen sich die Abstufungen auf einem Keil darstellen, auf dem sowohl Kausalität (oben) als auch lineare zeitliche Strukturierung (unten) ihre Wichtigkeit einbüßen:

kausal narrativ small events big events simultaneity meanwhileness video time

kontinuierlich diskontinuierlich punktuell

Abbildung 3: Zusammenhang von Zeit und Kausalität

Referenzeinheiten Wenn Zeit ein Ordnungsmuster ist, das über die Abläufe der Umwelt gelegt wird, so ist es nicht verwunderlich, daß Referenzpunkte in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Zeitkonzepte hervorrufen. Die Zeit der Astronomen unterscheidet sich von der der Geologen, Biologen und Soziologen nicht nur durch die Dimension der Maßeinheit, sondern birgt auch andere Vorstellungen zu Wandel und Ordnung, zu Normalität, andere Metaphern, andere Erwartungen (vgl. u.a. Gurvitch 1964:25ff., Starkey 1989:38, Hernadi 1992). Analog zur physikalisch-biologischen Erdentwicklung nimmt etwa Fraser (Fraser 1992) eine Evolution der Zeitlichkeit an, bei der die jeweils tieferliegende Stufe Grundlage, aber auch Rahmen des Möglichen, für die nächste bildet.

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Kapitel 6

Form der Zeitlichkeit Referenzeinheit Eigenschaften nootemporality Mensch volle Vergangenheit und

Zukunft, mentale Gegenwart

biotemporality lebende Organismen gerichtetes Kontinuum, begrenzte Vergangenheit und Zukunft, organische Gegenwart

eotemporality Weltall (Makrophysik) Kontinuum, ohne Richtung, ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft6

prototemporality Elementarteilchen Wahrscheinlichkeiten in Zeit Evolution atemporal elektromagnetische

Strahlung chaotisch

Abbildung 4: Formen der Zeitlichkeit (nach Fraser 1992)

Auf der soziologischen Ebene lassen sich Unterscheidungen entlang der Linie Individuum-Gruppe-Organisation-Gesellschaft treffen (Lewis/Weigart 1990). Die Eigenzeit (self-time) des Individuums ist inhomogen, sie vergeht schnell oder langsam, verkürzt oder verlängert sich in der Erinnerung und kann schließlich, etwa in Augenblicken großer Konzentration, stillstehen. Sie ist deshalb für jedes Individuum eine andere. Diese Eigenzeit ist eingebettet in die Interaktionszeit (interaction-time), die der intersubjektiven Realität angehört und nur noch bedingt unter der Kontrolle des Einzelnen steht. Sie ist entlang der Interaktion ausgerichtet und beinhaltet bereits Normen, die sich aus den Erwartungen des Gegenüber ergeben. Beispiel ist etwa die Menge an Zeit, die man einem guten Freund widmet. Auch diese Zeit ist wiederum eingebettet in die Sozialzeit (social-time), die bereits ein sehr rigides Regiment bezüglich passender/unpassender Zeitpunkte und -dauern führt. Zu denken ist hier an organisatorische Vorgaben wie Termine oder Sollzeiten (institutional time, linear), aber auch an kulturelle Festlegungen wie Tage und Wochen, Nationalfeiertage oder Freizeitperioden, die zyklischer Natur sind (cyclical time). Beide Arten der Sozialzeit bilden die höchste Stufe der Hierarchie, nach der die verschiedenen Zeiten innerhalb der Gesellschaft synchronisiert werden. Der Synchronisationsbedarf nimmt mit steigender Interdependenz der Akteure zu. Doch auch innerhalb einer organisatorischen Einheit lassen sich verschiedene Zeiten ausmachen, die unterschiedliche Aspekte ansprechen (Gherardi/Strati 1988): Neben der spezifischen kollektiven Historie der Arbeitsgruppe schafft die tägliche Routine gleichzeitig auch ein letztlich unhistorisches Verständnis der Arbeit, die keinen Anfang und kein Ende hat. Dazu tritt die evolutorische Sicht, nach der die Arbeitsgruppe (wie die Organisation) zwar Veränderungen durchlaufen, aber im Prinzip nicht 6 Da Materie kein Gedächtnis hat, so die Argumentation, hat sie auch keine Vergangenheit.

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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"sterben" kann. Sie hat somit einen Beginn, aber kein Ende. Organisationsmitglieder beziehen sich in verschiedenen Situationen unterschiedlich stark auf die jeweiligen Aspekte, halten jedoch alle für zukünftige Herausforderungen präsent.

Codes Eng im Zusammenhang mit der Vielfalt der zeitlichen Phänomene steht für die Systematik die Frage des Codes. Clark (1978:402f. und 1990:144ff.) beschreibt den Unterschied zwischen homogenen und heterogenen Zeitcodes wie folgt:

Homogene Codes gehen von einer nicht kontingenten, unterteilbaren, atomistischen Zeit aus, deren Elemente eine stabile Länge aufweisen und aggregiert werden können. Sie besitzen reguläre Anzeiger, die durch weit verbreitete Meßgeräte gemessen werden können. Die Zukunft wird der Vergangenheit ähnlich konzipiert; Brüche treten als Überraschungen auf und sind deshalb nicht oder schwer handhabbar.

Heterogene Codes nehmen Ereignisse als kleinste Einheiten an, deren Entwicklung kontingent ist. Damit treten Anzeiger nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf, auch sind die Intervalle zwischen ihnen instabil und unterschiedlich lang. Die Anzeiger besitzen als Ereignisse eine über diese Funktion hinausgehende Bedeutung, die nur lokal begrenzt interpretiert werden kann. Beispiele hierfür sind etwa Krankheitsverläufe oder Entwicklungen auf einem Absatzmarkt. Diese einzelnen Ereigniszeiten interagieren nun mit der Uhrzeit, aber auch mit anderen Ereigniszeiten, so daß sich ein Netz von Referenzpunkten ergibt. Ich möchte nicht weiter auf die augenfälligen Ähnlichkeiten zu den oben aufgeführten Dichotomien eingehen, sondern die Begriffe hinsichtlich der hier vorgestellten Möglichkeiten zur Beschreibung zeitlicher Prozesse erweitern. Das Vorgehen nach dem homogenen Code verlangt die Unterordnung aller Beschreibungen unter eine (in diesem Falle die der Uhrzeit). Alle in der Zeit ablaufenden Prozesse werden durch sie beschrieben. Beim heterogenen Code besitzt das Netzwerk der Beschreibungen kein Zentrum, das alle anderen lenkt, sondern kurzlebige, interessenbestimmte Foci. Alle zeitlichen Beschreibungen sind prinzipiell gleichwertig und vor allem nicht ausschließend zu denken. Damit eröffnet sich - ganz im postmodernen Sinne - die Möglichkeit, Wandlungsprozesse nicht mehr linear, als eine einheitliche Geschichte mit klar definierbaren Früher-Später-Strukturen zu beschreiben, sondern zwischen zeitlichen Bezugsrahmen zu wechseln, um u.a. auf fragmentierte Wahrnehmungen, Simultaneität und akausale Verbindungen einzugehen. Kombiniert man dies mit der Figur der Spiralzeit (Burrell 1992:179ff.), bleibt dennoch genügend Geometrie, um im Geflecht der Beschreibungen nicht vollständig den wissenschaftlichen Faden zu verlieren.

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Kapitel 6

Zeit und Postmoderne Wie bereits im Kapitel 1.1 angedeutet, verfolgt diese Arbeit in punkto Postmoderne zwei Ziele: erstens die postmoderne Wissenschaftstheorie auf ein bestimmtes Themengebiet anzuwenden und zweitens postmoderne Inhalte zu diskutieren. Der Teil B dieser Arbeit war wesentlich der ersten Aufgabe gewidmet, und so scheint es mir am Ende des Teiles angebracht, seine Ergebnisse noch einmal in Bezug auf die in Kapitel 2.8.2 entwickelten Leitideen zu resümieren.

1. Prinzip der Vielheit. Grundintention des gesamten Teiles war es aufzuzeigen, daß Zeit ein überaus vielschichtiges, heterogenes Konzept ist und daß der Versuch einer Definition, sollte sie umfassend sein, fast zwangsläufig in eine Problematisierung mündet. Sowohl die Philosophen des dritten, die Epochen und Kulturen des vierten als auch die sozialen Gruppierungen und Lebensbereiche des fünften Kapitels sollten deutlich machen, daß die Vielfalt von expliziten und impliziten Zeitdefinitionen unendlich ist. Bei der Verwendung des Begriffes Zeit als unproblematisches “wir-sind-uns-einig-was-das-ist”-Konzept ist also Vorsicht geboten. Umgekehrt ist wohl zu sagen, daß, will man der Komplexität von Zeit annähernd Rechnung tragen, die pluralistische postmoderne Haltung insofern von Nutzen ist, als sie keine Konsistenzforderung beim Wechsel von einem Sprachspiel zum anderen aufstellt. Das heißt, es ist möglich, mit all diesen Definitionen umzugehen, ohne sie auf einen gemeinsamen Ursprung, einen gemeinsamen Grund zu hinterfragen. Die Rede vom Oberflächen-Netz, in dem sich die verschiedenen Stränge, d.h. Konzepte, kreuzen, ist hier, denke ich sehr hilfreich. Jeder Mensch steht, bildlich gesprochen, auf einer Kreuzung, auf der verschiedene Stränge zusammenlaufen und wechselt je nach Anforderung meist unbewußt vom einen zum anderen. Leben in der westlichen Kultur ist somit zu verstehen als ein Leben in einem Konglomerat verschiedenster Zeitkonzepte, die je nach Bedarf aktualisiert werden. Wir werden auf die Metapher des Wechselns von einem Strang auf den anderen im Zusammenhang mit Wandel im Kapitel 12 noch einmal zurückkommen.

2. Betonung der Sprache. Neben dem oben ausgeführten Gedanken der verschiedenen Zeit-Sprachspiele hoffe ich, hier gezeigt zu haben, wie stark einerseits das Verständnis der Zeit von sprachlichen Gegebenheiten abhängt. Dabei war es wichtig – und folgenreich für den nächsten Teil der Arbeit – zu sehen, daß Sprache der Betrachtung von Zeit und Werden Grenzen setzt, über die sich eine wissenschaftliche Bearbeitung nicht hinwegsetzen kann. Eine weitere, überaus fruchtbringende Perspektive war die Konzeption von Zeit als Erzählung und die daraus gewonnenen Einsichten der Kapitel 4.3.1 und 4.3.2. Auch

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

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Überlegungen zur Rolle von Schriftlichkeit hoffe ich, wenn auch nur andeutungsweise, eingebracht zu haben. Andererseits wird Sprache (und Denken) durch Zeit geprägt, wie die Ausführungen zu grammatischen Tempora und zur Erzählung im Kapitel 4, aber auch die psychologischen und soziologischen Erkenntnisse des Kapitels 5 verdeutlichen sollten. Hierher gehören auch Überlegungen zur “Neutralität” von Zeit, die ich im folgenden Punkt 4 näher erläutern will.

3. Organisieren statt Organisation. “...the understanding of organization is inseparable from the organizing of understanding. [...] we may infer that we are also organized as we organize.” (Jeffcutt 1993:43). Wendet man diese Überlegung auf die Zeit-Thematik an, so ergeben sich viele interessante Einsichten. Ich habe versucht zu zeigen, in welchem Ausmaß und in welcher Weise Zeit in Form von Erzählung (Kapitel 4.3), Wahrnehmung (Kapitel 5.1), Strukturierung (Kapitel 5.3) und als Ebene, Dimension etc. (Kapitel 6.1) unser Verständnis organisiert und wie auf diese Weise “Denkstrukturen” gebildet werden. Kapitel 4 war mit seinen historischen und kulturvergleichenden Argumenten darauf angelegt zu dokumentieren, wie kontingent dieses Verständnis ist. Es konnte auch gezeigt werden, wie Zeit (als ein Konzept unter vielen anderen) reifiziert wurde. Von der Organisation des Verständnisses war es dann relativ leicht, v.a. in den Kapiteln 5.4 und 6.1.4 auf das Verständnis der Organisation und auf die Bedeutung von Zeit für die Arbeit in Organisationen überzuleiten.

4. Normativität der Deskription. Zeit, das sollte klar geworden sein, ist kein natürliches, macht- oder wertfreies Konzept. Die historische Betrachtung (Kapitel 4.1) hat gezeigt, daß Macht und Normen in der Entstehung des westlichen Zeitbegriffes eine große Rolle gespielt haben, die ethnologische (Kapitel 4.2), daß andere Kulturen mit anderen Normen zu anderen Zeitvorstellungen kommen. Welch starken normativen Unterton das lineare Zeitkonzept in unserer Kultur hat, habe ich versucht im Kapitel 4.3 zu erläutern. Zeit “beeinflußt” Wahrnehmungen (Kapitel 5.1) und hat Folgen z.B. für die Identität eines Individuums (Kapitel 5.3). Welche normativen Prämissen und Konsequenzen schließlich die wissenschaftliche “reine” Deskription mit sich bringt, habe ich in den Kapiteln 4.3.1 und 6.1 in aller Ausführlichkeit beschrieben.

5. Politisierung der Wissenschaft. Aus dem oben Gesagten folgt direkt, daß eben auch wissenschaftliche Zeitbegriffe, vor allem der der Linearzeit und der der Ressource, neben der politischen Entstehungsgeschichte (Kapitel 4.1) auch in der Gegenwart starke politische Hintergründe haben. Diese treten u.a. im kulturvergleichenden Management z.T. recht deutlich zutage (vgl. Kapitel 4.2.3). Aber auch sonst kann stets nach der Intention der Erzählung “Zeit” (Kapitel 4.3) – und, wie wir später sehen werden, “Wandel” – gefragt werden.

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Kapitel 6

Ich hoffe aufgezeigt zu haben, daß eine postmoderne Analyse selbst bei einem so “alten” Thema wie Zeit durchaus neue Perspektiven und Erkenntnisse ergeben und der Blick auf andere, z. T. ungewohnte Fragestellungen gerichtet werden kann. Im folgenden Teil C gilt es nun, diese Perspektiven und Erkenntnisse auch für die Betrachtung von Wandel und Transformation fruchtbar zu machen. Die in diesem Teil unternommene “Dekonstruktion” des Begriffes Zeit hat, wie ich hoffe, auch den Blick für die Zeitkonzeptionen der in Kapitel 1.2.3 diskutierten Organisationstheorien geschärft. Faßt man sie zusammen, so erhält man folgendes Bild:

• Weick: Bei Weick dominiert die Metapher des Erlebnisstromes, aus dem durch Selektion Wahrnehmungen gewonnen werden. Wenn auch immerhin im Gegensatz zur Uhr-/Kalenderzeit der subjektiven Seite zugeneigt, ergibt sich hier nichtsdestotrotz eine lineare Art der Zeitbetrachtung.

• Systemtheorie/Selbstorganisation: Obwohl die Systemrelativität der Zeit im systemtheoretischen Grundkonzept eine Rolle spielt, habe ich keine Beispiele für unterschiedliche Systemzeiten, die nicht Uhr-/Kalenderzeiten wären, bei den Autoren gefunden. Neben der linearen Betrachtung bringt Luhmann (1988) noch den Aspekt der Zeitknappheit, also die Ressourcen-Betrachtungsweise ein.

• Labour Process: Die Uhr-/Kalenderzeit dominiert. Daneben werden unter dem Aspekt des Mehrwerts aus der Arbeitszeit machtrelevante Fragen angesprochen.

• Politikansätze: Zeitkonzepte jenseits der Uhr-/Kalenderzeit finden sich bei keinem der betrachteten Autoren, jedoch scheint mir zumindest die Annahme verschiedener sozialer Zeiten, z.B. für verschiedene Interessengruppen ohne Probleme einfügbar.

• Institutionalistische Ansätze: Alleinige Betrachtung von Uhr-/Kalenderzeit.

• garbage can: Hier spielt die Uhr-/Kalenderzeit eine eher untergeordnete Rolle gegenüber Fragen des timing und der Koinzidenz sowie des Zeitbudgets ( -> Zeit als Ressource). Unter dem normativen Aspekt des timing lassen sich zudem Machtfragen diskutieren.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß – wie kaum anders zu erwarten – die lineare Zeit, speziell in Form der Uhr-/Kalenderzeit, die herausragende Rolle bzgl. der Erklärung von Wandel in der Organisationstheorie spielt7

7 Aus dieser Behauptung ist keineswegs zu schließen, daß die Betrachtung von Zeit (egal in welcher Form) eine herausragende Rolle in diesen Theorien spielte. Betrachtet man die Übersicht in Kapitel 1.2.3, wird im Gegenteil rasch deutlich, daß Überlegungen zu Zeit nur einen sehr geringen Teil der Theorien einnehmen.

. Ebenfalls naheliegend ist in diesem Zusammenhang das Ressourcen-Konzept der Zeit. Auch wenn erfreulicherweise in manchen Ansätzen Macht thematisiert wird, bleibt doch festzustellen, daß in allen Fällen, d.h. auch dort, wo Zeit einmal nicht linear betrachtet wird, die Theorien von einem homogenen Code ausgehen, was bedeutet, daß sie Zeit nur unter einem

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Fazit: Zeit in postmoderner Betrachtungsweise

19

Aspekt betrachten und, auf dieser Betrachtung aufbauend, Wandel erklären. Dies verleiht ihrem Wandelkonzept u.a. eine sehr statische und lineare Natur. Welche Konsequenzen dies hat und welche Vorteile hier eine postmoderne Analyse aufweisen kann, soll im folgenden Teil C, speziell Kapitel 7.2 und 12, diskutiert werden.

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Kapitel 6

20

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Zeit, Wandel und Transformation

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Kapitel 7

Zeit, Wandel und Transformation Nachdem ich in den vorangegangenen Kapiteln den Begriff der Zeit ausführlich analysiert habe, möchte ich mich nun dem Zusammenhang zwischen Zeit, Wandel und Transformation widmen. Dabei möchte ich auch stärker als im Teil B, der sich wesentlichen mit der “formalen” Möglichkeit einer postmodernen Analyse beschäftigte, inhaltliche Positionen der Postmoderne herausstellen.

Begriffliche Abgrenzungen

Wandel Um den Ort der folgenden Betrachtung innerhalb der vorgestellten Systematik zu verankern, sei festgestellt, daß Zeit primär als ein menschliches Konstrukt, und zwar ein Ordnungsschema betrachtet werden soll, in dessen Rahmen Wahrnehmungen zu kohärenten Abläufen synthetisiert werden. Zeit ist natürlich nicht das einzige Ordnungsschema, das zu dieser Synthese herangezogen wird, aber es ist insofern ein wichtiges und grundlegendes, als es neben seiner „direkten“, chronologischen Funktion auch andere Ordnungsschemata „indirekt“ begleitet, z.B. Erzählungen oder Kausalabfolgen (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.). Als „Wandel“ möchte ich nun all das bezeichnen, was mögliches Objekt einer solchen Ordnung ist. Dabei muß es sich nicht um vom Subjekt wahrgenommene Veränderungen handeln; es genügt die Tatsache einer Zustandsveränderung, d.h. Verschiedenheit (Nicht-Identität) zu zwei gegebenen Zeitpunkten. Will man Wandel von Zeit (und anderen Ordnungskategorien) trennen, wird man bevorzugt bewußtseinsunabhängige Veränderungen betrachten - genauer gesagt: nicht betrachten (da dies ein bewußter Vorgang ist), sondern postulieren - müssen. Unter Wandel verstehe ich somit Prozesse in einer Außenwelt, deren Ablauf nicht von einem individuellen Bewußtsein abhängt. Beispielsweise zählen hierzu sämtliche physikalische Prozesse, aber auch soziale Prozesse, insofern sie nicht vom Individuum intendiert sind1

Die komplizierte Umschreibung des Konzepts deutet bereits auf die grundlegende Schwierigkeit in der Erfassung von solcherart definiertem Wandel: es fehlen die Worte dafür (vgl. Morson 1991:1073ff., auch Bergson, Husserl, Kant, McTaggart in Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht

.

1 Man denke etwa an Sorokins Aussage: „It [a sociocultural system] cannot help changing, even if all its external conditions are constant.“ (Sorokin 1991:633).

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Zeit, Wandel und Transformation

gefunden werden.). Jede Bestimmung, hieße sie „chaotisch“ oder „kausal geordnet“, würde in positiver oder negativer Weise ein Kriterium voraussetzen, das selbst nur Teil eines Ordnungsschemas sein könnte. Jeder mögliche Begriff ordnet bereits in der Weise der Differenz zu anderen. Die Folgerung daraus muß sein, daß Wandel in seiner „rohen“, ursprünglichen Form begrifflich und damit wissenschaftlich nicht erfaßbar ist. Dies erklärt, warum viele Methoden und Theorien Wandel marginalisieren, umdefinieren oder völlig ausblenden. Dies ist offensichtlich der Fall bei Gleichgewichtsmodellen und komparativ-statischen Methoden (Allgöwer 1992, Waldmann 1971), die Wandel exogenisieren, aber auch bei dynamischen Modellen, die Wandel als endogene Variable aufnehmen. Auch hier werden Zeitpunkte t, t+1,... betrachtet, für die eine Aussage über den Systemzustand getroffen wird. Die Veränderungen dazwischen sind nun, im Gegensatz zu komparativen Modellen, zwar Teil des Modells, jedoch meist in einer überaus geordneten, gar formalisierten Weise. Zudem wird die Unterscheidung zwischen Substanz und Prozeß aufrechterhalten, d.h. zwar werden in ein statisches Modell dynamische Komponenten eingebaut, jedoch geschieht dies im wesentlichen additiv. Wie Gunnell (1970:67) formuliert: „So-called dynamic theories tend to be not so much dynamic as complex.“ Solange der Fokus, in seinen Worten, darauf liegt, was ein Ding ist (statt wie es arbeitet), kann sich daran auch nichts ändern, denn so lange wird Wandel nur als Übergang von einem Zustand in der anderen, nicht jedoch als Realität definiert. Betrachtet man einzelne Forschungstraditionen, so setzt sich die Beobachtung cum grano salis fort. Die Kritik an funktionalistischen und strukturalistischen Ansätzen bezüglich ihrer ahistorischen Herangehensweise ist zur Genüge diskutiert, doch Lévi-Strauss wendet einen weiteren Kritikpunkt, nämlich das hohe Abstraktionsniveau, auch gegen historische Ansätze selbst2

2 Ich finde hier Martins’ Beobachtung äußerst interessant, daß „the most formally anti-historic schools in effect display the greatest sensitivity to and ingenuity in tackling the meta-theoretical problems of diachrony, temporality and historicity in and of social systems: precisely, the structuralist ones.“ (Martins 1974:250) Der Entschluß, Wandel aus Ordnungsmodellen herauszulassen, scheint, sofern er nicht naiv oder simplifizierend begründet ist, nach dem bisher Gesagten von grundlegenderer Reflexion zu zeugen, als der Versuch, Wandel in Ordnungsmodelle einzubauen (vgl. etwa Lévi-Strauss 1994 oder Barthes 1977a).

, wenn er davon spricht, daß historische Daten auch Kardinalzahlen sind, deren Häufung bzw. Dichte wichtige Informationen liefert. Diese Informationen gehen bei einer Aggregation verloren (Lévi-Strauss 1994:297ff.). Der Historiker muß so stets zwischen dem Informationsreichtum der Mikro-Geschichte (Anekdoten, Biographien) und der Erklärungskraft der Makroperspektive wählen. Die Tendenz geht meist eher zur Makro-Ordnung denn zum Mikro-Chaos. Evolutionistische Ansätze verfahren ähnlich, allerdings ersetzen sie die Makro-Ordnung durch eine Leitmetapher, die die Abfolge des Geschehens plausibel macht (Martins 1974:273ff.). Eine Metapher jedoch ist nichts anderes als die Beschreibung eines Phänomens mithilfe eines fremden semantischen Feldes - und das Feld muß ja immer fremd sein, wenn die These stimmt, daß Wandel begrifflich nicht erfaßbar ist. Daß schließlich auch nicht-evolutionistische Ansätze Metaphern verwenden, zeigt für die Organisationstheorie Morgan (1986).

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Kapitel 7

Erinnern wir uns an Martins’ Unterscheidung (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.): wenn Zeit und Wandel betrachtet werden, so geschieht das in den meisten Fällen in Form eines thematischen Temporalismus3

Wie könnte nun ein solcher substantieller Temporalismus aussehen? Eine Grundannahme - ich werde im Fortgang der Arbeit noch weitere aufzeigen - müßte m.E. wohl sein, daß Harmonie, Gleichgewicht und Stabilität keine Manifestationen einer weltgesetzlichen Ordnung sind, die im Sinne einer Konvergenz früher oder später erreicht werden (müssen), sondern daß es sich um unwahrscheinliche, einer chaotischen Welt eher gegenlaufende Ereignisse handelt, deren Herbeiführung und Aufrechterhaltung fortwährend „Kraft“ kostet. Eine solche Metaphysik

, der sie zum Gegenstand der Analyse nimmt, und selten in Form eines substantiellen Temporalismus, der sie zur Grundlage der Analyse macht.

4 produziert als evidente Frage: „Wenn die Welt ungeordnet ist, wie kommt dann Ordnung zustande bzw. wird aufrechterhalten?“ Es handelt sich dabei nicht um die klassische Formulierung der Frage nach dem Zustandekommen von sozialer Ordnung, die in der Hobbes-Parsons-Tradition steht, denn diese Tradition setzt freie, individuelle Subjekte (= Ordnungen) voraus, deren Handeln dann soziale Ordnung herstellt (vgl. Wagner 1993). Es gilt vielmehr, die Frage ohne Rekurs auf das Subjekt, dafür aber unter Rekurs auf Zeit und Zeitlichkeit zu stellen. Auf die häufig gestellte Frage, was im Falle von Wandel zu tun, wie zu verfahren, wie mit ihm umzugehen sei, gibt es dagegen unter dieser Perspektive nur eine, sehr einfache Antwort: Ordnung herstellen - und das heißt Organsieren. Wie das im Einzelfall auszusehen hat, welche kulturellen und organisatorischen Spezifika zu beachten sind, ist dann eine Frage der Gestaltung, weniger der Theorie. M.a.W.: Es empfiehlt sich, Wandel zu postulieren und Ordnung zu thematisieren statt Ordnung zu postulieren und Wandel zu thematisieren5

Eine möglicher Ansatz dazu findet sich in postmodernen Überlegungen, nach denen Wandel ein legitimes Thema ist, aber nicht als der Versuch einer klassifikatorischen Beschreibung der Außenwelt („Was ist Wandel?“), sondern als ein Ereignis, das Licht auf die Ordnungsprozesse der sozialen Welt wirft („Wie gehen Menschen mit Wandel um?“). Gerade wenn in grundlegenden Wandlungsprozessen Ordnungsschemata aufbrechen, Konflikt und Dissens entstehen, Legitimationen explizit werden, wird Wandel wissenschaftlich interessant. Der Prozeß des Ordnens und die Macht der Ordner wird in diesen Momenten ihrer Selbstverständlichkeit enthoben (vgl. etwa Flaherty 1987, Lyman/Scott 1970) und der Wahrnehmung zugänglich.

.

3 Auch Martins versäumt es, scharf zwischen Zeit und Wandel zu trennen, wenn er in seiner Definition Werden, Prozeß, Diachronie, soziale Zeit und Geschichtlichkeit in einem Atemzug nennt (Martins 1974:247f.) 4 Ich möchte ausdrücklich nicht behaupten, daß es sich dabei um eine neue Metaphysik handele, sie bedürfte nur einer größeren Verbreitung. (Zum Reizwort „Metaphysik“ sei an dieser Stelle angemerkt, daß sie für mich nichts anderes darstellt als die ausgearbeitete, konsistente Form von basic assumptions.) 5 Diese metaphysisch begründete Umkehrung von Postulat und Thematisierung hat geistesgeschichtliche Vorbilder, z.B. im Universalienstreit, wo man von der realistischen Position „Wenn allgemeine Gattungen real existieren, wie kommen dann Individuen zustande?“ zur nominalistischen Position „Wenn Individuen real existieren, wie kommen dann allgemeine Gattungen zustande?“ wechselte. Im ersten Fall wurde die reale Existenz von Gattungen nicht bezweifelt und Individuationstheorien erstellt, im zweiten Fall die reale Existenz von Individuen nicht bezweifelt und Abstraktionstheorien erstellt.

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Zeit, Wandel und Transformation

Es ist also letztlich Stabilität, die wir erforschen, wenn wir Wandel erforschen, ihr Zustandekommen, ihr Erhalt und die Bedingungen für ihren Zusammenbruch. Nur dafür hat die Wissenschaft Begriffe, dafür Methoden.

Transformation Ausgehend von dieser Wandeldefinition möchte ich auch die Abgrenzung zwischen Wandel und Transformation nicht quantitativ im Sinne von Tranformation als objektiv „großer“ oder „umfassender“ Form von Wandel definieren. Nimmt man an, daß die Welt sich ständig in tausend Kleinigkeiten ändert, scheint eine quantitative Differenzierung von „groß“ und „klein“ ohnehin nicht möglich. Es ist nicht die Masse der Wandlungsvorgänge, die Transformation ausmacht, sondern - die wahrgenommene Relevanz dieser Vorgänge für das Leben des

Einzelnen oder der Gruppe (z.B. ihre Einstufung als „krisenhaft“), - der wahrgenommene Grad der Änderung (Einstufung als im Prinzip

bekannt oder neu). Dies ist u.a. eine direkte Funktion des Abstraktionsniveaus6

Nur wenn diese beiden Faktoren eine hohe Ausprägung aufweisen, möchte ich von „Transformation“ sprechen. Der Begriff hat damit im Gegensatz zu Wandel eine stärker subjektive Ausrichtung; er ist an individuelle und kollektive Einschätzungen gebunden, was bedeutet, daß bspw. in osteuropäischen Ländern durchaus Menschen leben können, die keiner Transformation unterworfen sind (vgl. etwa Gergen 1994), und umgekehrt Transformationen auch in Gesellschaften stattfinden können, die auf der Makroebene stabil sind

.

7

Ich weiche mit dieser Definition bewußt von der Praxis ab, Transformation als einen speziellen Typ von Wandel zu bestimmen (vgl. Reißig 1994). Wiewohl man umgangssprachlich natürlich von „Wandel“ sprechen kann und damit die Wahrnehmung von Wandel meint, möchte ich doch systematisch einen Unterschied zwischen Wandel als einem in der Außenwelt stattfindenden Prozeß und Transformation als der Wahrnehmung eines bestimmten Verlaufs machen. Ähnliches gilt für den Begriff der Evolution: auch er ist, streng betrachtet, ein Wahrnehmungsmuster.

. Die Möglichkeit, über Transformationen allgemeine Aussagen zu machen, ist damit eingeschränkt, jedoch nicht aufgegeben. Man kann durchaus begründet annehmen, daß bestimmte „objektive“ Ereignisse wie z.B. der Wegfall lang gehegter Routinen oder der abrupte Wechsel von einem Rechtssystem in ein anderes mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. für eine Mehrzahl von Personen transformationalen Charakter haben. Die Prüfung im Einzelfall muß allerdings der Empirie überlassen bleiben.

6 „The shorter the time-phase for an historical event, the more our history will consist of destructions, catastrophes, battle, murder and sudden death.“ (R. Collingwood, zitiert nach Martins 1974:265) 7 vgl. etwa Burrells (1989:310) These: „Today, such is human egocentrism that to believe that one’s life is not marked by major disruptions is a negation of self-importance and individuality.“

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Kapitel 7

Aus den in den Kapiteln Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. und 6 gewonnenen Einsichten lassen sich bereits jetzt in der Übertragung auf Transformation und Wandel folgende Feststellungen treffen: 1. Geht man davon aus, daß Menschen Wandel durch ihre

Ordnungsschemata hindurch wahrnehmen, und folgt man der postmodernen Auffassung, daß in Transformationen gewisse Dinge besser sichtbar werden, so kann man den Schluß ziehen, daß die in Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. angesprochenen Unterschiede in der Zeitauffassung, die aus Geschlecht, sozialer Schicht u.a. resultieren, in Transformationssituationen noch deutlicher zutage treten. Die Wahrnehmung von Transformation folgt also einem heterogenen Code, was für eine wissenschaftliche adäquate Beschreibung wohl die Konsequenz nach sich zieht, eher ideographisch-hermeneutisch vorgehen zu müssen.

2. Mit Blick auf das Geschehen in Organisationen wird man erwarten, daß in Transformationen die angesprochenen zeitrelevanten Felder wie Arbeitszeit, Entfremdung, Streß etc. (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) im Mittelpunkt von stark emotionsgeladenen Konflikten stehen. Dies hat, folgt man dem bisher Gesagten, weniger8

3. Die von verschiedenen Autoren postulierten Arten des Wandels (etwa McWhinney 1992, Boudon 1991) kann man problemlos auf entsprechende - weitgehend zeitliche - Ordnungsmuster zurückführen. Diese Autoren beschreiben nicht Wandel, sondern unterschiedliche Möglichkeiten, ihn zu ordnen. Es handelt sich damit, zumindest was Wandel angeht, ausdrücklich nicht um deskriptive, sondern um metaphysische Ansätze (vgl. Fußnote 4).

damit zu tun, daß die Transformation „objektiv“ erhöhte Anforderungen stellt, sondern damit, daß hier kollektive und individuelle Ordnungsmuster auf dem Spiel stehen. Für das Individuum geht es z.B. bei der Arbeitsplatzsicherheit nicht nur um die Sicherung von Einkommen, sondern auch um die Bewahrung von Arbeitszeit und der damit verbundenen Identität, umgekehrt für die diversen gesellschaftlichen Gruppen bei den Auseinandersetzungen um Frühverrentung und längere Arbeitszeit nicht nur um Produktivitätsgewinne, sondern um gesellschaftliche Identität, die sich z.B. in Werten wie Pflicht, Leistungsbereitschaft etc. niederschlägt. Es ist kein historischer Zufall, keine Koinzidenz leerer Sozialversicherungskassen, der diese Diskussionen in Zeiten der Transformation heraufbeschwört. Wo Brüche wahrgenommen werden, wird Ordnung zum Thema.

4. Das Wegbrechen von Ordnungsmustern in Transformationen berührt grundlegende Sicherheitsbedürfnisse des Einzelnen, wesentlich z.B. seine Identität; es handelt sich in diesem Sinne bei Transformationen um existenzielle Bedrohungen. Das Individuum sucht in jedem Falle, diese Muster wiederherzustellen bzw. neue zu erschaffen. Mit „Ordnung“ ist

8 Dieses „weniger“ scheint mir allerdings empirisch nicht beweisbar. Es betrifft das grundsätzliche Problem innerhalb der Sozialwissenschaften, unter zwei oder mehr sich unterstützenden Motiven, die dieselbe Handlung provozieren, eine Gewichtung vorzunehmen (vgl. für die Ethik Sidgwick 1963).

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Zeit, Wandel und Transformation

dabei noch keine gesellschaftliche Ordnung im Sinne bspw. einer Rechtsordnung oder gar einer „law and order“ gemeint, sondern ein individuelles Ordnungsschema, das der Welt Zusammenhang und Sinn verleiht. So verstanden, braucht auch ein Anarchist Ordnung, Identität, innere Logik9

. Die folgenden Kapitel wollen anhand einiger zeitrelevanter Aspekte untersuchen, wie diese Ordnung im Falle von Individuen und Organisationen wiederhergestellt wird.

Erste Ergebnisse aus der Betrachtung von Zeit, Wandel und Transformation Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zu unserem Vergleichspunkt, den “klassischen” Organisationstheorien zurück. Ich habe am Ende des Teils B festgestellt, daß ihre Zeitkonzepte im wesentlichen linear sind, wobei die Uhr-/Kalenderzeit und der Ressourcenbegriff die herausragende Rolle spielen. Diese Betrachtungsweise hat nach den Prämissen dieser Arbeit Auswirkungen auf die Konzeptualisierung von Wandel. Wandel wird, ausgehend von einem linearen Zeitkonzept, als Änderung von einem Zeitpunkt t zu einem Zeitpunkt t’ betrachtet; meist sind damit, wie wir gesehen haben, evolutorische sowie Steuerbarkeits- und Planbarkeitsaspekte verbunden10

Ein auf einem postmodernen Zeitkonzept (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) aufbauender Wandelbegriff hingegen betont zum einen die Vielschichtigkeit von Wandel, die aus der Vielschichtigkeit der ihn erfassenden Konzepte resultiert, und zum anderen die intentionale Natur der Wandelbeschreibung. Wenn Wandel, wie im Kapitel 0 definiert, nie roh, sondern immer nur “vermittelt” erfaßbar ist, dann liegt es in der Natur der menschlichen Phantasie, viele verschiedene Arten der Vermittlung zu erfinden. Wir haben am Beispiel Zeit (als einer Art von Vermittlung) gesehen, wie viele verschiedene Arten sich bereits hier aufzählen lassen. Gibt es verschiedene Arten, resultiert daraus wiederum die Möglichkeit der Wahl, und kann jemand wählen, läßt sich wiederum nach den Gründen der Wahl fragen, wie ich dies unter dem Titel der Erzählung im Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. versucht habe deutlich zu machen. M.a.W. läßt sich mit gutem

. Sofern Krisen/Revolutionen vorgesehen sind, gilt es diese mit drastischen Maßnahmen zu überwinden (vgl. etwa Überlegungen zum second order change). Theorien, die von einer solch “natürlichen” Zeit ausgehen, verstehen sich außerdem als deskriptiv-neutral in ihrer Beschreibung des Wandels.

9 Ich denke, es ist hier zu unterscheiden zwischen einem politischen Ordnungsbegriff (Herrschaftsordnung), dessen Antonym “Anarchie” ist, und einem epistemisch-ontologischen, dessen Antonym “Chaos” ist. 10 Child/Czeglédy (1996) bemerken z.B. für Osteuropa, daß das Wandelkonzept das OL-Konzept beeinflussen kann dergestalt, daß normative OL-Vertreter meist ein lineares Bild des dortigen Wandels haben.

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Kapitel 7

postmodernen Gewissen nicht sagen, ob z.B. die Dynamik der Umwelt zunimmt oder das post-industrielle Zeitalter angebrochen ist, es läßt sich nur feststellen, daß immer mehr Menschen davon reden, d.h. ihre Weltsicht entsprechend ändern, und es läßt sich fragen, warum sie das tun und welche Konsequenzen es hat. Umgekehrt macht es auch z.B. die Ergebnisse empirischer Studien wenig verwunderlich, die nach monate- oder jahrelanger Diskussion eines neuen Managementkonzeptes feststellen, daß es kaum bis gar nicht in der Praxis umgesetzt ist, denn eine Erzählung, auch wenn sie Management zum Gegenstand hat, hat nun einmal mehr Funktionen11

Als ein Gegenstand einer postmodernen Wandelbetrachtung ergibt sich damit bereits an dieser Stelle eine Konzentration auf Ordnungsmuster und Erzählungen. Nicht (deskriptive) Fragen des Ablaufs, sondern (normative) Fragen der Ordnung von Wandel stehen im Mittelpunkt, darunter:

als die reine Beschreibung von Gegebenem.

• Wie wird vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger Wandel dargestellt? Geht es um innere Entwicklung, Fortschritt, Emergenz, Offenbarung, Reproduktion, Transformation, Verfall, Zusammenbruch, Aufholen, Vorsprung gewinnen, Wachstum oder zufällige Änderung, um dialektische, lineare, zyklische oder spiralförmige Bewegungen12

• Was ist mit dieser Darstellung an Strukturen, Techniken, Forderungen, Emotionen etc. verbunden? Warum wird Wandel so dargestellt?

?

• Wer stellt Wandel so dar? Gibt es noch andere Sichtweisen? Wie werden sie behandelt?

• Welche der vielfältigen Ordnungsschemata sind vom Wandel betroffen? Verändert der Wandel individuelle, organisationale, institutionelle Muster, Rhythmen, Routinen, Abfolgen, Synchronisationen, Vergangenheiten, Zukunften?

Die Annahme eines heterogenen Codes, wie er in Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. dargestellt wurde, erlaubt es dabei, auf eine Vielzahl von Ebenen in der Betrachtung einzugehen und die Zusammenhänge eher vernetzt als linear zu sehen. Die betrachteten “klassischen” Organisationstheorien weisen jedoch noch in weiteren Punkten Probleme auf, will man sie mit einer postmodern orientierten Definition von Wandel und Transformation, wie ich sie in den vorangegangenen Unterkapiteln gegeben habe, verbinden. Ich möchte deshalb im folgenden nicht wie die Systemtheorie von einem einheitlichen, homöostatisch stabilen Analysegegenstand ausgehen. Ich möchte speziell nicht funktionalistisch fragen, was geschehen muß, damit dieser Gegenstand 11 Jakobson (1960) nennt sechs Funktionen, die in einer Aussage dominieren können: die emotive (Sprecher bringt seine Haltung zum Ausdruck), konative (Sprecher will Hörer zu etwas bewegen), referentielle (Sprecher macht Aussage über Objekt oder Dritten), phatische (Sprecher prüft oder bestätigt Funktionieren des Kommunikationskanals), poetische (Sprecher ist zentriert auf Äußerung) und metasprachliche (Sprecher spricht über Äußerung). Man sollte auch bei wissenschaftlichen Artikeln die ersten beiden sowie, unter zunehmendem Publikationsdruck, die vierte Funktion nicht außer acht lassen. 12 Hier fügen sich auch die Typen des Wandels der im Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. aufgeführten überblicksartigen Darstellungen ein.

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Zeit, Wandel und Transformation

überlebt o.ä.. Trotz eines Einbezugs der unintended consequences, den ich für unerläßlich halte, möchte ich in der Betrachtung nicht ausschließlich - tendenziell sogar so wenig wie möglich - auf die System- oder Makroebene wechseln. Ich möchte ontologisch keine Sprünge und Brüche ausschließen, und ich möchte diese auch epistemologisch miteinbeziehen. Ich möchte meine Überlegungen weder auf den Produktionsprozeß bzw. die Arbeitswelt beschränken, wie dies der Labour Process tut, noch auf Institutionen oder Entscheidungsprozesse, obwohl ich ihren dominanten Einfluß nicht abstreite. Ich möchte nicht nur institutionelle Ordnungen, die aus Praktiken entstehen, betrachten, sondern auch die ordnungsstiftende Funktion von Diskursen. Gegenüber Politik-Ansätzen möchte ich versuchen, eine Betrachtungsebene höher zu steigen, d.h. allgemeine Erklärungen zu finden, die über die Annahme von Macht als Wirkursache hinausgehen. Auch hier gilt: ich halte Macht für etwas sehr Wesentliches, allein ihr explanatorischer Ansatz in Politikmodellen befriedigt mich nicht ganz. Für die Arbeit baut sich damit in zweierlei Hinsicht ein Spannungsfeld auf: zum einen bezüglich einer Theorie auf hohem Abstraktionsgrad und mit generellem Anspruch, die dennoch Totalisierungen vermeiden will, und zum anderen bezüglich eines ontologisch-erklärenden Anspruchs, der zwar die bekannten epistemologischen Bedenken miteinbeziehen und den Beobachter thematisieren, sich aber nicht auf eine Position, die nur das Reden über Beobachtungen erlaubt, zurückziehen will. Es liegt in der Natur eines Spannungsfeldes - zumindest sofern es sich um ein echtes, nicht rhetorisches handelt -, daß weder die Entscheidung für einen der Pole noch für einen Punkt zwischen ihnen vollständig befriedigt. Sich in ihm zu bewegen, heißt deshalb, Unschärfen in Kauf zu nehmen oder, Derrida folgend, Supplementarität miteinzubeziehen. Daß dies hinsichtlich einer theoretischen Präzision ein Manko ist, sehe ich wohl; es ist m.E. der Preis, den ich für die angestrebte weite theoretische Fassung zahlen muß. Inhaltlich ergeben sich in diesen Spannungsfeldern aus den Überlegungen der vorangegangenen Zeit-Kapitel und den im wissenschaftstheoretischen Teil dargestellten Blickrichtungen Schwerpunkte, auf denen die weitere Betrachtung fußen soll. Ich möchte diese hier bereits in einer ersten Fassung diskutieren und schon an dieser Stelle mögliche Schlußfolgerungen ziehen. Eine erneute Behandlung wird dann in Anbindung an die Theorien von Giddens, Foucault und Heidegger in Kapitel 12 erfolgen. Als inhaltliche Schwerpunkte möchte ich dabei zum einen die Erzählung beibehalten, da ich in ihr ein wichtiges postmodernes Instrument der Analyse sehe, das sich bereits in Teil B bewährt hat, zum anderen die Frage der Zeit und die Schwierigkeiten einer Darstellung von Wandel in einen Punkt münden lassen, der sich mit dem “Problem der Präsenz” umschreiben läßt. Als weiteres Thema ergibt sich aus meiner Definition von Wandel ein Augenmerk auf Fragen der Stabilität, die ich auf das Thema “Identität” eingrenzen will, um so meiner existenzialen Definition von Transformation gerecht zu werden. Da diese zunächst individuelle Identität in einer organisationstheoretischen Arbeit im Spannungsfeld von Individuum und Organisation steht, habe ich außerdem einen Punkt, der dieses Verhältnis diskutiert, hinzugefügt. Im Hintergrund präsent bleiben dabei auch immer die im Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. vorgestellten postmodernen Leitideen sowie die in Teil B in punkto Zeit

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Kapitel 7

gewonnenen Erkenntnisse, die vor allem zu neuen Betrachtungsweisen der letzten beiden Schwerpunkte führen sollen. Ich denke somit, mit ersteren beiden zwei neue, “postmoderne” Ansatzpunkte und mit letzteren beiden zwei alte Ansatzpunkte in neuem Licht diskutieren zu können.

Das Problem der Präsenz und die „Soziologie des Werdens“ In Verbindung mit Derridas Dekonstruktivismus hatten wir uns bereits mit der Kritik an der „Metaphysik der Präsenz“ und, daraus folgend, dem Repräsentationalismus auseinandergesetzt. Diese Überlegungen sollen nun in die Beschreibung von Wandel und Transformation einfließen. Wir waren davon ausgegangen (vgl. Kapitel 0), daß Zeit ein Ordnungsschema in der Beschreibung von Wandlungsprozessen ist. Daß ein solches Schema kein auf Empirie basierendes Bild, sondern ein i.w.S. metaphysisches Konzept ist, hatte ich am selben Ort angemerkt. Auch andere Befunde sprechen für die „weite Entfernung“ (im repräsentationalen Sinne) dessen, was wir bezüglich Zeit denken, von dem, was als Wandel passiert, so etwa Freuds Theorie des Unbewußten (Freud 1984:263, vgl. auch Malpas 1996), die das Unbewußte als atemporal strukturiert (sofern das Wort erlaubt ist) annimmt, gleichzeitig aber davon ausgeht, daß es an jedem Wahrnehmungsakt teilhat. Jede präsentische Wahrnehmung hätte somit einen atemporalen Anteil; die Gegenwart wäre nie voll und unmittelbar präsent13

Diese Überlegungen haben Autoren wie Cooper/Law (1995), Chia (1996) und Loon (1996) dazu bewogen, eine „Soziologie des Werdens“ (sociology of becoming, auch upstream thinking) einzufordern, die sich statt mit dem Sein von Strukturen, Personen und Objekten mit ihrem Werden, d.h. mit prozessualen Aspekten, befaßt. Die Priorität der Prozesse vor den Strukturen ist dabei nicht nur methodisch, sondern ontologisch: Statik entsteht nach Auffassung der Autoren aus Dynamik, nicht umgekehrt. Die Instabilität von Fakten und Realitäten wird dabei betont; statt um klare Abgrenzung, Hierarchie und Ordnung geht es um Implikation, Mehrdeutigkeit und Symmetrie. Bei aller Sympathie für diese Überlegungen, die ich bereits an anderen Stellen in dieser Arbeit bekundet habe, scheint mir die Position dennoch wiederum von einem dichotomen Denken bestimmt, das nach der (korrekten) Analyse der Unzulänglichkeiten des einen Pols, in dem Fall der sociology of being, in einer Art negativen Beweisführung schließt, daß dann der andere Pol der richtige sein muß. Dabei werden epistemische und ontologische Argumente vermischt, die Art der Betrachtung (nämlich

. Auch die Zeitlichkeit des Beobachters selbst spricht gegen eine volle Erfassung des zeitlichen Geschehens im Sinne einer Repräsentation (Chia 1996, Elchardus 1988, Thornton 1989, Loon 1996), sowohl hinsichtlich der zeitlichen Verschiebung als auch hinsichtlich des evtl. unterschiedlichen Referenzsystems.

13 Die enge Verbindung zwischen Präsens und Präsenz ist im Englischen noch offenkundiger, was, wie ich glaube, auch z.T. das stärkere Interesse an dieser Problematik im englischsprachigen Raum erklärt.

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Zeit, Wandel und Transformation

Repräsentationalismus) und das betrachtete Objekt (nämlich seiende Dinge) zusammengeworfen. Auch wenn nicht zu leugnen ist, daß sich Repräsentationalismus und die Annahme einer statischen Natur des Seins parallel zueinander entwickelt haben, so sollte man doch sehen, daß diese historische Parallelität nicht auf einer konzeptuellen Notwendigkeit beruht. M.a.W.: zwar ist es richtig, daß beide sehr häufig zusammen auftreten, doch ist damit nicht gesagt, daß man nicht auch Werden repräsentational betrachten kann oder Sein nicht-repräsentational. Die Entscheidung für eine Soziologie des Werdens schaltet somit den Repräsentationalismus noch nicht aus.

Objekt Betrachtung

Sein Werden

repräsentational sociology of being

nicht-repräsentational

sociology of becoming

Abbildung 1: Einordnung der Soziologie des Werdens

Diese Entkopplung ist deshalb wichtig, weil ich bereits zuvor dargelegt habe, daß ich eine - wie immer geartete - Beschreibung von „rohem“ Wandel nicht für möglich halte; eine Soziologie des Werdens im strengen Sinne somit auch nicht. Das heißt nicht, daß man nicht Prozesse und Instabilitäten betrachten kann und sollte; es heißt nur, daß wir uns auch bei diesen Betrachtungen bewußt sein müssen, was unsere Sprache und Begrifflichkeit leisten kann - und eine adäquate Beschreibung von Werden kann sie nicht leisten, schon gar nicht in einem wissenschaftlichen Verwendungszusammenhang. Bereits Cassirer (1994c:191f.) hat dieses Problem gesehen und formuliert in der ausdrucksstarken Wissenschaftssprache seiner Zeit:

„Alle sprachliche Bestimmung ist notwendig zugleich sprachliche Fixierung - aber bringt nicht schon der bloße Versuch einer solchen Fixierung die Zeit um ihren wahren und eigentlichen Sinn, der ja eben der Sinn des reinen Werdens ist? Tiefer als die Sprache scheint hier der Mythos dringen, scheint er in der Urform der Zeit verweilen zu können, denn er faßt die Welt statt als starres Sein, vielmehr als ein stets Geschehen; statt als fertige Gestalt, als eine sich immer erneuernde Metamorphose. [...] Die Götter selbst sind nicht Herren über Zeit und Schicksal, sondern ihrem Urgesetz, dem Gesetz der moira, unterworfen. So wird hier die Zeit als Schicksal erlebt, - lange bevor sie, in einem rein theoretischen Sinn, als kosmische Ordnung des Geschehens gedacht wird. Aber auch diese Verflechtung der Motive löst sich, sobald sich die Frage des Denkens nicht mehr ausschließlich auf den Grund der Dinge, sondern auf seinen eigenen Seins-Grund und seinen eigenen Rechts-Grund richtet. Wo die Philosophie zuerst diese Frage erhebt, wo sie, statt nach dem Grund der Wirklichkeit, nach dem Sinn und Grund der Wahrheit fragt - da scheint damit mit einem Male jedes Band zwischen Sein und Zeit zerschnitten zu werden.“

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Kapitel 7

Die Entkopplung ermöglicht es nun, daß man sich dennoch gegen den Repräsentationalismus wenden kann. Die wissenschaftliche Erfassung von Wandel ist wie jede andere eine Konstruktion, kein Abbild, und sie ist nicht wahrer als andere, weil sie näher und unverzerrter am Objekt wäre (das wären Kriterien für ein Abbild). Die wichtige Konsequenz daraus ist m.E. nicht, daß man fortan nicht mehr solch suggestive Begriffe wie „Beschreibung“ oder „Außenwelt“ benutzen dürfte, sondern daß

• man den höheren Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Betrachtung aufgeben muß. Auch z.B. literarische, selbst fiktive, Beschreibungen können adäquate Konstruktionen bezüglich Wandel anfertigen, und diese können selbst in epistemischer Hinsicht besser sein als wissenschaftliche.

• der intentionale Charakter jeder Wahrnehmung und Konstruktion stärker betont werden muß. Die Metapher vom Wahrnehmungs-Filter ist unzutreffend, wenn es um Konstruktion geht; es handelt sich bei der Außenwelt nicht um Teilchen, die mehr oder minder zahlreich und unverzerrt in unser passives Bewußtsein sickern. Wenn aber bereits jede Wahrnehmung eine konstruktiv-synthetisierende Leistung ist, wieviel mehr muß dies für höhere Formen von Bewußtseinsakten gelten?

• daraus folgend, es keine unstrukturierte Gegenwart und keine i.e.S. faktische Vergangenheit gibt, in denen sich menschliches Handeln abspielt. Jede Kognition, Emotion, Handlung, Interaktion, Organisation und Institution haben einen Kontext, von dem sie nicht abstrahiert werden können. Dieser Kontext schafft sie und wird von ihnen geschaffen.

• die Frage nach dem „wahren Selbst“ oder der „wahren Organisation“ so nicht gestellt werden kann. Beide sind eine Ansammlung vielfältiger, u.U. widersprüchlicher Interpretationen, die sich im Zeitverlauf ändern.

Erzählung Die Beziehung von Zeit und Wandel kann durch einen dritten Aspekt ergänzt werden, nämlich den der Narration. Ricoeur (1988:13) beschreibt den Zirkel von Narrativität und Zeitlichkeit als einen hermeneutischen: „... die Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erfahrung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.“ Die Rekonstruktion von Erlebnissen hat stets narrativen Charakter, und nicht umsonst bezeichnet „Geschichte“ diese beiden Aspekte. Morson (1991:1077) spricht in Anlehnung an Bachtin davon, daß die verschiedenen literarischen Genres Denkweisen darstellen, mit denen wir von Kind an vertraut sind und nach deren Vorbild wir unsere Erlebnisse strukturieren. Die Erkenntnis, daß historischer und poetischer (fiktionaler) Diskurs nicht so weit voneinander entfernt sind (Ricoeur 1988, Hermans 1992, Carr 1986), ist nicht einmal modern semiotisch, sie findet sich bereits in der aristotelischen „Poetik“ (Aristoteles 1982:Abs.9). Die Debatte um eine narrative vs. eine

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Zeit, Wandel und Transformation

analytische Erkenntnis in der Geschichtswissenschaft (vgl. u.a. Mink 1970, Dray 1985, Beer 1963, Porter 1981) scheint sich zumindest dahingehend versöhnlich lösen zu lassen, als die Erkenntnis von Zusammenhängen oder Konfigurationen nie eine rein analytische oder empirische sein kann; es bedarf in diesem Falle einer Synthese in der Form eines plots, d.h. einer Totalen, die die Einzelereignisse integriert. So stellt auch Koselleck (1994:153) fest: „Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. [...] Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann.“ Auch außerhalb der Geschichtswissenschaft mehren sich die Stimmen, die z.B. darauf verweisen, daß hinsichtlich der Wirksamkeit kein Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen gemacht werden kann (so Czarniawska-Joerges (1992) für die Untersuchung von Organisationskulturen), daß Handlungen und Ereignisse symbolisch vor-vermittelt sind (Ricoeur 1988, Marotzki 1991) oder daß Legitimation ohnehin immer im außer-wissenschaftlichen, narrativen Diskurs des Alltags gesucht werden muß (Allan 1994, Broms/Gahmberg 1983). Aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und Pragmatik werden Erzählungen auch als Alternative oder Ergänzung zum reflektiert-distanzierten wissenschaftlichen Diskurs empfohlen (Lash 1993). Der Machtaspekt, der mit der symbolischen Vermittlung von Geschichte einhergeht, sei hier nur kurz erwähnt; er wird uns im letzten Kapitel der Arbeit noch einmal beschäftigen. Eine wichtige Charakteristik der Erzählung ist ihre Öffentlichkeit, weshalb sie zwischen Individuum und Kollektiv vermitteln kann. Sie ist außerdem auf der kollektiven Ebene ein wichtiges Instrument zum Ausdruck und zur Gestaltung von geteilten Bedeutungen in Organisationen (Boyce 1995), was sie andererseits ebenfalls zum Macht- und Unterdrückungsinstrument machen kann (Law 1994). Strauss (1974) verweist darauf, daß sich auch individueller Identitätswandel in der Sprache niederschlägt, und dies nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, wenn etwa festzustellen ist, daß rites de passage keineswegs tabuisiert, sondern ein viel diskutiertes Thema sind (Glaser/Strauss 1971:2). Flaherty (1987) erklärt das „Stillstehen von Zeit“ in plötzlich eintretenden Krisensituationen sogar damit, daß die Zeitwahrnehmung so lange ausgesetzt wird, bis das Individuum die Geschehnisse narrativ verarbeiten kann. Zeit wird darüber hinaus in Erzählungen nicht nur formal als Abfolge, sondern auch mit inhaltlicher Bedeutung als Chronotopos14

14 Bachtin (1992:84) definiert Chronotopos (wörtlich „Zeit-Raum“) als Verdichtung von Raum und/oder Zeit zu einer bedeutungstragenden Einheit. Beispiele sind die Schwelle als Chronotopos des Übergangs oder der Wald als Chronotopos des Fremden, Übernatürlichen.

wichtig. Bender/Wellbery haben diesen Gedanken aus der Literatur- in die Sozialwissenschaft transferiert und den Begriff des chronotype kreiert, der „models or patterns through which time assumes practical or conceptual significance“ beschreibt (1991:4). Da uns diese Muster bereits seit der Feststellung, daß Zeit mehr als Uhrzeit ist, beschäftigen, möchte ich an dieser Stelle nur einige Fragen zitieren, die Bender/Wellbery mit dem chronotype verbinden:

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Kapitel 7

„What functions do chronotypes serve? How do they contribute to the formation of social, cultural, and individual identity? How do they organize behavior? In what ways do they constrict or expand the field of experience? [...] What idealizations and projections - whether conscious or unconscious - take place in the analysis of chronotypes? How does the observer’s own positions in time impinge on the process of description? [...] Are chronotypes involved in processes of domination?“

Identität Auf der individuellen Ebene sind Zeitlichkeit und Erzählung auch eng mit dem Begriff der Biographie und Identität verbunden. Egal, ob man einen anthropologischen (Marotzki 1991) oder „nur“ einen kulturellen Zwang zur Biographie zugrundelegt, so besteht doch weitgehend Einigkeit darüber, daß Menschen eine Identität besitzen müssen bzw. daß umgekehrt der Verlust derselben zu schwersten sozialen, psychischen und physischen Problemen führen kann. Es sind vor allem Transformationsprozesse, die Identitäten angreifen und infragestellen, oder, wie Schwendter (1988:417) bemerkt: „Wann immer von Identität in einem mehr als systematischen, ja in einem emphatischen Sinne die Rede ist, liegt die Mutmaßung nahe, daß diese Rede eine Krise zum Ausdruck bringt.“ Wie bereits mehrfach ausgeführt, möchte ich mich bei der Betrachtung von Identität nicht einem „wahren Selbst“ zuwenden, das unabhängig von und vor allen sozialen Kontakten besteht, sondern auch Identität als Konstruktionsleistung begreifen. Es liegt nahe, sich auch hier der narrativen Betrachtung zuzuwenden, die jedoch nicht auf Biographien i.e.S. (d.h. als literarisches Genre) beschränkt bleiben soll. Sie soll vielmehr in der Rede von der Identität als Erzählung aufmerksam machen auf:

• den intentionalen Charakter der Biographie (vgl. u.a. Carr 1986, Assmann 1992, Westin 1983, Luckmann 1983), der auf ein wesentlich zukünftiges oder potentielles Moment in der Beschreibung der eigenen Gegenwart und Vergangenheit verweist. D.h., Biographien sind auch Ausdruck dessen, was die Person sein will. Wie eine literarische Erzählung nur Begebenheiten enthält, die in irgendeiner Form bedeutsam für die Handlung sind, so werden auch in der Biographie nur bedeutsame Ereignisse aneinandergereiht. Ihre Bedeutung erhalten sie jedoch oft erst aufgrund einer sich abzeichnenden Linie in der Zukunft, aufgrund der Deutung aktueller Ereignisse als wegweisend (wobei der Weg in die Zukunft führt) oder aufgrund einer willentlichen Zuwendung zu bestimmten Werten.

• den symbolischen Charakter der erinnerten Vergangenheit, die in die Gegenwart und Zukunft hineinwirkt, insofern als die Bedeutung eines Ereignisses symbolisch vermittelt wird (Assmann 1992).

• die Priorität von Sinn über Fakten, Wirksamkeit über Wirklichkeit oder, wie Malpas (1996:310) die Bemühungen des Individuums umschreibt:

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Zeit, Wandel und Transformation

„balancing the scales between past and future in order to discover a truth that is not a question of reality“.

• ihre unterschiedliche Verlaufsform in oralen und schriftlichen Kulturen bzw. den Einfluß der Schriftlichkeit auf Identitäten unseres Kulturkreises (Goody 1991, vgl. dazu auch Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.).

• eine relative Ungebundenheit der Person in der Gestaltung ihrer prospektiven Identität. Ich beziehe mich hier wesentlich auf Gergens (1994) aleatory account, der die Entwicklung des Lebenslaufes als weitgehend unabhängig von klassischen Faktoren wie z.B. Kindheitserfahrungen beschreibt. Nach Gergens Einschätzung gleichen die Lebensläufe der meisten Personen eher einem „random walk“, der zwar zeitweise linear ist, aber an bestimmten Punkten nicht vorhersagbare Wendungen nimmt.

Außerdem erlaubt die Verbindung zur Erzählung wiederum, von allzu strikten Konsistenzforderungen Abstand zu nehmen; Identität muß nichts Monolithisches sein, sondern kann viele Aspekte, u.U. auch nur lose gekoppelt oder widersprüchlich, vereinen. Dies ist auch insofern nützlich, als eine einheitliche wissenschaftliche Definition von Identität nicht existiert, und verschiedene Autoren bzw. Disziplinen verschiedene Gesichtspunkte in die Betrachtung einbringen. Nach der introspektiven Gewißheit des eigenen Körpers und Bewußtseins erhalten rasch nicht-individuelle, „äußere“ Anlässe Bedeutung: so verweisen Routinen auf eine pragmatische, z.T. unbewußte und nicht-symbolische Formung der Identität, während die Interaktion mit anderen Menschen und der Kontakt mit Symbolen und Ideen auf kognitiver und emotiver Basis ihre Spuren hinterläßt. Nicht zu vergessen ist zudem, daß diese Anlässe selbst vom Individuum ausgewählt und geformt werden können bzw. untereinander verbunden sind. Die Auseinandersetzung mit den nicht-individuellen Anlässen kann dabei auf vielerlei Art erfolgen (u.a. Ashforth/Mael 1989, Zavalloni 1983, Weinreich 1983, Westin 1983, Holzner/Robertson 1980): es muß nicht immer eine vollständige Identifikation sein; oft fühlt sich die Person nur graduell verbunden, und oft ist es eher die Differenz als die Verbundenheit, die betont wird. Auch der Aussageninhalt kann wechseln: eine Beschreibung kann, mit Gumbrecht (1979) gesprochen, beantworten „wer einer ist, wie einer ist und was einer ist“. Neben Fragen der Kohärenz und Kontinuität der Lebensgeschichte tritt schließlich auch die moralische Frage des commitments (Kavolis 1980, Luckmann 1983). Eine Identität zu besitzen, heißt auch, „sich treu zu bleiben“, „authentisch“ zu sein, Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen. Jones (1978:67f.) verweist auf eine quasi-religiöse „Sprache der Offenbarung“, die vielen Erzählungen, die einen Wechsel der Identität zum Thema haben, eigen ist: man „sieht Dinge in einem neuen Licht“ oder „es fällt einem wie Schuppen von den Augen“. Vielleicht ist es diese moralische Komponente mehr als die anderen, die den sozialen Zwang zur Identität heraufbeschwört.

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Kapitel 7

Routinen,

Praktiken andere

Menschen

Körper

Bewußtsein

Symbole, Ideen

Abbildung 2: Einflußfaktoren der individuellen Identität15

Legt man Identität auf diese Weise als Narration mit vielfältigen Quellen und Verläufen an und entfernt sich damit vom Gedanken eines festen inneren Kerns, so wird es andererseits schwieriger zu erklären, warum Transformationen in der Lage sind, ein solches Netzwerk, das gewissermaßen notfalls auf andere „Schienen“ ausweichen könnte, zu bedrohen. Ähnlich schwierig scheint das analoge Problem auf der organisationalen Ebene (zur kollektiven Identität s.u.): wenn, wie die Postmoderne annimmt, in Organisationen Mehrdeutigkeit herrscht und diese sogar notwendig für ihr Funktionieren ist, warum geraten dann Organisationen in Zeiten der Transformation, also Zeiten erhöhter Unsicherheit, in eine Krise? Müßte nicht das erhöhte Angebot an Mehrdeutigkeit erfreulich sein für Systeme, deren Identität auf Mehrdeutigkeit beruht? Sind Krisen in Transformationen nicht doch der Beweis dafür, daß Menschen und Organisationen komplexitätsreduzierende Systeme sind, deren Kapazität an dieser Stelle überfordert wird? Ich möchte diesen Fragen hier noch offenlassen und werde zu ihr im letzten Kapitel der Arbeit zurückkehren.

15 Die Trennung von Körper und Bewußtsein (als zwei Aspekten derselben Sache) ist allein der Darstellung geschuldet; der Pfeil zwischen beiden soll verdeutlichen, daß es sich nicht um die cartesische Auffassung handelt.

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Zeit, Wandel und Transformation

Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv In dem Maße, in dem sich Individuum und Organisation als Einheiten auflösen, wird auch die Grenze zwischen ihnen unschärfer. In einem Vergleich von Theorien der sozialen Identität16, den Nkomo/Cox (1996) anstellen, wird deutlich, daß die Identität des Kollektivs per se in vielen Fällen gar nicht konzeptualisiert wird, sondern allein die individuelle Identifikation mit einer Gruppe thematisiert wird. Wir haben bereits im vorhergehenden Abschnitt gesehen, wie stark die individuelle Identität von nicht-individuellen Faktoren beeinflußt wird, etwa wenn sich Individuen Helden wählen oder bestimmte sozial vermittelte Logiken der Selbstheit17

Diese Gedanken sollen nun zunächst mit Blick auf eine kollektive Identität fortgesetzt werden. Die Erinnerung von bedeutsamen Ereignissen, sei es auf individueller oder kollektiver Ebene, setzt Bedeutung im Sinne einer symbolischen Vermittlung voraus, die wiederum an soziale Vermittlung, z.B. Sozialisation, gebunden ist (Ortmann 1995, Assmann 1992). Erinnerung kann somit nicht individuell i.e.S. sein. Assmann (1992:37) geht in Anlehnung an Maurice Halbwachs sogar so weit zu sagen, daß die individuelle Erinnerung nur eine Kreuzung verschiedener kollektiver Erinnerungen darstellt - ein Gedanke, der bereits aus der Postmoderne vertraut ist. Umgekehrt können Ereignisse von Einzelnen in der Öffentlichkeit immer wieder erinnert werden, ohne gesellschaftlich wirksam zu werden; man denke an Ortmanns (1995) Rede vom „institutionellen Vergessen“.

(logics of selfhood) und soziale Ordnungsschemata in ihr Selbstbild integrieren.

Auf der kollektiven Ebene ist die Erinnerung vermutlich noch in weit stärkerem Maße an der Formung von Identität beteiligt als auf der individuellen, speziell wenn man Kollektive als „the unity of a temporally extended multiplicity of experiences and actions“ (Carr 1986:149) auffaßt oder davon ausgeht, daß es das Gedächtnis ist, das die Gemeinschaft stiftet (Assmann 1992:30). Auf dieser Ebene unterscheidet Assmann (1992:56) noch einmal ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis, das erste bestehend aus individuellen Erfahrungen, die innerhalb gleichzeitig lebender Generationen ausgetauscht werden, das zweite bestehend aus Traditionen und Objektivationen, die von spezialisierten Traditionsträgern vermittelt werden. Doch es ist nicht nur die Erinnerung, die die Grenze zwischen Individuum und Kollektiv verschwimmen läßt, auch die fiktive Erzählung basiert auf jenem Grundzusammenhang zwischen individuellen (physischen, intentionalen) Trägern und einer sozialen (symbolischen, pragmatischen) Vermittlung und findet Eingang sowohl in die individuelle als auch in die 16 Nkomo/Cox betrachten: Social Identity Theory (SIT), Embedded Intergroup Theory, organisationale Demographie, Racioethnicity and Gender sowie ethnologische Ansätze. Ähnlich definiert Brown (1997) Organisationen als gemeinsame Identifikation der Mitglieder. 17 Kavolis (1980) versteht darunter Typen von Erzählungen, die einem Individuum das Gefühl von der für die Identität wichtigen Kohärenz vermitteln, z.B. die Übereinstimmung der Seele mit einer wesentlichen natürlichen oder übernatürlichen Struktur.

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Kapitel 7

kollektive Identität (vgl. etwa Czarniawska-Joerges 1992 zu den Helden im organisationalen Drama). Die Auflösung der Grenzen zwischen Individuum und Kollektiv bedeutet jedoch nicht, daß damit das klassische Problem der Integration schon per definitionem beseitigt wäre. Wie wir gesehen haben, besitzen z.B. Individuen, Kleingruppen, Organisationen und Gesellschaften verschiedene Zeithorizonte (mit Gewißheit sterblich sind nur Individuen) und unterschiedliche Zeitmuster, die synchronisiert werden müssen, um das soziale Geschehen in Gang zu halten (Lewis/Weigart 1990, Moore 1963, Castoriadis 1991). Diese Zeitmuster können zusätzlich innerhalb der Einheiten, z.B. abhängig vom Alter, differieren. Glücklicherweise muß die Synchronisation nicht umfassend sein, im Gegenteil basieren moderne Familien und Organisationen gerade darauf, daß sie keine totalen Institutionen sind, sondern ihre Mitglieder mehreren Gruppierungen angehören (Moore 1963).

Zusammenschau I: Einige Elemente einer postmodernen Theorie der Transformation in der Organisationsforschung Die Umsetzung dieser Überlegungen in der Organisationstheorie und -forschung kann natürlich auf vielfältige Weise geschehen; ich möchte in der folgenden Tabelle einige ansprechen, die ich im Hinblick auf eine Theorie der Transformation für bedeutsam halte. Da die Vorgehensweise einer Deduktion entspricht, sind die Vorschläge im mittleren Feld als nicht erschöpfende Aufzählungen zu werten.

Kapitel / Überlegung

Umsetzung in der Organisationsforschung Anknüpfung an vorhandene Ansätze

Problem der Präsenz: gegen den

Repräsentationa-lismus

Beschreibungen von Organisationen und Individuen sind keine Abbildungen, sondern immer nur begrenzte Konstruktionen zu einem bestimmten (Erkenntnis-)Zweck. Solche Konstruktionen können nicht falsch sein, sondern nur besser oder schlechter geeignet.

Systemtheorie Weick

Empirische Forschung kann nicht den Zweck haben, Organisationen genauer oder unverzerrter zu beschreiben. Auch gesammelte Daten sind keine Abbilder. Sie kann dagegen bspw. den Zweck haben, fremde Diskurse kennenzulernen, die eigenen Einsichten zu schärfen, Politik zu betreiben

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Zeit, Wandel und Transformation

Kapitel / Überlegung

Umsetzung in der Organisationsforschung Anknüpfung an vorhandene Ansätze

oder in einen Dialog zu treten. Wenn Wissenschaft ihre eigenen Diskurse

und Zwecke hat, können Erkenntnisse der Organisationswissenschaft nicht ohne weiteres in die -praxis übertragen werden. Organisationen können nicht neutral analysiert werden; sie geben dem Forscher, der mit wissenschaftlichen Methoden herangeht, kein Geheimnis preis, das sie dem Manager verwehren würden.

Systemtheorie

Betrachtung von Werden und Sein

Es müssen sowohl Prozesse als auch Strukturen, sowohl Selbsttechniken als auch Identitäten, sowohl Handlungen als auch Intentionen betrachtet werden.

Heranziehen von nichtwissen-schaftlichen Beschreibungen

Neben literarischen spielen für die Organisationsforschung hier Praxisbeschreibungen eine wichtige Rolle. Sie sind als andere, aber gleichwertige Diskurse zu betrachten - Manager sind keine „primitiven Völker“, denen Überblick oder Reflexionsmächtigkeit fehlt18

. Konstruktion statt

Selektion Wahrnehmung von Umwelten oder organisationalen Realitäten sind keine Filter-, sondern aktive Konstruktionsleistungen.

Weick Instit. Ansätze Systemtheorie

Beachtung des Kontextes

Erklärung kann stets nur auf einer lokalen Ebene stattfinden, allerdings muß sie, um wissenschaftlich zu sein, auf generelle Aussagen zurückgreifen. Organisationen folgen nicht allesamt dem Entwicklungsmodell X oder dem politischen Ansatz Y. Lokale Erklärungen werden umso besser, je größer die Auswahl an generellen Aussagen ist, die ihnen zur Verfügung steht => es müssen möglichst viele generelle Aussagen generiert werden, weshalb Paradigmenvielfalt und Interdisziplinarität wünschenswert ist.

Weick Politikansätze

kein „Wesenskern“ für Individuen und Organisationen

Beides sind Kreuzungen aus vielen Diskursen, Akteuren, Handlungen, Artefakten etc. Sie enthalten auch Widersprüche und Formen, die unverbunden nebeneinander stehen.

Instit. Ansätze (in Anfängen) garbage can

Erzählung:

18 Primitive Völker übrigens auch nicht.

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Kapitel 7

Kapitel / Überlegung

Umsetzung in der Organisationsforschung Anknüpfung an vorhandene Ansätze

Heranziehen von literaturwissen-schaftlichen Methoden und Erkenntnissen

Genres, Helden, Topoi u.a. sind Grundlagen der Wahrnehmung und Kommunikation von organisationalen Akteuren. Basic assumptions sind nicht in den Tiefen des Individuums vergraben, sondern geteilte narrative Formen, die auch dem Forscher zugänglich sind. Die Aufgabe der Trennung von Fakt und Fiktion führt einerseits zu einer Erleichterung in der empirischen Erfassung (man muß nicht entscheiden, ob es wahr ist), andererseits zu einer Konzentration auf die Wirksamkeit von Fakten und Aussagen. Mit dieser Einstellung wird organizational symbolism zu einer grundlegenden Herangehensweise in der Organisationsforschung, nicht zu einem auf Mythen und Rituale beschränkten Spezialgebiet.

Beachtung des Kontextes

Jedes Ereignis kann nur unter Bezug auf seinen Kontext verstanden werden. Dies führt einerseits zu lokalen Erklärungen (s.o.), andererseits zu einer Aufnahme des Kontext-Gedankens in generelle Aussagen.

Ethnometho- dologie garbage can

Identität und Verhältnis Individuum - Kollektiv: Auflösung der

Grenzen zwischen Individuum und Kollektiv

Neben die handlungstheoretische Betrachtung von Organisationen als Produkten individuellen Handelns muß die Betrachtung des Individuums als Kreuzung von sozialen (organisationalen) Diskursen treten19

. Individuen sind nicht nur aktiv, sondern auch reaktiv.

Biographische Intention

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Individuums oder einer Organisation sind nicht getrennt voneinander verstehbar. Forschung, die nur einen Aspekt untersucht, neigt zu Fehlinterpretationen. Nicht das Ereignis als solches, sondern seine Bedeutung (die u.U. für jeden Beteiligten verschieden ist) müssen verstanden werden. Soziale Erwartungen und kulturelle Notwendigkeiten (z.B. der Zwang zur Biographie) müssen beachtet werden.

Hermeneutik

19 Die Kreuzungs-Betrachtung ist keine strukturalistische oder systemtheoretische, da es nicht darum geht, die Priorität oder Unabhängigkeit von sozialen Diskursen anzunehmen. Sie ist eher im Sinne von Giddens oder Heidegger als Dualität bzw. Vorstruktur zu verstehen (vgl. folgende Kapitel).

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Zeit, Wandel und Transformation

Kapitel / Überlegung

Umsetzung in der Organisationsforschung Anknüpfung an vorhandene Ansätze

Schriftlichkeit Die spezifischen Bedingungen einer Schriftkultur müssen in die relevanten Betrachtungen (z.B. Identität, Kommunikation, Organisieren) miteinbezogen werden.

aleatory account Lineare, logische Entwicklungen sowohl im personalen als auch im organisationalen Bereich sind verdächtig und erklärungsbedürftig. Zufälle (evtl. modifiziert durch Kontexte) können adäquate Erklärungen sein. Prognosen können nur selten angestrebt werden.

garbage can

verschiedene „Quellen“ der Identität

Individuelle und organisationale Identitäten sind auch Prozesse, die von Intentionen geleitet werden. Auch hier sind die Grenzen zwischen „Innen“ und „Außen“ fließend, die Beziehung reziprok. Die Beschreibung muß sich auch auf ein normatives Element einlassen.

Definition des Kollektivs

Das Soziale umfaßt nicht nur die Menge aller Individuen, die Organisation die Menge ihrer Mitglieder, sondern sie ist auch ein „totales“ Phänomen im Sinne eines plots. Sie hat dementsprechend eigene Diskurse, Techniken etc. Das Problem der Integration stellt sich nach wie vor, wenn auch nicht im klassischen Sinne.

Abbildung 3: Einige Elemente einer postmodernen Theorie der Transformation

Diese Elemente sollen unter Verwendung der Theorien von Heidegger, Giddens und Foucault im letzten Kapitel noch einmal aufgenommen und systematisiert werden.

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Kapitel 7

Exkurs: Zeit, Wandel und Narration - Die Entstehung eines neuen Mythos? Betrachtet man die enge Verbundenheit von Zeit, Wandel und Narration (siehe oben), dann ist es nicht verwunderlich, wenn in Transformationssituationen bestimmte, nicht alltägliche Zeit- und Erzählformen (wieder-)auftauchen20. Ein prädestinierter Kandidat dafür ist die Form des Mythos21

Ich möchte im folgenden am Prozeß der deutschen Vereinigung einige Indizien aufzeigen, die mir diese These zu bestätigen scheinen. Dazu ist es zunächst notwendig, den Begriff des Mythos näher zu bestimmen. Cassirer setzt dem analytisch-wissenschaftlichen Denken das mythische entgegen, das u.a. folgende Merkmale besitzt (vgl. Cassirer 1994b:46ff. und 129ff., außerdem Assmann 1992, Barthes 1977d):

. Viele Mythen, etwa des kretischen Minotaurus, der deutschen Nibelungen oder der irischen Fomoré und Tuatha Dé Danann, sind historisch relativ sicher in Zeiten der Transformation zu lokalisieren, in denen Völker untergingen oder eine neue Identität fanden. Betrachtet man den Mythos semiotisch als archaischen Code, so träfe die These zu, daß in Zeiten, in denen aktuelle Codes versagen, ein Rückgriff auf frühere, weniger ausdifferenzierte Codes unternommen wird (Schlieben 1988). Mythen beinhalten kollektive Repräsentationen (Barthes 1977d), weshalb sie in Zeiten kollektiven Identitätswandels geradezu thematisiert werden müssen. Ein neuer Mythos kann dann das neue System legitimieren und stabilisieren, bis andere, „modernere“ Codes wieder eingreifen.

1. Es erfolgt keine Trennung zwischen Vorgestelltem und Wirklichem; alles, was Wirkkraft besitzt, ist real.

2. Das Bild stellt die Sache nicht dar (Repräsentation), sondern ist identisch mit ihr. Ebenso enthält das Wort (besonders der Eigenname) die realen Kräfte des Gegenstands/der Person (Wortzauber). Auch der Ritus ist keine Darstellung, sondern der Vollzug eines Ereignisses.

3. Die Kausalität ist intentional und auf Einzelereignisse bezogen; allgemeine Gesetze fehlen.

4. Der Teil ist ein „Mikrokosmos“, in dem sich das Ganze widerspiegelt. 5. Kulturelle Phänomene erscheinen als natürliche. 6. Der Mythos funktioniert legitimierend und z.T. kontrapräsentisch, d.h. die

mythische Vergangenheit dient als Vergleichsfolie zur Gegenwart. 7. Die Vergangenheit funktioniert als Begründung, sie hat selbst keine

Begründung mehr. Sie ist zeitlich nicht weiter unterteilbar. 8. Die Trennlinie zwischen der Vergangenheit des mythischen Ursprungs

und der Gegenwart ist nicht ständig fließend, sondern kategorial. 20 Die Betonung liegt auf „Formen“. Ich möchte auch im folgenden die Möglichkeit eines Mythos der deutschen Vereinigung nur formal anhand der gegebenen Kriterien, nicht inhaltlich durch die Beschreibung konkreter Mythen untersuchen. 21 Um dem Modewort „Mythos“ zu entgehen, verweise ich auf die klassischen (allerdings sehr umfangreichen) Definitionen von Jolles (1982:91ff.) und Cassirer (1994b). Die für meine Ausführungen wesentlichen Merkmale werde ich im folgenden benennen.

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Zeit, Wandel und Transformation

Betrachtet man Diskurse, die kurz nach der Vereinigung in und über Ostdeutschland bzw. das vereinte Deutschland geführt wurden, so kann man m.E. einige Phänomene22

(ad 1 und 2) Wenn Statuen mit hohem finanziellem Aufwand demontiert und Straßennamen von unbekannten sozialistischen Lokalhelden zu unbekannten vor-sozialistischen Lokalhelden umbenannt werden, wenn „Leiter“ nun „Führungskräfte“ und „Sektionen“ „Fakultäten“ heißen, so scheinen Worte und Namen nicht praktische Bezeichnungen mit schlichter repräsentationaler Funktion zu sein. Die Eliminierung von Namen und Bildern zielt hier auf eine Eliminierung der mit ihnen verbundenen Dinge oder Sachverhalte. Ähnlich schien und scheint mir die „Besprechung“ eines Problems im magischen Sinne auch heute noch Haupteffekt vieler wissenschaftlicher Konferenzen zum Thema „Transformation in Osteuropa“ zu sein, in denen der Austausch (kaum vorhandener) Erkenntnisse nur eine untergeordnete Rolle spielt. Stärker scheint hier der Wunsch, analog zum Ritual und zum Wortzauber, durch den Vollzug der wissenschaftlichen Form „Konferenz“ den wissenschaftlichen Inhalt produzieren zu können.

in diese Beschreibung einordnen:

(ad 1,3,4 und 5) Die Entstehung der Etiketten „Ossi“ und „Wessi“ weist ebenfalls gewisse mythische Parallelen auf. Zum einen ist der Teil das Ganze: ein „Ossi“ oder „Wessi“ ist nicht primär ein Mensch, der in Ost- bzw. Westdeutschland wohnt oder aufgewachsen ist, sondern ein Vertreter eines Systems und einer Gesellschaft, deren Charakteristika auch die seinen sind. Es handelt sich hier nicht um Generalisierungen aufgrund einer Vielzahl von Fällen, sondern um den Versuch der jeweils anderen Seite, vorgestellte bzw. deduzierte Eigenschaften zu personifizieren (in schlimmen Fällen möchte man eher von „dämonisieren“ sprechen). In dieses Raster passen auch populistische Erklärungsmuster, die gesellschaftliche Abläufe als intentionale Kausalitäten darstellen, etwa die Ansicht, daß „die Treuhand den Osten plattmachen will“ oder „die Ostdeutschen den Westen aussaugen wollen“. Andere Erklärungen fallen durch einen stark naturalistischen Diskurs auf, etwa wenn der „natürliche Egoismus“ des Menschen oder die „Kräfte des freien Marktes“ bemüht werden.

(ad 6) Die kontrapräsentische Funktion des Mythos läßt sich in pessimistischen (Ostalgie) und optimistischen („Alles ist besser geworden.“) Varianten ausmachen. Daß es bei diesen Aussagen nicht um einen rational-historischen Vergleich geht, zeigt der hohe Pauschalisierungsgrad.

(ad 7 und 8) Der kategoriale Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart schließlich wird deutlich, wenn es genügt, in der Erzählung zwischen „vor“ und „nach der Wende“ zu unterscheiden. Im Gegensatz zur westlichen Erfahrung, für die die Entfernung von heute zu 1987, 1989 und 1992 eine einfach proportionale ist, gliedern sich Erlebnisse und Kontexte in Bezug auf Ostdeutschland sehr deutlich entlang der Scheidewand 1989. Und es ist nicht nur eine Dichotomie, die sich aus den

22 Ich spreche bewußt von „Phänomenen“, um anzuzeigen, daß es sich hier um Einzelausprägungen, nicht (oder nur eng begrenzt) um Verallgemeinerungen handelt.

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Kapitel 7

Ereignissen begründet, es ist eine, die die Vergangenheit oft monolithisch erscheinen läßt. „Vor der Wende“ bedeutet oftmals genausogut 1972 wie 1980; es ist letztlich nur noch die Unterscheidung Jetzt vs. Nicht-Jetzt, welche Cassirer als archaischste Zeitunterscheidung beschreibt23

Es steht außer Frage, daß die genannten Phänomene auch soziologisch und psychologisch erklärt werden können; diese durch eine semiotische Erklärung zu ersetzen, war auch nicht mein Ziel. Allerdings erlaubt die semiotische Erklärung ihre Zusammenschau und Einbettung in einen transformationalen Zusammenhang. Ob es jemals einen Mythos der deutschen Vereinigung geben wird, kann ich nicht sagen; man muß an dieser Stelle auch in Betracht ziehen, daß der Mythos als literarische Großform sicher heute kein ernsthaftes Publikum mehr fände. Was es jedoch mit Sicherheit schon heute gibt, sind all die kleinen Mythenfragmente

. Mit der chronologischen Abfolge verliert die Vorwendezeit auch die kausale; sie hat keinen Grund mehr, sie ist Grund. Dies hat wichtige legitimatorische Konsequenzen, die bis in den wissenschaftlichen Bereich gehen. (Man denke etwa an die Gegenüberstellung „Kommandowirtschaft/freie Marktwirtschaft“.) Eine solche Mythisierung historischer Epochen beschreibt Assmann (1992) als ein Merkmal „heißer“, d.h. sich rasch wandelnder Gesellschaften. Statt durch den Mythos den ewigen Kosmos bedeutsam zu machen, wird die sich wandelnde Geschichte mit symbolischer Bedeutung versehen.

24

(vgl. Barthes 1977d), die in individuellen Begebenheiten diese „wilden Zeiten“ deuten.

Überleitung Die folgenden drei Kapitel (je eines zu Giddens, Heidegger und Foucault) sind als Vorspann für das vorletzte Kapitel zu lesen, in dem dann die bisherigen Überlegungen mit den drei Ansätzen in Verbindung gebracht und dadurch erweitert und systematisiert werden sollen. Sie sind insofern ein Vorspann, als in ihnen die drei Theorien „nur“ dargestellt und expliziert, also keine neuen Ergebnisse gewonnen werden. Leser, die mit den Theorien vertraut sind, können deshalb die folgenden Kapitel auch überspringen oder

23 In seiner Untersuchung zur Ausbildung der Zeitvorstellung im Laufe der Sprachgeschichte benennt Cassirer drei Hauptphasen, die eine zunehmend differenzierte Zeitvorstellung aufzeigen: 1. Unterscheidung Jetzt vs. Nicht-Jetzt, unmittelbares vs. mittelbares Erleben 2. Unterscheidung vollendete vs. unvollendete Handlung, dauernde vs. vorübergehende Handlung 3. Zeit als abstrakter Zahl- und Ordnungsbegriff Diese Phänomene belegt er jedoch nicht nur diachron an der Entwicklung der indogermanischen Sprachen, sondern auch synchron im Vergleich zu existierenden Sprachen anderer Kulturkreise (Cassirer 1994a:170ff.). 24 Der Ausdruck ist nicht sehr glücklich. Jolles (1982:91ff.) spricht von Mythus (Großform) vs. Mythe (Kleinform). Leider geht diese Unterscheidung im Plural verloren.

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Zeit, Wandel und Transformation

nur kursorisch lesen; sie sind in erster Linie dem Publikum gewidmet, das die Autoren bisher nicht oder nur wenig rezipiert hat.

Warum ein Exkurs? Drei Gründe haben mich bewogen, an dieser recht fortgeschrittenen Stelle der Arbeit einen solch großen Exkurs einzufügen: 1. Die Ansätze, v.a. Heideggers, sind vielen Betriebswirtschaftlern

weitgehend unbekannt. Um ihnen das Verständnis zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen, ohne sie auf das Studium der Quellen verweisen zu müssen, habe ich mich bemüht, die Theorien auch in ihrer Grundintention und Breite darzustellen. Daß sich dabei ein trade-off zwischen Ausführlichkeit und der Natur des Exkurses (als kurzem Einschub) ergibt, ist offensichtlich. Ich hoffe, einen vertretbaren Kompromiß gefunden zu haben.

2. Wenn die Theorien bekannt sind, erschöpft sich diese Bekanntheit oft in Schlagworten, z.B. der Dualität von Struktur bei Giddens oder der Verbindung von Macht und Wissen bei Foucault. Dies kann zu Mißverständnissen und reduktionistischen Fehlern bei der Rezeption führen, da ich auf das umfassendere Korpus der Autoren zurückgreifen möchte. Aus diesem Grund schien es mir besser, dies auch darzustellen.

3. Nachdem in dieser Arbeit so häufig die Rede von Interpretation war, kann sie auch an diesem Punkt nicht ausbleiben: die dargestellten Zusammenhänge, die getroffene Auswahl der Schwerpunkte, die Darstellung sind natürlich meine Lesart der drei Autoren. Auch wenn ich mich bemüht habe, eine adäquate Darstellung zu geben, so ist diese unvermeidlich von meinem Vorverständnis und situativ von meinem Erkenntnisinteresse gefärbt. Diese Färbung soll jedoch insofern explizit gemacht werden, als ich in den folgenden Kapiteln darlege, was für mich in welchem Zusammenhang bei Giddens, Heidegger und Foucault wichtig ist, oder anders ausgedrückt, woran ich denke, wenn ich im letzten Kapitel z.B. „Struktur“, „Dasein“ oder „Macht“ sage. Da die Bedeutungen dieser Begriffe, die ja Zentralbegriffe von Theorien darstellen, zu umfangreich sind, um sie in einem Absatz oder einer Fußnote zu klären, habe ich mich zu diesem Exkurs entschlossen. In dieser Hinsicht mögen die folgenden Kapitel auch für den Leser, der mit den Theorien vertraut ist, von Interesse sein.

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Kapitel 7

Warum Giddens, Heidegger und Foucault? Organisationstheoretische Abhandlungen haben sich häufig vielerlei Anschuldigungen zu erwehren, die sich um mangelnde Anwendbarkeit oder “Praxisrelevanz” und, damit verbunden, um Esoterik und Realitätsferne ranken. Der Streit darüber, ob dies eine berechtigte Kritik darstellt, ist vermutlich ein endloser; ich hoffe, meinen ablehnenden Standpunkt diesbezüglich, den ich mit anderen Autoren teile (etwa Astley/Zammuto 1992, Gergen 1994), im Laufe der Arbeit deutlich gemacht zu haben. Unbestritten scheint mir jedoch andererseits, daß eine organisationstheoretische Abhandlung auf theoretischer Ebene kritisiert werden kann und muß, und hier ist es vornehmlich die Forderung nach Konsistenz, die in den Vordergrund tritt. Dabei geht es einerseits um, sagen wir, eine “einfache Konsistenz”, deren Anspruch sich in der Widerspruchsfreiheit der aufgestellten Thesen und Schlußfolgerungen erschöpft und deren Erfüllung als grundlegend, aber auch trivial im wörtlichen Sinne angesehen werden kann. Eine erweiterte Konsistenzforderung erstreckt sich auf die Grundannahmen einer Theorie, die explizit und konsistent ausgearbeitet sein müssen, soll sich die Theorie vom gesunden Menschenverstand (oder von Managementkonzepten) unterscheiden25

. Diese Grundannahmen, die u.a. das Menschen- und Gesellschaftsbild betreffen, gehen, sofern man eine theoretische Ausarbeitung sucht, über das disziplinäre Gebiet der Organisationstheorie hinaus in Bereiche etwa der Soziologie, Sozialtheorie oder Philosophie.

Organisation Organisationstheorie Soziales Sozialtheorie Sein/Werden Philosophie

Abbildung 4: Beispiel einer Fundierung von organisationstheoretischen Problemstellungen

Was den Blick z.B. von der Organisationstheorie auf die Philosophie von dem innerhalb der Philosophie unterscheidet, ist die verengte, problemzentrierte Betrachtungsweise (symbolisiert durch den Keil), die vieles als gegeben hinnimmt, was innerhalb der Philosophie (symbolisiert durch das breite graue Band) zu Diskussionen und (Detail-)Kritik führen kann.

25 vgl. dazu etwa Fußnote 4: Die Metaphysik z.B. ist nicht deshalb eine theoretische Disziplin, weil sie dem Laienwissen hinsichtlich der Gewißheit überlegen ist, sondern weil ihr Wissen systematisch aufbereitet und konsistent ist. Ich halte diesen Aspekt vor allem in den Sozialwissenschaften für zentral, da ich, wie bereits ausgeführt, davon ausgehe, daß der Laien-Akteur bzgl. der “Fakten” des sozialen Lebens nicht weniger weiß als der Wissenschaftler.

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Zeit, Wandel und Transformation

Aus dieser Forderung heraus schien es mir wichtig für den theoretischen Anspruch dieser Arbeit, die “tieferen” Ebenen einer Betrachtung von Präsenz, Erzählung, Identität und dem Verhältnis Individuum-Organisation explizit werden zu lassen, wie ich dies hinsichtlich des formal-theoretischen Aspekts bereits für die Wissenschaftstheorie im Kapitel 2 getan habe. Als Sozialtheoretiker habe ich hier Giddens und Foucault gewählt, weil es sich bei ihnen um relativ neue grand theories handelt, die sich auch im Austausch mit postmodernem Gedankengut entwickelt haben (und umgekehrt). Sie sind insofern aktuell, als sie auch in der Organisationstheorie zunehmend diskutiert werden (vgl. für Giddens u.a. Walgenbach 1995, Ortmann 1992b und 1995; für Foucault Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.). Trotz dieser Diskussion bin ich der Auffassung, daß wesentliche Teile ihrer Gedankengebäude nicht oder nur unzureichend aufgenommen wurden (s.o., Punkt 2), was vor allem für die Betrachtung von Zeit und Wandel gilt. Beide Autoren greifen wiederum stark auf Heidegger zurück, weshalb ich es im Interesse einer Fundierung für angebracht hielt, auch ihn mit aufzunehmen, vor allem da Heideggers Arbeiten zu Zeit und Subjekt bei all ihren Problemen zweifelsohne wegweisend in diesem Jahrhundert, auch für die Postmoderne, waren (vgl. u.a. Stegmüller 1989:177, Kneer 1996:27). Ich erhoffe mir somit von den drei Autoren neben der inhaltlichen Unterstützung bestimmter Punkte vor allem eine Fundierung und Systematisierung des bisher Diskutierten, die vereinbar mit postmodernen Überlegungen ist.

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Kapitel 7

28

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens1

Vorbemerkungen

Der Zusammenhang von individuellem Handeln und Erleben mit dem Geschehen in größeren Einheiten wie Gruppen, Organisationen und Gesellschaften wurde bereits kurz im letzten Kapitel angesprochen. Er bedarf m.E. keiner besonderen Erläuterung bezüglich seines grundsätzlichen Bestehens, wohl aber eine spezifische inhaltliche Ausgestaltung in einer Theorie. Ich habe dafür die Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens gewählt, weil er als einer der wenigen soziologischen Autoren sich bemüht, einen substantiellen Temporalismus (vgl. Martins 1974 im vorhergehenden Kapitel) in seine Theorie einzubauen. Außerdem geht er, speziell in seinem Buch „Modernity and Self-Identity“ (1992b), auf Fragen der Identität und ihre Verbindung mit Wandel ein. Obwohl Giddens Theorie in den englischsprachigen Ländern bereits seit Ende der 70er Jahre heftig diskutiert wird, fand sie in der deutschen Betriebswirtschaftslehre erst zu Beginn der 90er Jahre Aufmerksamkeit (Walgenbach 1995:761), und diese auch häufig nur beschränkt auf das erste Kapitel von „The Constitution of Society“. Das Etikett der grand theory wurde ihr nicht in jedem Fall als Lob angerechnet; gilt doch manchen Soziologen (vgl. Turner 1992b) bereits der Versuch, eine solche zu entwerfen, als strafbar. Giddens selbst möchte sie denn auch nicht so verstanden wissen; er spricht von „conceptual salvoes“. Ich stimme mit Gregory (1990:220) überein, daß sich die Theorie der Strukturierung - wenn auch nicht immer konsistent - zumindest (wieder) mit den „grand questions“ der Soziologie befaßt: die Bewegung von der Epistemologie zurück zur Ontologie, die Giddens auch explizit proklamiert (1991a:201). Die folgenden Ausführungen beruhen im wesentlichen auf „The Constitution of Society“, „Consequences of Modernity“ und „Modernity and Self-Identity“, die ich im Hinblick auf die Problemstellung für die wichtigsten halte.

Ausgangspunkt: die Dualität von Struktur Die Dualität von Struktur (vgl. zum folgenden 1993:25ff.)2

1 Ich danke Peter Walgenbach für wertvolle Hinweise.

, sicherlich das „Herzstück“ der Theorie der Strukturierung, ist das bekannteste - manchmal

2 Angegebene Jahreszahlen ohne Autor beziehen sich im gesamten Kapitel auf Giddens.

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Kapitel 8

das einzig bekannte - Element, weshalb ich nur noch kurz auf es eingehen möchte. Strukturen sind im Giddens’schen Sinne in zweifacher Hinsicht dual: zum einen wirken sie gleichzeitig konstitutiv und begrenzend auf individuelles Handeln, zum anderen (Hauptaspekt) sind sie gleichzeitig Medium und Ergebnis des Handelns. Konkret bedeutet dies zum einen, daß Individuen in ihrem Handeln einerseits durch existente Strukturen3

Aus der Natur von Handlung lassen sich unmittelbar drei Dimensionen der Dualität ableiten: Bedeutung, Normativität und Macht. Sie besitzen jeweils unterschiedliche Ausprägungen am Handlungs- und Strukturpol. Die strukturelle Ausprägung von Bedeutung sind Bedeutungsregeln, die handlungsbezogene ist Kommunikation. Für Normativität sind es Legitimationsregeln und Sanktion; für Macht Herrschaftsressourcen und Machtausübung. Zwischen beiden liegt die Ebene der Modalitäten, die konkrete Ausformungen von Struktur beschreibt (z.B. die deutsche Grammatik als Ausformung von Bedeutungsregeln). Wenn diese Aspekte auch immer verbunden auftreten und nur konzeptuell trennbar sind, so benennt Giddens dennoch dominante Typen von Institutionen, die er den Aspekten zuordnet:

begrenzt werden, die Strukturen andererseits aber auch brauchen, um überhaupt sinnvoll handeln zu können. Z.B. wird das Schließen von Verträgen durch bestimmte rechtliche Grundsätze einerseits eingeschränkt, andererseits wären Verträge ohne Gesetze, die ihnen Geltung verschaffen, nicht denkbar, und zwar sowohl auf der pragmatischen (Verträge ohne Vertragsbindung sind nutzlos) als auch auf der konzeptionellen Ebene (das Konzept des Vertrages wäre nicht verständlich). Die Dualität von Konstitution und Begrenzung entspricht im wesentlichen den Gedanken Foucaults (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.). Zum anderen bedeutet Dualität, daß Individuen Strukturen sowohl beim Handeln benutzen (Medium; vgl. oben) als auch aufgrund dieser Benutzung beabsichtigt oder unbeabsichtigt (re-)produzieren (Ergebnis). Z.B. wird durch die implizite oder explizite Berufung auf ein Gesetz, die der Verfolgung von bestimmten Interessen dient, dieses Gesetz (nebenbei) als gültig bestätigt.

Bedeutungsregeln ↔ symbolische Ordnungen

Legitimationsregeln ↔ legale Institutionen

Herrschaftsressourcen allokativ ↔ ökonomische Institutionen

Herrschaftsressourcen autoritativ ↔ politische Institutionen

3 Giddens (1993:16ff.) definiert sie als Regeln und Ressourcen; zur erweiterten Definition vgl. Kapitel 0.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Das erweiterte Modell Nun behandelt Giddens die Pole „Struktur“ und „Handeln“ nicht als blackboxes, sondern legt in dem, was ich „erweitertes Modell“ nennen will, seine Theorien bezüglich Individuum, Gesellschaft und System dar (vgl. 1993:Kapitel 2 und 4). Er wendet dabei ein „methodologisches Einklammern“ (bracketing) an, das es erlaubt, entweder individuelles Handeln zu untersuchen und dabei Strukturen als feststehend anzunehmen oder die Formation von Strukturen zu untersuchen und dabei das individuelle Handeln auszublenden (1993:288).

Handeln und Akteure Hier entlehnt Giddens (1993:Kapitel 2) wesentliche Elemente seiner Theorie der Existenzialphilosophie4 (vgl. Craib 1990), indem er einen ständigen Strom von Handeln (flow) annimmt, der vor aller Reflexivität (und damit Intentionalität und Subjektivität) abläuft. Handlungen sind für ihn nicht - das expliziert er in Abgrenzung zur klassischen Handlungstheorie - losgelöste, aus einzelnen Akten zusammengesetzte Einheiten, sondern werden meist erst retrospektiv oder in einer bewußten kognitiven Anstrengung aus dem flow herausgelöst5

Das vor-reflexive Handeln besteht weitestgehend aus Routinen. Sie spielen in Form der „sozialen (oder institutionalisierten) Praktiken“ eine große Rolle in der Theorie der Strukturierung; Giddens bezieht sich öfter auf sie als auf das neutralere „Interaktionen“:

.

Struktur

Institutionalisierte

Praktiken

Handeln

Abbildung 1: Zusammenhang von Struktur, Handeln und Praktiken (Giddens 1990:301)

4 Wer mit dieser nicht vertraut ist, den verweise ich zum besseren Verständnis der verkürzten Darstellung in diesem Unterkapitel auf Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.. 5 Dies entspricht im wesentlichen auch Weicks (1985) Vorstellungen. Giddens verwendet hier ebenfalls z.T. den Begriff „Einklammern“, was jedoch nicht mit dem „methodologischen Einklammern“ an anderer Stelle verwechselt werden darf.

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Kapitel 8

Dem vor-reflexiven Handeln entspricht grob das praktische Bewußtsein des Akteurs. Damit umschreibt Giddens in Abgrenzung6

zum sog. diskursiven Bewußtsein die Sphäre des individuellen Weltverstehens, die vom Akteur nicht sprachlich formuliert wird oder werden kann. Man kann sich hier bspw. Ergebnisse von Sozialisierung vorstellen, die der Akteur verinnerlicht, ohne sich jemals bewußt zu werden, daß eine Sozialisierung stattgefunden hat, oder Garfinkels „etcetera“-Klauseln (Craib 1992:45), die die Anwendung einer allgemeinen Norm in einem spezifischen Kontext ermöglichen. Das diskursive Bewußtsein dagegen umfaßt die sprachlich formulierbaren Bewußtseinsinhalte. Als dritten Bestandteil der Persönlichkeit führt Giddens schließlich das basic security system ein, das grob dem Unterbewußtsein der Freudschen Theorie entspricht. Diesen drei „Schichten“ der Persönlichkeit entsprechen nun wiederum interaktionsrelevante Tätigkeiten, nämlich:

diskursives Bewußtsein ↔ monitoring bewußt

praktisches Bewußtsein ↔ rationalization bewußt

basic security system ↔ motivation unbewußt

Abbildung 2: Aspekte der Persönlichkeit und interaktionsrelevante Tätigkeiten

Monitoring beschreibt die ständige Beobachtung von Umwelt und Mitmenschen, nicht nur in ihren materiellen, sondern auch in ihren immateriellen Aspekten. Rationalization bezieht sich auf den Umstand, daß kompetente Akteure ein kontinuierliches Verständnis ihrer Handlungen besitzen, auch wenn sie dies nicht in jedem Fall diskursiv formulieren können. Motivation schließlich ist für Giddens im Unbewußten angesiedelt, wobei er damit eher ein Potential für Handlungen als eine Tätigkeit i.e.S. bezeichnen will. Motivation ist am wenigsten mit dem kontinuierlichen flow des Handelns verbunden; sie tritt eher in Störfällen, in denen die Routine versagt, zum Vorschein. Die Einbettung der drei Tätigkeiten ineinander (von unten nach oben) vollzieht Giddens in seinem „Stratifikationsmodell“. Das Unbewußte, zu dem der unmittelbare Zugang für das Individuum versperrt ist, kann nur im Zusammenhang mit Erinnerung verstanden und zum Ausdruck gebracht werden. Erinnerung ist für Giddens jedoch nicht ein Hervorholen der Vergangenheit, sondern steht in der Tradition von Augustinus, Bergson und Husserl (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) als zeitliche Ausformung des Bewußtseins mit Bezug zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist als solche auch Bestandteil des praktischen und diskursiven Bewußtseins, ohne den ein 6 Die Abgrenzung zwischen praktischem und diskursivem Bewußtsein gelingt, wie er einräumt, nicht vollständig; beide interagieren eng miteinander.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Bezugnehmen auf den flow gar nicht möglich wäre (vgl. das ähnliche Argument bei Bergson). Unbewußtes und Bewußtes zusammen mit dem Körper machen das Ich (I) des Akteurs aus; das Image, das er diskursiv von sich selbst entwirft, entspricht dem Selbst (self, me). All diese Bestandteile wirken nun auf das Handeln ein und erfahren umgekehrt Einwirkungen:

praktisches und diskursives Bewußtsein des Akteurs

monitoring, rationalization,

intentional

← Lernen

basic security system des Akteurs

Vertrauen

← Sicherheit

Körper des Akteurs

Körpersprache

← Position

Handeln

Selbst des Akteurs

Eigendefinition

← Definition des Gegenüber

Abbildung 3: Ausgewählte Aspekte der Beeinflussung zwischen Akteur und Handeln

In seiner Definition des Akteurs zeigt sich, daß Handeln zudem unlösbar verbunden ist mit Macht oder Vermögen:

„This presumes that to be an agent is to be able to deploy (chronically, in the flow of daily life) a range of causal powers, including that of influencing those deployed by others. Action depends upon the capability of the indiviual to ‘make a difference’ to a pre-existing state of affairs or course of events. An agent ceases to be such if he or she loses the capability to ‘make a difference’, that is, to exercise some sort of power.“ (1993:14)

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Kapitel 8

Macht ist damit nicht intentional definiert, sondern schon vor dem reflexiven Subjekt vorhanden (Outhwaite 1990:65). Dieses Zitat zeigt auch, daß Giddens dem Handelnden in jedem Falle eine, wenn auch noch so minimale, Freiheit unterstellt, anders zu handeln. Daraus entwickelt7

Begrenzt wird das Handeln schließlich auf drei Ebenen:

er seine „Dialektik der Kontrolle“, die besagt, daß jede Herrschaft auf ihre Reproduktion durch die Beherrschten angewiesen ist.

• strukturell: durch physikalische, physische und soziale „Unmöglichkeiten“,

• epistemisch: durch Begrenzung des Akteurswissens aufgrund von Kapazität, Verfügbarkeit, Validität,

• raumzeitlich: durch die räumlichen und zeitlichen Grenzen des Einflußbereichs des Akteurs.

Strukturen und Systeme Der Begriff „Struktur“ umschreibt für ihn mehrere Phänomene, die ich im folgenden der Genauigkeit wegen im Original zitiere (1993, Seitenangaben in Klammern): Structure 1. is the intersection of presence and absence; underlying codes have to be

inferred from surface manifestations (16). 2. is (in its most elemental meaning) referring to rules and resources (16). 3. refers to the structuring properties allowing the ‘binding’ of time-space in

social systems, the properties which make it possible for discernibly similar practices to exist across varying spans of time and space and which lend them ‘systemic’ form (17).

4. is the ‘virtual order’ of transformative relations (17). 5. Social systems do not have ‘structures’, but rather exhibit ‘structural

properties’ (17). 6. exists, as time-space presence, only in its instantiations in social practices

and as memory traces orienting the conduct of knowledgeable human agents (17).

7. is as a generic term distinguished from ‘structures’ in the plural and both from ‘structural properties of social systems’ (23).

8. is employed with the more enduring aspects of social systems (i.e. institutions) (24).

9. is out of time and space, save in its instantiations (25). 10. is marked by an ‘absence of the subject’ (25).

7 Er behauptet nicht, daß dies ein neuer Gedanke sei.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Structure is not 1. some kind of ‘patterning’ of social relations; a patterning of presences

(16), 2. ‘external’ to human action (16), 3. [solely] a source of constraint on the free initiative (16). Die Negativaussagen sind relativ leicht einzuordnen als die Ablehnung einer Verdinglichung von Strukturen, wie Giddens sie Strukturalismus, Funktionalismus und Systemtheorie vorwirft (1 und 2), und einer einseitig negativen, voluntaristischen Betrachtung (3). Die konsequente Ablehnung der Verdinglichung führt überhaupt erst zu Giddens’ Rede von der Strukturierung, ein Wort, das er benutzt, um die Aufmerksamkeit auf den Prozeßcharakter von Strukturen zu lenken. Die positiven Definitionen beleuchten jedoch sehr unterschiedliche Aspekte und bedürfen einer gewissen ordnenden Einbettung: Aussage 2 stellt wohl die problemloseste, eine Art „Arbeitsdefinition“ dar. Der Begriff „Struktur“ wird durch zwei anschaulichere, nämlich Regel und Ressource, ersetzt. Daß der Begriff der Regel ebenfalls nicht ganz unproblematisch ist, sieht Giddens auch und widmet seiner Besprechung mehrere Seiten. Von vier beispielhaft angeführten Regelarten (einer Spielregel, einer mathematische Folgeregel, einem Satz mit „in der Regel“ = „gewöhnlich“ und einer vertraglichen Regelung) identifiziert Giddens die mathematische Regel als die der Struktur am nächsten stehende, weil 1. bei ihr Verstehen und diskursives Äußern der Regel unabhängig

voneinander sind, 2. sie dem Akteur, der sie versteht, sagt, „wie man richtig weitermacht“, 3. sie generalisiert bzw. generalisierbar ist. Die übrigen Aussagen werden erhellt durch Giddens’ Unterscheidung zwischen dem syntagmatischen und dem paradigmatischen Charakter von Struktur: Er verwendet den Begriff „Struktur“ nämlich zur Bezeichnung sowohl des Ordnungsprozesses (paradigmatische Ebene: Aussagen 4,9) als auch des geordneten Ergebnisses (syntagmatische Ebene: Aussagen 3,6,8,10). Deshalb ist es ihm möglich, von „underlying“ und „surface“ in Aussage 1 zu sprechen und zwischen „structure“ und „structures“ in Aussage 7 zu unterscheiden. Um die Zweideutigkeit für den Leser nicht allzu verwirrend werden zu lassen, benutzt er „Struktur“ häufiger für die paradigmatische Ebene und „structural properties“8

In jedem Fall ist Giddens’ ontologische Stellungnahme sehr dezidiert: Strukturen existieren nirgends anders als in den Köpfen der Akteure. Sie zeitigen von selbst keine Ergebnisse, und Systeme handeln nicht. Wer so spricht, spricht verkürzend oder metaphorisch (was er selbst nicht selten, etwa beim methodologischen Einklammern, tut).

für die syntagmatische (vgl. Aussage 5).

8 „Used in a looser fashion, structure can be spoken of as referring to the institutionalized features (structural properties) of societies.“ (1993:185)

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Kapitel 8

Entsprechend definiert er auch Institutionen nicht als Gebilde, sondern als soziale Praktiken, die über Zeit und Raum andauern (vgl. zum folgenden 1993:Kapitel 4; ein Beispiel folgt unten). Cluster von Institutionen bilden soziale Systeme9

„All societies both are social systems and at the same time are constituted by the intersection of multiple social systems. Such multiple systems may be wholly ‘internal’ to societies, or they may cross-cut the ‘inside’ and the ‘outside’, forming a diversity of possible modes of connection between societal totalities and intersocietal systems.“ (1993:164)

, die wiederum in spezifischen raumzeitlichen Kontexten (locales) Gesellschaften bilden. Giddens vergleicht diesen Prozeß mit einem Relief: auf die tiefste Ebene, die intersocietal systems (das sind ausgedehnte Systeme, die einzelne Gesellschaften transzendieren), wirken Kräfte, die zu Verwerfungen führen. Durch sie werden Institutionen weiter „geclustert“ und bilden engere soziale Systeme. Da die Grundfläche in ihrer Beschaffenheit nicht homogen ist (lokale Unterschiede) und da die entstehenden Raumzeit-Kanten jeweils andere „Nachbarn“ haben, bilden dieselben Kräfte an verschiedenen Stellen in Abhängigkeit vom „Material“ und den „Nachbarn“ verschiedene Verwerfungen. Jede spezifische Verwerfung stellt eine Gesellschaft dar. Gesellschaften sind also nach der Definition von Giddens nicht immer gleichzusetzen mit sozialen Systemen; sie schließen manche von ihnen ein und werden von anderen transzendiert:

Wichtig für ihre Definition ist ihre Bindung an einen räumlich-zeitlichen Kontext (locale) und ihre Nicht-Abgeschlossenheit. Die „Kräfte“, die auf die intersocietal systems wirken, nennt Giddens „strukturelle Prinzipien“. Sie stellen die allgemeinsten Organisationsprinzipien von Gesellschaften dar im Gegensatz zu strukturellen Eigenschaften, die die konkretesten darstellen. Für die Veränderung der strukturellen Prinzipien zieht Giddens Braudels conjonctures (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) heran, ein Zeichen, daß es sich um sehr tief liegende, sich nur langsam wandelnde Ordnungskategorien handelt. Ihre Natur ist dialektisch, weshalb Giddens sie auch als „strukturelle Widersprüche“ klassifiziert. Um den durch sie affizierten Systemen aber eine Ausdehnung über Raum und Zeit zu ermöglichen, müssen sie auch auf Mechanismen der Integration zurückgreifen können. Denen ist es zuzuschreiben, daß Widerspruch nicht in jedem Fall Konflikt bedeutet. An einem Beispiel erläutert10

Wie hat man sich nun jedoch die Entstehung von strukturellen Prinzipien und Eigenschaften aus dem individuellen Handeln vorzustellen? Jede Handlung ruft nach Giddens unbeabsichtigte Folgen (unintended consequences)

, stellen sich die Begriffe etwa so dar: Der strukturelle Widerspruch (strukturelles Prinzip) der nicht-modernen Ständegesellschaft (class-divided society) besteht aus dem Antagonismus zwischen Stadt und Land. Als integrierende Kräfte, die den Widerspruch beherrschbar machen, wirken die alten Mechanismen der Stammesgesellschaft, Tradition und Verwandtschaft, fort, hinzu kommt die entstehende Staatsgewalt mit ihrem Gewaltmonopol und ökonomischen Interdependenzen. Das intersocietal system ist z.B. in der frühen Neuzeit der Frühkapitalismus.

9 Als Beispiele nennt er Netzwerke, Kollektive, Vereinigungen, Gruppen, Organisationen (1990:303). 10 Zum Beispiel der Moderne vgl. 0

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

hervor. Eine der häufigsten ist die Reproduktion von Strukturen. Giddens erläutert dies am Beispiel der Sprache: die Intention, korrektes Deutsch zu sprechen, um z.B. nicht unangenehm aufzufallen, hat die unbeabsichtigte Folge, daß das so Geäußerte sich als korrekte Praxis reproduziert. Sozialisation und der Wille des Einzelnen, sich in die Gemeinschaft zu integrieren, gewährleisten, daß bestimmte etablierte Praktiken sich relativ stabil über Raum und Zeit erhalten. Andere unbeabsichtigte Konsequenzen entstehen, wenn Einzelhandeln und Gruppenhandeln zu konträren Ergebnissen führen, so bei konträren Finalitäten (counterfinality), wenn das, was bisher einer tat, plötzlich alle tun (z.B. vom Platz aufstehen, um besser sehen zu können), oder bei suboptimaler Rationalität (z.B. Gefangenendilemma). Für falsch hält Giddens (1990:308) in diesem Zusammenhang den Lösungsansatz, auf die Frage „Warum existiert die Praktik x?“ nach funktionalistischen Antworten der Form „weil sie ... bewirkt“, d.h. nach Konsequenzen der Praktik zu suchen. Der Ansatz ist in dieser Form logisch problematisch (die Entstehung kann nicht aus der Konsequenz erklärt werden) und macht nur Sinn, wenn es um eine intendierte Handlung geht (weil man dann die Vorausschau des Individuums als Bindeglied hat); ein System kann jedoch nichts intendieren.

Spezielle Problemkreise

Die Spezifik der Moderne: „The Consequences of Modernity“ In diesem Werk beschäftigt sich Giddens im wesentlichen mit den Besonderheiten der Moderne, ihren wichtigsten Institutionen und Mechanismen. Seine historische Hauptthese ist zunächst, daß die Moderne sich nicht im evolutorischen, kontinuierlichen Sinne aus der Vormoderne „entwickelt“ hat. Sie ist vielmehr so grundlegend anders, daß man von einem echten Bruch sprechen muß:

„The modes of life brought into being by modernity have wept us away from all traditional types of social order, in quite unprecedented fashion. In both their extensionality and their intensionality the transformations involved in modernity are more profound than most sorts of change characteristic of prior periods.“ (1992a:4)

Die wenigen Kontinuitäten, die verblieben sind, genügen nicht, um in großem Maße verwendbares Wissen für die Gegenwart und Zukunft zu schaffen. Dennoch ist für ihn die Moderne nicht nur mit Entfremdung verbunden, sondern bietet gleichzeitig neue, andere Belohnungen und Chancen.

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Kapitel 8

Institutionell lassen sich vier Hauptdimensionen ausmachen (vgl. 1992a:Kapitel 2), die in meiner Interpretation11

• die Akkumulation von Kapital in Wettbewerbsmärkten (Kapitalismus),

den institutionellen Clustern (s.o.) gleichzusetzen sind:

• maschinelle Transformation von Natur in Artefakte (Industrialismus),

• Kontrolle der Gewaltmittel verbunden mit der Industrialisierung des Krieges (Militärmacht),

• Informationskontrolle und soziale Überwachung. Als fünftes Moment tritt die Globalisierung hinzu, die all diesen Phänomenen weltweiten Charakter gibt. Als Quellen (und Motoren) der Dynamik der Moderne, die ich mit strukturellen Prinzipien (s.o.) gleichsetzen würde, identifiziert Giddens (vgl. 1992a:Kapitel 1):

1. Trennung von Zeit und Raum: Im Laufe der Geschichte trennt sich die Zeitmessung zunehmend von lokalen Markierungen (z.B. Sonnenstand, vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.). Dies ermöglicht weltweite Standardisierungen, die wiederum eine Standardisierung der sozialen Organisation befördern. Die „geleerte“, standardisierte Zeit leistet auch der Trennung von Raum (space) und Ort (place) weiter Vorschub, indem sie von lokalen Kontexten entbindet. Dies ist ein wichtiger Motor der Globalisierung, die nun nicht mehr an die Präsenz an einem Ort gebunden ist.

2. disembedding: Soziale Beziehungen werden aus ihrem lokalen Kontext der Interaktion herausgetrennt und über raumzeitliche Distanzen neu strukturiert. Dies geschieht wesentlich durch die Schaffung von Symbolen und von Expertensystemen, die Giddens zu „abstrakten Systemen“ zusammenfaßt. Diese Expertensysteme haben, auch wenn sie vom Einzelnen u.U. nur sporadisch konsultiert werden, einen durchdringenden Einfluß auf das Leben in der Moderne. (Man denke z.B. an den Einfluß medizinischer Erkenntnisse auf die Ernährungsgewohnheiten.) Beide basieren auf dem Vertrauen, das Menschen ihnen entgegenbringen, weshalb Giddens davon spricht, daß Vertrauen fundamental für die Moderne ist. Diese Art von Vertrauen wird jedoch nicht in die moralische Integrität einer Person investiert, sondern in die Richtigkeit von (technischen) Prinzipien, die der Einzelne selbst maximal auf seinen Spezialgebieten durchschaut.

3. durchgängige Reflexivität: Im Gegensatz zu traditionalen Gesellschaften wird nun nicht nur prinzipiell jeder Lebensbereich (extensive Ausdehnung), sondern auch die Meta-Ebene der Wissensgenerierung und Systemreproduktion reflexiv beobachtet und hinterfragt. Die Verbindung von Wissen und Sicherheit geht verloren, da die Wissensbasis selbst permanent infragegestellt wird.

11 Giddens verwendet die Begriffe aus „The Constitution of Society“ hier leider nicht (vgl. auch 0).

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Diesen wesentlich destabilisierenden Faktoren stehen aber auch integrierende Mechanismen gegenüber (vgl. 1992a:Kapitel 3 und 4):

• reembedding: Die Wiedereinfügung von sozialen Beziehungen in lokale Kontexte geschieht u.a. durch Personen, die an den Zugangspunkten der Expertensysteme sitzen. Sie verkörpern das System für denjenigen, der es in Anspruch nimmt. An diesen Punkten ist es für das System besonders wichtig, den Unterschied zwischen Experten und Expertise verschwimmen zu lassen; ebenso wichtig ist die Kontrolle der Schwelle zwischen „vor“ (Zugangspunkt) und „hinter“ den Kulissen12

• Intimität: Erstmals in der Moderne ist (erotische) Freundschaft damit verbunden, daß sie vom Individuum verdient werden muß und daß sie als ein wesentlicher Baustein der Selbstverwirklichung angesehen wird. Sie unterscheidet sich damit grundlegend von den zuvor dominierenden Institutionen der Verwandtschaft und Gefolgschaft. Das Gegenteil des Freundes ist nicht mehr der Feind, gegen den eine Verpflichtung zum Kampf besteht, sondern der Unbekannte, dem man nicht zu Authentizität verpflichtet ist.

.

• Wiederaneignung (reappropriation): Expertensysteme dequalifizieren nicht nur; der ständige Umgang mit ihnen verschafft dem Individuum auch neues Wissen, das er ohne sie nicht hätte erwerben können und ohne das er sich ihrer auch nicht bedienen kann.

• Engagement: Statt sich entfremdet zurückzuziehen, versuchen bspw. soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen ihre Welt aktiv zu verändern.

Die Erfahrungen des modernen Lebens sind damit ambivalent, eine „Achterbahn“, wie Giddens sagt (1992a:139), die voranschießt, die wir kontrollieren und die doch jeden Moment außer Kontrolle geraten kann. Es gibt keinen einfachen Trend, wie etwa die „Kolonialisierung der Lebenswelt“, sondern das moderne Leben „is a complex relation [...] between familiarity and estrangement“ (1992a:140).

Moderne und Identität: „Modernity and Self-Identity“

„Modernity must be understood on an institutional level; yet the transmutations introduced by modern institutions interlace in a direct way with individual life and therefore with the self.“ (1992b:1)

Die Moderne ist nach Giddens wesentlich durch ihren institutionellen Charakter definiert; dieser transformiert auch das persönliche Leben, vor allem durch den Einfluß abstrakter Systeme, grundlegend. Wie in allen diachronen Vergleichen, die er zur Moderne anstellt, behauptet Giddens auch hier nicht, daß allein das Vorhandensein von Institutionen oder

12 Dies scheint mir ein gutes Beispiel dafür, wie Praktiken, in diesem Fall Vertrauen, Institutionen konstitutiv prägen.

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Kapitel 8

abstrakten Systemen etwas Neues gegenüber nicht-modernen Gesellschaften darstelle, sondern es geht ihm um die (globale) Ausbreitung dieser Instanzen und um ihren tiefgreifenden Einfluß, die beide kein Pendant in nicht-modernen Zeiten kennen. Der Zusammenhang von globalen und lokalen Ereignissen sowie von abstrakten Systemen und Individuen und der Einfluß, den sie auf die Gestaltung der Ich-Identität13

Den o.g. Charakteristika der Moderne (wie Dynamik, Globalisierung etc.) ist es geschuldet, daß sich auch das Konzept der Ich-Identität in der Moderne grundlegend verändert hat. Giddens nennt folgende Anhaltspunkte (1992b:75ff.):

beim Individuum ausüben, ist das zentrale Thema von „Modernity and Self-Identity“.

1. Das Selbst ist ein „reflexives Projekt“; „wir sind, was wir aus uns machen“. Die Vielfalt der angebotenen Lebensstile ist Ursache und Ergebnis des Willens, das eigene Leben aktiv auszugestalten.

2. Das Bewußtsein des Selbst richtet sich zunehmend auf den eigenen, individuellen Lebenslauf und die dort durchlaufenen Stationen statt auf institutionalisierte rites de passage o.ä.

3. Das reflexive monitoring des eigenen Seins und Handelns wird kontinuierlich in dem Maße, in dem das Individuum immer wieder dazu angehalten wird, sich selbst und seine Handlungen im Sinne der eigenen Geschichte zu hinterfragen.

4. Die eigene Geschichte wird narrativ explizit gemacht. Nicht nur in Tagebüchern und (Auto-)Biographien, sondern auch verbal sind Menschen bestrebt, ihrem Lebenslauf narrative Form zu geben.

5. Selbstverwirklichung beinhaltet auch die Kontrolle über die eigene Zeit, nicht nur in Form von Zeitzonen („Zeit für mich“), sondern auch über die eigene Vergangenheit und Zukunft.

6. Die wichtige Rolle des Körperbewußtseins in der Ausbildung des Selbst äußert sich in einem reflexiven monitoring des Körpers, sei es bezüglich Gesundheit, Ernährung, Aussehen oder Fitneß.

7. Die Lösung von der Tradition bringt mit der Wahl von neuen Chancen auch neue Risiken. Diese müssen emotional und kognitiv ständig ausbalanciert werden.

8. Authentizität oder „sich selbst treu bleiben“ wird angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, den eigenen Lebensplan zu wechseln bzw. mehrfach zu konstruieren (z.B. Rollen), nicht nur zu einer Frage des Sich-selbst-Kennens, sondern zu einer moralischen Herausforderung.

9. Das Reflektieren über den eigenen Lebenslauf schärft das Bewußtsein für das Durchlaufen einzelner Entwicklungsphasen mit ihren spezifischen Chancen und Risiken. Die Übergänge zwischen diesen Phasen sind nur

13 Das englische Wort self-identity kann im Deutschen sowohl mit „Ich-Identität“ als auch mit „Selbst-Identität“ wiedergegeben werden. Es mag zunächst als Pleonasmus erscheinen (denn womit sollte ein Ding identisch sein, wenn nicht mit sich selbst?), hat jedoch seinen Ursprung in der Rollentheorie, wo Ich-Identität als die vom Individuum sich selbst zugeschriebene Identität (im Gegensatz zu aus verschiedenen Rollen resultierenden Identitäten) charakterisiert wird (vgl. Dubiel 1976:148ff.). Giddens definiert Identität als Kontinuität über Raum und Zeit und Ich-Identität als reflexive Kontinuität über Raum und Zeit (1992b:53)

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

noch in den seltensten Fällen institutionalisiert, sondern werden als Chance (und Risiko) der persönlichen Selbstverwirklichung angesehen.

10. Durch die Entwicklung einer Narrative und der Abstimmung des Lebensstiles auf sie wird der individuelle Lebenslauf zunehmend selbst-referentiell, wenn zentrale Markierungen und Loyalitäten/Legitimationen aus dem eigenen Selbst geschöpft werden.

Im gleichen Maße wie das persönliche wird auch gesellschaftliche System selbstreferentiell, indem es Unwägbarkeiten, die durch ein räumliches (äußere Feinde) oder zeitliches (Zukunft) Außerhalb gekennzeichnet sind, zu beherrschen oder zu verdrängen sucht. Dies führt u.a.

• zur Verdrängung existentieller Fragen und Probleme aus dem persönlichen und gesellschaftlichen Leben,

• zur Ersetzung des Konzepts des Schicksals durch das des Risikos. Bereits in seinen früheren Werken hat Giddens die Bedeutung von Vertrauen für Gesellschaften im allgemeinen und die Moderne im besonderen hervorgehoben (s.o.). Vertrauen wird vom Kleinkind entwickelt, um existentielle Ängste zu überwinden, und dieses Motiv setzt sich in der Entwicklung des basic security system fort. Es geht hier um die (stets unvollkommene) Bewältigung von Ängsten, die Giddens unter dem Begriff der „ontologischen Unsicherheit“ zusammenfaßt14

„...the more open and general the reflexive project of the self, as further fragments of tradition are stripped away, the more there is likely to be a return of the repressed at the very heart of modern institutions.“ (1992b:202)

. Da diese Probleme nie im Sinne einer endgültigen Sicherheit gelöst werden können, ist ihre Bewältigung zerbrechlicher Natur; sie können jederzeit wieder in den Vordergrund treten. Solange sie das jedoch nicht tun, können sich die Routinen des täglichen Lebens entfalten. Es ist vor allem das praktische Bewußtsein, das durch das Aufrechterhalten dieser Routinen eine reflexiv-diskursive Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen verhindert. Dieser Verdrängungsvorgang wird auf der Ebene der Strukturen (Routinen sind ja nichts anderes als soziale Praktiken) fortgesetzt und unterstützt, indem auch die Gesellschaft existentielle Fragen und die Menschen, die von ihnen betroffen sind (Kranke, Sterbende, Verrückte), ausgrenzt. Diese Ausgrenzung gelingt jedoch, wie beim Individuum, niemals vollständig und für immer, im Gegenteil:

Eng verbunden mit dem Versuch, eine offene Zukunft zu gestalten, ist die Ersetzung des Konzeptes „Schicksal“ durch das des „Risikos“. Giddens ist nicht der Ansicht, daß das Leben in der Moderne gefährlicher sei, nur das Gefahrbewußtsein hat sich geändert. Während das Schicksal noch viele Konnotationen mit Vorbestimmung, Göttern oder unberechenbaren Kräften birgt, tritt Risiko im Verbund mit berechenbaren Kausalwirkungen und Wahrscheinlichkeiten auf. Zum Risiko gehört untrennbar auch die Chance, in

14 Er nennt als Elemente (1992b:55): Wesen der Existenz, Existenz von Dingen und Ereignissen, Gewißheit des Todes, Verhalten der anderen, persönliche Identität.

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Kapitel 8

einer offenen Zukunft Dinge zum Besseren zu wenden. Institutionalisierte Risikoumwelten, die die Moderne prägen, entstehen zum einen durch abstrakte Systeme, die äußere Gefahren zu Risiken verarbeiten. Aber auch innerhalb des Systems werden Risikoumwelten (z.B. Wettbewerbsmärkte) geschaffen, die nahezu den ganzen Lebensbereich durchdringen. Durch was auch immer induziert, unterliegen sie in jedem Fall dem ständigen monitoring; man ist sich ihrer bewußt und verhält sich entsprechend. Dieses Verhalten muß nicht immer auf Risikovermeidung ausgelegt sein; manche Risiken, etwa Rauchen, Drachenfliegen oder Aktienspekulation, werden aktiv zur Vervollständigung des Lebensstiles gesucht, andere, etwa die Teilnahme am Straßenverkehr, werden in täglichen Routinen verdrängt, dennoch vermag jeder, wenn befragt, darüber Auskunft zu geben. Nimmt man beide Phänomene zusammen, erklärt sich Giddens’ Charakterisierung:

„Mastery, in other words, substitutes for morality; to be able to control one’s life circumstances, colonise the future with some degree of success and live within the parameters of internally referential systems can, in many circumstances, allow the social and natural framework of things to seem a secure grounding for life activities.“ (1992b:202)

Doch auch hier gelingt die Beherrschung nicht ganz; der obsolete Begriff des „Schicksals“ taucht immer wieder auf, z.B. dann, wenn globale Risiken so katastrophale Konsequenzen in sich bergen, daß Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Szenarien sinnlos werden, oder wenn gefährliche Prozesse so komplex sind, daß der dequalifizierte Laie nur noch hoffen kann, daß die Experten wissen, was sie tun. Nicht umsonst nennt Giddens auch die Momente, in denen beim Individuum Routinen zusammenbrechen und existentielle Fragen wieder in den Vordergrund treten, „schicksalhafte Momente“ (fateful moments): in ihnen wird sich die Person bewußt, „an einer Wegkreuzung angelangt zu sein“. Hohes Risiko, aber auch erhöhte Reflexivität, u.U. ein vollständiges Infragestellen, kennzeichnen diese Momente, in denen institutionelle Riten und Routinen versagen.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Zeit und Wandel in der Theorie der Strukturierung

The notions of time and space - especially time - are enigmatic.

A. Giddens An vielen Stellen (1987;1991a:205;1993:110) wiederholt Giddens seine Auffassung, daß Raum15

Giddens selbst trennt terminologisch nicht zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen von Zeit (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.), die er alle an unterschiedlichen Punkten verwendet. Versucht man eine grobe Einteilung, so lassen sich die Aspekte vielleicht wie folgt ordnen:

und Zeit „im Herzen“ einer Sozialtheorie liegen müßten statt, wie üblich, nur als Koordinaten benutzt zu werden. Diese Auffassung geht weiter als die soziologische Einarbeitung qualitativer Zeitkonzepte (vgl. Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.); Giddens’ Nennung von Heidegger als „main signal marker on the new path“ (1993:xxii) gibt einen Hinweis darauf, daß er Zeit als grundlegend für menschliches Dasein und Handeln betrachten will. Zeit ist nicht nur die Umgebung für soziales Handeln, sie konstituiert es und wird von ihm konstituiert. Sie ist damit auch kulturabhängig, gleichzeitig physikalisch und sozial, linear und zyklisch (1987:144), keine reine Form, sondern Ausdruck der Natur des Objekts (vgl. Urry 1991).

Giddens verwendet Zeit und Raum oft im Sinne der vier physikalischen Dimensionen, etwa wenn er davon spricht, daß

1. Physikalische Zeit

• soziale Systeme sich über Raum und Zeit ausdehnen,

• Struktur (paradigmatisch) außerhalb von Raum und Zeit liegt,

• eine Quelle der modernen Dynamik in der Trennung von Raum und Zeit liegt,

• Vertrauen Raum und Zeit bindet,

• Identität definiert ist als Kontinuität über Raum und Zeit,

• Raum-Zeit-Kanten die „Grenzen“ von Gesellschaften bilden,

• der Wandel in der Moderne sich schneller vollzieht als zuvor.

Soziales Handeln vollzieht sich immer innerhalb eines zeitlichen Kontextes (setting), der dieses Handeln beeinflußt und der deshalb stets mitbetrachtet

2. Zeit als Kontext

15 Ich werde im folgenden meine Ausführungen auf die Zeit beschränken. Die meisten Erkenntnisse gelten jedoch auch analog für den Raum.

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Kapitel 8

werden muß (z.B. falsche/richtige Zeitpunkte für etwas). Auch auf gesellschaftlicher Ebene plädiert Giddens (1991a) für eine „Geschichte der Zeitlichkeit“, die untersucht, wie soziale Systeme mit Zeit umgehen und umgekehrt von ihr gestaltet werden. Dies führt direkt zum Aspekt der sozialen Zeit (s.u.). Daneben ist für ihn in diesem Zusammenhang auch der Anfangszustand eines Systems, der aus dem Vorhergegangenen erklärt werden muß, wichtig: de nihilo nihil. Giddens (1993:251ff.) übernimmt hier den Begriff der Weltzeit (world time), um auf zwei Voraussetzungen jedes epochalen „Anfangszustandes“ hinzuweisen: erstens auf die spezifischen Einflüsse, v.a. Raum und Zeit, die sich aus seiner historischen Situiertheit ergeben, zweitens auf die menschliche Reflexionsfähigkeit. Beide zusammen bewirken, daß zwei historische Prozesse, selbst wenn sie scheinbar dasselbe Ergebnis zeitigen (z.B. Entstehung eines bestimmten Gesellschaftstyps), doch einen unterschiedlichen Verlauf gehabt haben können.

Ihr widmet Giddens sicherlich die größte Aufmerksamkeit. Die meisten seiner Arbeitsbegriffe sind dieser Kategorie entnommen oder werden, falls sie der physikalischen Kategorie entstammen, mit zusätzlichen, qualitativen Interpretationen versehen. Fast alle diese Interpretationen sind im einen oder anderen Kapitel dieser Arbeit (v.a. Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. und Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) zur Sprache gekommen, weshalb ich jetzt nicht mehr ausführlich auf sie eingehen möchte:

3. Soziale Zeit

• Alltagszeit von Routinen, Lebensspanne und longue durée von Institutionen: Von den drei zeitlichen Dimensionen der Theorie der Strukturierung ist nur die Lebensspanne linear angelegt, die anderen beiden sind zyklisch bzw. reversibel.

• flow/durée: Handeln trägt sich innerhalb eines Stromes zu, der niemals abreißt, solange der Mensch existiert. Dieser Strom ist nicht gleichzusetzen mit der uniformen Kontinuität der Uhrzeit, er ist vielmehr primär ein subjektives Phänomen.

• Erinnerung und Reflexivität: Analog zum flow gestalten sich auch Erinnerung und Reflexivität nicht als Aneinanderreihung von gegenwärtigen Momenten, sondern greifen notwendig in die Vergangenheit und Zukunft aus. Ihre Tätigkeit ist nicht nur beobachtend, sondern wesentlich identitäts- und handlungskonstituierend. Auch die Strukturierung von Zeit, wie sie durch soziale Systeme erfolgt, dient dem Binden des subjektiven Erfahrungsstromes (vgl. Craib 1992).

• Identität: Lebenslauf und Biographie vermitteln eine diskursive Kontinuität, in der der zeitliche, lineare Ablauf wesentlich die Aufgabe eines Kausalzusammenhangs erfüllt16

16 vgl. Barthes (1977a:98): „...narrative institutes a confusion between consecution and consequence, temporality and logic.“

.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

• Kopräsenz und presence-availability: Simultaneität schafft Kontexte der Präsenz bzw. Absenz, die auf die Handlung einwirken.

• Risiko: Die „Kolonialisierung der Zukunft“ verändert auch das Denken und Handeln der Gegenwart.

• Koordination und Kontrolle: Die Ausdehnung des individuellen Handelns über Raum und Zeit, das die Grundlage sozialer Systeme bildet, stellt für Giddens das eigentliche „Problem der Ordnung“ dar. Er bindet diese Ausdehnung damit eng an Mechanismen der Koordination und Kontrolle. Viele dieser Mechanismen sind wiederum zeitlicher Natur, so z.B. die Kontrolle über die Arbeitszeit oder die detaillierte Zeiterfassung.

Eng verbunden mit der Ausdehnung der Gegenwart in die Vergangenheit und Zukunft ist die Bedeutung von Geschichte für das individuelle und kollektive Leben. Giddens identifiziert den modernen Umgang mit Geschichte als Geschichtlichkeit (historicity), die er definiert als „using history to make history“ (1987:155) oder als Zusammenkunft der „geschehenen“ mit der „geschriebenen“ Geschichte (1991a:206). Nach dieser These greift die reflexive Betrachtung auch in die Systemreproduktion ein und gestaltet mithilfe der Vergangenheits-“Geschichte“ die Zukunft (und umgekehrt). Dieses bewußte Eingreifen in die Systemreproduktion ist für ihn bspw. ein Charakteristikum moderner Organisationen im Gegensatz zu traditionalen Vereinigungen (1993:199ff.), allgemein unterscheidet er anhand dieses Kriteriums „heiße“ von „kalten“ Gesellschaften

4. Zeit als Geschichte

17

Der zentrale Platz der Geschichte innerhalb der Systemreproduktion läßt ihn auch eine Soziologie fordern, die historische Methoden und Problemstellungen heranzieht und bearbeitet (1990:300;1993:355ff.).

(1987:147f.).

Wandel ist für Giddens ein kontingentes Phänomen, das sich der Formulierung einer allgemeinen Theorie widersetzt. Da in jeder reproduzierenden Handlung auch die Möglichkeit zur Veränderung steckt, eröffnet sich ein solch riesiges Feld möglicher Transformationen, daß unmöglich allgemeine Bedingungen und Ergebnisse angegeben werden können. Außerdem verhindert die Reflexivität der Individuen bezüglich der Systemreproduktion, daß sich ein Prinzip dort über die Jahrhunderte unverändert „aufhalten“ könnte. Giddens wendet sich deshalb vor allem gegen Modelle des endogenen Wandels, speziell gegen solche, die er als Evolutionstheorien identifiziert (1993:227ff.). Ihnen hält er entgegen, daß

5. Zeit und Wandel

1. es aufgrund der Reflexivität der Akteure keine einfachen kausalen Mechanismen geben kann,

2. Gesellschaften nicht so stabil und geschlossen wie biologische Arten sind,

17 Giddens übernimmt diese analytische Unterscheidung von Lévi-Strauss (1992:39ff. und 1994:270ff.). Sie besagt, daß „kalte“ Gesellschaften bestrebt sind, geschichtlichen Wandel auszublenden, während „heiße“ Gesellschaften ihn integrieren und zum Motor ihrer Entwicklung machen.

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Kapitel 8

3. die Entwicklung von Gesellschaften sich nicht linear steigend oder fallend, sondern eher in kurz- und langzyklischen Auf- und Abbewegungen vollzieht.

Daneben kritisiert er ihre häufige Gleichsetzung von Machtüberlegenheit mit kultureller Überlegenheit und ihre Gleichsetzung von Geschichte mit Geschichtlichkeit bzw. Zeitablauf mit Wandel. Seine eigene Klassifikation von Gesellschaften in Stammes-, Stände- und Klassengesellschaften soll ausdrücklich keine lineare Entwicklung darstellen, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit, daß diese Typen gleichzeitig oder in anderer Reihenfolge existieren (1993:181ff.). Dennoch scheint ihm Wandel nicht unanalysierbar, allerdings nur in Form einzelner Episoden, die herausgeschnitten und verglichen werden. Zur Charakterisierung dieser Episoden und der dort ablaufenden Wandlungsprozesse können dann seine Konzepte der strukturellen Prinzipien, intersocietal systems und Raum-Zeit-Kanten herangezogen werden. Diese Ablehnung einer durchgängigen Kontinuität erlaubt es ihm auch, Brüche und Diskontinuitäten ohne weitere Erklärung anzunehmen. Mögliche Ursachen eines Systemwandels identifiziert er sehr allgemein und idealtypisch als: Systemreproduktion, systemimmanente Widersprüche, bewußt angestrebte Veränderungen, Änderung der Ressourcen oder des Ressourcen-Zugangs (1990:304). Kennzeichnend für den Wandel in der Moderne ist einerseits der Wegfall von begleitenden gesellschaftlichen Ritualen, andererseits seine Verbreitung und Intensität, die Giddens davon sprechen läßt, daß „in modern social conditions, however, crises become more or less endemic, both on an individual and a collective level.“ (1992b:184) Zum Schluß ist sicherlich noch interessant zu sehen, wie Giddens auch moderne Organisationen weitgehend unter Rekurs auf Zeitlichkeit definiert (1987:153ff.). Eine Organisation ist zunächst allgemein ein soziales System, das wie alle anderen über Raum und Zeit ausgedehnt ist. Aus dieser Raumzeit „klammert“ (bracket) sie18 nun bestimmte, für sie relevante Teile ein, d.h. sie betrachtet reflexiv bestimmte Ausschnitte (-> Geschichtlichkeit). Ergebnisse dieser Betrachtung fließen in die System(re)produktion ein. Organisationen sind aus mehreren Gründen fast ausschließlich19

1. Sie benötigen für das Einklammern eine umfangreiche Dokumentation, die ihrerseits weitreichende Kontroll- und Informationssammlungssysteme voraussetzt (vgl. auch Weber 1990:128ff.).

in der Moderne zu finden:

2. Eine expandierte Speicherkapazität wirkt positiv verstärkend auf die Machtakkumulation.

3. Ihr „Handeln“ setzt das Wissen voraus, daß die soziale Welt nicht gegeben, sondern gestaltbar ist.

18 Wie bereits zuvor erwähnt, spricht Giddens mitunter, als ob Systeme handeln können. Er tut dies allerdings nur in verkürzender Sprechweise. 19 Giddens räumt der Kirche und dem Militär diesen Status auch in nicht-modernen Gesellschaften ein; die Ausbreitung von Organisationen ist jedoch ein Kennzeichen der Moderne.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

4. Ihre locale bedingt in zeitlicher Hinsicht eine Trennung von Arbeitszeit und Freizeit sowie eine Untergliederung des Lebenslaufes in berufstätige und nicht-berufstätige Phasen. Arbeitszeit muß als homogene Ressource nutzbar sein.

5. Ihre umfangreiche Koordinations- und Kontrolltätigkeit setzt die homogene, maximal unterteilbare Uhrzeit voraus: „...organizations could not exist outside the general cultural triumph of ‘clock time’.“

Kritik

Allgemeine Einwände Die Kritik an Giddens’ Gedankengebäude (vgl. Neuberger 1995, Walgenbach 1995, Craib 1992, Urry 1991, Pred 1990, McLennan 1990, Archer 1990) ist ebenso vielschichtig wie dieses selbst. Ich will im folgenden versuchen, die nicht-zeitrelevanten Aspekte unter einigen Kernpunkten zu bündeln, wobei die ersten beiden eher methodischer, die letzten inhaltlicher Natur sind:

• Terminologie: Die Begriffe seien 1. zu vage und 2. uneinheitlich bis widersprüchlich gebraucht. Die Vagheit macht sich vor allem dann unangenehm bemerkbar, wenn Giddens neue Termini prägt. Daß eine folgende Nominaldefinition nicht ausreicht, ist nicht ungewöhnlich und im Normalfall nicht schädlich, da die Begriffsverwendung im Text genügend Aufschluß gibt, doch Giddens verwendet die (vielen) neuen Begriffe oft nicht durchgängig, so daß in vielen Fällen die Frage bleibt, ob man den Sachverhalt x auch mithilfe von y hätte beschreiben können. (So ist z.B. in „The Consequences of Modernity“ an den relevanten Stellen nie mehr von strukturellen Prinzipien oder Eigenschaften die Rede.) Ein Problem einer grand theory für alle Sozialwissenschaften ist es sicher auch, daß sie mehrere, z.T. inkompatible Sprachspiele mitspielen muß, was Giddens u.a. den Vorwurf des Eklektizismus eingetragen hat. Ohne behaupten zu wollen, daß mich persönlich beim Lesen die Begriffsvielfalt in jedem Fall entzückt hätte, muß man, denke ich, fairerweise fragen, wie weit man wohl mit einem übersichtlichen, konsistenten und exakt definierten Schema gekommen wäre.

• Fehlinterpretationen: Giddens’ Kritik, sei es an Funktionalismus, Strukturalismus, Marxismus oder Psychoanalyse, beruhe auf Fehlinterpretationen, die die genannten Richtungen zu sehr vereinfachten. Wiewohl mir viele der aufgeführten Rehabilitationsversuche plausibel erschienen (ohne ein Kenner der Autoren zu sein), scheint mir hier, analog zur postmodernen Kritik in Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., die Funktion von Giddens’ Kritik verkannt. Sie ist kein Selbstzweck, sondern dient als Folie, vor der erklärt werden soll,

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Kapitel 8

warum der Autor neue Konzepte wählt. Natürlich ist dies keine Entschuldigung für Verfälschungen, allerdings räumen selbst einige Kritiker ein, daß bspw. der Marxismus inzwischen so weit gefächert ist, daß sich wohl immer ein Autor finden läßt, der gerade das nicht vertritt, was Giddens angreift.

• Minimalkonzepte: Die Psyche des Akteurs mit seinen Emotionen, Trieben und Intentionen, die Körperlichkeit, die empirische Umsetzung und Bewährung der Theorie der Strukturierung, der beharrende und begrenzende Charakter von Strukturen, Strukturen überhaupt, epistemologische Überlegungen und die kritische Anwendung seien in der Theorie allesamt zu wenig ausgeführt.

• Maximalkonzepte: Die Wissensfähigkeit des Akteurs, Macht, Handeln, Struktur, Vertrauen, unbeabsichtigte Konsequenzen und Routinen erhielten zu viel Gewicht bzw. würden überstrapaziert.

• Die Beibehaltung der Dualismen und ihrer dialektischen Spannung erkläre mehr als ihre Vermengung in einer „Dualität“, zumal Giddens diese beim methodischen Einklammern wieder aufgebe.

• Zentrale Begriffe wie Regeln, soziale Systeme und Institutionen seien zu wenig differenziert. Die Wirkung der Beatles ist eine andere als die der Ehe; Giddens bleibt in seiner Argumentation jedoch immer auf dem höchsten Verallgemeinerungsgrad.

• Umschlag: Es sei nicht immer klar, wann welche Seite einer Dualität wirksam werde bzw. die andere Seite dominiere. Wann Strukturen eher begrenzend als konstituierend sind, wann Handeln eher frei als determiniert ist, wann Reproduktion in Transformation20

umschlägt, erläutert Giddens nicht.

Ich kann jeder dieser Kritiken im Detail zustimmen, doch meine im ersten Punkt angemeldeten Zweifel gelten für sie alle. Neuberger spricht von einer „Unmöglichkeit der Widerlegung“, und auch da gebe ich ihm recht. Giddens’ Werk ist zunächst einmal so umfangreich, daß man, will man keine „Exegese“ (Neuberger 1995:287) betreiben, nie alle relevanten Überlegungen zu einem Thema präsent hat. Zu jeder Stelle, auf der eine Detailkritik zutrifft, gibt es eine Stelle, an der Giddens das Problem erkannt hat, zu jeder Stelle, an der man die Terminologie verstanden zu haben glaubt, eine, die einen wiederum zweifeln läßt. Der Satz von Craib (1992:196) „My criticism of structuration theory was that it was as much a symptom as an understanding or critique of modernity“ ist, betrachtet man die Moderne postmodern, überaus zutreffend: die Kritiker mit ihren eigenen theoretischen Vorannahmen, die verschiedenen Sprachspiele der verschiedenen Disziplinen, Eklektizismen, Widersprüche und die Vielfalt der Wirklichkeit, all das spiegelt sich in Giddens’ Theorie und ihrer Kritik. Es ist auch ein postmodernes Rezept, das Neuberger für den Umgang mit ihr gibt und das ich voll und ganz teile:

20 Den Begriff der „Transformation“ verwendet Giddens nicht terminologisch. Meist bezeichnet er damit Umwandlungsprozesse technischer oder logischer Art, seltener gesellschaftliche Umwälzungen.

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

„Ich halte den undogmatischen Umgang mit Giddens für ein Zeichen der Souveränität und zweifach befreiend: Befreiung von Autoritätshörigkeit, Befreiung auch aus geschlossenen (und einschließenden) Systemen. Diese doppelte Loslösung ist Voraussetzung für den konstruktiven Umgang mit dem Wissensangebot der ‘Großtheorien’; wenn man sie nicht nur speichern, sondern aneignen will, muß man sie abarbeiten (zerlegen) und einarbeiten in eigene Projekte.“

Man kann Minimalkonzepte dort tolerieren und behalten, wo man die Thematik nicht vertiefen will; man muß dort begriffliche Vorsicht walten lassen, wo Schwerpunkte der eigenen Theorie betroffen sind. Giddens (1991a:213) selbst präferiert diesen Umgang mit seiner Theorie übrigens ebenfalls:

„On the whole I like least those works in which authors have attempted to import structuration theory in toto into their given area of study. The overall framework of structuration theory, I hope, is relevant to anyone writing about very broad questions of social organization and transformation, as I tend myself to do. In many more confined arenas of empirical research it is not especially helpful to drag in a large apparatus of abstract concepts. I like most those usages in which concepts either from the logical framework of structuration theory or other aspects of my writing, are used in a sparing and critical fashion.“

Um mit der Unterscheidung von Barthes21

zu sprechen: Die Theorie der Strukturierung ist kein Werk, sie ist ein Text - und als Text ein sehr gelungenes Werk.

Zeitspezifische Kritik Giddens’ Einarbeitung der Zeit in seine Theorie ist umfangreich und zuweilen detailverliebt, doch es bleiben Zweifel, ob sie wirklich „im Herzen“ derselben steht (vgl. auch Craib 1992, Urry 1991, Pred 1990, McLennan 1990, Gregory 1990). Zunächst erfolgt sie nicht systematisch: es ist an vielen Orten, aber eher im Sinne eines „hier und dort“, von Zeit die Rede, auch die drei zeitlichen Dimensionen der Theorie der Strukturierung (Alltagszeit, Lebensspanne und longue durée) finden sich nirgends in ihrer Auswahl begründet, obwohl sicher auch andere Kombinationen denkbar wären. Im Überblick bleibt seine Theorie doch einem homogenen Code der physikalischen (wenn auch qualitativ interpretierten) Zeit verpflichtet, von der auf der höchsten Ebene immer wieder abstrahiert werden kann; sowohl die Beschreibung der Theorie der Strukturierung als auch die anderen genannten Werke kommen hier ohne eine Betrachtung der Zeit aus. Auch und gerade die Konstruktion von Zeit, die sich so gut (als konstituierend und begrenzend) in die Theorie der Strukturierung einfügen würde, wird höchst selten thematisiert und wenn, dann innerhalb von einzelnen Interaktionen. Daß Gesellschaften mit Zeit verschieden umgehen, spricht er als interessanten Untersuchungsgegenstand an, in seiner eigenen Analyse jedoch bleibt die Zeit in der Moderne die immer gleiche, homogene (vgl. Urry 1991).

21 Barthes (1977d) unterscheidet das Werk, das sich als geschlossenes Produkt eines bestimmten Autors präsentiert, vom Text, der anonym verschiedene Fäden an einer Raum-Zeit-Stelle zusammenlaufen läßt.

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Kapitel 8

Diese generische, nicht kontextuelle Argumentation (Gregory 1990) läßt ihn auch bei der Betrachtung von Wandel in jene Fallen tappen, die er an anderer Stelle so deutlich sieht: auch er blendet die Phänomene aus den Epochen aus, die seiner Erklärung zuwiderlaufen, auch er dichotomisiert und klassifiziert. Diese Inkongruenz zwischen dem theoretischen Anspruch und der thematischen Behandlung wird m.E. besonders deutlich, wenn Giddens sich den schicksalhaften Momenten zuwendet. Sie stehen ebenso wie das Konzept des Schicksals, der Moral und der Rückkehr des Unterdrückten eigentlich außerhalb seiner Theorie der Moderne, „have no formal part to play“, wie er das selbst formuliert (1992b:109). Die eher spärlichen Charakterisierungen, die er für sie gibt, lauten wie folgt:

• In schicksalhaften Momenten treffen Individuen Entscheidungen, die große Konsequenzen für ihr künftiges Leben haben (1992b:112).

• Schicksalhafte Momente können sowohl infolge einer bewußten Entscheidung als auch zufällig bzw. ungewollt eintreten (1992b:113).

• Schicksalhafte Momente gibt es auch im Leben von Kollektiven; es sind die Zeiten, in denen Verhältnisse aus dem Lot geraten (1992b:113).

• Schicksalhafte Entscheidungen sind schwer zu treffen, auch wenn Experten zu Rate gezogen werden, da sie komplex und risikoreich sind (1992b:114).

• Schicksalhafte Momente bedrohen die ontologische Sicherheit (1992b:115).

• Das Individuum wird sich bewußt, daß es mit neuen bzw. veränderten Risiken konfrontiert ist (1992b:131).

• Routinen werden hinterfragt, u.U. bis hin zu Identität. In vielen Fällen müssen Gewohnheiten und Erwartungen geändert werden (1992b:131).

• Schicksalhafte Momente werden mitunter bewußt gesucht, z.B. in riskanten Sportarten (1992b:132).

• Schicksalhafte Momente entstehen, wenn Routinen unterbrochen werden oder jemand bewußt größere reflexive Kontrolle über sich selbst sucht (1992b:167).

• In schicksalhaften Momenten tauchen moralische oder existentielle Dilemmata auf (d.i. die Rückkehr des Unterdrückten, 1992b:167).

Wenn sie wirksam werden, geschieht dies als deus ex machina, der das schnurrende Räderwerk der Reproduktion unterbricht, nur wann, warum und wie dies genau passiert, führt er nicht aus22

22 Auch die 1992b:202ff. aufgeführten Bedingungen für die Rückkehr des Unterdrückten scheinen mir eher - gut beobachtete - Exempel als in die Theorie eingebundene Generalisierungen.

. Gerade diese Fragen wären jedoch für eine Theorie der Transformation von höchster Bedeutung. Sind schicksalhafte Momente in jedem Fall Phasen erhöhter Reflexivität? Falls ja, woher beziehen sie die für die Reflexion notwendigen Rahmen in einer zusammenbrechenden Umgebung? Was ist mit Kollektiven und Organisationen, die sich in Krisen befinden? Ist ihre Reflexion bzw. Krisenbewältigung mit der des Individuums gleichzusetzen?

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Die Struktur als Mittel und Ergebnis: Anthony Giddens

Um diese Fragen zu beantworten, muß man, denke ich, dort weitergehen, wo Giddens in seiner Zeitbetrachtung haltgemacht hat: man muß den Schritt von einer Zeit, die soziale Aktivität begleitet, zu einer Zeit, die sozialer Aktivität vorangeht, vollziehen. Dies ist die wesentliche Leistung der Philosophie Heideggers, die ich deshalb im folgenden Kapitel kurz erläutern möchte. Giddens selbst zeichnet diesen Weg in vielen Teilen vor. Sein Handlungskonzept ist wesentlich von Heidegger geprägt, und auch ohne explizite Zitierung23

23 Craib (1992:30) bemerkt versöhnlich: „...Giddens takes much of importance from Heidegger, and after a while the mention of Heidegger tends to fade from his writings.“

- der Verweis auf Heidegger im Vorwort muß dem Leser wohl genügen - finden sich viele begriffliche und gedankliche Anlehnungen. Daß Heideggers Existenzialphilosophie darüber hinaus gut geeignet scheint, etwas mehr Licht auf die Momente existentieller Krisen zu werfen, darf schon a priori vermutet werden.

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Kapitel 8

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

Die Zeitkonzeption Martin Heideggers1

It is essential for people who work in the social sciences to be alive to philosophical problems. That is, I don’t think you can do social science effectively without being clued in to philosophical debates, because at the heart of the social sciences are major difficulties in characterising what human beings are like and what human agency is. Such questions are in some part philosophical, and to be alert to what philosophers are writing about those issues seems to me important.

A. Giddens

Die Besonderheit von Heideggers Zeitkonzeption beruht auf einer Philosophie, die versucht, die traditionelle Metaphysik zu überwinden (s.u.). Wie bereits im Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. angemerkt, bedarf es aufgrund der engen Verbundenheit von Sprache und Denken dazu auch der Überwindung traditioneller Sprechweisen, weshalb sich Heideggers Philosophie für den Neuling nahezu unverständlich präsentiert. Um die verwendeten Begriffe in ihren Zusammenhang zu stellen, habe ich dem eigentlichen Zeit-Kapitel einen kurzen Abriß der Heideggerschen Ontologie vorangestellt. Ich entferne mich darin z.T. von der strengen Terminologie des Autors und verwende zur Erläuterung traditionelle (d.h. in Bezug auf Heidegger falsche) Begriffe, um dem Nicht-Philosophen trotz der Kürze der Darstellung einen Zugang zu ermöglichen. Somit ist das Kapitel weniger unter einem philosophisch-exegetischen als vielmehr unter einem didaktisch-pragmatischen Gesichtspunkt zu lesen.

1 Die Interpretation folgt wesentlich „Sein und Zeit“. Die Angaben in Klammern beziehen sich, sofern nichts anderes angegeben ist, auf die Seitenmarginalien von „Sein und Zeit“. Zum Verständnis der Heideggerschen Philosophie erwiesen sich Dreyfus 1993 und Blattner 1989 als sehr hilfreich.

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Kapitel 9

Ontologische Vorüberlegungen: Dasein und Welt

In-der-Welt-Sein Eine der großen Auseinandersetzungen, die Heidegger mit der traditionellen Philosophie führt, ist die um das Subjekt. Subjekt, Ich, Bewußtsein gelten klassischerweise als die Grundbausteine der Welterkenntnis: zuerst gibt es das Subjekt, das dann - je nach Autor - die Welt erkennt, konstituiert oder benutzt. Heidegger dagegen konzipiert das Dasein, wie er es nennt, zunächst subjektlos; Dasein als Existenz ist immer bereits In-der-Welt-sein (A.) und Mit-anderen-sein (B.). Menschliches Sein ist ohne Umwelt und ohne Sozialisation nicht denkbar. Dieses In-der-Welt-sein ist zunächst ein unreflektiertes; Menschen lernen unbewußt, mit ihrer Umwelt umzugehen und die Normen ihrer Mitmenschen zu übernehmen. Dies gilt sowohl für die Lernphasen der Kindheit als auch für die Routinen des Alltags; Heidegger widerspricht hier ausdrücklich der Annahme, hinter alltäglichem Handeln stehe eine Intention. A. Die Gegenstände, die uns im Rahmen dieses unreflektierten In-der-Welt-seins begegnen, nennt er Zeug, ihre Art zu sein Zuhandenheit (§15ff.). Wesentliches Merkmal des Zeugs ist es, daß es einer Verwendung unterliegt, daß es durch ein „um zu...“ definiert ist. Es wird vom Menschen dann (und nur dann) angemessen und vollständig erfaßt, wenn es benutzt wird - auch hier ist wiederum kein Bewußtseinsakt vonnöten. Heidegger erklärt dies am Beispiel eines Hammers:

„Das Hämmern hat nicht lediglich noch ein Wissen um den Zeugcharakter des Hammers, sondern es hat sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht möglich ist. [...] je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug.“ (69)

Mit anderen Worten: wenn die Physik Aussagen über Material, Form oder Schwere des Hammers macht, so beschreibt sie, wie der Hammer ist, nicht aber was

Nun kann Zeug nur seinen Zweck erfüllen, wenn es zu anderem Zeug in Beziehung steht: die Feder braucht Papier, das Keyboard einen Monitor. Das vertikale und horizontale Beziehungsgeflecht, in dem das Zeug und alle Zwecke stehen, nennt Heidegger die Bewandtnisganzheit. Sie ist letztlich nichts anderes als die Welt

der Hammer ist. Das Wesen des Hammers ist nur in seinem „um zu...“ erklärbar.

2

Erfüllt das Zeug seinen Zweck nicht, etwa weil es kaputt oder nicht zur Hand ist, ist die Routine (das umsichtige Aufgehen in der Welt, wie Heidegger es nennt) gestört. Der Mensch beginnt nachzudenken, erwägt eine Reparatur oder plant

, in der sich das Dasein bewegt und mit der es - unthematisch und vor aller Theorie - vertraut ist.

2 Dies ist eine terminologische Verwendung von „Welt“ (vgl. auch Fußnote 16).

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

die Beschaffung. In diesem Moment ist das Aufgehen in der Welt unterbrochen, der Benutzer distanziert sich von dem Benutzten. Dies ist die Geburtsstunde der Trennung von Subjekt und Objekt. Das Zuhandene, das seinen Zweck verloren hat, wird zum Vorhandenen. Diese Veränderung offenbart zwei Aspekte: 1. am „Ding“ werden prädizierbare Eigenschaften sichtbar (z.B. schwer, aus Eisen), 2. das „Ding“ zeigt sich in seiner Existenz als unabhängig vom Benutzer; als Bestandteil einer physikalischen Außenwelt. Die Veränderung von Zuhandenem zu Vorhandenem ist also in erster Linie eine Änderung der Betrachtungsweise und des Verständnisses von x, wobei das Vorhandene ein defizitärer Modus ist, nämlich eine Betrachtung des Gegenstands, die von der Bewandtnisganzheit abstrahiert. B. Der zweite Aspekt von Dasein ist das Mit-sein, das Leben in einer sozialen Umwelt. Heidegger betont hier abermals ausdrücklich, daß es nicht um eine Absonderung des Individuums von der Gesellschaft gehen kann, im Gegenteil, er konstruiert Dasein zu einem großen Teil aus der Identifikation mit anderen Menschen und den von ihnen aufgestellten Normen und Rollen.

„Zur Vermeidung des Mißverständnisses ist zu beachten, in welchem Sinne hier von ‘den Anderen’ die Rede ist. ‘Die Anderen’ besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet...“ (118, Hervorhebungen im Original)

Doch nicht nur das normative Verständnis ist an die anderen gebunden, auch jede mögliche Deskription - und damit jede mögliche Selbst-Interpretation3

„Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen. Es ist nicht so, daß je ein Dasein unberührt und unverführt durch diese Ausgelegtheit vor das freie Land einer ‘Welt’ an sich gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet.“ (169)

- ist nur möglich innerhalb eines Bezugsrahmens, der durch das soziale Umfeld vorgezeichnet ist:

Dieses Verhältnis der Eingeschlossenheit in die Welt der anderen, der sich auch der Revolutionär nicht entziehen kann, (da er in seiner Opposition ja gerade auf diese Deskriptionen und Normen zurückgreift,) beschreibt Heidegger als Abhängigkeit. Die Gestaltung des Verhältnisses zu den anderen ist beständiger Teil des Alltags. Indem jeder einen unverzichtbaren Teil von ihnen in sich trägt, verfestigt er in jeglichem Handeln ihre Macht. Für Heidegger ist diese Beziehung so wichtig, daß er ihren Referenzpunkt in den Status eines Existenzials, d.h. einer allgemeinen Eigenschaft des Seins, erhebt. Er nennt es das Man. 3 Bei all diesen Begriffen muß im Sinne Heideggers immer auch an nicht-verbale Formen, also etwa Handlungen, Stimmungen etc., gedacht werden.

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Kapitel 9

„‘Die Anderen’, die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist ‘da sind’. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ‘Wer’ ist das Neutrum, das Man. [...] In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt [...] Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“ (126f.)

Wie man bereits aus diesen wenigen Zeilen entnehmen kann, liegen „Nutzen“ und „Schaden“ des Man eng beieinander. Zu seinen positiven Seiten gehört, daß es das Dasein in seinen täglichen Routinen entlastet, daß es die Weitergabe und den Erhalt von Normen ermöglicht, daß es einen Bezugspunkt für gemeinsames Handeln bildet. Die negativen Seiten sprechen obige „Diktatur“ an, sowie die Tendenz zur Einebnung von Außergewöhnlichem, die fehlende Übernahme von Verantwortung4

Dieses Sich-Verlieren geschieht dann, wenn das Dasein nur im alltäglichen Besorgen aufgeht, wenn es die vertraute Welt des Man (die immer die erste uns bekannte Welt ist) nie verläßt, wenn es sich selbst stets nur als das definiert, was ihm das Man (im Sinne des alter ego) zurückgibt, sprich: wenn es ausschließlich in der ihm zugedachten Rolle existiert. Ein erster Schritt heraus aus diesem Sich-Verlieren ist es, die eigene Rolle aus den von der Gesellschaft angebotenen selbst zu wählen (was Heidegger uneigentliches Dasein nennt

und schließlich als Wichtigstes die Gefahr für das Dasein, sich im Man zu verlieren.

5

), der zweite (das eigentliche Dasein), die Konvention als Konvention zu erkennen (und damit letztlich ihre Grundlosigkeit zu sehen) und zu ertragen (vgl. dazu auch Kapitel 0).

Erschlossenheit Insofern das Dasein bereits immer in der Welt ist und dort handelt, ist ihm die Welt auch erschlossen. Insofern ihm die Sprache und Praktiken seiner Kultur die Mittel dazu liefern, sind ihm Dinge potentiell erschlossen, d.h. warten darauf, von ihm entdeckt zu werden. Heidegger benutzt hier die Lichtmetaphorik, indem er davon spricht, daß sich das Dasein eine Lichtung schafft, in deren Lichte ihm Dinge begegnen. Nur insofern als das Dasein tatsächlich immer diese Lichtung ist, d.h. nur insofern es Welt erkennt, kann man überhaupt davon sprechen, daß es „da“ ist. Für den Charakter der Lichtung ist es wichtig zu sehen, daß zwar 4 „Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß ‘man’ sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ‘war’ es immer und doch kann gesagt werden, ‘keiner’ ist es gewesen. In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das, von dem wir sagen müssen, keiner war es.“ (127) 5 Wie viele andere Termini (z.B. Gewissen, Schuld) will Heidegger auch diese primär wertneutral, d.h. rein terminologisch-deskriptiv, verstanden wissen.

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

jeder Einzelne für sich arbeitet, alle jedoch an derselben Lichtung, d.h., die Welt, die so vom Einzelnen erschlossen wird, ist eine gemeinsame. Diese Aussage liegt auf der Hand, da Heidegger all diese Prozesse eben nicht als subjektiv-intentionale konzipiert, sondern als Sein-in-der-Welt, als Umgang und Besorgen. Aus dieser Perspektive macht es wenig Sinn anzunehmen, jeder verhielte sich und agiere in je seiner eigenen Welt. Natürlich läßt sich immer noch mein Verhalten von deinem Verhalten abgrenzen, aber es gibt kein mein Verhalten in meiner Welt und dein Verhalten in deiner Welt6

Als Arten, die Welt zu erschließen, führt Heidegger Befindlichkeit, Verstehen und Verfallen

.

7

auf.

Befindlichkeit Grundvoraussetzung dafür, daß dem Dasein anderes begegnen kann, daß es durch anderes berührt werden kann, ist die Befindlichkeit. Sie bildet sozusagen die passive8

Die Befindlichkeit ist die Voraussetzung für die Stimmung, in der sich das Dasein zu jedem Zeitpunkt befindet. (Stimmungen können natürlich wechseln, aber die Tatsache des jederzeitigen Gestimmtseins bleibt erhalten.) Stimmung ist eine vor-thematische, vor-bewußte Art, Welt zu erschließen, und nur die Tatsache, daß wir bereits gestimmt sind, erlaubt es uns, uns im nächsten Schritt bewußt unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu richten. (Man denke z.B. an die Frage, warum einen dieses oder jenes Thema oder Ereignis interessiert oder welche Präferenzen man setzt, die nicht immer rational beantwortet werden kann.)

Seite der Erschlossenheit, die Membran zur Welt, auf der Dinge aufprallen können.

Auch hier verneint Heidegger entschieden einen privaten Charakter der Stimmung. Nichts, was in der Welt ist, kann in erster Linie privat sein - wiewohl es private Gefühle auslösen kann.

„Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ‘Außen’ noch von ‘Innen’, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf. [...] Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt.“ (137f.)

6 Beispiel von Dreyfus (1993:145) 7 Diese Dreiteilung wird nicht konsequent durchgehalten. An manchen Stellen verwendet Heidegger als dritte Art der Erschließung statt Verfallen die Rede und beschränkt Verfallen auf uneigentliches Dasein. Ich folge in meiner Interpretation Blattner 1989 unter Bezug auf §68, speziell 349. 8 Heidegger greift hier, wie mir scheint, auf eine sehr alte philosophische Tradition des Affekts (von lat. „af-ficere“, wörtl. „angemacht“, „berührt werden“) als passives Erleiden eines von außen Herangetragenen zurück.

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Kapitel 9

Daß wir versuchen, uns von Stimmungen freizumachen, etwa wenn Entscheidungen anstehen oder wissenschaftlich vorgegangen werden soll, ist für Heidegger das beste Argument dafür, daß sie zunächst einmal da sind.

Verstehen Unter Verstehen subsumiert Heidegger eine weitaus größere Zahl von Erkenntnisprozessen, als dies in der engeren Verwendung des Wortes, z.B. als Gegensatz zu Erklären, impliziert ist. Verstehen umfaßt alle möglichen Arten der Erkenntnis und aktiven Erschließung von Welt. Wenn es sich um eine grundlegende Form handeln soll, dann kann es - zumal nach der Lektüre der vorangegangenen Abschnitte - nicht verwundern, daß hier abermals Bewußtsein und Thematik als mögliche, aber nicht notwendige Bestandteile auftauchen. Verstehen ist Fertigwerden mit der Welt, aber auch ihre Möglichkeiten erkennen. Und weil Dasein Teil dieser Welt ist, heißt es nichts anderes, als auch sich selbst und die eigenen Möglichkeiten zu erkennen. Dieses Erfassen der eigenen Möglichkeiten und Potentiale nennt Heidegger den Entwurf. Er ist begrenzt durch den Spielraum, den uns unsere jeweilige Kultur läßt. Auch hier handelt es sich nicht unbedingt um eine thematische Selbstreflexion, gar um einen Lebensplan, sondern um den Sachverhalt, daß das Dasein mehr ist, als es in jedem gegenwärtigen Moment je faktisch ist, daß Erwartungen, Wünschen und Wollen den Menschen genauso ausmachen wie alles bisher Erreichte. Dieses Zukünftige wurzelt in der Gegenwart, ist präsent, wenn es darum geht, aktuelles Verhalten zu bestimmen, umgekehrt bestimmt aber auch die Gegenwart das Zukünftige. Verbunden sind beide durch das Verstehen.

„Auf dem Grunde der Seinsart, die durch das Existenzial des Entwurfs konstituiert wird, ist das Dasein ständig ‘mehr’, als es tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren. [...] Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen und dessen Entwurfcharakter seine Konstitution erhält, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst sagen: ‘werde, was du bist!’“9

Wird nun das Verstehen explizit, d.h., verstehe ich etwas als etwas, so nennt Heidegger dies Auslegung. Auch dies kann sich noch im nicht-begrifflichen Bereich abspielen, etwa wenn ein Werkzeug als Werkzeug gebraucht wird. Auslegen ist dabei nie voraussetzungslos; es entwickelt sich vor einem (Bewandtnis-)Hintergrund (Vorhabe, ich will verstehen, um x zu erreichen/tun zu können), innerhalb einer bestimmten Perspektive (Vorsicht, ich betrachte das Problem aus einem bestimmten Blickwinkel) und in Erwartung einer bestimmten Ergebnisklasse (Vorgriff, ich erwarte, daß das Ergebnis eine bestimmte Natur hat). Daraus ergibt sich, daß alles Verstehen bereits Verstehen voraussetzt. Aus dieser Vorstruktur sollte auch deutlich werden, warum Heidegger Verstehen

(145, Hervorhebungen im Original)

9 mit der Fußnote: „Aber wer bist ‘du’? Der, als den du dich loswirfst - als welcher du wirst.“

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

und Befindlichkeit als gleichursprünglich auffaßt: so wie Befindlichkeit bereits ein gewisses Verständnis der Umgebung beinhaltet, so setzt Verstehen eine gewisse Betroffenheit, ein es-geht-mich-an voraus.

Verfallen Die wesentliche Charakterisierung des Verfallens wurde bereits auf Seite 3 bei der Beschreibung des Man gegeben. Der Grund, warum Heidegger es trotz seines uneigentlichen Charakters zu den Arten der Erschlossenheit zählt, ist, daß das Dasein - auch das eigentliche - viel Zeit mit den alltäglichen Geschäften, mit dem umsichtigen Besorgen verbringt. Im Besorgen begegnet Zuhandenes, das im Umgang erschlossen wird, in seiner Störung Vorhandenes. In allen Fällen agiert Dasein in der Welt und schafft damit die Möglichkeit für die Begegnung mit Seiendem und seine Erschließung.

Dasein Die wesentliche Eigenschaft, die Dasein vor allen anderen Seinsarten auszeichnet, ist die Möglichkeit zur Selbst-Reflektion und Selbst-Interpretation10

Wir haben gesehen, daß Dasein sich immer, etwa im Besorgen, aktuell bei der Welt aufhält (Verfallen); es ist aber ebenso wichtig zu sehen, daß es auch eine „Vorgeschichte“ hat, daß es sozialisiert ist und gelernt hat, die Anforderungen und Chancen seiner Kultur zu verstehen. Diese Eingebettetheit in Strukturen, die es sich nicht selbst geschaffen hat, bezeichnet Heidegger als Geworfensein. Der dritte wesentliche Aspekt des Daseins - der noch Priorität vor den anderen hat - ist der des Entwurfs. Damit bezeichnet Heidegger das Sich-selbst-verstehen aus den eigenen Möglichkeiten.

; Dasein ist, wie Heidegger sagt, das einzige Seiende, dem es um sein Sein geht (12). Ein grundlegender Fehler ist es deshalb, Dasein als Objekt, d.h. als Vorhandenes zu betrachten und behandeln. Dasein und Vorhandenes existieren in der Welt nicht nebeneinander, wie etwa zwei Objekte nebeneinander stehen können, sondern sein Verhältnis zu Vorhandenem ist ein spezifisches, das u.a. vom Verstehen geprägt ist.

10 Beides sind Begriffe, die Heidegger nicht verwendet. Seine gewählten Umschreibungen sollen vermeiden, diesen Vorgang als thematisch oder auch nur rein kognitiv aufzufassen. Die Heideggersche Selbst-Interpretation vollzieht sich nicht nur mental oder verbal, sondern in Handlungen und Praktiken, in nicht-bewußten (und deshalb nicht konditionierbaren) körperlichen Vorgängen. Ich bitte, dies bei der folgenden Verwendung der Begriffe, die aus Gründen der Vereinfachung geschieht, im Gedächtnis zu behalten.

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Kapitel 9

Diese Formulierung ist nicht ganz unkompliziert, und so sei zunächst gesagt, was damit nicht gemeint ist (145): Es handelt sich beim Entwurf nicht um einen Plan; die Erfassung der Möglichkeiten ist nicht thematisch. Die Möglichkeit selbst ist weder eine noch nicht eingetretene Wirklichkeit (Potenz) noch eine Nicht-Notwendigkeit (Kontingenz). Heidegger will die Möglichkeit als Möglichkeit verstanden wissen, nicht als geringere Stufe von Wirklichkeit oder Notwendigkeit. Es geht auch nicht um eine inhaltlich bestimmte Möglichkeit, sondern um das Seinkönnen selbst. Was bleibt somit als positive Bestimmung? Das Moment der Wahl ist, glaube ich, an dieser Stelle ein entscheidendes. Es geht nicht darum, daß der Mensch eine bestimmte Rolle (= Möglichkeit) auswählt und sich aus ihr definiert (das wäre uneigentlich, s.o.), sondern daß er sich immer der Möglichkeit der Wahl und der Möglichkeit des Anders-sein-könnens bewußt ist. Die Existenz von Alternativen, von anderen Möglichkeiten zu jedem Zeitpunkt ist doch überhaupt das, was Reflexion notwendig und sinnvoll macht; ein deterministisches Geschehen bedürfte ihrer nicht. Deshalb, so denke ich, betont Heidegger die Bedeutung der Möglichkeit als Möglichkeit und des Entwurfs für die spezifische Seinsform des Daseins: „Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein“ 11

1. Stellt man sich z.B. unter dem Entwurf eine Rolle vor, die der Mensch wählt, so läßt sich sagen, daß diese Rolle nie im vollen Sinn verwirklicht werden kann. Eine gute Mutter oder eine gute Lehrerin zu sein, ist nichts, was man heute anstrebt und morgen verwirklicht hat; es ist eine lebenslange Aufgabe, von der man i.a. nicht sagen wird, daß man sie irgendwann „erfüllt“ habe. Zudem ist eine Rolle nie durch wenige Charakteristika zu beschreiben, vermutlich wäre ihre vollständige Beschreibung (die wohl kasuistisch sein müßte) nicht einmal konsistent.

(143). Zur weiteren Illustration:

2. Stegmüller (1989:146f.) verweist auf den Zusammenhang mit Max Webers Idealtypen, deren Sinn es ist, Wirkliches in seinem Zusammenhang mit Möglichem (aber nicht Verwirklichtem) aufzuzeigen. Das Mögliche hat hier als Mögliches eine spezielle Funktion.

Die Sorgestruktur Geworfenheit, Verfallen und Entwurf bzw. ihre korrespondierenden Begriffspaare (vgl. Abbildung 1) finden ihren gemeinsamen Nenner in der Sorge, wobei auch hier der alltägliche Gebrauch als „Sorgen haben“ nicht gemeint ist. Sorge umfaßt alles, was mich angeht, wie es z.B. in den Modi des

11 vgl. auch die Ausführungen zu Tod im Kapitel 0: Es geht nicht um die Verwirklichung der Möglichkeit eines biologischen Todes, die sicher eintreten wird, sondern um den Tod als Möglichkeit der Unmöglichkeit (d.h. des Nichtseins), die das eigentliche Dasein zeitlebens begleitet.

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

Besorgens und der Fürsorge ausgeführt wird12

. Sie ist auch die Grundlage von Wollen, Wünschen, Hingabe, Trieb u.v.m., was vielleicht mit einem sehr umfassenden Begriffs des Verhaltens-zur-Welt umschrieben werden kann. Die Schwierigkeit der näheren Definition ergibt sich daraus, daß es bei der Sorge sich zunächst um eine formale, nicht inhaltliche Bestimmung handelt.

Modus des In-der-Welt-sein Ausdruck Element der Sorgestruktur

Geworfenheit schon sein in Faktizität Verfallen sein bei Verfallen Entwurf sich vorweg sein bei Existenz

Abbildung 1: Korrespondierende Begriffspaare

Die Sorge ist als gleichzeitiges Gewesensein, Sein und zukünftig Sein die Grundstruktur und somit das Sein des Daseins13

. Anders formuliert, ist sie die Grundstruktur der Identität. Daraus ergibt sich, daß das Selbst nicht als (vorhandene) Substanz oder Subjekt aufzufassen ist, sondern als aktive Tätigkeit des Entwurfs und seiner Verbindung zu den anderen Elementen der Sorgestruktur. Die eigene Identität kann nicht in isolierter Nabelschau, sondern nur im aktiven Umgehen mit und Sein bei der Welt geschaffen und erfahren werden.

Angst und Tod Das Dasein, das so viel in und bei der Welt zu tun hat, das sich diese Welt überhaupt zunächst mithilfe anderer erschlossen hat, trägt „die Gesellschaft“, „die anderen“ oder das Man, wie Heidegger es nennt, in sich. Im uneigentlichen Dasein definiert es sich in seinem Widerschein, es definiert sich als Substanz mit bestimmten Eigenschaften und - am schlimmsten - es definiert sich über eine Rolle und hängt an dieser, ohne die Freiheit bei der Wahl der Möglichkeiten zu beachten. Der Schritt von der Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit oder vom Man zum Selbst bedingt jedoch die Abkehr von 12 Dreyfus berichtet an dieser Stelle (1993:239) von einem Gespräch mit Heidegger, in dem der das englische Wort „care“, das auch positiv konnotiert ist, für inhaltlich zutreffender hielt. Heidegger selbst verwendet in einem ausführlichen Beispiel den lateinischen Begriff cura (§42). 13 Dreyfus erläutert (1993:239): „Dies ist Heideggers Antwort auf totalen kulturellen Relativismus. Es gibt eine gemeinsame Struktur für alle Arten, Mensch zu sein. Jede Kultur ist eine andere Selbst-Interpretation, aber jede Selbst-Interpretation besitzt die Art von Erschließung, die er Sorge nennt.“

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Kapitel 9

öffentlichen Normen und Rollen und die Zuwendung zu den eigenen Möglichkeiten. Zwei Phänomene stehen hierbei im Vordergrund: Angst und Tod. Um aus dem alltäglichen Modus des Man in den des Selbst zu gelangen, bedarf es wiederum einer besonderen Art von Erschließung, die vom sozial Allgemeinen (Man) zum persönlich Einzelnen (Selbst) vordringt. Heidegger lokalisiert sie in der Angst. Sie ist zunächst eine Stimmung wie Furcht, Freude, Trauer o.ä. Sie ist gegenüber der Furcht unbestimmter, hat keine konkrete Bedrohung (z.B. einen Feind), auf die sie sich bezieht, sondern:

„Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet. Die innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit. In der Angst begegnet nicht dieses oder jenes, mit dem es als Bedrohlichem eine Bewandtnis haben könnte. [...] Daß das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst. Diese ‘weiß nicht’, was es ist, davor sie sich ängstet.“ (186, Hervorhebungen im Original)

In der phänomenologischen Analyse weist Heidegger auf, daß Angst sich auf die Welt als ganzes bezieht, daß das bisher Vertraute plötzlich unheimlich im Sinne von „nicht länger mein Heim“ wird. Das Individuum sieht sich der Welt gegenübergestellt, distanziert sich von ihr, sieht sie vielleicht als Bühne und seine Rolle als ein Skript, das jeder andere genauso gut lesen könnte. Jede mögliche Bedeutung ist eine Bedeutung für alle, keine ist allein auf das Individuum zugeschnitten und ihm gehörig. Die Sinnzusammenhänge entpuppen sich als letztlich unbegründet, als bloßes Ergebnis gemeinsamer Praktiken und Normen. Die Welt wird grundlos. Angst ist somit die einzige Stimmung, die vereinzelt, die das Alleinsein des Individuums anzeigt. Sie erfüllt so die angesprochene Voraussetzung als besondere Art von Erschließung. Nun sieht Heidegger diese Grundlosigkeit jedoch nicht pessimistisch als Grund zu verzweifeln, sondern als Möglichkeit zur Freiheit. Das Dasein, das sich vom Man befreit hat, ist nun auch frei von vermeintlichen Gründen und Sachzwängen. Es ist zum ersten Mal frei, sich auf die eigenen Möglichkeiten zu entwerfen. Die zweite Erfahrung, die die Vereinzelung des Individuums sichtbar macht, ist der Tod. Auch hier zeigt sich, daß die Welt nicht auf den Einzelnen angewiesen ist: sie geht weiter, während er stirbt. Doch Heidegger betrachtet das physische Sterben (Ableben) nur als Aufhänger für eine Erfahrung, die das eigentliche Dasein während seines ganzen Lebens macht, nämlich die der Nichtigkeit. Als Geworfenes ist Dasein immer gezwungen, die Normen und Konstrukte anderer zu übernehmen; es kann sich nicht von Grund auf selbst entwerfen und bestimmen. Es steht nicht in seiner eigenen Macht, ist nicht der Grund für seine eigene Existenz. Dasein hat keine eigenen Möglichkeiten im Sinne von inhaltlich bestimmten Lebenswegen, die nur es selbst und kein anderer ergreifen kann. In diesem Sinne kann auch eigentliches Dasein sich nicht entwerfen. Was es allerdings kann und im Gegensatz zum uneigentlichen Dasein auch tut, ist, die ihm kulturell angebotenen Möglichkeiten im Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit

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zu wählen, und das wiederum heißt: sich ihnen nicht verschreiben, sie nicht zur Grundlage einer Identität machen. Das Bewußtsein der Nichtigkeit gibt dem eigentlichen Dasein die Freiheit, eine Rolle zu wählen und, wenn die Situation es verlangt, sie auch wieder aufzugeben. Es ist damit gleichzeitig auch frei für die Besonderheit der Situation: eigentliches Dasein kennt, wie Dreyfus (1993:320) bemerkt, keine Standardsituationen, in denen die Rolle dieses oder jenes Verhalten von ihm fordert, sondern nur Einzelsituationen mit ihren spezifischen Chancen und Risiken14

. Eigentliches Dasein unterscheidet sich somit nicht inhaltlich, sondern formal in der Wahl der Möglichkeiten von uneigentlichem Dasein. Das Sein-zum-Tode ist letztlich nicht die triviale Erkenntnis, daß der Mensch lebt, bis er stirbt, sondern eine Art zu leben, die nur sehr begrenzt etwas mit dem biologischen Tod zu tun hat.

Dasein und Zeitlichkeit Heidegger unterscheidet drei Formen der Zeitlichkeit: ursprüngliche Zeit (§§ 65-71), Weltzeit (§§ 78-80) und vulgäre Zeit (§81), wobei die je später genannte aus der je vorgenannten abgeleitet gedacht werden muß. Einen besonderen Aspekt der Zeitlichkeit bildet die Geschichte (§§ 72-77), bei der ebenfalls ursprüngliche und vulgäre Formen unterschieden werden können.

Ursprüngliche Zeitlichkeit Wie oben gezeigt, besitzen die drei Elemente der Sorgestruktur zeitlichen Charakter, nämlich die Existenz als sich-vorweg-sein (Zukunft), das Verfallen als sein-bei (Gegenwart) und die Faktizität als schon-sein-in (Vergangenheit)15

Damit kehrt sich die klassische Argumentation um: der Mensch ist nicht zeitlich, weil er in einer Welt lebt, deren (vierte) Dimension die Zeit ist, sondern die Welt,

. Das Dasein verbindet in jedem Moment alle drei Elemente: es befindet sich bereits in einer Welt (Faktizität), in der es wahrnimmt und handelt (Verfallen) mit Bezug auf Pläne und Sinnstrukturen (Existenz). Die Einheit der Sorge und damit des Daseins ist die Zeitlichkeit.

14 Man sieht auch hier wieder den engen Zusammenhang zwischen Verhalten und Verstehen: Die spezifische Entschlossenheit des eigentlichen Daseins „ent-schließt“, d.h. öffnet/eröffnet auch die Situation. 15 Heidegger benutzt statt „Vergangenheit“ „Gewesenheit“ aus Gründen, die für diese Arbeit nicht relevant sind. Ich werde dieser Unterscheidung hier nicht folgen.

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Kapitel 9

die ja nur gleichursprünglich mit Dasein existiert16, ist deshalb zeitlich, weil Dasein zeitlich ist. Dasein erstreckt sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und deshalb ist seine Welt so beschaffen. Dabei „ist“ die Zeitlichkeit nicht in der Welt wie ein Gegenstand, sondern sie „zeitigt“ sich, wie Heidegger in deutlicher Anspielung auf den prozessualen Charakter von Entwurf, Verstehen und Befindlichkeit sagt17

Diese ursprüngliche Zeitlichkeit unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Punkten vom gemeinhin bekannten Zeitbegriff:

. Zeitlichkeit markiert gleichzeitig das „außer-sich“ Sein des Daseins (Ekstase), auf das Heidegger in Ablehnung des Subjekt-Begriffs immer wieder hingewiesen hat. Das Dasein ist außer sich, ist bei der Welt, und die oft verwendeten Präpositionen „auf“, „zu“ und „bei“ beschreiben Bewegungen auf Horizonte hin, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heißen.

Sie ist zunächst nicht sequentiell; die Zukunft folgt nicht auf die Gegenwart, die wiederum der Vergangenheit folgt, sondern alle drei Ekstasen sind simultan vorhanden. Die Geworfenheit in die Welt, bei der ich Gegebenes vorfinde, ist nicht zeitlich „zuvor“ im Sinne von „vor fünf Minuten und jetzt nicht mehr“; das Sein-bei der Welt ist kein Jetzt im Sinne von „in dieser Sekunde und dann nicht mehr“ und auch die Möglichkeit des Entwurfes ist kein „jetzt noch nicht, aber in fünf Jahren“ (vgl. die Ausführungen zur Möglichkeit Seite 8).

Die ursprüngliche Zukunft ist zudem endlich. Im Sein-zum-Tode, in der Erkenntnis des Todes als letzte, äußerste Möglichkeit zeigt sich das Ende des Zukunftshorizontes. Die Zukunft des Menschen ist nicht deshalb endlich, weil er im Zeitablauf einen physischen Tod erlebt, sondern weil er sich - zumindest im eigentlichen Sein - auf die Möglichkeit des Todes (d.h. der Nichtigkeit) hin entwirft.

Die Zukunft ist auch, obwohl stets alle drei Ekstasen gegeben sind, vorrangig gegenüber Gegenwart und Vergangenheit. Im Entwurf bestimmt sie, d.h. die Rolle oder der Sinn, den man dem Handeln gibt, modern gesprochen, wie Gegenwart und Vergangenheit definiert werden. Insofern als Dasein immer „da“, d.h. in der Welt ist, muß auch die Erschlossenheit der Welt zeitlich zu deuten sein. Heidegger ordnet hier wie folgt: a) Das Verstehen ist primär zukünftig (obwohl, wie immer, alle drei Ekstasen

vorhanden sind), weil es die Um-zu und Worum-willen erschließt (s.o.). b) Die Befindlichkeit ist primär vergangen, weil sie Gegebenes verarbeitet. Die

Gestimmtheit gegenüber einer Sache resultiert aus vergangenen Erfahrungen, ebenso wie die Einordnung von Zuhandenem anhand vergangener Erfahrungen geschieht.

16 Dies folgt aus der Tatsache, daß die Welt die Gesamtheit aller Zwecke und Bewandtnisse darstellt. Sie kann somit nur existieren, wenn es ein Dasein gibt, für das diese Zwecke existieren. 17 Man vergleiche Elias’ Ausspruch von der Zeit als Verb statt als Substantiv (Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.)

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

c) Das Verfallen ist primär gegenwärtig, weil es sich mit dem Sein-bei-der-Welt beschäftigt. Zuhandenes und Vorhandenes begegnen in der Gegenwart.

Ekstase Sorgestruktur Erschlossenheit

Zukunft sich vorweg sein (Existenz) Verstehen Gegenwart sein bei (Verfallen) Verfallen Vergangenheit (Gewesenheit) schon sein in (Faktizität) Befindlichkeit

Abbildung 2: Zusammenfassung der ursprünglichen Zeitlichkeit (in Anlehnung an Blattner 1989)

Ursprüngliche Zeitlichkeit ist also nichts, was in der Welt vorhanden ist, sondern mit der Erschließung von Welt durch das Dasein entsteht Welt als zeitlich.

Weltzeit In seinem alltäglichen Umgang mit Zeit ist sich der Mensch der ursprünglichen Zeitlichkeit nicht bewußt. Das umsichtige Besorgen rechnet mit Zeit, nicht nur in einem zahlenmäßigen Sinne, sondern im Beziehen von Alltagsereignissen auf Zeit. Das Besorgen läßt sich, so Heidegger, analog zur Erschlossenheit auch zeitlich ausdrücken: um mit Zeug zu hantieren, benötige ich eine zu erledigende Aufgabe (Zukunft), ich muß das Zeug zur Hand haben (Gegenwart) und muß seine Verwendung im Zeugzusammenhang kennen (Vergangenheit)18

• Datierbarkeit: Jeder Zeitpunkt ist mit einer Handlung verknüpft. Ein „jetzt“ ist ein „jetzt, da ich...“, ein „damals“ ein „damals, als...“. In jeder Zeitangabe spricht sich das Dasein in seinem Bezug zur Welt aus.

. Die so erfahrene Zeitlichkeit hat vier wesentliche Eigenschaften:

• Gespanntheit: Zum einen dauert jeder so beschriebene Zeitpunkt, bis das nächste Ereignis oder die nächste Handlung eintritt. (Ich lese jetzt ein Buch, und das dauert, bis ich dann aufstehen werde und aus dem Zimmer gehe.) Zum anderen folgert aus der zeitlichen Erstrecktheit des Daseins selbst, daß jedes Jetzt erstreckt sein muß.

• Öffentlichkeit: In einer gemeinsamen Welt kann das Jetzt-Sagen verschiedener Individuen miteinander in Verbindung gebracht werden, auch

18 Heidegger spricht in seiner Terminologie von Besorgen als einem gewärtigend-behaltenden Gegenwärtigen (406), wobei „gewärtigen“ den zukünftigen, „behalten“ den vergangenen und „gegenwärtigen“ den aktuellen Aspekt beschreibt.

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Kapitel 9

wenn es sich auf verschiedene Ereignisse bezieht. Die Öffentlichkeit der Zeit ist somit eine primäre Eigenschaft, nicht eine aus einem inneren Sinn abgeleitete.

• Bedeutsamkeit: Jeder Zeitpunkt ist eine „Zeit, zu...“. Er ist verbunden mit Aufgaben und kann geeignet oder ungeeignet für das jeweilige Vorhaben sein.

Die Zeit, die durch diese vier Eigenschaften ausgezeichnet ist, nennt Heidegger Weltzeit. Sie ist nicht in der Welt wie ein Gegenstand, sondern gehört zur erschlossenen Welt aufgrund ihres Bezugs zu Rollen, Zwecken und Zuhandenem. Zum ewigen Streitpunkt, ob Zeit nun objektiv oder subjektiv sei, vermerkt Heidegger hier: die Weltzeit ist objektiver als jedes Objekt, weil sie die Bedingung seiner Möglichkeit (als Objekt in der Welt) bildet, und sie ist zugleich subjektiver als jedes Subjekt, weil sie das Sein des Daseins erst möglich macht (419).

Vulgäres Zeitverständnis Schließlich wendet sich Heidegger dem Zeitverständnis zu, das er als vulgär kennzeichnet und als dessen Kronzeugen er Aristoteles benennt (vgl. die aristotelische Definition von Zeit in Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.). Dieses Zeitverständnis ist, so Heidegger, gegenüber den anderen beiden nivelliert, d.h. es wurde aus ihnen abgeleitet, wobei wesentliche Züge fehlen. Die vulgäre Zeit, deren wesentliches Charakteristikum die Zählbarkeit ist, besteht nur noch aus einer Folge von Jetzt, die allerdings nicht mehr bedeutsam oder datierbar sind. Ihre Verbindung zur Bewandtnisganzheit, zu Zwecken und Aufgaben, ist verschwunden; die Zeit tritt hier als innerweltlich Vorhandenes auf. Daß die vulgäre Zeit eine Ableitung aus der ursprünglichen ist (und nicht umgekehrt), beweist Heidegger an einigen Eigenschaften, bei denen die ursprüngliche Zeitlichkeit noch „durchschimmert“ (422ff.). Diese Beweise würden jedoch an dieser Stelle zu weit führen.

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

äußert sich im...

Verhältnis zur Welt

Eigenschaften

ursprüngliche Zeit Existieren konstituiert Dasein gerichtet auf Horizont, endlich, nicht sequentiell, Vorrang der Zukunft

Weltzeit Besorgen konstituiert Welt datierbar, gespannt, öffentlich, bedeutsam

vulgäre Zeit19 nivellierten Besorgen (Man)

ist in der Welt (innerweltlich)

homogen, quantitativ, öffentlich, punktuell/nicht erstreckt, irreversibel, unendlich, teilbar, Vorrang des Jetzt

Abbildung 3: Übersicht über die drei Zeitkonzepte

Geschichte und Geschichtlichkeit Auch für die Geschichte gilt die Trennung zwischen Dasein, das selbst zeitlich ist, und dem Vorhandenen, das in der Zeit ist. Die Geschichtlichkeit des Daseins ergibt sich wiederum primär aus seiner Zeitlichkeit, nicht aus dem In-der-Zeit-sein eines Vorhandenen. Dasein ist geschichtlich, weil es zeitlich ist. Geschichte ist für das Dasein deshalb wichtig, weil es ihm die Möglichkeiten zeigt, auf die hin es sich entwerfen kann. Das eigentliche Dasein ergreift eine der von der Geschichte angebotenen Existenzmöglichkeiten und wiederholt sie, wobei es sich nicht um eine Wiederholung im einfachen Sinne, sondern um eine Erwiderung der Möglichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen des Daseins handelt:

„Die Wiederholung läßt sich [...] nicht vom ‘Vergangenen’ überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkehren zu lassen. Die Wiederholung erwidert vielmehr die Möglichkeit der dagewesenen Existenz. Die Erwiderung der Möglichkeit im Entschluß ist aber zugleich als augenblickliche der Widerruf dessen, was im Heute sich als ‘Vergangenheit’ auswirkt. Die Wiederholung überläßt sich weder dem Vergangenen, noch zielt sie auf einen Fortschritt. Beides ist der eigentlichen Existenz im Augenblick gleichgültig.“ (386, Hervorhebungen im Original)

Damit ist auch die Geschichte primär an den Entwurf und die Wahl der Möglichkeiten gebunden, somit primär zukünftig. 19 Mit den angeführten Charakteristika kann Heidegger sogar eine ontologische Erklärung für den Gleichschritt der Entwicklung von modernen Organisationen (= der Ausbreitung des Man in alle Lebensbereiche) und dem homogenen Zeitkonzept liefern.

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Kapitel 9

Das uneigentliche Dasein hingegen empfängt sich und damit auch seine Geschichte wie stets (vgl. oben) aus dem Vorhandenen. Es handelt sich in diesem Fall um Welt-Geschichte. Welt-Geschichte ist die Geschichte des innerweltlich Vorhandenen, und sie wird vom im Man zerstreuten uneigentlichen Dasein übernommen, um seine Kontinuität zwischen Geburt und Tod zu konstruieren. Das eigentliche Dasein hingegen, das ja nicht zerstreut ist, sondern in der ursprünglichen Zeitlichkeit die Einheit der Zeit erfährt, braucht eine solche Konstruktion nicht. Nur wo Momente als Zeitpunkte im Sinne der vulgären Zeit erfahren werden, d.h. als Momente, die nicht gespannt und bedeutsam sind, entsteht überhaupt die Frage nach einem (Lebens-)Zusammenhang, auf den dann in Form der klassischen Historie oder Biographie eine Antwort gefunden werden muß.

Exkurs: Heidegger und die Postmoderne Dem Leser leuchtet Heideggers Bedeutung für die postmoderne Philosophie20

Ich möchte diese Diskrepanz versuchen auflösen, indem ich auf die unterschiedlichen Interessenlagen der Autoren verweise. Heidegger versucht, menschliches Sein in der Welt auf der allgemeinsten Ebene

vermutlich rasch ein, denkt er an die Ent-Subjektivierung, die Hermeneutik und die Ablehnung der alleinigen Betrachtung kognitiver und intentionaler Prozesse. Dennoch möchte ich aus Gründen der Konsistenz innerhalb dieser Arbeit auf eine, wie es scheint, offensichtliche Diskrepanz eingehen: die Postmoderne betont den individuellen Charakter jeglicher Zuschreibung, während Heidegger von einer gemeinsamen Welt ausgeht, die Grundlage jeglichen Verstehens bildet. Es geht, in Schlagworten ausgedrückt, um den Vorrang der Semiotik vor der Semantik (Postmoderne) bzw. umgekehrt der Semantik vor der Semiotik (Heidegger): Wachsen Wörtern Bedeutungen zu oder Bedeutungen Wörter?

21

20 Foucault bekennt, daß seine philosophische Entwicklung durch Heidegger bestimmt war, Derrida bezweifelt, daß er irgendetwas schreiben kann, was nicht Heidegger schon vorgedacht hat, und Bourdieu spricht von Heidegger als seiner ersten Liebe (Dreyfus 1993:9).

zu beschreiben. Die Postmoderne kritisiert eine spezifische Epoche und in ihr eine spezifische Institution, nämlich Wissenschaft. Es ist m.E. plausibel anzunehmen, daß es im einfachen, alltäglichen Weltverstehen bzw. in der Sozialisation dort hinein zuerst Bedeutungen gibt und dann - falls überhaupt - Wörter dafür. Andererseits ist auch nachzuvollziehen, daß wissenschaftliche Differenzierungen eines Problems weit über die alltägliche Erfahrung hinausgehen. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, daß z.T. abstrakte Konzepte erst erkannt und sinnvoll ausgearbeitet werden konnten, nachdem geeignete Wörter oder gar

21 Inwieweit er dennoch auch Ethnozentrismen geschaffen hat, ist nicht Thema dieser Arbeit.

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Die Zeitkonzeption Martin Heideggers

Notationen zur Verfügung standen. Das soll nun wiederum nicht heißen, daß der Alltag immer auf diese und die Wissenschaft immer auf jene Weise vorgeht; es lassen sich in jedem Fall Beispiele für die eine oder andere Argumentation finden. Mir scheint jedoch, daß sich die Beispiele für den Vorrang der Semiotik im wissenschaftlichen, die Beispiele für den der Semantik im alltäglichen Bereich häufen. Für Heidegger ist die Wissenschaft ein Spezialfall, den er in seiner allgemeinen Abhandlung nur an bestimmten Stellen und hinsichtlich bestimmter Probleme betrachtet. Umgekehrt ist die Postmoderne nun genau an Wissenschaft als Sprache und am Sprachspiel Wissenschaft interessiert, dessen Unterscheidung zum alltäglichen Diskurs sie hervorhebt. In diesem Sinne, denke ich, lassen sich beide Positionen erträglich vereinen, ohne eine Schwarz-Weiß-Entscheidung vornehmen zu müssen.

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Kapitel 9

18

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Foucault, Lacan, and Derrida are the names of problems, not ‘authors’ of doctrines.

R. Young

Zur Einordnung1

„...the only law on books, that I would like to see brought in, would be a prohibition to use an author’s name twice, together with a right to anonymity and to pseudonyms [...] - it would be better if my books were read for themselves, with whatever faults and qualities they may have.“ (Foucault/Kritzman 1990:52f.)

„... die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen. Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und so weit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt?“ (Foucault 1995b:15)

Und schließlich das berühmte:

„Ja, glauben Sie denn, daß ich mir soviel Mühe machen würde und es mir soviel Spaß machen würde zu schreiben, glauben Sie, daß ich mit solcher Hartnäckigkeit den Kopf gesenkt hätte, wenn ich nicht mit etwas fiebriger Hand das Labyrinth bereitete, wo ich umherirre [...]? Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.“ (Foucault 1992a:30)

Es gibt wohl wenige Autoren, die sich so stark wie Foucault dagegen gewehrt haben, eingeordnet zu werden; dennoch soll dieses Kapitel einer kurzen Einführung in - und damit Einordnung von - Foucaults Werk dienen. Ich habe dafür zwei Rechtfertigungen: zum einen die, daß sich diese Arbeit nicht ausschließlich mit Foucault beschäftigt und daß sie deshalb in der Kürze einen Überblick vermitteln muß, der wie alle Überblicke, aus der Perspektive des Werkes betrachtet, unvollständig und fehlerhaft sein muß. Zum zweiten ist es die, daß Foucault selbst, vor allem in seinen späteren Interviews, immer wieder auf ein „Projekt“ zu sprechen kommt, das seine sämtlichen Arbeiten durchzieht: auf die drei großen Techniken des Wissens, der Macht und des Subjekts.

1 Für die systematische Darstellung, auch in den folgenden Kapiteln, fand ich vor allem Dreyfus/Rabinow (1994) und Kögler (1994) hilfreich.

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Kapitel 10

Bevor ich darauf näher eingehe, soll zunächst Abbildung 1 dazu dienen, die Foucaultschen Hauptwerke sowohl chronologisch als auch thematisch zu ordnen. Die Jahreszahlen beziehen sich dabei auf die französische und deutsche Erstausgabe; die Begriffe in Klammern auf die vordergründigen thematischen Schwerpunkte - „vordergründig“ deshalb, weil, wie wir sehen werden, das konkret Beschriebene nur als Exempel für allgemeinere Prozesse dient. Die Einteilung der Schaffensperioden habe ich aus der Sekundärliteratur übernommen, doch auch Foucault selbst suggeriert eine Dreiteilung anhand der Thematisierung der drei großen Techniken (Foucault 1990, 1994c). Ich stimme mit jenen überein, die diese Perioden nicht scharf voneinander trennen, sondern in ihnen eher eine Schwerpunktverlagerung als eine radikale Abkehr sehen (etwa Dreyfus/Rabinow 1994, Young 1981, dagegen: Wuthnow et al.1991). M.E. gibt Foucault die archäologische Methode nie vollständig auf2

, auch wenn nach den Ereignissen von 1968 Macht (und damit die Genealogie) zum zentralen Konzept seiner Theorie wird. Die dritte Periode schließlich ist unvollendet geblieben, wiewohl bereits die zeitliche Distanz zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes von „Sexualität und Wahrheit“ (vgl. Fußnote 3) auf einen erneuten Schwerpunktwechsel deutet, den Foucault in mehreren Interviews (Foucault 1990, 1994d) auch beschrieben hat.

Methoden Foucault (1990:95) sieht sich selbst in einer der beiden großen Traditionen, die der Aufklärung folgen: die erste, mit u.a. Husserl und Habermas, versucht eine „Analytik der Wahrheit“, d.h. eine Freilegung der ahistorischen Fundamente unseres Denkens und Sprechens, die universal gültig sein können; die zweite, mit u.a. Weber, Nietzsche und Foucault, versucht eine „Ontologie der Gegenwart“, d.h. eine Aufdeckung der historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen unseres Denkens und Sprechens. Die einen möchten eine univerale Basis der Kritik schaffen, die anderen Kritik üben, indem sie die historische Kontingenz vermeintlich universaler Konzepte aufzeigen.

2 Er spricht sogar noch in seinem letzten Buch von ihr (Foucault 1995b:19).

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Periode Archäologie

Genealogie

Ethik

„Wahnsinn und Gesellschaft“ 1961/73

(Psychiatrie)

„Überwachen und Strafen“ 1975/77

(Justiz)

„Der Gebrauch der Lüste“ 1984/86

(Sexualität)

Werke „Die Geburt der Klinik“ 1963/88

(Medizin)

„Archäologie des Wissens“ 1969/81

(Methode)

„Der Wille zum Wissen“3

(Sexualität, Methode)

1976/83

„Die Ordnung der Dinge“ 1966/74

(Humanwissenschaften)

„Die Sorge um sich“ 1984/86

(Sexualität)

vorrangiges Interesse

Wissen/Wahrheit

Macht

Selbsttechniken

Abbildung 1: Wichtigste Monographien Foucaults

3 „Der Wille zum Wissen“, „Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“ gehören zu einer ursprünglich sechsbändig konzipierten Geschichte der Sexualität, die jedoch aufgrund von Foucaults Tod nicht zu Ende geführt wurde. Ein vierter Band „Les aveux de la chair“ scheint fertiggestellt worden zu sein, wurde jedoch nicht veröffentlicht.

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Kapitel 10

Im Blickpunkt von Foucaults Kritik steht dabei vor allem das Subjekt4

. Gegen Humanismus und Phänomenologie (und z.T. gegen die Aufklärung selbst) vertritt er den Standpunkt, daß das Subjekt nichts a priori Gegebenes, kein Sinnstifter und Hort einer „menschlichen Natur“ ist, sondern Resultat von historischen Prozessen, deren Triebkräfte auf einer nicht-subjektiven Ebene liegen.

Archäologie Die Frage nach dem Ursprung von Bedeutung, Wissen und Wahrheit, die Foucault als Inhaber eines Lehrstuhls für die Geschichte von Denksystemen naturgemäß interessiert, ist ohne sinnstiftendes Subjekt schwer zu beantworten. Foucault orientierte sich zunächst am Strukturalismus5, der Bedeutung als regelgeleitete Kombination von an sich bedeutungslosen Elementen auffaßt (ein Beispiel wäre die Grammatik). Das Auffinden der Regeln, die diese Kombination für den Bereich des Wissens leiten und leisten, ist eines der Ziele der Archäologie (vgl. zum folgenden Foucault 1992a). Foucault bezeichnete sie als „Archiv“. Der Ort dieser Regeln ist der Diskurs oder besser gesagt: die diskursiven Praktiken6

Die eigentliche Methode nun, mithilfe derer die Regeln ans Licht gebracht werden sollen (denn sie sind zu selbstverständlich, um bemerkt zu werden), hat folgende Merkmale:

innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Praktiken sind historisch kontingent, jedoch nicht arbiträr.

• Die Beschreibung von Wandel erfolgt nicht ahistorisch, anhand von Metaregeln oder Teleologien, sondern empirisch, durch die Analyse konkreter geschichtlicher Daten. Dabei kann auf jedes literarische Genre innerhalb des betrachteten Zeitraumes zurückgegriffen werden.

• Die historischen Quellen werden nicht als Dokumente, sondern als Monumente betrachtet. Dokumente, in Foucaults Sprachgebrauch, sind Zeichen, sie verweisen auf einen Sinn jenseits ihrer selbst (z.B. können sich im späten Mittelalter Zeichen für die Renaissance finden), während

4 Foucault verwendet die Begriffe „Subjekt“ und „Individuum“ nicht terminologisch und z.T. auch wertfrei als Synonyme zu „Mensch“. „Subjektivierung“ und „Individualisierung“ sind für ihn jedoch in jedem Fall negativ zu bewertende Techniken. 5 Diese Anlehnung, die nie zu einer wirklichen Übernahme führte, hat ihm bei manchen das Etikett „Strukturalist“ eingetragen, das er vehement und ungewöhnlich scharf ablehnte: „In Frankreich beharren gewisse halbgewitzte ‘Kommentatoren’ darauf, mich als einen ‘Strukturalisten’ zu etikettieren. Ich habe es nicht in ihre winzigen Köpfe kriegen können...“ (1994a:15) 6 Foucault (1994a) betont ausdrücklich, daß sie nicht auf Sprache reduzierbar sind. Mit dem Begriff des Diskurses bringt er seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Saussuresche Linguistik mit ihrer Gegenüberstellung von Wort (als Bezeichnendes) und Objekt (als Bezeichnetes) einen wichtigen Aspekt der Sprache, nämlich den der Ordnung von Erfahrungen (nicht allein ihrer Repräsentation), übersieht: „...nicht - nicht mehr - die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen [...], sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zu Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache.“ (Foucault 1992a:74)

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Monumente „stumm“ sind und nur aus sich selbst heraus, d.h. mithilfe ihrer eigenen Logik und Weltanschauung, erklärt werden können. Klassischerweise sind Monumente die Objekte der Archäologie, Dokumente die der Geschichtswissenschaft. Historische Quellen als Monumente zu betrachten, bedeutet, jeder Epoche, nicht nur unserer wissenschaftlich-technischer, ihre spezifische Rationalität zuzugestehen, die es zu entdecken gilt7

• Statt traditionelle Periodisierungen und Zusammenfassungen (dazu gehören auch Kausalzusammenhänge und Objekte) zu übernehmen, werden zunächst nur Einzelereignisse betrachtet und neutral beschrieben. Sie werden dann neu zusammengefaßt anhand von diskursiven Ähnlichkeiten. Dieses Verfahren erlaubt erstens einen „unvoreingenommenen“, „neuen“ Blick auf Bekanntes, zweitens die Aufdeckung eines diskursiven, vor-sprachlichen und nicht-bewußten Zusammenhanges.

.

• Die Untersuchung beginnt an dem Zeitpunkt, wo für die Gegenwart unverständliche Handlungen vollzogen werden. Sie deuten auf ein anderes Regelsystem, eine inkompatible Rationalität hin. Entlang dieser Scheidewand läßt sich dann zeigen, wo und wie es zur Entwicklung des gegenwärtigen Regelsatzes kam.

• Die Analyse ist immer am Verständnis der Gegenwart, nicht der Vergangenheit, orientiert. Es geht nicht darum, z.B. eine „Geschichte des Wahnsinns“ im traditionellen Sinne zu schreiben, die möglichst viel historisches Material zusammenträgt (vgl. Foucault 1992b:209f.). Foucault räumt sogar ein, daß manche der beschriebenen Praktiken in ihrer Zeit nur marginal bedeutsam waren. Die Vergangenheit wird nicht um ihrer selbst willen beschrieben, sondern dient nur als Folie, vor der sich die Konturen der Gegenwart abheben.

Doch scheint das so ausgestaltete archäologische Konzept an mindestens drei Punkten nicht schlüssig: 1. Wie kann man historische Kontingenz postulieren und gleichzeitig eine

neutrale Beschreibung der Ereignisse vornehmen? 2. Wie kann man diskursive Praktiken als autonome Letztbegründungen

annehmen? Wie man spätestens seit Wittgenstein weiß, können Regeln niemals - ohne infiniten Regreß - ihre Anwendung erläutern.

3. Wie kann eine neutrale Beschreibung historisch kontingenter (Einzel-)Prozesse in einen kritischen Standpunkt übergeleitet werden?

Foucault hat diese Probleme innerhalb der Archäologie nicht lösen können, was ihn schließlich dazu brachte, sie als geschlossenes methodologisches Konzept (jedoch nicht als Methode) aufzugeben. Er entwickelte im folgenden die Genealogie, die

7 Dieses Postulat leitet er aus der Irreduzibilität des Denkens ab: wann immer Menschen handeln, denken sie sich etwas dabei. Deshalb wohnt jeder Epoche eine Rationalität inne, auch wenn ihre Handlungen nicht in unserem Sinne rational sein mögen (Schäfer 1995:25).

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Kapitel 10

1. das Vorhandensein einer Vorstruktur bei jeder Interpretation oder Wahrnehmung akzeptiert, und

2. ihr Augenmerk auf Politiken, Strategien und Macht in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken sowie auf ihre Verbindung mit Wissen und Wahrheit richtet.

Daß dies zur Beantwortung der dritten Frage noch nicht ganz ausreicht, wird uns in Kapitel 0 beschäftigen.

Genealogie Die genealogische Methode rankt sich im wesentlichen um zwei Fragen, nämlich 1. Wie wird bzw. wurde Macht in konkreten Prozessen ausgeübt? 2. Wie ist Macht mit Wissen (und später: mit Subjektivierung) verbunden? Auf die Foucaultsche Definition der Macht möchte ich ausführlich im Kapitel 0 eingehen; jetzt geht es mir darum, die methodologische Annäherung an das Phänomen zu beschreiben. Foucault gibt, wie gesagt, die archäologische Methode nie auf, jedoch kommt es nun zu einigen wichtigen Verlagerungen:

• Der Diskurs wird nicht mehr als autonom betrachtet, sondern in seiner gesellschaftlichen Einbettung; entsprechend untersucht Foucault nicht mehr nur diskursive Praktiken, sondern auch nicht-diskursive. Er faßt sie zusammen unter dem Begriff des „Apparats“ (dispositif), womit „ein heterogenes Ensemble von Diskursen, Institutionen, Architekturformen, Regelentscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Aussagen“ gemeint ist, das Gesagtes und Nicht-Gesagtes umfaßt (Foucault 1992b:194). Seine Leitmetapher ist nicht mehr die Sprache, sondern der Kampf (Foucault 1992b). Auch Geschichtlichkeit ist für ihn nun primär ein Macht-, kein Sinnverhältnis (Schäfer 1995).

• Statt der Analyse diskursiver Praktiken geht es nun um die Taktik ihrer Anwendung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung (Foucault 1992b). Dabei ist jedoch wichtig zu beachten, daß Foucault das Feld Politik/Strategie/Taktik nach wie vor nicht-subjektiv beschreibt. An die Stelle des intentionalen, bewußt handelnden Subjekts tritt der Wille zum Wissen8

• Wissen und Wahrheit werden als untrennbar mit Macht verbunden konzipiert.

.

8 Da es sich sowohl um ein von Foucault beschriebenes Phänomen als auch um den Titel eines seiner Bücher handelt, werde ich zur Unterscheidung nur den Buchtitel in Anführungszeichen setzen.

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

• Macht wird nicht nur negativ-restriktiv, sondern kreativ konzipiert. Sie schafft Bedeutungen und ist tief in der Sinngebung verankert.

Foucault richtet seine genealogische Analyse vor allem auf unscheinbare Ereignisse, auf Material, das in den Geschichtswissenschaften traditionell übergangen wird. Er findet darin Belege für Widerstände und Konflikte, die totalisierende Theorien9

Dabei nimmt er in „Der Wille zum Wissen“ gerade jenen Bereich aufs Korn, den wir oft als intimsten, von gesellschaftlicher Beeinflussung (außer direkter Restriktion) freiesten betrachten: die Sexualität. Dreyfus/Rabinow (1992:22) bemerken richtig, daß dieses Buch den „hermeneutischen Glauben an die tiefe Bedeutung“ herausfordert. Sex

(z.B. Marxismus, Psychoanalyse) ausgeblendet und mit der Zeit vergessen haben. Die Hervorbringung der in diesem Material niedergelegten Überzeugungen, ihre Gleichstellung mit anerkanntem Wissen und schließlich ihre Verwendung im Kampf gegen die traditionellen Wissensformen sind für Foucault die Ziele der Genealogie (1992b:83ff.). Er will Widersprüche und Diskontinuitäten unserer Geschichte nicht um ihrer selbst willen aufzeigen, sondern um zu beweisen, daß Evidenzen und Universalitäten, auf denen heutiges Wissen (und heutige Macht) beruht, Resultate von Kämpfen und Ungerechtigkeiten, nicht von friedlicher Kontemplation und Offenbarung sind. Umbrüche in der Wissenschaft sind, wie er einmal bemerkt (Foucault 1992b:112f.), nicht Resultate von geänderten Theorien oder Paradigmen, sondern eines veränderten „Denkregimes“ - und wie alle grundlegenden politischen Umbrüche gehen sie nicht konfliktfrei vonstatten.

10

nach Foucault ist nichts Persönliches, keine tiefe (Freudsche) Quelle unserer Motive, sondern etwas, was von Macht im Verbund mit Wissenschaft und Recht hervorgebracht wurde. An diesem Beispiel gelingt es Foucault auch zu zeigen, daß diese Hervorbringung eben nicht restriktiv durch Verbote erfolgte, sondern kreativ, indem immer mehr Diskurse (psychologische, medizinische, pädagogische etc.) über die Sexualität produziert und angeregt wurden.

„If power were never anything but repressive, if it never did anything but to say no, do you really think one would be brought to obey it? What makes power hold good, what makes it accepted, is simply the fact that it doesn’t only weigh on us as a force that says no, but that it traverses and produces things, it induces pleasure, forms knowledge, produces discourse.“ (Foucault 1992b:119)

Die Methoden der genealogischen Analyse beschreibt Foucault (1981:67) wie folgt:

1. Umkehrung: Wo traditionell Kontinuität aufgezeigt wird, muß man Diskontinuitäten suchen; was traditionell als restringierend gilt, muß auf seine Kreativität untersucht werden, usw.

9 Foucault (1992b:81) charakterisiert sie als „functionalist or systematising thought“. 10 Wie der Übersetzer vermerkt (Foucault 1995a:14) hat man sich dabei den französischen Begriff sexe vorzustellen, der im Gegensatz zum Deutschen nicht nur auf Lust, sondern auch auf den natürlichen Trieb abstellt.

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Kapitel 10

2. Prinzip der Diskontinuität: Es gibt unter den Oberflächenerscheinungen keine „Tiefenkräfte“, nichts Unaussprechliches, was die auseinanderlaufenden Diskurse zusammenhält. Diskurse sind als diskontinuierliche Praktiken zu behandeln, die einander durch- und überkreuzen können, aber manchmal auch isoliert nebeneinander herlaufen.

3. Spezifizität: Es geht nicht darum, die Welt zu entziffern11

4. Prinzip der Äußerlichkeit: Statt vom Diskurs aus nach seinem inneren Sinn zu suchen, muß man von seiner äußeren Erscheinung ausgehen und weiter nach außen vordringen: zu dem, was ihn ermöglicht und begrenzt.

; es gibt keinen prädiskursiven Sinn in ihr. Diskurs ist eine Praktik, die wir den Dingen aufzwingen.

Die Analyse der Machtverhältnisse selbst umfaßt dabei das System der Differenzierungen, die dem Einwirken auf das Handeln zugrunde liegen (z.B. Unterschiede hinsichtlich Besitz oder Bildung), die Ziele der Einwirkung (z.B. Aufrechterhaltung), ihre instrumentellen Modalitäten (z.B. Waffen, Worte), die Formen der Institutionalisierung und Grade der Rationalisierung12

Jemand, der das Verhältnis von Macht und Bedeutung in dieser Weise untersucht, muß sich natürlich auch der eigenen Befangenheit in Begriffen und Hypothesen klar sein. Und so will Foucault seine Analyse nicht mit Theorien, etwa der Macht, beginnen, weil Theorien bereits eine Objektbildung voraussetzen. Stattdessen bemüht er sich um einen permanenten Skeptizismus den eigenen Äußerungen und Hypothesen gegenüber, um eine ständige Kritik der eigenen Begrifflichkeit (Foucault 1994c:243f.) - was es für den Leser nicht gerade einfacher macht. Aus seinem eigenen Anliegen heraus kann Foucault weder einer Schule folgen

(Wirksamkeit der Instrumente, Gewißheit der Ergebnisse, Kosten). Foucault zieht es vor, die Institutionen aus den Machtverhältnissen heraus zu erklären statt umgekehrt, weil Machtverhältnisse in seinen Augen außerhalb der Institutionen, nämlich in den Apparaten, verankert sind (Foucault 1994c:256ff.).

13

„... the predominant feature, is the local character of criticism. That should not, I believe, be taken to mean that its qualities are those of an obtuse, naive or primitive empiricism; nor is it a soggy eclecticism, an opportunism that laps up any and every kind of theoretical approach; nor does it mean a self-imposed asceticism which taken by itself would reduce to the worst kind of theoretical impoverishment. I believe that what this essentially local character of criticism indicates in reality is an autonomous, non-centralised kind of theoretical production, one that is to say whose validity is not dependent on the approval of the established régimes of thought.“ (Foucault 1992b:81)

noch eine bilden; seine Art von Kritik wird immer „lokal“ bleiben:

11 Dies wäre ein Begriff der Korrespondenztheorie der Wahrheit. 12 Gegen Weber ist Foucault (1994c:244f.) hier der Meinung, daß ein globaler Begriff der Rationalisierung „gefährlich“ sei. Gewinnbringender sei eine Analyse der Rationalitäten einzelner Bereiche (z.B. Sex, Krankheit, Verbrechen). 13 Obwohl er Marx, vor allem aber Nietzsche und Heidegger, als die wichtigsten Einflüsse nennt (Foucault 1990:250, 1992b:53), fügt er hinzu: „For myself, I prefer to utilise the writers I like. The only valid tribute to thought such as Nietzsche’s is precisely to use it, to deform it, to make it groan and protest...“

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Ein kurzer Vergleich mit anderen Methodologien mag zeigen, an welchen Stellen Foucault von den „established régimes of thought“ abweicht:

Grundannahmen/Methoden dagegen Foucault

Strukturalismus Suche nach ahistorischen Transformationsregeln

keine ahistorische Metaebene; keine Regeln

Poststrukturalismus Diskurs ist autonom und selbstreferentiell

Diskurs ist eingebettet in Machtverhältnisse.

Hermeneutik Interpretation von Zeichen und Praktiken

Diskurse sind keine Zeichen, verweisen auf keine „dahinterliegende“, „verborgene“ Bedeutung.

Phänomenologie Subjekt als transzendentaler Bedeutungsstifter

Subjekt historisch kontingent; kein epistemisches Subjekt

evolutorische Ansätze Interpretation vergangener Ereignisse unter einem Entwicklungsgesetz, meist mit Gegenwartsbezug (Präsentismus)

eigene Rationalität der Vergangenheit; kein tieferliegendes Gesetz

historische Methode möglichst vollständige Rekonstruktion von Vergangenheit

Ontologie der Gegenwart; pragmatisch beeinflußter Blick auf Vergangenheit; Selektion von Ereignissen und Quellen

Abbildung 2: Einige methodologische Abgrenzungen (nach Foucault 1992a, Dreyfus/Rabinow 1994)14

14 Die Darstellung ist nicht unproblematisch, da sie auf verschiedene Zeitpunkte innerhalb von Foucaults Werk zurückgreift.

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Kapitel 10

Macht Eines der großen Foucaultschen Themen, vielleicht sogar das einflußreichste, ist seine Analyse der Macht. Obwohl nur in wenigen Büchern explizites Thema, ziehen sich ihre Verbindungen und Auswirkungen quer durch das gesamte Werk. Im folgenden soll eine kurze Besprechung der wichtigsten Bereiche sowie der Versuch einer Definition von Macht nach Foucault vorgenommen werden.

Macht und Disziplin Foucault lokalisiert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Übergang der Machtausübung von dem, was er die „Macht des Souveräns“, zu dem, was er „Disziplinarmacht“ nennt (vgl. zum folgenden wesentlich Foucault 1994b). Die „Macht des Souveräns“ ist die des Mittelalters (Feudalmacht) und der frühen Neuzeit; sie ist charakterisiert durch einen unregelmäßigen Zugriff auf ihre Untertanen, sowohl was den Zeitpunkt (z.B. zur Bestrafung) als auch den Umfang (z.B. Strafmaß) angeht. Die neue Macht hingegen beruht auf einer kontinuierlichen Einwirkung, und zwar sowohl was den Durchgang durch Disziplinarinstitutionen während der Lebensspanne als auch was den Aufenthalt in einer solchen betrifft. Sie ist gleichzeitig gegenüber der früheren bis ins Detail geregelt, sie beobachtet und schreibt kleinste Gesten und Handlungen vor. Typische institutionelle Vertreter sind Schulen, Kasernen und Hospitäler. Macht des Souveräns Disziplinarmacht hängt ab von Erde und ihren Produkten Körper entzieht Körpern Reichtum und Güter Zeit und Arbeit Ausübung diskontinuierlich, durch Pflichten und

Abgaben kontinuierlich, durch Überwachung

setzt voraus physische Anwesenheit eines Souveräns enges Netz von materialen Zwängen basiert auf Prinzip gleichzeitige Erhöhung der Zahl der Subjekte

und der sie unterwerfenden Macht Verhältnis zum Leben

Leben nehmen als Sanktion Lebenssicherung und -verwaltung

Abbildung 3: Zwei Formen der Machtausübung (nach Foucault 1992b:104, 1995a:161ff.)

Ein drittes Merkmal ist ihre Einwirkung auf den Körper; gleichsam unter Umgehung des Bewußtseins wird zunächst das beobachtbare Verhalten

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

„dressiert“, bis die mentale Einstellung folgt (vgl. Elias’ Selbstzwang). Dies geschieht durch ineinander übergreifende Verfahren der Beobachtung, Aufteilung15

Unter dem Vorzeichen dieser Internalisierung wird die ausübende Macht gleichzeitig immer unsichtbarer; der zentrale Souverän im Lichte seiner Macht wird, überspitzt formuliert, vom „big brother“ in den Köpfen aller abgelöst, der beobachtet, aber selbst nicht gesehen wird.

und Kontrolle. Statt wie früher ausgeschlossen zu werden, gelangen von der Norm abweichende Menschen nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Medizinern, Pädagogen und Juristen. Sie sollen gebessert, erzogen, normalisiert werden. Dies geschieht zunächst noch (und z.T. noch heute) in geschlossenen Anstalten, die jedoch in dem Maße nach außen geöffnet werden können, in dem die Disziplin internalisiert wird - und zwar nicht nur von den Insassen, sondern von der Bevölkerung außerhalb, die fortan als Wächter und Richter fungieren kann.

Der Code, der dieser neuen Disziplinarmacht zugrundeliegt, basiert dabei nicht, wie man bei einer Staatsgewalt annehmen könnte, auf dem Recht, sondern auf Normalität (Foucault 1992b:107,1994b). Sie beginnt, hierarchisch gesehen, „unten“, wo in kleinen Einheiten kleine Strafen für kleine Abweichungen vergeben werden. Sie kann sich umso stärker durchsetzen, je homogener (d.h. ohne Standesunterschiede) und individueller (d.h. aufgeteilter, einzeln klassifizierter) die Gesellschaft wird, denn nur unter diesen Voraussetzungen kann Normalität zum Zwang und dieser Zwang durchgesetzt werden. Als Grund für diese historische Entwicklung lokalisiert Foucault zwei Begleitumstände, nämlich erstens das vermehrte Anwachsen der Bevölkerung seit dem 18. und der Beginn des Kapitalismus im frühen 19. Jahrhundert. Ersteres rückt Konzepte der Bevölkerungskontrolle und -hygiene in den politischen Vordergrund; der Staat beschäftigt sich zunehmend mit dem Leben statt dem Sterben seiner Untertanen. Letzteres stellt die Forderung nach einer großen und gehorsamen Arbeiterschaft an die Politik. Im Verbund mit Entwicklungen, denen wir im folgenden Kapitel nachgehen werden, wird so das Entstehen einer „Bio-Macht“ (Foucault 1992b:186, Dreyfus/Rabinow 1994) gefördert, die sich zum einen auf den Körper statt auf das Bewußtsein und zum zweiten auf die reproduktiven Kräfte der Bevölkerung richtet.

Macht und Wissen Wie bereits oben erwähnt, genügt es nicht, die negativen Seiten der neuen Macht zu beschreiben; sie hätte sich nicht durchsetzen können, ohne auch und vor allem positive Effekte zu zeitigen. Von kurzfristigen Problemlösungen abgesehen, ist es vor allem der Wissensgewinn, dem Foucault sich hier zuwendet. Noch in seiner archäologischen Phase hat er in „Die Ordnung der Dinge“ (1994a) beschrieben, wie sich um dieselbe Zeit in 15 Foucault vermerkt, daß die zeitliche Aufteilung in Niveaus, die man während der Ausbildung zu durchlaufen hat, die lineare Zeitkonzeption vorangetrieben hat (1994b:206f.).

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Kapitel 10

den Wissenschaften die Diskurse ändern. Wichtigstes Resultat dieser Änderung ist die „Entdeckung“ (vgl. Fußnote 11) von Tiefenstrukturen, die beobachtbaren Oberflächenprozessen zugrundeliegen, aber selbst nicht augenscheinlich werden. Als solche identifiziert Foucault das „Wesen“ und die „innere Organisation“ von Sprache, Leben und Arbeit in den respektiven Wissenschaften. Fortan genügt es nicht mehr, die Erscheinungen eines Wissensgebietes zu beschreiben und zu klassifizieren, sondern sie müssen in Beziehung zu einem „inneren Gesetz“ gebracht werden, das ihre Genese und Ausformung erklärt. Sie gehorchen „eigenen Entwicklungsgesetzen“ - und damit basiert die epistemische Ordnung erstmals auf einer Kontinuität von Zeit. Diese Veränderung ist so bedeutend, daß die Wissenschaften davor und danach nicht mehr dieselben sind: aus der Allgemeinen Grammatik (bzw. der Naturgeschichte bzw. der Analyse der Reichtümer) wird die Philologie (bzw. die Biologie bzw. die Politische Ökonomie). Allen gemeinsam ist die „Entdeckung“ des Menschen als jenem Wesen, das diese inneren Organisationen von Sprache, Leben und Arbeit in sich vereinigt. Er wird damit zum opaken, komplexen Objekt der Wissenschaft, das es zu analysieren gilt. Zu etwa der gleichen Zeit16 also gerät der lebende Mensch in den Blickpunkt zweier Institutionen, der Staatsgewalt und der Wissenschaft, deren Zusammenarbeit sich als äußerst gewinnbringend für beide erweist: an den Beispielen des Wahnsinns, der Krankheit, des Verbrechens und der Sexualität zeigt Foucault, wie die Humanwissenschaften17

„Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie [die Prüfung] die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden.“ (Foucault 1994b:238)

einerseits Ansatzpunkte und Legitimationen für staatliche Eingriffe liefern und zur selben Zeit Machtpotentiale gegenüber Gesellschaft und Individuum aufbauen.

Seine Analyse unterscheidet sich von üblichen Repressionsthesen jedoch dahingehend, daß die angeführten Autoren bzw. Akteure nicht mit der Intention der Unterdrückung bzw. des Machtgewinns argumentieren und handeln, sondern mit „besten“ Intentionen der Problemlösung und des Erkenntnisgewinns: Verbrecher sollten gebessert statt bestraft, Kranke geheilt statt ausgeschlossen werden. Es ist keine „böse“ Wissenschaft, die mit einem „bösen“ Staat gemeinsame Sache macht; es handelt sich eher - das sind meine Begriffe - um unintended consequences, aber solche, die in der Natur dieser Institutionen liegen. Wenn Wissenschaft einen Sinn haben soll, muß sie zwischen wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich und zwischen wahr und falsch unterscheiden. Sie (dis-)qualifiziert damit: Aussagen, Objekte (dazu gehören auch Menschen), Methoden18

16 beginnend in der zweiten Hälfte des 18. und sich verstärkend im 19. Jahrhundert

. Der Hintergrund, vor dem wahrgenommen und erfahren wird, ist ein normativ vorstrukturierter. Wenn sie zweitens einen

17 Darunter faßt er Soziologie, Psychologie und Literaturwissenschaft, die sich nicht nur dem Menschen als Objekt (wie z.B. die Biologie), sondern als reflektierendes Subjekt widmen (vgl. Foucault 1994a:413ff.). 18 In diesem Sinne bezeichnet Foucault seine Genealogie auch als „Anti-Wissenschaft“, nicht weil sie Ignoranz oder nicht-rationale Vorgehensweisen forderte, sondern weil sie versucht, nicht zu disqualifizieren (Foucault 1992b:83f.).

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Platz innerhalb der Gesellschaft beanspruchen will, müssen ihre Erkenntnisse gesellschaftlich relevant (wie auch immer definiert) sein. Im dem Maße, in dem sie ihre Erkenntnisse ausweitet und ihre Techniken verbessert, vergrößert sich ihr Einflußbereich.

„... truth isn’t the reward of free spirits, the child of protracted solitude, nor the privilege of those who have succeeded in liberating themselves. Truth is a thing of this world: it is produced only by virtue of multiple forms of constraint. And it induces regular effects of power.“ (Foucault 1992b:131)

Der Wille zum Wissen (Foucault 1981, 1995a), dessen Entstehung Foucault für das klassischen Griechenland postuliert, erhält nun seine gegenüber anderen formativen Kräften absolute Stellung: Es ist die Aufgabe und das Recht der Wissenschaft, zwischen Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden, und es ist die Wahrheit, die jede mögliche Aussage und auf ihr beruhende Handlungen legitimiert.

„... it is as if even the word of law could no longer be authorised, in our society, except by a discourse of truth.“ (Foucault 1981:55)

„We are subjected to the production of truth through power and we cannot exercise power except through the production of truth. This is the case for every society, but I believe that in ours the relationship between power, right and truth is organised in a highly specific fashion. If I were to characterise, not its mechanism itself, but its intensity and constancy, I would say that we are forced to produce the truth of power that our society demands, of which it has need, in order to function: we must speak the truth; we are constrained or condemned to confess or to discover the truth. Power never ceases its interrogation, its inquisition, its registration of truth: it institutionalises, professionalises and rewards its pursuit.“ (Foucault 1992b:93)

Macht und das Subjekt Der dritte große Bereich, dessen Foucault sich nach Macht und Wissen annimmt, ist die Subjektivierung und ihre Verbindung zu den beiden vorgenannten Bereichen. Sein Untersuchungsgebiet ist dabei der Sex und die Sexualität. Die Auswahl ist insofern naheliegend, als hier die Bio-Macht ihren Zugriff sowohl bezüglich des Körpers als auch bezüglich der Fortpflanzung manifestiert. Und so handelt „Der Wille zum Wissen“ (1995a) Sexualität wesentlich unter den Gesichtspunkten ab, die schon in „Überwachen und Strafen“ (1994b) im Vordergrund standen: Normalisierung, Durchdringung, Isolation, Kontrolle unter den Fittichen von Staat und Wissenschaft. Und wiederum kehrt Foucault traditionelle Erklärungsmuster um: es sind nicht Staat und Wissenschaft, die den natürlichen Trieb Sex mithilfe von Diskursen über Sexualität unterdrück(t)en, sondern es waren eben jene Diskurse, die Sex (als tiefen, innerlichen Trieb, der in unserem Unterbewußtsein Motor unseres Verhaltens ist) überhaupt produzierten. Nie wurde so viel über Sex gesprochen und geschrieben wie gerade in den „prüden“ letzten beiden Jahrhunderten, und selbst die Verbote und Ausschlüsse (die Foucault nicht leugnet) tragen wiederum die Zeichen des Willen zum Wissen.

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Kapitel 10

Nun gibt es jedoch ein Element, das den Diskurs über Sex von den anderen, zumindest der Intensität nach, unterscheidet: das ist die Nähe zu unserer individuellen Persönlichkeit, zu unserem „Wesen“. Wenn Sex ein Produkt der Disziplinarmacht und der Wissenschaft ist, was in uns ist es dann nicht? Mit seiner Untersuchung zu „Sexualität und Wahrheit“ will Foucault nun endlich seine methodischen Vorbehalte gegen das Subjekt inhaltlich untermauern. Die Verbindung, die er zwischen Macht, Wissen und Subjekt herstellt, ist die der „Selbsttechniken“. Er definiert sie als Verhältnis zu sich selbst, als Erfahrung seiner selbst - und diese Erfahrung basiert, wie wir inzwischen gesehen haben, auf Wissen und Normen. Wenn es gelingt zu zeigen, daß das Subjekt Ergebnis von Erfahrungen ist, kann es nicht länger als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungen gedeutet werden. Foucault geht weit, bis in die Spätantike, zurück, um den Beginn der westlichen Selbsttechniken zu lokalisieren. Er sieht sie im christlichen Glauben an den Satan und das von ihm induzierte Begehren verankert, das es ermöglicht anzunehmen, man kenne sich selbst nicht, habe tief in sich sündige Wünsche, die durch spezielle Techniken hervorgebracht werden müssen. Zur Selbsterkenntnis muß sich der arme Sünder Köpfen anvertrauen, die es besser wissen, als er. Die Beichte ist, wie Foucault zeigt, die erste Technik, die viele Elemente der Disziplinarmacht vorwegnimmt: völlige Offenlegung, Isolation, externe Expertise, Kontinuität, Bewertung, kleine Strafen. Wieder ist es keine Unterdrückung, sondern die Verheißung, Wissen und Macht über sich selbst zu gewinnen, die den Prozeß vorantreibt, der aus Menschen disziplinierte Individuen macht.

„Man muß schon dieser inneren List des Geständnisses vollkommen auf den Leim gegangen sein, um der Zensur, der Untersagung des Sagens und Denkens eine grundlegede Rolle beizumessen; man muß sich schon eine reichlich verdrehte Vorstellung von der Macht machen, um glauben zu können, daß von Freiheit alle jene Stimmen reden, die seit so langer Zeit das ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation wiederkäuen, sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt. Ein ungeheures Werk, zu dem das Abendland Generationen gebeugt hat, während andere Formen von Arbeit die Akkumulation des Kaptials bewerkstelligten: die Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte.“ (Foucault 1995a:78)

Foucaults Machtbegriff Wir haben weiter oben gesehen, daß Foucault nicht mit einem definierten Machtbegriff oder mit einer Machttheorie beginnt, sondern Buch für Buch Teile seiner Konzeption zusammenträgt. Als Resultat einer kritischen Analyse ist diese Konzeption negativ bedeutend besser bestimmt als positiv, d.h., Foucault sagt an vielen Stellen, was Macht für ihn nicht ist, und an sehr wenigen, was er darunter verstehen möchte. Beginnen wir mit dem, was Macht nicht ist:

• Sie ist keine Ressource, kein Gut, das man tauschen und besitzen kann.

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

• Sie ist keine physikalische Kraft, die verändernd auf Dinge einwirkt. (Foucault nennt dies „Fähigkeit“.)

• Sie kommt nicht von „oben“, von den Regierenden.

• Sie hat kein Zentrum, von dem sie ausstrahlt.

• Sie ist nicht Teil des Überbaus im Marx’schen Sinne.

• Sie ist nicht nur Unterdrückung, Verbot und Ausschluß.

• Sie ist nicht Kommunikation.

• Sie ist weder auf Gewalt noch auf Konsens reduzierbar.

• Sie ist kein Substantiv.

• Sie beruht nicht auf individuellen oder kollektiven Interessen und Intentionen.

• Es gibt nicht nur ein Machtprinzip, das die ganze Gesellschaft durchdringt.

• Freiheit und Widerstand liegen nicht außerhalb ihrer. Positiv bestimmt (Foucault 1994c, 1995a), zeigt sich Foucaults Macht als ein sehr facettenreiches Spiel von Kräften, in das jedes Mitglied der Gesellschaft eingebunden ist. Macht existiert im Verhältnis eines jeden Individuums (oder gar Sub-Individuums) zu einem anderen, sofern dieses frei ist, d.h. Handlungsmöglichkeiten hat19

1. Immanenz: Macht durchzieht alle Lebensbereiche.

. Aus diesem Grund spricht Foucault auch öfters von „Machtverhältnissen“ statt von „Macht“. Obwohl sie sich auf permanente gesellschaftliche Strukturen stützt, existiert sie nur in actu, und d.h., sie ist nur prozessual erfahrbar. Das „Kraftfeld“ der gesellschaftlichen Differentiale und der resultierenden Handlungen ist mobil, immer im Fluß. In „Der Wille zum Wissen“ (1995a:119ff.) gibt Foucault vier, wie er es nennt, „vorläufige Regeln“ der Machtdefinition:

2. stetige Variation: Die Verhältnisse sind nicht statisch, deshalb gilt es nicht, „Machtblöcke“ zu identifizieren, sondern den Wechsel der Beziehungen und ihr ständiges Zusammenspiel.

3. zweiseitiges Bedingungsverhältnis: Globale und lokale Anwendung von Macht sind untrennbar miteinander verbunden. Um „große“ Wirkungen zu zeitigen, müssen Machttechniken auch im „Mikrogewebe“ der Gesellschaft verankert sein und umgekehrt.

4. taktische Polyvalenz der Diskurse: Diskurse sind nicht von einer einfachen Taktik bestimmt, sondern von vielfältigen Strategien durchzogen. Sie fungieren gleichzeitig als Instrumente der Macht wie auch als Widerstände.

Später, in seinen Untersuchungen zur Selbsttechnik (Foucault 1994c, 1995b), erweitert er dies um den Begriff der „Führung“, ein Begriff, der

19 Sklaverei ist für Foucault kein Machtverhältnis.

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Kapitel 10

ambivalent eine Einwirkung auf andere und ein Sich-verhalten, d.h. einem Verhältnis zu sich selbst, beschreibt. Vielleicht das wichtigste Wort im Zusammenhang mit Macht ist für Foucault jedoch die Strategie. Seine große Anstrengung besteht darin, diesen Begriff von individuellen Absichten freizuhalten, eine „Strategie ohne Strategen“ (Dreyfus/Rabinow 1994:219) aufzuzeigen. Es sind die unintended consequences, die Macht zu dem machen, was sie ist, wenn Foucault sagt: „Die Leute wissen, was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.“ (Dreyfus/Rabinow 1994:219). In „Der Wille zum Wissen“ (1995a:114) spricht er davon, daß man Nominalist sein müsse, um Macht zu untersuchen, daß man sich darüber im klaren sein müsse, keine Kraft, keine Institution und keine Struktur, sondern eine komplexe strategische Situation in einer Gesellschaft zu untersuchen, der man einfach das Etikett „Macht“ gibt. Das ist auch der Grund, warum es keine einheitliche Machttheorie geben kann: es ist die Spezifik der historischen Situation mit ihren Erfordernissen, Hindernissen, Spielern und Randbedingungen, die Macht jedes Mal neu definiert. Auch der Wille zum Wissen, den Foucault an mancher Stelle als treibende Kraft behandelt, ist kein ontologisches Prinzip, sondern eine kulturspezifische Ausprägung von guten und bösen Absichten und ihren unintended consequences. Macht umfaßt nicht alles, sondern kommt von überall; sie bildet keine Einheit, sondern erzeugt sich in jedem Moment neu. Macht hat kein eigenständiges „Wesen“, und deshalb: „Sie ist kein angemessenes Objekt für eine Theorie. Aber analysiert kann sie werden - und das ist Foucaults Vorhaben.“ (Dreyfus/Rabinow 1994:219).

Kritik und Ethik

„Alles in allem geht es darum, den Fall einer Gesellschaft zu prüfen, die seit mehr als einem Jahrhundert lautstark ihre Heuchelei geißelt, redselig von ihrem eigenen Schweigen spricht und leidenschaftlich detailliert beschreibt, was sie nicht sagt, die genau die Mächte denunziert, die sie ausübt, und sich von den Gesetzen Befreiung verspricht, denen sie ihr Funktionieren verdankt.“ (Foucault 1995a:18)

Foucault betreibt Dekonstruktion nicht um ihrer selbst willen, sondern fühlt sich immer noch dem kritischen Ziel der Aufklärung verbunden, was in seinem Fall bedeutet, durch das Aufzeigen der historischen Bedingungen gegenwärtiger Praktiken diese Praktiken verletzbar zu machen. Welche Alternativen jenseits der Grenzen liegen, die er so beschreibt, vermag er selbst nicht genau zu sagen; er sieht seine Aufgabe in der Analyse, nicht der Problemlösung.

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

Seine Kritik ist ebenso lokal wie seine Untersuchungen; er vermeidet politische Ideologien nicht nur, weil sie totalisierend sind, sondern auch, weil er sie im konkreten Widerstandskampf für unnötig hält:

„Polemisch hält er [Foucault] in einer Fernsehdiskussion Noam Chomsky entgegen, daß der Kampf der Arbeiterklasse doch wohl ein Kampf um Macht, um die konkrete [sic] Verbesserungen ihrer Lebens- und Seinsbedingungen war und ist - und nicht für die hehren Werte der Gerechtigkeit als solcher geführt wurde. Denkt man an die jüngsten Revolten in Los Angeles, wird klar, was Foucault meint: Die Ghetto-Kids hatten ja kaum nötig, erst Kants Kritik der praktischen Vernunft zu lesen, bevor sie wußten, wogegen sie zu kämpfen und sich zur Wehr zu setzen hatten [...] Die Kämpfe entzünden sich vielmehr anhand konkreter Vorkommnisse und an konkreten Schauplätzen, in bezug auf konkret erfahrene Unterdrückung und Erniedrigung...“ (Kögler 1994:115)

Dennoch bleiben zwei Fragen: 1. Wenn Widerstand Teil der Macht, wenn Wissen Aspekt der Macht und

Subjekte Produkt der Macht sind, wie kann man dann dieser Macht überhaupt begegnen?

2. Wenn kein Wert universal ist, auf welcher Grundlage sind dann Entwicklungen als negativ (d.h. als zu bekämpfende) einzuschätzen?

Die erste Frage beantwortet Foucault konsequent mit einer Absage an bisherige Strategien der „Befreiung“. Es kann nicht darum gehen, das Individuum vom Staat zu befreien oder die Wissenschaft von der Macht. Eines ohne das andere ist nicht zu haben. Worum es gehen muß, ist für Foucault die Entwicklung neuer Formen der Selbsttechniken und neuer Formen des Wissens unter Umgehung des Willens zum Wissen, jener kulturspezifischen Verbindung von Disziplinarmacht und Humanwissenschaften. Es sind primär die Techniken der Isolierung/Individualisierung, Überwachung und Einordnung, die Foucault ausschalten will. Das Augenmerk seiner Kritik liegt also auf dem Weg, nicht einem Ziel. Da Macht stets kreativ und destruktiv ist, kann es sich auch nicht um einen Kampf der Guten gegen die Bösen handeln: man wird auch Vorteile aufgeben müssen, und man wird sich auch neue Nachteile einhandeln. Und hier mündet die zweite Frage ein: Foucault versucht, keinen Wert als positiv oder negativ an sich auszuzeichnen.

„Mein Ausgangspunkt ist nicht, daß alles böse ist, sondern daß alles gefährlich ist, was nicht dasselbe ist wie böse. Wenn alles gefährlich ist, dann haben wir immer etwas zu tun. Deshalb führt meine Position nicht zur Apathie, sondern zu einem Hyper- und pessimistischen Aktivismus. Ich denke, daß die ethisch-politische Wahl, die wir jeden Tag zu treffen haben, darin besteht zu bestimmen, was die Hauptgefahr ist.“ (Foucault 1994d:268)

Es kann schlecht sein, Heilanstalten zu haben, und es kann schlecht sein, keine zu haben, das kommt auf die Situation an. Einen universalen Wert, eine universale Forderung aufzustellen, würde dem Vorgehen der „Analytik der Wahrheit“ entsprechen; für die „Ontologie der Gegenwart“ wäre es eine Verletzung der eigenen Prinzipien. Foucault gibt dem Leser für die alltägliche Entscheidung, was gefährlich ist, kein Rezept an die Hand außer einer gehörigen Portion Skeptizismus gegen Universalien, Totalisierungen und

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Kapitel 10

Evidenzen. Kritik ist für ihn eine Analyse der Grenzen, eine Tätigkeit, kein Standpunkt. Sie ist permanent, weil sie das klassische Ziel eines Idealzustandes nie erreichen wird. Von dieser Warte aus scheint es nur folgerichtig, daß die Genealogie der Macht und der Sexualität schließlich in eine Ethik mündet und wieder zum Menschen zurückkehrt. Es handelt sich jedoch nicht um jenes individuelle Subjekt/Objekt der Humanwissenschaften. Wenn Foucault ein Subjekt hat, dann ist es ein ethisches, kein epistemisches (vgl. Kögler 1994:166): eines, das Grenzen aufspürt und an ihnen experimentiert, das um seine Konstituiertheit weiß und kreativ - und deshalb immer ein bißchen anarchistisch - dem Willen zum Wissen ein Schnippchen schlägt. Es ist ein Subjekt, das sich selbst führt, mitunter auch in Sackgassen. Vielleicht ist es sogar „eigentlich“ in Heideggers Sinne (Schäfer 1995:49): frei von den Zwängen des Man, frei durch seine eigene Grundlosigkeit und frei zu den eigenen Möglichkeiten, was immer sie sein mögen. Den konzertierten Widerstand beraubt er damit jedoch seiner Ideologie, wie Kögler (1994:192ff.) am Beispiel des Feminismus feststellt. Feministinnen, die Foucault folgen, können nicht mithilfe einer „weiblichen“ (sozial kompetenten, nicht aggressiven, nicht karriereorientierten, ausgleichenden, fairen, nicht dominierenden) Natur oder einer ahistorischen „Theorie des Patriarchats“ argumentieren, um schwesterliche Solidarität einzufordern. Unterdrückung und Widerstand sind in jedem Fall spezifisch ausgeformt - und manchmal nicht anders als bei Männern.

Probleme Daß ein so einflußreiches, umfassendes und im Laufe der Zeit vom Autor selbst revidiertes Werk nicht ohne Kritik geblieben ist, scheint unvermeidlich. Ich möchte mich im folgenden nicht der historischen Detailkritik einzelner Bücher widmen, die Quellen oder Folgerungen Foucaults in Zweifel zieht, sondern einige systematisch wichtige Punkte aufgreifen. Dabei möchte ich zunächst mit zwei Punkten beginnen, die ich als Mißverständnisse der Foucaultschen Arbeit betrachte: erstens das Konzept der totalen Institution und zweitens die Reduktion auf Macht. 1. Giddens (1993:153f.) kritisiert Foucault: „... ‘complete and austere

institutions’ are the exception rather than the rule within the main institutional sectors of modern societies. It does not follow that because prisons and asylums maximize disciplinary power, they express its nature more clearly than the other, less all-embracing organizations.“ Burrell hat versucht, der Kritik mit dem Hinweis zu begegnen, daß moderne Organisationen in der Mehrzahl wohl offen sind, d.h. ein Ein- und Austritt möglich ist, daß der moderne Mensch sich jedoch einem Leben in und mit Organisationen nicht entziehen kann. „Thus, while we may not live in total

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

institutions, the institutional organization of our lives is total.“ (Burrell 1988:232) Ich denke nicht, daß man zu Foucaults Verteidigung - zumindest wenn es sich allein um diese handelt - so weit gehen muß. Soweit ich sehen kann, hat er nie behauptet, daß die Institution Gefängnis in toto auf das gesellschaftliche Leben oder moderne Organisationen übertragbar sei. Selbst in „Überwachen und Strafen“, wo er von der „Übertragung auf den gesamten Gesellschaftskörper“ (1994b:385ff.) spricht, verharrt er bei Erziehungs-, Heil- und Strafanstalten. Ohne Zweifel ist Foucault der Meinung, daß ihre Ausbreitung in den letzten beiden Jahrhunderten gestiegen ist und ihre Disziplinartechniken perfektioniert wurden, doch die totale Disziplinierung ist (noch) nicht erreicht. Eine solche Betrachtungsweise widerspräche ohnehin sowohl Foucaults gewohnt differenzierter Betrachtung als auch seinem Machtbegriff. Sicherlich hat er gezeigt, daß der Wille zum Wissen ein mächtiges Netz geschaffen hat, das auch in Bereiche übergreift, in denen man es nicht vermutet. Er zeigt jedoch an keiner Stelle, daß dieses Netz ohne Löcher sei. Gefängnis und Heilanstalt sind überaus deutliche (und deshalb gute20

2. Kögler reflektiert die Kritik vieler, wenn er von einer „ontologischen Überbewertung der Macht“ in Foucaults Werk, vor allem der genealogischen Periode, spricht. Wissen, Wahrheit, Mensch, Wahnsinn, Verbrechen: alles scheint auf Macht reduziert zu werden. Foucault (1994c) selbst hat dieser Auffassung widersprochen und ausgeführt, daß das Thema seiner Arbeit in den letzten 20 Jahren nicht die Macht, sondern das Subjekt bzw. die Verfahren, die Menschen in Subjekte verwandeln, gewesen sei: Objektivierungsformen der Wissenschaften, Teilungspraktiken und Selbsttechniken. Macht hat bei diesen Betrachtungen eine große Rolle gespielt, jedoch niemals als ontologische Kategorie. Wenn Foucault sich für einen Nominalisten der Macht hält, dann besagt das eher das Gegenteil: nichts kann auf Macht reduziert werden, weil Macht nichts erklärt. Ohne Zweifel ist die historisch gegebene Machtsituation ein wichtiger Erklärungsfaktor für geschichtliche Prozesse und ohne Zweifel gibt es zu keiner Zeit eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse, so daß Macht jede Erklärung begleitet, reduzierbar darauf ist sie jedoch nicht. Das gilt auch für die epistemische Ebene, wo Foucaults normatives Wahrheits- und Wissenskonzept (Wahrheit als Regelsatz zur Beurteilung von Aussagen) natürlich zu Fragen nach der Manipulierbarkeit einlädt, ja, seine Verbindung von Wissen und Macht läßt hier an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Dennoch reduziert er Wissen nicht auf Macht. Sein Konzept der Ambivalenz beider ergibt im Gegenteil überhaupt nur Sinn, wenn sie nicht aufeinander reduzierbar

) Beispiele für die Technologien der Disziplinarmacht, und wo Disziplinarmacht wirkt, wird man Anklänge davon finden. Daraus folgt weder, daß alle Organisationen Gefängnisse sind, noch, daß Disziplinarmacht überall ist, noch, daß überall dort, wo Disziplinarmacht wirkt, Gefängnisse sind. So einfach ist der Feind bei Foucault nicht zu definieren. Wir erinnern uns: alles ist gefährlich, nicht alles ist böse.

20 Giddens’ „It does not follow...“ ist m.E. nicht korrekt, da in totalitären Institutionen eine Maximierung gleichzeitig eine Optimierung bedeutet.

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Kapitel 10

sind. Die Omnipräsenz des Begriffs der Macht bei Foucault sollte nicht mit einer Omnipotenz verwechselt werden.

Für substantieller halte ich folgende Punkte, die ich unter drei Problembereichen zusammenfassen möchte:

1. Fokus der Untersuchungen: So detailliert Foucaults Analyse an vielen Punkten ist, so kann sie doch naturgemäß keine vollständige Beschreibung eines historischen Prozesses liefern. Wie überall bilden die „blinden Flecken“ nun die Bereiche, in denen die Analyse unzureichend wird. In Foucaults Fall erscheinen mir hier besonders relevant: a) Emotionen: In seinem Bestreben, die spezifische Rationalität einer Epoche ausfindig zu machen, vernachlässigt Foucault die Emotionalität fast gänzlich (vgl. auch Poster 1991). Obwohl er in seinen Untersuchungen zur Sexualität auch Lust thematisiert, bleibt der Begriff doch sehr rudimentär bestimmt und taucht meist in Verbindung mit Macht (1995a) oder Gesundheit (1993, 1995b) auf, was ihn wahlweise der Lüsternheit oder einem Diätrezept näherbringt. b) Denksysteme (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994:238ff.): Gebunden an den Diskurs bzw. den Apparat als Analyseeinheit, widmet sich Foucault in großem Maße systematischem und philosophischem Gedankengut. Er übersieht dabei unsystematische, triviale Praktiken, die marginalisiert wurden, aber dennoch die Jahrhunderte mit gewissem Einfluß überdauert haben (z.B. Amateursport, Freundschaft).

2. Widerstand: Der Widerstand, der als pragmatisches Ziel von Foucaults Arbeiten so eine zentrale Rolle spielt, bleibt unbefriedigend konzipiert. Ich gebe zu, unter dem Einfluß einer „Analytik der Wahrheit“ zu stehen, wenn ich gegenüber einem Widerstand, der nur als Störung und nur in individuellen Empfindungen begründet existiert, ein schlechtes Gefühl habe. Natürlich ist die theoretische Konzeption eines Anti-Universalismus nicht schwer zu verstehen, doch die pragmatische Ebene bringt m.E. Probleme, weil sie, soweit ich sehe, in einen Wert-Relativismus mündet. Mag sein, daß Foucault dies für das kleinere Übel gegenüber dem Totalitarismus hält - und mag sein, daß er damit recht hat. Die Tatsache bleibt bestehen, daß er selbst unbenannt nicht wenige moralische Vorannahmen in seine sonst so strenge - vom Standpunkt des Autors fast asketische - Analyse einbringt. Auch von der Konzeption her bleibt zu fragen, woher das ethische Subjekt seine Maximen beziehen, wie es abwägen soll, wenn da kein epistemisches Subjekt ist, das zuvor erkennt und zumindest die prinzipielle Möglichkeit einer „eigenen“ Erkenntnis hat.

3. Macht: Wenn, wie oben angedeutet, Macht nominal, d.h. nur der Name für eine komplexe Situation ist, dann besitzt sie als Konzept keine Erklärungskraft (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994:238ff.). Dennoch behandelt Foucault sie in seinen Werken der genealogischen Periode nicht selten so, als sei sie ein produktives Prinzip. Selbst wenn man ihm zugesteht, daß es sich in diesen Fällen nur um eine verkürzende Rede handelt und er eigentlich vom Willen zum Wissen oder gesellschaftlichen Kraftverhältnissen sprechen will, bleibt die Frage, was hinter diesen Metaphern der „Kräfte“ und des „Willens“ steckt. Die unintended consequences können es m.E. nicht sein, denn sie sind selbst nur Namen

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Das Subjekt als Mittel und Ergebnis: Michel Foucault

für bestimmte Resultate. Was treibt also die Prozesse voran? Soweit ich sehe, blieben drei Positionen für Foucault offen: a) Es gibt kein einheitliches Prinzip, dann wäre die einheitliche Benennung „Macht/Kraft/Wille“ falsch und führte zu einem Trugschluß („Wo eine Bezeichnung, dort ein korrespondierendes Bezeichnetes“). b) Das Prädikat „Kraft“ ist ein einfaches, d.h. der Begriff ist ein Basiswort, das selbst nicht weiter in Elemente zerlegbar ist21

21 Dies gilt z.B. für die Begriffe „rot“ oder „gut“ (zu einer Erläuterung siehe Moore 1984:39ff.).

. Es wäre damit undefinierbar. c) „Kraft“ bezeichnet tatsächlich eine Ursache, die jedoch weder auf physikalischen noch auf intentionalen Prinzipien beruht. Dies käme einer Erweiterung des modernen Kausalbegriffs gleich. Foucault hat, soweit ich weiß, sich zu keiner Alternative geäußert, so daß die Frage nach seiner Grundannahme in dieser Hinsicht ungeklärt bleibt.

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Kapitel 10

22

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Zusammenschau: Aspekte der Wandelbeschreibung bei Giddens, Foucault und Heidegger

Zusammenschau: Aspekte der Wandelbeschreibung bei Giddens, Foucault und Heidegger Nach dieser vergleichsweise umfassenden Darstellung der Autoren möchte ich nun noch einmal in einer kurzen Zusammenschau ihre Sichtweisen hinsichtlich der in dieser Arbeit diskutierten Wandelaspekte darstellen (siehe dazu Abbildung 2, Abbildung 3 und Abbildung 4). Ich werde dabei der in Kapitel 7 vorgezeichneten Argumentationsstruktur folgen. Kapitel 12 wird dann die Überlegungen in einem Modell zur Transformation verarbeiten. Wie ebenfalls bereits angesprochen, möchte ich dort auch den Aspekt der Macht, auf den bisher nur verwiesen wurde, etwas ausführlicher betrachten. Deshalb sei an dieser Stelle auch auf die jeweiligen Aussagen zur Macht eingegangen:

Giddens Foucault Heidegger

vor-intentional, vor Subjekt Dialektik der Kontrolle = Fähigkeit, einen Unterschied

zu machen

kreativ Wissen disqualifiziert ->

Verbindung Wissen/Macht nominalistischer Machtbegriff

ohne Zentrum, Intention etc. immanent, variiert, global-lokal,

taktisch polyvalent

Macht des Man ständig reproduziert, wirkt einebnend

Man übernimmt keine Verantwortung

Abbildung 1: Macht bei Giddens, Foucault und Heidegger

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Kapitel 11

Aspekt

Giddens P

räse

nz/R

eprä

sen-

tatio

n

Das Selbst ist reflexiv und betreibt ein kontinuierliches monitoring. Auch Institutionen binden Zeit.

Zeit wirkt als locale, d.h. als “aktiver” Kontext.

Geschichtlichkeit (historicity) bestimmt das Selbstverständnis der Moderne.

Wandel kann nicht ausschließlich endogen erklärt werden. Es kann keine allgemeine Theorie des Wandels geben; Funktionalismus und Evolutionismus sind falsche Ansätze.

Erz

ählu

ng

Die eigene Geschichte erhält in der Moderne eine narrative Form; die Markierung der Ereignisse stammt dabei aus dem Selbst, weshalb der Lebenslauf zunehmend selbst-referentiell wird.

Die Authentizität des Lebens wird zur moralischen Forderung.

Bei modernen Institutionen handelt es sich vornehmlich um abstrakte, d.h. Zeichensysteme.

Zeit wirkt als locale, d.h. als “aktiver” Kontext.

Geschichtlichkeit (historicity) bestimmt das Selbstverständnis der Moderne.

Indi

vidu

elle

Iden

tität

Das Selbst besteht aus mehreren sub-individuellen Teilen.

Das Selbst ist reflexiv und betreibt ein kontinuierliches monitoring. Mit dem Wegfall von rites de passage wird der Lebenslauf selbst-referentiell.

Die Authentizität des Lebens wird zur moralischen Forderung.

Die Routinen des täglichen Lebens werden ohne Reflexion vollzogen. Existenzielle Fragen werden dabei weitgehend verdrängt und tauchen nur in Krisensituationen (fateful moments) wieder auf. Risiko ersetzt das Schicksal, mastery ersetzt morality. Krisen sind jedoch in der modernen Gesellschaft endemisch.

Geschichtlichkeit (historicity) bestimmt das Selbstverständnis.

Ver

hältn

is In

divi

duum

-Kol

lekt

iv

In der Längsschnittbetrachtung ergibt sich kein einfacher Trend, sondern eine komplexe Relation zwischen Vertrautheit und Entfremdung.

Die rites de passage entfallen zunehmend.

Strukturen entstehen aus Routinen, existieren aber nur in den Köpfen der Akteure. Es ist zwischen einer syntagmatischen und einer paradigmatischen Ebene von Strukturen zu unterscheiden. Die Reproduktion von Strukturen ist meist eine unintended consequence.

Bei modernen Institutionen handelt es sich meist um abstrakte Systeme und Expertensysteme.

Strukturen und Institutionen binden Zeit. Organisationen basieren auf einem modernen Zeitkonzept. Geschichtlichkeit (historicity) bestimmt das Selbstverständnis.

Existenzielle Fragen werden verdrängt, dennoch sind Krisen endemisch.

Abbildung 2: Wandelaspekte bei Giddens

Page 245: Weik -Zeit, Wandel und Transformation .pdf

Zusammenschau: Aspekte der Wandelbeschreibung bei Giddens, Foucault und Heidegger

Aspekt

Foucault P

räse

nz/R

eprä

sent

atio

n

Jede Wahrnehmung besitzt eine Vorstruktur.

Diskurse beschreiben nicht nur, sondern ordnen.

Für die Analyse des Wandels kann es keine allgemeine Theorie geben, sie muß für jeden Betrachtungszeitraum spezifisch-empirisch erfolgen. Quellen müssen dabei als Monumente betrachtet und traditionelle Zusammenhänge skeptisch beurteilt werden. Nicht die Diskurse selbst, sondern ihre Anwendung in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken muß untersucht werden. Besonderes Augenmerk ist auf Widerstände zu richten. Die Methoden der genealogischen Analyse sollten angewandt werden.

Die Beschreibung von historischen Wandelprozessen geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern im Rahmen einer Ontologie der Gegenwart. Die damit verbundene Kritik ist nicht als Standpunkt, sondern als Tätigkeit, nicht zur Problemlösung, sondern zur Analyse der Grenzen zu verstehen. Sie kann nur durch eine persönliche Ethik begründet werden.

Macht sollte nominalistisch betrachtet werden.

Wissenschaft und Politik sind eng verbunden.

Erz

ählu

ng

Der Wille zum Wissen gewinnt in der Moderne die Oberhand, damit wird Wahrheit zum Kriterium, das alle Diskurse dominiert.

Diskurse beschreiben nicht nur, sondern ordnen.

Nicht die Diskurse selbst, sondern ihre Anwendung in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken muß untersucht werden. Quellen müssen als Monumente betrachtet werden.

Indi

vidu

elle

Iden

tität

Zwischen Subjekt, Macht und Wissen besteht eine enge, wenn auch historisch kontingente Verbindung. Das Subjekt ist das Ergebnis von Selbsttechniken, die aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken bestehen. Außerdem ist es diszipliniert.

Der Wille zum Wissen gewinnt in der Moderne die Oberhand, damit wird Wahrheit zum Kriterium, das alle Diskurse dominiert.

Diskurse beschreiben nicht nur, sondern ordnen.

Jede Wahrnehmung besitzt eine Vorstruktur.

Ver

hältn

is In

divi

duum

-Kol

lekt

iv

Zwischen Subjekt, Macht und Wissen besteht eine enge, wenn auch historisch kontingente Verbindung. Das Subjekt ist diszipliniert.

Jede Wahrnehmung besitzt eine Vorstruktur.

Auch nicht-individuelle Triebkräfte müssen betrachtet werden. Es gibt einen nicht-subjektiven Politik- und Strategiebegriff.

Wissenschaft und Politik sind eng verbunden.

Der Wille zum Wissen gewinnt in der Moderne die Oberhand, damit wird Wahrheit zum Kriterium, das alle Diskurse dominiert.

Diskurse beschreiben nicht nur, sondern ordnen.

Besonderes Augenmerk ist auf Widerstände zu richten.

Abbildung 3: Wandelaspekte bei Foucault

Page 246: Weik -Zeit, Wandel und Transformation .pdf

Kapitel 11

Aspekt

Heidegger P

räse

nz/R

eprä

sent

atio

n

Jede Wahrnehmung besitzt eine Vorstruktur. Erkennen heißt da sein, Verstehen heißt, mit etwas fertig werden.

Das Dasein ist als einzige Seinsform selbst-reflektierend. Das Selbst ist kein Ding, sondern eine Tätigkeit. Dasein ist immer bereits In-der-Welt-sein und Mit-sein.

Die Welt ist keine physikalische, sondern eine Bewandtnisganzheit. Finale und Sinnbezüge sind wesentlich.

Zeitlichkeit ist die Einheit des Daseins. Es ist zwischen ursprünglicher und vulgärer Zeitlichkeit zu unterscheiden.

Geschichte ist primär Entwurf und damit auf Zukünftiges gerichtet.

Erz

ählu

ng

Jede Wahrnehmung besitzt eine Vorstruktur.

Das Dasein ist als einzige Seinsform selbst-reflektierend. Sein wichtigster Modus ist der Entwurf.

Dasein erfährt sich nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Mit-sein.

Nur das zerstreute Dasein braucht eine Biographie.

Die Welt ist als eine gemeinsame Lichtung zu betrachten.

Geschichte ist primär Entwurf und damit auf Zukünftiges gerichtet.

Indi

vidu

elle

Iden

tität

Dasein ist zunächst ohne Bewußtsein und nicht als Subjekt konzipiert. Sein In-der-Welt-sein ist zunächst unreflektiert. Das alltägliche Handeln vollzieht sich ohne Reflexion, so lange es nicht gestört wird.

Das Dasein ist als einzige Seinsform selbst-reflektierend. Das Selbst ist kein Ding, sondern eine Tätigkeit. Dasein ist immer bereits In-der-Welt-sein und Mit-sein. Dasein erfährt sich nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Mit-sein.

Jede Wahrnehmung besitzt eine Vorstruktur. Erkennen heißt da sein, Verstehen heißt, mit etwas fertig werden.

Eigentliches und uneigentliches Dasein sind zu unterscheiden. Angst und Tod sind in dieser Unterscheidung zentral.

Der wichtigste Modus ist der Entwurf. Auch Geschichte ist primär Entwurf und damit auf Zukünftiges gerichtet.

Nur das zerstreute Dasein braucht eine Biographie.

Zeitlichkeit ist die Einheit des Daseins.

Die anderen umfassen auch mich.

Ver

hältn

is In

divi

duum

-K

olle

ktiv

Die anderen umfassen auch mich. Das Man ist eine allgemeine Eigenschaft des Seins. Dasein ist immer bereits In-der-Welt-sein und Mit-sein. Dasein erfährt sich nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Mit-sein.

Eigentliches und uneigentliches Dasein sind zu unterscheiden.

Die Welt ist als eine gemeinsame Lichtung zu betrachten.

Geschichte ist primär Entwurf und damit auf Zukünftiges gerichtet.

Abbildung 4: Wandelaspekte bei Heidegger

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Zusammenschau: Aspekte der Wandelbeschreibung bei Giddens, Foucault und Heidegger

Stellt man die Aussagen synoptisch nebeneinander, so fällt zunächst der hohe Grad der Übereinstimmung trotz des unterschiedlichen Werdegangs der Verfasser und der unterschiedlichen Schaffensperiode auf. Dies ist zum einen natürlich darauf zurückzuführen, daß sich Foucault von Heidegger und Giddens von beiden beeinflußt zeigt, dennoch bleibt die Tatsache insofern erstaunlich, als man hinsichtlich der drei Autoren sicher nicht von einer „Schule“ sprechen kann, bei der der „Schüler“ den „Meister“ übernommen und weiterentwickelt hätte. Im Gegenteil kommen alle drei aus recht unterschiedlichen länder- und disziplinspezifischen Denkkulturen. Daß gewisse, in unserem Zusammenhang relevante Gedanken dennoch bei allen (und damit im Laufe der Jahrzehnte immer wieder) auftauchen, scheint mir eher ein Zeichen dafür zu sein, daß zum einen die Überlegungen des Philosophen Heidegger einen wichtigen Ausgangspunkt (post-)moderner Sozialtheorie bilden können und daß zum anderen verschiedene theoretisch-inhaltliche Ausrichtungen in diesen Punkten konvergieren, weshalb nicht nur im zeitlichen Längsschnitt, sondern auch im Querschnitt die Rede von einer „Basis“ gerechtfertigt wäre. Diese Basis möchte ich nun verwenden, um vorangegangene Ergebnisse und Überlegungen, speziell des Kapitels Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., systematisch einzubetten. Zuvor möchte ich jedoch noch ein letztes Mal die Differenz meiner Betrachtungsweise (gestützt auf Giddens, Heidegger und Foucault) gegenüber der “klassischer” Organisationstheorien verdeutlichen. Dabei fällt sicher auf, daß die Perspektive gegenüber den meisten in mehrerlei Hinsicht verbreitert ist: 1. die Betrachtung von Erzählung bzw. Diskurs tritt hinzu, 2. das Subjekt, Individuum oder Selbst erfährt eine bedeutend

differenziertere Betrachtung gegenüber Organisationstheorien, die von “Akteuren”, “Klassen” oder “psychischen Systemen” sprechen,

3. entsprechend differenziert sich auch das Verhältnis von Organisation und Individuum aus,

4. Macht erfährt, besonders mit Foucault, eine Konzeptualisierung, die wesentlich differenzierter ist als herkömmliche Ressourcen- oder auch relationale Definitionen,

5. Zeit gewinnt als locale, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit eine herausragende Bedeutung,

6. Wandel wird nicht endogen und nicht uni- oder oligokausal erklärt, 7. existenzielle Fragestellungen werden aufgenommen, was besonders für

eine Theorie der Transformation nötig ist, 8. der wissenschaftliche Betrachter ist aufgerufen, reflexiv und

(gesellschafts-)kritisch vorzugehen. Natürlich muß an dieser Stelle der Fairneß halber angemerkt werden, daß sich die betrachteten Organisationstheorien aus anderen Problemstellungen als der in dieser Arbeit gewählten entwickelt haben und deshalb viele der o.g. Punkte nicht differenziert betrachten mußten oder wollten, weshalb, wie

Page 248: Weik -Zeit, Wandel und Transformation .pdf

Kapitel 11

bereits in Kapitel Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. bemerkt, ein besser-schlechter-Vergleich wenig sinnvoll scheint.

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Zusammenschau: Aspekte der Wandelbeschreibung bei Giddens, Foucault und Heidegger

7

Page 250: Weik -Zeit, Wandel und Transformation .pdf

Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Individuum und Organisation in Transformationsprozessen: ein Modell

Zum allgemeinen Zusammenhang von Individuum, Organisation, Erzählung und Macht Nachdem in Kapitel 7 die Problemfelder im Einzelnen besprochen wurden, möchte ich nun versuchen, mithilfe von Giddens, Foucault und Heidegger einige Zusammenhänge zwischen ihnen aufzuzeigen. Dies soll erst in einem allgemeinen Modell und anschließend bezogen auf Transformation geschehen. Ein kleines Analysebeispiel soll schließlich in konreter Weise Ansatzpunkte zur Analyse und Kritik aufzeigen. Obwohl alle drei Autoren, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, jeweils Beiträge zu jedem der aufgeführten Einzelpunkte liefern, kristallisieren sich doch gewisse Schwerpunkte bei der Verbindung dieser Einzelpunkte heraus. So werden uns im folgenden Giddens und Heidegger neben der Konzeptualisierung von Individuum und Organisation hauptsächlich Ansatzpunkte zum Verhältnis von Individuum und Organisation liefern, während Foucaults Schwerpunkt auf der Verbindung von Macht, Erzählung (als Diskurs) und eben diesem Verhältnis liegt. Was bleibt nun, wenn wir sowohl das Subjekt als auch die Organisation als Einheiten auflösen, wenn wir Macht einbeziehen, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischen, Prozesse in den Vordergrund stellen, Zeit als chronotype betrachten und vieles mehr tun, was bereits im Kapitel 7.2 ausgeführt wurde? Beginnen wir beim Individuum. Mit Heidegger können wir nicht mehr (zumindest nicht als Ausgangspunkt) vom „Subjekt“ oder „Bewußtsein“ reden, wenn wir Phänomene der Identität und des Verhältnisses zu Organisationen beleuchten wollen. Heideggers Begriff ist das „Dasein“, was bereits zwei wichtige Aussagen impliziert: 1. Das Dasein ist kein Ding, sondern eine Weise zu sein. Es ist in der Welt

und verhält sich zur Welt, was eine Tätigkeit umschreibt. 2. Wenn Dasein kein Ding ist, hat es auch keine dem Ding analogen

Eigenschaften, z.B. eine Natur oder Identität. Vielmehr ist Dasein beständig selbst-interpretierend; diese Tätigkeit unterscheidet es grundlegend von allen anderen Seinsformen. Heidegger nennt diese permanente Selbst-Interpretierung „Existenz“.

Aus den Erläuterungen des vorangegangenen Kapitels erhalten wir weiterhin: 3. Dasein ist immer bereits in der Welt. Es ist ohne sie nicht konzipierbar. 4. Die Interpretation des Daseins umfaßt sowohl sprachliche als auch nicht-

sprachliche Inhalte. Sie ist z.T. sogar vor-subjektiv, d.h. wird bereits

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Kapitel 12

geleistet, bevor sich das Dasein als Subjekt versteht. Hier scheidet sich Heidegger von Giddens, der eine ontologische Unsicherheit an der Basis der Selbst-Reflexion annimmt. Lash (1993) nimmt diese Unterscheidung in seiner Kritik an Giddens’ Reflexionsbegriff (vor allem dem monitoring) auf und fordert eine konzeptuelle Trennung zwischen Reflexivität und Selbst-Interpretation.

Der „Stoff“, aus dem das Dasein seine Selbst-Interpretation bezieht, hat (mit Giddens) einen kognitiven und einen praktischen Aspekt. Ersterem wären Foucaults Wissensproduktion sowie Giddens’ Expertensysteme zuzuordnen, letzterem Routinen und der Erlebnisstrom (flow). Beide Aspekte sind, wie wir von Foucault wissen, über die Selbstpraktiken und den Zusammenhang von Subjekt, Wissen und Macht miteinander verbunden. Identität ist somit im Gegensatz zu manchen Auffassungen nicht nur ein Bündel von Eigenschaften, das im Umgang mit alter entsteht (vgl. etwa Dubiel 1976), sondern ein beständiger Prozeß, der jede Wahrnehmung, jede Tätigkeit, jeden Denkakt begleitet, beeinflußt und umgekehrt beeinflußt wird. Das Wort „Prozeß“ spielt dabei nicht notwendig auf eine inhaltliche Kontinuität an. Mit Gergens (1994) aleatory account läßt sich auch behaupten, daß inhaltliche Zusammenhänge über die Lebensspanne des Individuums hinweg schadlos unterbrochen sein können, bzw. besser gesagt, daß das Konzept der „Unterbrechung“ auf einer Prämisse beruht, die der aleatory account ablehnt1

Akzeptieren wir den großen Einfluß vor-subjektiver und nicht-intentionaler Praktiken, so fällt es auch relativ leicht, Foucaults nicht-subjektive „Strategien ohne Strategen“ und Giddens’ unintended consequences zu konzeptualisieren. Sie präsentieren sich dann nicht nur als Fortsetzungen einer Kausalkette, die außerhalb des Einflußbereiches des Individuums liegen, sondern als Praktiken, die durchaus noch darin liegen, aber eben nicht mit einer Intention gekoppelt sind. Diese Beobachtung ist vor allem für eine Theorie des Sozialen, die nicht Systemtheorie sein will, wichtig, denn sie erlaubt es, unintended consequences beim Akteurshandeln zu verorten, ohne allzu große Anforderungen an die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Strukturen und Institutionen zu stellen. Sie hat neben den theoretischen damit auch pragmatische Konsequenzen hinsichtlich des Einflusses auf unintended consequences.

.

Der Gedanke fördert außerdem eine Annäherung der „Organisation“ an das „Individuum“, die auch durch andere in dieser Arbeit verwendete Prämissen gestützt wird:

• Sprechen wir von Organisieren als Tätigkeit des Akteurs, so ist diese nicht auf die Tätigkeit in Organisationen beschränkt. Dies wiederum heißt, daß menschliches Organisieren in Organisationen sich nicht kategorial von dem außerhalb unterscheidet; Barnards Gedanke von der prinzipiellen Differenz zwischen organisationalen und menschlichen Bedürfnissen (vgl. Kieser 1995:124) oder die systemtheoretische Unterscheidung zwischen

1 Es wird damit nicht in Abrede gestellt, daß manche Menschen den Zusammenbruch ihrer Identität als schmerzhaft oder gar unerträglich empfinden können; es bedeutet nur, daß das nicht notwendig so ist. Ähnlich scheint mir auch Heidegger zu argumentieren, wenn er davon spricht, daß nur das zerstreute, uneigentliche Dasein - also manche, nicht alle Menschen - einer Biographie bedarf.

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Bewußtseinssystemen und sozialen Systemen (z.B. Luhmann 1988) ist demnach in Zweifel zu ziehen. Es gibt kein „hier Mensch, dort Organisation“.

• Heideggers Konzeption des Man, in der sich viele organisationale Aspekte wiederfinden, ist nicht vom Dasein getrennt, vielmehr ist Dasein meistens, besonders im Alltag, in der Weise des Man. Das Man ist zudem, wie Heidegger betont, nicht „die anderen außer mir“, sondern gerade „ich und die anderen“.

• Wie Foucault nachweist, nehmen seit dem 18. Jhdt. Disziplinierungs- und Kontrollmechanismen sehr starken Einfluß auf die Konstitution des Selbst. Dies sind dieselben Mechanismen, denen die moderne Organisation (als „Produkt der Neuzeit“) ihre Entstehung verdankt.

• Postmodern werden sowohl Individuen als auch Organisationen als Kreuzungen verschiedenster Spuren konzipiert.

Betrachten wir also Organisationen unter dem Aspekt des Organisierens, so erhalten wir statt Gebilden Tätigkeiten, und zwar (mit Giddens) Praktiken, die von Menschen ausgeführt werden und auf Menschen wirken. Ein wesentliches Merkmal dieser Praktiken ist ihre Wiederholung2

Andere wichtige Merkmale dieser Praktiken sind ihre Permanenz und große Verbreitung, die Disziplinierung und der Zusammenhang von Wissen und Macht, die doppelte Hermeneutik der Expertensysteme, Schriftlichkeit, Individualisierung, die Suche nach Authentizität bei gleichzeitiger Ausblendung existentieller Fragen.

; wir haben in den Zeit-Kapiteln gesehen, daß dies Realität erzeugt. Sie binden, wie Giddens sagt, jedoch auch Zeit auf andere Weise, indem sie z.B. Vergangenes speichern oder zeitliche Kontrolle ausüben. Giddens übersieht dabei jedoch, daß Institutionen Zeit nur deshalb binden können, weil Individuen Zeit binden (vgl. Heidegger). Die Speicherung und Verwendung von Vergangenheit z.B. basiert auf der geschichtlichen Natur des Menschen.

Während die eine Art des Organisierens weitgehend einer bewußten, intendierten Tätigkeit entspricht, kann auch hier als Gegenstück eine nicht-intendierte Tätigkeit des Organisierens angesetzt werden, wie sie uns bspw. Foucault in der ordnenden Tätigkeit von Diskursen oder Heidegger im aufgehenden Besorgen (analog zu Giddens’ flow) vorführen. Somit würde die Organisation im ersten Fall als Instrument mit den bekannten Eigenschaften der Homogeneität, Rationalität oder Berechenbarkeit erscheinen, im zweiten eher als sinnstiftende Praxis (wie sie z.B. der institutionalistische Ansatz annimmt)3

Wichtig bleibt zu sehen, daß nach dieser Auffassung Individuum und Organisation keine ontologisch verschiedene „Dinge“ sind, wie es z.B. die Rede von Schöpfer und Artefakt nahelegt, sondern daß es sich im Falle der Organisation um in einer bestimmten Weise (z.B. in Rollen) agierende Menschen handelt. Der Gegenbereich - traditionell als „Individuum“

. Mit Heidegger gesprochen, wäre ersteres ein Zuhandenes, zweiteres eine Weise des Verhaltens von Dasein.

2 Thornton (1989) bezeichnet Institutionen als „patterns of time“. 3 Die Unterscheidung wäre ähnlich wie die Hat- vs. Ist-Auffassung der Organisationskultur vorzunehmen.

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Kapitel 12

bezeichnet - ist hingegen nicht so einfach zu umreißen: er umfaßt neben nicht-organisierenden Tätigkeiten, die von organisational sozialisierten Subjekten vollzogen werden, auch jene zweite Form des Organisierens als sinnstiftende Praxis. Konzepte nach dem Bauprinzip der Habermas’schen Lebenswelt, die einen vom Organisieren nicht betroffenen Bereich umgrenzen, lassen sich damit kaum noch denken. Die Frage des Unterschiedes zwischen „Organisation“ und „Individuum“ wird uns jedoch im folgenden Kapitel noch einmal beschäftigen. Die Tätigkeit des Organisierens wird mithilfe von Sprache vollzogen und bezieht sich vor allem im kognitiven Teil wesentlich auf Konzepte. Sieht man Mensch und Organisation als Kreuzung von Texten, so fällt auf, daß im ersten Fall Autor und Erzähler zusammenfallen, während im zweiten kein zentraler Autor, dagegen aber viele Erzähler auszumachen sind. Die Geschichte der Organisation hat keinen Autor, oder anders formuliert, die Organisation hat (mindestens) eine Geschichte, aber keine Identität. Damit ist für sie die Frage der Authentizität zumindest auf dieser Ebene bedeutungslos. In den Vordergrund tritt hingegen die Überlegung, daß die Organisation den plot der verschiedenen Organisationsprozesse ihrer Mitglieder formt, d.h. die Totale, aus der die einzelnen Handlungsstränge einen übergeordneten Sinn gewinnen (Ricoeur 1980). Das narrative Verständnis des Organisationsprozesses führt außerdem, wie wir gesehen haben, zu einer Verwässerung der Trennung Wirklichkeit-Fiktion und stattdessen zur Frage nach der Wirksamkeit beider4. Lash (s.o.) führt diese Überlegungen weiter und schlägt den Terminus „ästhetische Reflexivität“ für eine Art von Reflexivität vor, die nicht allein auf kognitivem, bewußtem monitoring beruht, sondern auf Selbstinterpretation. Selbstinterpretation als hermeneutischer Vorgang basiert auf mehr als Rationalität, sie involviert auch Imagination und Intuition5

Sowohl von theoretischer als auch von forschungspragmatischer Bedeutung ist schließlich die Öffentlichkeit der Erzählung. Wie bereits in Kapitel 7.2.5 ausgeführt, erleichtert sie dem Forscher den Zugang zu organisationalen Phänomenen. Sie hat jedoch auch theoretische Konsequenzen insofern, als sie aus Handeln „Geschichte“, d.h. symbolisch vermitteltes Geschehen, macht.

.

In der Machtkonzeption schließlich möchte ich mich für das folgende Kapitel eher Foucault als Giddens anschließen. Foucaults „nominalistischer“ Machtbegriff, der die weitestmögliche Extension besitzt und nicht wie bei Giddens an das Handeln des Akteurs gebunden ist, scheint mir speziell in der Untersuchung von Transformationsprozessen besser geeignet, weil er weniger geordnete Abläufe voraussetzt. Er bestätigt darüber hinaus meine

4 So ist Giddens’ locale nicht nur als Kontext, in dem Handlungen stattfinden, von Bedeutung, sondern auch als narrativer Informant. Solche Informanten bestehen häufig aus räumlichen oder zeitlichen Angaben und haben die Aufgabe, die Suggestion der Wirklichkeit in einer Erzählung zu erhöhen, ohne zur Handlung selbst etwas beizutragen (Barthes 1977a). Beispiele sind der Wohnsitz von Sherlock Holmes in der Baker Street 221b oder das genaue Alter von James Bond. 5 In einem Folgeartikel (Lash 1996) wird er von drei Typen der Reflexivität, nämlich dem kognitiven, ästhetischen und hermeneutischen sprechen. Als Kronzeugen des letzteren beruft er Heidegger(!). Ich möchte dennoch die Unterscheidung aus Lash (1993) beibehalten, da mir die Konzeption einer hermeneutischen Reflexivität, wie Lash (1996) sie vorschlägt, erstens den Begriff der Reflexivität überzustrapazieren scheint und zweitens sie im Heideggerschen Sinne einen wichtigen Punkt, nämlich den der Störung (vgl. Kapitel 9.1.1), außer acht läßt.

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Forschungserfahrung, daß Macht ubiquitär ist und alles und nichts erklärt, d.h. daß die Erklärung in einfach strukturierten Situationen trivial und in komplexen nicht ausreichend ist. Ich möchte deshalb im folgenden die Verbindung von Macht mit Wissen und Selbstpraktiken beibehalten.

Individuum, Organisation, Erzählung und Macht in Transformationen

Meisterschaft und Existenzialität Zunächst gilt es, mit Giddens zwischen der bewußten Herbeiführung von schicksalhaften Momenten und dem „Hineingeraten“ in sie zu unterscheiden. Ersteres geschieht mit dem Zweck, die eigene Meisterschaft6

Giddens’ Gegenbegriff ist morality, was ich mit „Existenzialität“ übersetzen möchte, um die primäre ethische Konnotation zu vermeiden. In den Bereich der Existenzialität fielen demgemäß die Transformationen, die Menschen und Organisationen nicht freiwillig suchen. Es sind solche, die unerwartet hereinbrechen, ausgelöst etwa von Schicksalsschlägen oder Kriegen und politischen Umwälzungen. Auch fehlgeschlagene Meisterschafts-Versuche können, nebenbei bemerkt, existentiell werden; dies ist jedoch die einzige Form des intern induzierten Wandels, die in diese Kategorie fällt. Hier ist genau das Moment der Kontrolle nicht mehr gegeben; der stabile Referenzrahmen, innerhalb dessen Kontrolle Sinn macht, ist zerbrochen. Ich möchte mich im folgenden ausschließlich mit dieser Form der Transformation beschäftigen.

(mastery), d.h. die Kontrolle über eine Situation unter extremen Umständen, zu beweisen. Der Nervenkitzel, der solche Meisterschaft begleitet, ist sicher eine Vorahnung der existentiellen Angst, doch wird er eben nicht ausgehalten, sondern verdrängt bzw. gemeistert im Sinne einer kontrollierten Reaktion. „Kontrolle“ ist überhaupt das Schlüsselwort: die eigenen Gefühle und Reaktionen werden unter stabilen Rahmenbedingungen einem Härtetest unterzogen mit dem Ziel, sich hinterher noch besser zu kennen, und das heißt nach Foucault sich in Extremsituationen noch besser im Griff zu haben. Überspitzt (und sicher z.T. ungerecht) formuliert, wird die eigene Performanz gesteigert. Die Identität erfährt dabei eher eine Verstärkung bisheriger Züge; man weiß nun, daß man Dinge ertragen kann, die man sich immer ertragen zu können wünschte.

6 Der Begriff ist, ähnlich die wie Rede von „Transformation bewältigen“ oder „überstehen“, normativ geprägt, nämlich im Sinne eines Sich-Bewegens in „normalen“ Verhaltensbahnen, negativ also ein „nicht scheitern“, „nicht daran zerbrechen“. Mir ist bewußt, daß solche Ausdrücke gefährlich sind; ich möchte jedoch - mangels besserer Alternativen - auf ihr Alltagsverständnis verweisen und sie nicht weiter problematisieren.

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Kapitel 12

Auswirkungen der Transformation In existenzialen Transformationen bricht, wie bereits angedeutet, der Referenzrahmen ganz oder zumindest weitgehend zusammen. Damit stellt sich als erstes die Frage nach der Möglichkeit von Reflexion in solchen Transformationen. Wie wir wissen, nimmt Giddens an, daß die Reflexion in diesen Situationen, den fateful moments, zunimmt; eine These, die umso fragwürdiger wird, je näher man die Tätigkeit der Reflexion betrachtet. Anhand wessen soll denn reflektiert werden, soll kognitiv verarbeitet werden, wenn Sinnbezüge verlorengehen? Mit Heidegger gesprochen, löst sich die Welt als Bewandtnisganzheit, als Netz der „um-zu-Bezüge“ auf. Das ist weit mehr als eine Störung im Alltagshandeln, die normalerweise ein Innehalten und Reflektieren nach sich zieht. Heidegger weist ihr demgemäß auch eine andere Stellung am Übergang von uneigentlichem zu eigentlichem Dasein zu. Mit Heidegger und gegen Giddens würde auch ich behaupten, daß kognitive Reflexion, selbst auf der Ebene eines double loop learning, in Transformationen nicht in befriedigender Weise zu leisten ist. Wie steht es mit Lashs ästhetischer Reflexion, die neben dem kognitiven auch noch einen imaginativ-intuitiven Aspekt beinhaltet? Hier hängt es davon ab, wieviel Raum zur Imagination in der jeweiligen Transformationssituation gegeben ist. Zur spontanen Annahme, daß in Transformationen „alles geht“, wird bei der Mehrdeutigkeit weiter unten noch Einschränkendes zu sagen sein. Im Zusammenhang mit der Imagination taucht auch Heideggers Entwurf, d.h. die Selbstinterpretation des Daseins in Bezug auf seine Zukunft, wieder auf. Die Zukunft ist in Transformationsprozessen jedoch ein prekäres Gut von anderer Qualität als in „normalen“ Zeiten: sie ist unsicherer, weil Extrapolationen nicht mehr funktionieren, und birgt damit sowohl größere Chancen als auch größere Risiken. Sie ist zudem als völliger Bruch zur Gegenwart denkbar, was ihr einen gewissen kontrafaktischen Aspekt verleiht. Welche Auswirkungen dies inhaltlich auf den Entwurf des Einzelnen hat, ist selbstverständlich nicht generalisierbar, allgemein läßt sich jedoch annehmen, daß der Entwurf aufgrund der mit ihm verbundenen Unsicherheit an Bedeutung verliert. Da gleichzeitig auch die weiter entfernte Vergangenheit in Transformationsprozessen entwertet wird („nichts ist mehr, wie es war“) und die nähere Vergangenheit lückenhaft wird, weil das „Einklammern“ des Erlebnisstromes ohne Ordnungsmuster nicht mehr ohne weiteres funktioniert, wird das Individuum auf die Gegenwart zurückgeworfen7

Mit dem Wegfall von Routinen fallen auch die mit ihnen einhergehenden unintended consequences weg. Damit gewinnen intended consequences und die unintended consequences, die aus Handlungsfolgen jenseits des Einflußbereiches resultieren, an Bedeutung. Dies vermindert - offensichtlich - zum einen die stabile Reproduktion, zum anderen verlagert es aber auch Zuschreibungen von Handlungsfolgen. Da der Einflußbereich besonders

. Es wird damit in seiner Zeitlichkeit eingeschränkt - auch dies wird uns im Zusammenhang mit der Mehrdeutigkeit noch einmal beschäftigen.

7 Dies deckt sich mit dem Eindruck des „muddling through“ oder „irgendwie Durchkommen“, der dem Leben in Transformationsprozessen häufig eigen ist.

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

fremder und weit entfernter Akteure nicht genau zu umreißen ist und tendenziell eher überschätzt wird, wächst in den Augen der Betroffenen der Anteil beabsichtigter Folgen überproportional. Dies kann im Verbund mit mythischen Formen (vgl. Kapitel 7.2.6) zu einer stärkeren Personalisierung8

Auf der institutionellen Seite brechen alte Expertensysteme zusammen und entfallen ganz oder werden durch neue ersetzt. Auch alte Praktiken werden nicht mehr verfolgt

des Geschehens führen.

9

Auch die von Giddens beobachtete doppelte Hermeneutik des Austausches zwischen (vor allem sozialwissenschaftlichen) Expertensystemen und dem Laien erleidet Schaden. Es geht dabei weniger darum, daß Expertensysteme wegbrechen, sondern darum, daß der Transfer einseitig wird und das Laienwissen nicht mehr ins Expertensystem zurückfließt. Im Transformationsprozeß gewonnene Erfahrungen sind nur schwer generalisierbar und damit wissenschaftlich zu verarbeiten; wie wir gesehen haben, versagen wesentliche Reflexionsmechanismen. Der umgekehrte Transfer vom Expertensystem zum Laien funktioniert dagegen noch bedeutend länger: institutionalisierte Expertensysteme sind in der Regel genügend selbstreferentiell, um Wissen auch in solchen Situationen zu produzieren, in denen sich, streng genommen, nichts wissenschaftlich aussagen läßt. Der Bedarf an Orientierungswissen, der in Transformationssituationen sehr hoch ist, erhöht andererseits wieder die Machtbasis der Expertensysteme.

. Dies hat zum einen Konsequenzen für die Selbstpraktiken: auch wenn zunächst noch alte Muster weiterverwendet werden, können sich diese doch nur im Zeitverlauf behaupten, wenn sie durch verbliebene alte oder neue Routinen gestützt werden. Zum anderen ist zu erwarten, daß das verbliebene alte und das neue Wissen stärker disqualifizierend wirken, weil sie sich im Wettbewerb mit anderen Ordnungsmustern/Wissenssystemen befinden, gegen die sie sich abgrenzen und durchsetzen müssen. Die Verbindung Wissen-Macht wird dadurch verstärkt. Auch von anderer Seite wird die Disziplinierung erhöht: auf mehr Chaos wird mit mehr Organisation im instrumentalen Sinne geantwortet; Rationalität und Homogeneität sollen wieder Ordnung schaffen. Daß Rationalität als Ziel-Mittel-Betrachtung dies nicht leisten kann, sondern vielmehr selbst Ordnung braucht, um zu funktionieren, und daß Homogeneität noch keine Ordnung ist, wird dabei nicht berücksichtigt. So wird Mehrdeutigkeit und Heterogeneität im Detail reduziert (und Disziplinierung im Detail erhöht), ohne an der „großen Verwirrung“ etwas zu ändern.

Für die Erzählung haben wir bereits im Kapitel 7.2.6 gesehen, daß bestimmte archaische Formen wieder aufgegriffen werden können. Diese Formen fördern die Wirksamkeit fiktionaler Bestandteile, weshalb Transformationsprozesse praktisch ohne den Bezug zu Visionen, Mythen etc. nicht zu verstehen und untersuchen sind. Überhaupt ist der Wirksamkeit

8 Es muß sich dabei nicht um natürliche Personen handeln, sondern um all jene Entitäten, die als Akteure wahrgenommen werden. 9 Diese Aussagen sind nicht so zu deuten, daß immer alles zusammenbricht. Brüche sind nie total, und ein gewisses Maß an Kontinuität ist in jeder Transformation gegeben. Diese Kontinuität steht jedoch bei den momentanen Betrachtungen nicht zur Debatte, weshalb ich mich auf die Stellen konzentriere, wo Brüche auftreten, d.h. Altes verloren und Neues (noch) nicht integriert ist.

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Kapitel 12

von Geschichte - auch als Historie - mehr Aufmerksamkeit als ihrer Wahrheit zu zollen, wenn man erhaltene und entstehende Sinnstrukturen im Transformationsprozeß verstehen will. Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, ob ein historisches Ereignis, eine Begegnung, eine Rede so oder anders stattgefunden hat, sondern darum, was die Leute als Geschichte darüber akzeptieren. Umgekehrt wird verständlich, warum die Vergangenheit der vom Transformationprozeß Betroffenen an Bedeutung verliert: sie wird nicht unwahrer, sie wird unwirklicher und damit unwirksamer, in dem Maße, in dem z.B. ihr Kontext in der Gegenwart von anderen nicht mehr verstanden wird. Das hat nicht nur Konsequenzen für die Identität selbst, sondern auch für die erwähnte moralische Forderung der Authentizität. Menschen, deren Vergangenheit unwirksam wird, können der Verpflichtung nach - umgangssprachlich definierter - Authentizität kaum noch nachkommen, was wiederum Konsequenzen, nämlich das Gefühl einer „Schuld“ oder einer moralischen Differenz, für den Umgang mit vom Transformationsprozeß Nicht-Betroffenen nach sich zieht. Das Angebot an Erzählungen - und allgemeiner, Texten -, die sinnvoll in die eigene Interpretation eingearbeitet werden können, wird mit dem Zusammenbruch von Sinnstrukturen geringer, auch wenn die Gesamtzahl an Texten zunehmen mag. Die Macht von legitimierten Expertensystemen, speziell Wissenschaft, Politik und Medien, über die symbolische Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft nimmt in Zeiten eines hohen Orientierungsbedürfnisses einerseits und wenig gesicherter/legitimierter Rahmen andererseits wiederum zu. Die Funktion der Organisation als plot, der die verschiedenen Handlungsstränge zusammenhält, erfährt hingegen im allgemeinen Verlust von Sinnstrukturen eine Schwächung; die Handlungsströme der Organisationsmitglieder laufen auseinander. Dies kann zu vermehrten Konflikten führen, weil eine integrative Perspektive fehlt. Wichtiger aber scheint mir auch hier, daß die Integration in diesem Fall von anderen Mechanismen übernommen werden soll, die dazu nur z.T. in der Lage sind (s.o.). Als Fazit läßt sich feststellen, daß Transformationsprozesse nicht unbedingt ein kreatives Chaos des anything goes darstellen, sondern in vielen Fällen zu verschärfter Machtausübung und Disziplinierung führen. Damit sollen Kreativität und Freiräume nicht generell in Abrede gestellt werden; es wird nur darauf aufmerksam gemacht, daß der Wegfall von Ordnungsmustern nicht zur ewigen Freiheit, sondern unweigerlich zum Kampf um neue Ordnungsmuster führt. Es wird damit auch nicht präjudiziert, daß sich der Kampf u.U. nicht lohnen würde. Auch die spontane Assoziation von Transformation und Mehrdeutigkeit sollte auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen noch einmal aufgenommen werden. Die traditionelle Auffassung von Identität legt nahe, daß sich Individuen deshalb von Transformationen bedroht fühlen, weil sie sie als unsicher empfinden. Unsicherheit wird dabei als Mehrdeutigkeit, die nicht mehr verarbeitet werden kann, interpretiert. Wie bereits in Kapitel 7.2.3 angemerkt, ist dieses Argument unter den in dieser Arbeit zugrundegelegten

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Prämissen bezüglich Identität und Erzählung kaum haltbar10

Zunächst muß kontra-intuitiv die Möglichkeit bedacht werden, daß es nicht die Steigerung von Mehrdeutigkeit ist, die eindeutige Identitäten bedroht, sondern daß die Reduktion von Mehrdeutigkeit Identitäten bedroht, die auf Mehrdeutigkeit ausgelegt sind. Wenn, bildlich gesprochen, in Transformationsprozessen das Schienennetz auf wenige Gleise reduziert wird, birgt das erhebliche Gefahren für den Verkehr, weil die wenigen Gleise überlastet sind und ein Ausweichen nicht mehr möglich ist. Dies gilt sowohl für die persönliche Selbstinterpretation als auch für das Zusammenarbeiten in Organisationen. Der Verlust von alten Mustern und Routinen (d.h. Texten, Entwurfsmöglichkeiten etc.) wird bisher nur als Verlust von Ordnung thematisiert. Er ist jedoch auch ein Verlust an alternativen Deutungen. Das Chaos der Transformation kann diese nicht ersetzen, da es aufgrund der mangelnden Reflexion nichts zu deuten gibt. Neue Deutungen werden erst langsam in einem hermeneutischen Zirkel aufgebaut (der wiederum der o.g. ästhetischen Reflexion nähersteht als der kognitiven).

. Es deckt sich außerdem nicht mit einer Vielzahl von Schlüssen, die in diesem Kapitel gewonnen wurden und die zeigen, daß Mehrdeutigkeit in Transformationen bezüglich vieler Aspekte reduziert wird. Und schließlich haben wir für Transformationsprozesse auch den Reflexionsbegriff, der obiger Verarbeitung von Mehrdeutigkeit zugrundeliegt, infragegestellt. Was folgt daraus?

Der paradox anmutende Schluß ist also, daß der Wegfall von Sinnstrukturen sowohl Ordnung als auch Mehrdeutigkeit reduziert. Nicht wenige Probleme des Wiederaufbaus nach einer Transformation scheinen mir daraus zu resultieren, daß dem Wiederaufbau der (eindimensional verstandenen) Ordnung höhe Priorität zugeordnet wird als dem der Mehrdeutigkeit.

10 Ich verweise speziell auf die Zusammenfassung der Ergebnisse des Teiles B im Kapitel 6.2, Punkt 1, wo unter dem “Prinzip der Vielheit” davon die Rede war, daß Menschen verschiedene Zeitkonzepte je nach Bedarf aktualisieren.

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Kapitel 12

Individuum und Organisation in Transformationen: eine Detailbetrachtung anhand existentieller Charakteristika Mit einem so weitgespannten und differenzierten Modell der Beziehungen zwischen Organisation, Individuum, Macht und Erzählung sind nur wenige allgemeine Aussagen bezüglich des Transformationsprozesses zu treffen. Daß damit die Analyse nicht erschöpft sein kann und darf, möchte ich anhand der folgenden Detailbetrachtung zeigen. Sie nähert sich insofern einer lokalen Theorie, als ich nun spezielle, nicht notwendige Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes heranziehen möchte. Diese Eigenschaften stellen eine Auswahl aus den Kriterien des vorangegangenen Kapitels dar und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Meine Hauptintention ist zu zeigen, daß nur eine differenzierte Betrachtung zu tragfähigen Ergebnissen führen kann, und eine Illustration dafür zu liefern, wie eine solche Differenzierung aussehen kann. Ich habe oben einige Überlegungen angeführt, die nahelegen, die Dichotomie zwischen Individuum und Organisation nicht so strikt zu sehen, wie dies die klassische Organisationstheorie tut. Löst man jedoch den Organisationsbegriff in einen Prozeß des Organisierens auf und betrachtet man Organisieren als eine weitverbreitete Tätigkeit, die nicht einmal intentional sein muß, so stellt sich ein anderes Dilemma ein: die Organisation als Gegenstand der Organisationstheorie löst sich auf. Dies ist weniger ein Problem für die Organisationstheorie, die sich stattdessen mit Organisieren beschäftigen könnte, als vielmehr ein wissenschaftstheoretisches Problem insofern, als das Wort „Organisation“ trotzdem einen alltagssprachlichen Sinn hat, und ich es nicht für ergiebig halte, wenn Erkenntnisse des common sense theoretisch „wegexpliziert“ werden. Was kann also unter den Prämissen dieser Arbeit eine Organisation sein? Es gibt, soweit ich sehe, kein spezifisches Merkmal, das das Organisieren in Organisationen vom Organisieren in sonstigen Lebensbereichen der Industriegesellschaften des 20. Jhdts. unterscheidet. Organisationen unterscheiden sich demnach von Nicht-Organisationen nur graduell, nicht kategorial: sie mögen rationaler, homogener sein, mehr auf Kommunikation angewiesen, sie mögen individuelle Handlungsstränge integrieren und als Zugehörigkeit zur Organisation besondere Auswirkungen auf die persönliche Identitätskonstruktion haben. Das Wort „mögen“ deutet bereits an, daß keine dieser Eigenschaften ein allgemeines und notwendiges Kriterium bildet; es liegt vielmehr in der Aufgabe der jeweiligen Organisationstheorie, ihren Gegenstand entsprechend zu definieren. Für grundlegend halte ich allein den graduellen Charakter all dieser Ausprägungen, denn ohne die Existenz all dieser Praktiken im nicht-organisationalen Bereich ist m.E. weder die historische Entstehung von Organisationen noch ihr Funktionieren in der Gegenwart zu verstehen. Mit dieser Vorrede als caveat möchte ich also nun wieder das Wort „Organisation“ gebrauchen. Ihre Abgrenzung vom Individuum soll nachfolgend operational unter Berücksichtigung von Giddens (speziell „historicity“ und „locale“), Heidegger (speziell „das Man“) und Foucault (speziell „Disziplinierung“) sowie den Überlegungen zu Text und Zeit geschehen. Außerdem erfolgt sie im Hinblick auf den

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Transformationsprozeß, d.h. einer existentiell bedrohlichen Situation. Als mögliche Differenzierungsmerkmale ergeben sich somit: I. Menschen sterben und können existentielle Angst empfinden,

Organisationen nicht (vgl. auch Denhardt 1987, Sievers 1990 und 1994). Organisationen können (wie das Man) keine Angst empfinden; sie könnnen, nicht einmal in verkürzender Redeweise, sich vom Alltag distanzieren und in den Abgrund der Grundlosigkeit von Konventionen schauen. Sie würden sich damit selbst ad absurdum führen, weil sie aus Praktiken (d.h. Konventionen) bestehen und es genau ihre Aufgabe ist, diese zu bewahren und weiterzugeben. Organisation bestehen wesentlich aus Strukturen, sie können nicht individualisiert werden (wie es die Angst tut). Außerdem sterben Organisationen nicht, und die Angst, die z.B. ein bevorstehender Konkurs auslöst, ist die der Menschen um ihre Existenz.

II. Menschen können nicht-thematisch reflektieren11

III.Menschen besitzen als Dasein und aufgrund ihres Körpers eine von narrativen Strukturen unabhängige Kontinuität, Organisationen brauchen Narrativen für ihre Kontinuität.

, Reflexion in Organisationen braucht Kommunikation und ist damit immer thematisch.

IV.Menschliche Narrativen sind Narrativen im Sinne eines Werkes, d.h. sie werden von einem Autor produziert, während Organisationen Narrativen im Sinne eines Textes, d.h. als Vielfalt verschiedener Erzähler, produzieren (s.o.).

V. Menschen können auf ursprüngliche Zeit zurückgreifen, Organisationen nur auf Weltzeit und vulgäre Zeit. Organisationen können Zeit nur binden, weil Menschen zeitlich sind (s.o.).

VI.Menschen können heterogene Zeitcodes verarbeiten, Organisationen brauchen12 homogene Zeitcodes (speziell: die Uhrzeit). Dies hängt nach Foucault zusammen mit ihrem Disziplinierungscharakter, der seine Taktiken der Aufteilung und Standardisierung u.a. auf der Homogeneität von Zeit aufbaut, nach Giddens mit der Instrumentalisierung der Uhrzeit in der industriellen Produktion13

VII.Menschliche Geschichte ist primär zukünftig orientiert, organisationale primär vergangen

.

14

11 Diese Aussage siedelt die Reflexion (in einem sehr grundlegenden Verständnis der Widerspiegelung) im Bewußtsein, jedoch nicht in der Kognition an.

. Vor allem die letzte Behauptung scheint, läßt man Heidegger beiseite, nicht einleuchtend, wenn man z.B. an Strategien und Visionen in Organisationen denkt. Es ist aber letztlich nur eine andere Formulierung der Giddens’schen Rede von der historicity, die für ihn ein konstituierendes Merkmal von Organisationen ist: „using history to make history“ bedeutet, Legitimationen und Strategien aus Vergangenem abzuleiten, und zwar nicht nur im Sinne des Lernens aus Vergangenem, sondern auch, z.B. im Falle der Vision, im Sinne eines positiven

12 Ich möchte damit angesichts der Studien von Dubinskas et al. (Dubinskas 1988) nicht bestreiten, daß Organisationen in ihren Subkulturen verschiedene Codes besitzen können, jedoch bin ich der Überzeugung, daß in Konflikt- (und d.h. in Entscheidungssituationen) eher auf einen homogenen Code (meist die Uhrzeit) zurückgegriffen wird. 13 Was Giddens als für die Entstehung von neuzeitlichen Organisationen notwendige locale bezeichnet, scheint mir im wesentlichen die von Thompson (1967) und Mumford (1934) beschriebenen Phänomene zu umfassen. 14 vgl. dazu auch die o.g. Aussage, daß Menschen eine Identität, Organisationen eine Geschichte haben

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Kapitel 12

(Restauration) oder negativen (Utopie) Erinnerns von Vergangenem (vgl. Assmann 1992). Mehr-Personen-Entscheidungen müssen letztendlich auf einer gemeinsamen Interpretationsbasis, und d.h. auf Erlebtem und Gegebenen, beruhen.

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Menschen

Organisationen

I. Existentielle Ausgangslage

Tod, Angst Unsterblichkeit

II. Arten der Reflexion auch nicht-thematisch nur kommunikativ III. Kontinuität Dasein, Körper, Narrative Narrative IV. Art der Narrative Werk Text V. Zeitkonzept (nach Heidegger)

ursprüngliche Zeit, Weltzeit (Weltzeit,) vulgäre Zeit

VI. Zeitcodes heterogen homogen VII. Geschichte zukunftsorientiert vergangenheitsorientiert

Abbildung 1: Differenzierungsmerkmale

Im folgenden sollen nun die differierenden Auswirkungen für Mensch und Organisation im Transformationsprozeß untersucht werden. Es ist an dieser Stelle notwendig, das Phänomen „Transformation“ etwas stärker zu detaillieren. Anknüpfend an meine Ausführungen in Kapitel 7 möchte ich - mit dem Modell Ostdeutschland im Hinterkopf - folgende Merkmale von Transformationsprozessen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) auflisten: (1) Es herrscht große15

(2) Alte (kognitive) Legitimationsmuster werden z.T. ungültig. Unsicherheit bezüglich zukünftiger Entwicklungen.

(3) Auf alte (Handlungs-)Strukturen kann z.T. nicht mehr zurückgegriffen werden.

(4) Neue (System-)Werte sind noch nicht individuell eingebunden, besitzen aber Gültigkeit für das Handeln.

(5) Die Dynamik der Prozesse ist sehr hoch. (6) Die Entwicklungen vollziehen sich nur bedingt logisch; oft gibt es

Sprünge. (7) Die ontologische Sicherheit ist bedroht. (8) Es wird z.T. auf archaische Muster (z.B. in den Narrationen, vgl. Kapitel

7.2.1) zurückgegriffen. Vor dem Hintergrund dieser Eigenschaften möchte ich nun untersuchen, wie Menschen und Organisationen mit Transformationen zurechtkommen. Es ist, denke ich, nicht zu erwarten, daß eine von beiden Klassen mit dem 15 Wiederum ist mir die Unschärfe solcher Prädikate wie „hoch“ und „groß“ bewußt, ich sehe jedoch keine Möglichkeit, hier nähere Bestimmungen von allgemeiner Natur einzusetzen.

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Kapitel 12

gesamten „Paket“ besser oder schlechter zurandekommt, weshalb ich die Betrachtung nach den Eigenschaften differenziert anstellen will. Dabei möchte ich nur die Fälle thematisieren, in denen sich der Umgang in beiden Klassen unterscheidet, also nicht solche, die beide gut oder schlecht bewältigen. I. Existentielle Ausgangslage: Ganz offensichtlich spielt hier die Bedrohung

der ontologischen Sicherheit (7) eine wichtige Rolle. Von dieser Bedrohung sind nur Menschen, nicht jedoch Organisationen betroffen. Umgekehrt ist die menschliche Identität weniger vom Wegfall alter Strukturen (3) und Legitimation (2) bzw. der fehlenden Einbettung neuer Werte (4) betroffen als die organisationale, da Menschen sich prinzipiell von diesen „Konventionen“ distanzieren können.

II. Arten der Reflexion: Die nicht-thematische Reflexion ist weniger durch den Wegfall kognitiver Strukturen (2), jedoch stark durch den Wegfall von Routinen und Praktiken (3) betroffen. Deshalb dürften Dynamik (5) und Sprünge (6) für sie problematisch sein. Die Unsicherheit bzgl. der Zukunft (1) fällt wiederum weniger ins Gewicht, weil diese Unsicherheit eher aus einem Fehlen von kognitiver Kontrolle (z.B. Prognose) resultiert.

III. Kontinuität: Hier scheint die organisationale Narration, die relativ leicht geändert werden kann, durchgängig im Vorteil. Erst wenn die Kommunikation, z.B. aufgrund zu hoher Dynamik (5) bzw. Sprüngen (6), ernsthaft bedroht ist, geht dieser Vorteil verloren. Nicht unproblematisch ist in diesem Zusammenhang auch die noch nicht vollzogene Einbettung neuer Werte (4); es kann das Problem des Aneinander-Vorbeiredens entstehen, das zumindest mittelfristig gravierende Konsequenzen zeitigen kann. In diesen extremen Zusammenbruchsituationen kann der Mensch noch auf die körperliche Kontinuität zurückgreifen, allerdings ist auch dies nur ein kurzfristiges Rezept; eine volle Identität kann der Körper mittelfristig nicht ersetzen.

IV.Art der Narrative: Auch hier zeigt der Text wohl zunächst eine größere Flexibilität im „Aushalten“ der Zerrissenheit von Transformation. Allerdings muß bei Organisationen zusätzlich bedacht werden, daß die verschiedenen innerhalb der Organisation erstellten Textfragmente anläßlich von Entscheidungen hierarchisch geordnet werden müssen, d.h. ein Text muß, zumindest in diesem Moment dominieren. Diese Herstellung von Dominanz wird wiederum stark durch den Wegfall alter Legitimationen (2) und Strukturen (3) sowie der Unsicherheit bzgl. der Zukunft (1) gefährdet. Archaische Erzählformen (8), die nach Barthes (1977c) ohnehin zeitlich vor der „Erfindung des Autors“ liegen, sind für organisationale Narrativen relativ unproblematisch.

V. Zeitkonzept: Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft (1) bedroht offensichtlich den Entwurf des Selbst sehr stark, ähnlich der nicht erfolgte Einbau von neuen Werten (4). Dagegen kann das Selbst vermutlich besser mit Dynamik (5) und Sprüngen (6) umgehen, da es nicht der „äußeren“ Kontinuität (d.h. gleichmäßiges Fließen) der vulgären Zeit bedarf. Die Bedrohung der ontologischen Sicherheit (7) verletzt Geworfenheit und Entwurf. Die archaische Zeitkonzeption des Jetzt/Nicht-Jetzt (8) hingegen scheint mir schwieriger in der vulgären Zeit zu verarbeiten, da das Jetzt

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

dort ephemeren Charakter hat, im Gegensatz zur ursprünglichen Zeit, wo es immer mindestens eine Bedeutungseinheit enthält.

VI.Zeitcodes: Homogene Zeitcodes sind sicherlich mit Sprüngen (6) und Brüchen überfordert; ähnliche Probleme ergeben sich hinsichtlich einer völlig offenen Zukunft (1), die nicht mehr über Extrapolation beschrieben werden kann. Auch archaische Muster (8) schaffen Probleme bei der Einarbeitung in den homogenen Code. In all diesen Fällen erweisen sich heterogene Codes als nutzerfreundlicher.

VII.Geschichte: Auch hier bereitet die Zukunftsorientierung dem Selbst Probleme hinsichtlich der Unsicherheit (1) und der Einarbeitung neuer Werte (4). Umgekehrt kann die organisationale Geschichte den Wegfall alter Strukturen (3) und Legitimationen (2) sowie Sprünge (6) nur mühsam in ihre geschichtliche Identität einarbeiten.

Selbst unter der hier vorgenommenen Einschränkung der Perspektive, die ja nur eine Möglichkeit der Fragestellung und eine Möglichkeit der Differenzierung im Detail untersucht, sollte deutlich geworden sein, daß eine Differenzierung, sowohl bezüglich des Gegenstandes Transformation als auch bezüglich der untersuchten Objekte in der Transformation von Vorteil ist. Gleichzeitig hoffe ich, einige Anhaltspunkte dafür gegeben zu haben, welche neuen Aspekte die von mir verfolgten Themen in die theoretische Betrachtung der Transformation einbringen können.

Analysebeispiel Ein kleines Beispiel soll am Ende veranschaulichen, in welcher Weise die von mir zusammengetragenen Theorieelemente auch die empirische Analyse von Wandel und Transformation kritisch begleiten können. Da ich von Anfang an nicht vorhatte, einen eigenständigen empirischen Teil zu erstellen, habe ich die Fallstudie eines fremden Autors (Lettke 1996:219ff.) gewählt, zumal es mir hier möglich ist, meine Theorieelemente in Differenz zu denen des Autors zu präsentieren. Meine Auswahl des Falles war von den folgenden Kriterien gelenkt: Es sollte sich um eine kurze Studie handeln, die eine Transformation beschreibt. Da ich keine Einsicht in die Rohdaten nehmen kann, sondern auf die Darbietung der Fallstudie (z.B. die dort ausgewählten Zitate) angewiesen bin, wollte ich auch keine Arbeit, die sich in der Präsentation von empirischen Daten erschöpft, sondern eine, in der die dahinterstehende Theorie deutlich wird. Aus demselben Grund habe ich quantitative Studien ausgeschlossen, zumal bei ihnen die Gefahr einer reinen Wiederholung der generellen postmodernen Kritik bestanden hätte. Schließlich habe ich auch Fallstudien ausgeschlossen, die ausschließlich den individuellen Aspekt (z.B. Mentalitäten) oder den betriebswirtschaftlich-organisationalen betrachten, da mein Ansatz ja gerade das Verhältnis beider

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Kapitel 12

zum Gegenstand hat. Trotz des mir zur Verfügung stehenden reichen Materials hat sich aufgrund dieser Kriterien sehr schnell eine Reduzierung auf einige wenige Studien ergeben. Zur Vorgehensweise meiner anschließenden Kritik an der Fallstudie sei erstens angemerkt, daß ich mir natürlich bewußt bin, daß eine Interpretation fremder Daten, die unter anderen Vorzeichen erhoben wurden, immer problematisch ist, zumal ich mich nur auf das beschränken kann, was der Autor in seiner schriftlichen Schlußfassung schildert. Somit kann ich zweitens von meinen aufgestellten Thesen nur die diskutieren, die das im Fall dargestellte Geschehen tangieren. Damit ergibt sich drittens z.B. kaum eine Möglichkeit, Machtverhältnisse (sofern sie überhaupt angesprochen sind) im Sinne Foucaults zu analysieren, da seine Methode ja wesentlich in einem „gegen-den-Strich-Bürsten“ der Daten besteht. Da ich in meinen vorhergehenden Ausführungen jedoch auch viel Wert auf den Aspekt der Erzählung gelegt habe, sei es mir gestattet, die vorliegende Studie eben auch als literarisches Dokument zu lesen. Vor allem werde ich dabei kritisch die Rolle des Autors (als Wissenschaftler) beleuchten. Der Fall im Wortlaut findet sich im Anhang. Ich halte folgende Annahmen bzw. Aussagen für problematisch: 1. Herr Bambachs Habitus ist zu DDR-Zeiten erworben und hat sich während

der Transformation nicht verändert. 2. Herr Bambachs Habitus und das Feld der Marktwirtschaft wirken nicht

aufeinander ein, sondern prallen in statischer Weise aufeinander (Hysteresis).

3. Herr Bambach verfolgt eine Strategie, die er nicht sieht16

4. Herr Bambach verabsolutiert die eigene Lage in unzulässiger Weise. .

5. Typisch für Herrn Bambach ist die Personalisierung des Transformationsgeschehens.

6. Die Marktwirtschaft ist gekennzeichnet durch Rationalität, unverminderte Härte, Entpersonalisierung, ausschließliche Orientierung am Geld etc. Herr Bambach hat dies noch nicht begriffen. Er macht viele Dinge falsch.

Ich denke, mit dem von mir entworfenen Theorieansatz folgende Verbesserungen oder Änderungen einbringen zu können: ad 1. Lettkes Aussage deutet auf ein Identitätskonzept, das Identität als eine

Eigenschaft betrachtet, die man zu einer Zeit erwirbt und dann behält. Herr Bambach scheint seit der Wende “nicht mehr von dieser Welt” zu sein. Es ist jedoch für mich nicht ganz einzusehen, warum eine solch existentielle Erfahrung wie die der ostdeutschen Transformation völlig spurlos an einem Menschen vorübergehen sollte. Ich halte hier Heideggers Konzept des Daseins als einer Tätigkeit der permanenten Selbst-Interpretation für sinnvoller. Dasein als ein In-der-Welt-Sein ist zudem in ständigem Austausch mit der Welt. Dies würde den Blick des

16 Diese Bestimmung trifft Lettke (1996:221) in einer Fußnote zur Strategie des Konservators: “Diese Strategie ‘sieht’ er natürlich nicht. Aber sie ist die Umschreibung der Möglichkeiten, die sich ihm darbieten, die er wahrnimmt und in die Praxis umsetzt.”

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Individuum und Organisation in Transformationsprozessen

Autors für Änderungen während der Transformation und für eine aktive Auseinandersetzung mit den Transformationsbedingungen schärfen.

ad 2. Nach meinen Annahmen können sich “alte” Werte nur halten, wenn sie durch “neue” Routinen unterstützt und bestärkt werden (vgl. Giddens’ Dualität und Foucaults Selbstpraktiken); somit muß es in Herrn Bambachs Alltag Routinen und Praktiken geben, die seine dargestellte Selbst-Interpretation unterstützen. Dies paßt jedoch nicht zum Bild von Lettkes Hysteresis. Auch ist nach den Thesen des Autors unklar, warum Herr Bambach nicht schon längst gescheitert ist. Ich denke, das Wechselspiel von Selbst-Interpretation und Routinen/Praktiken müßte sehr viel differenzierter, weniger statisch und vor allem in permanentem Austausch begriffen dargestellt werden.

ad 3. Die durch die Typisierung von Herrn Bambach vom Autor selbst aufgestellte Kohärenz- und Kontinuitätsforderung bricht sich allenthalben Bahn: statische Identität, statisches Feld, lineare Handlungsabläufe. Herr Bambachs “Strategie” scheint mir ein konsequentes Forschungsartefakt.

ad 4. Lettke räumt ein, daß es naheliegend sein mag, sich in Umbruchssituationen auf Naheliegendes zu beschränken, allerdings sei es “unangemessen”, weil “prinzipiell nicht durch wirtschaftliche Rationalität veranlaßt”. Auf den Wirtschafts-Begriff des Autors sei in Punkt 6 ausführlicher eingegangen; an dieser Stelle möchte ich vermerken, daß Lettke offensichtlich den Transformationscharakter in diesem Moment völlig aus der Betrachtung ausblendet. In meiner Betrachtungsweise ist in einer existentiellen Transformationssituation die “Verabsolutierung der eigenen Lage” nicht nur zulässig, sondern oft das einzig Mögliche. Ich denke, gezeigt zu haben, daß a) kognitive Reflexivität unter diesen Umständen versagen muß, b) (mit Heidegger) Angst ein wesentlicher Auslöser dafür ist, daß das Dasein auf sich selbst zurückgeworfen wird (-> eigentliches Dasein), c) das Wegbrechen von Zukunft und Vergangenheit die Biographie im klassischen Sinne bedroht und das Dasein auf seine originäre Zeitlichkeit zurückgeworfen wird (-> eigentliches Dasein). Die Konzentration auf Naheliegendes und der Wunsch nach Sicherheit sind somit nicht als Merkmale des Typs “Konservator”, sondern als allgemeine Kennzeichen von Transformation zu verstehen. Betrachtet man Lettkes “Gegentyp”, den “Innovator”, in seiner darauffolgenden Fallstudie (1996:233ff.), trifft man auf ähnliche Aussagen, allerdings werden sie hier von Lettke nicht in dieser Weise (nämlich als unangemessen und beharrend) interpretiert.

ad 5. Auch hier handelt es sich, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht um ein Merkmal des Typs “Konservator”, sondern um ein generelles, deduzierbares Kennzeichen.

ad 6. Lettkes Vorstellungen der bundesdeutschen Wirtschaftsrealität entstammen zweifelsohne Standard-Lehrbüchern, mit der Realität eines Kleinunternehmens der ostdeutschen Baubranche scheinen sie mir jedoch überhaupt nichts zu tun zu haben. Dennoch ist es nicht der Praktiker, Herr Bambach, der dem Wissenschafter Lettke in einer empirischen Studie erzählen dürfte, wie es sich verhält; nein, es ist Lettke, der jedes Mal wenn eine Aussage Bambachs sich nicht mit seiner

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Kapitel 12

Idee von Marktwirtschaft deckt, zu Worten wie “unangemessen” greift. Hieran lassen sich gleich mehrere meiner Thesen aufhängen: a) Die doppelte Hermeneutik des Austausches von Laien- und Expertenwissen ist gestört, weil das Laienwissen nicht vom Wissenschaftler verarbeitet werden kann. b) Die Wissenschaft ist selbst-referentiell genug, um ihr Expertenwissen trotz m.E. eklatanter Diskrepanzen zur Erfahrung weiter kursieren zu lassen. c) Expertenmacht nimmt aufgrund der in Transformationen stärkeren Disqualifizierung durch Wissen zu. Es gibt Experten der Marktwirtschaft und solche, die sie nicht verstanden haben (auch wenn sie sich täglich darin bewegen), und der Unterschied zwischen beiden ist kategorial, nicht graduell. Unter diesen Umständen ist ein echter Austausch zwischen Beforschtem und Forscher nicht zu erwarten, und die Fallstudie liefert den anschaulichen Beweis, wie jemand, der für seine Situation völlig angemessene Aussagen macht17

, konsequent disqualifiziert wird. In diesem Zusammenhang darf natürlich auch die disziplinierende Normalisierung nicht fehlen: in der Studie (und seit der Wende nicht nur in ihr) gibt es offensichtlich nur noch die Marktwirtschaft und die betriebliche Realität. Wehe dem, der davon abweicht: er wird als “Konservator” denunziert und seine “unternehmerischen Chancen” sind “problematisch” – das alles aus institutionell berufenem Munde natürlich. Hätte Lettke auch über einen westdeutschen Unternehmer so geurteilt?

Abschließend sei bemerkt, daß ich Lettkes Analyse durchaus nicht im Sinne eines wissenschaftlich schlechten oder abschreckenden Beispiels ausgewählt habe – dessen Kritik wäre zu einfach gewesen -, sondern im Gegenteil nach einem theoretisch fundierten und reflektierten Bericht Ausschau gehalten habe. Daß auch in einer solchen Arbeit Aussagen wie die von mir kritisierten getroffen werden, soll nicht allein auf Lettke zurückfallen; angesichts der Flut von empirischen Studien zur Transformation (von denen viele undifferenzierter sind als die des Autors) müssen sich wohl viele fragen, ob sie es sich mit der Untersuchung von Menschen und Organisationen in Transformationsprozessen nicht zu einfach machen.

17 Es ist für westdeutsche Kleinunternehmer auch nicht untypisch, daß sie aus betrieblichen Gründen nachts nicht schlafen können, die Familie in die betrieblichen Leistungen und Entscheidungen einbinden, keine (teuren) Experten zu rate ziehen usw. Lettke scheint mir in seiner Fehleinschätzung der (groß-)betriebswirtschaftlichen Management-Rhetorik auf den Leim zu gehen.