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A. Begriff und Entwicklung der Welthandelsordnung Welthandelsordnung im Spannungsfeld von Wirtschaft, Recht und Politik Literatur: Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, 1997; Wolfgang Benedek, Die Konstitutionalisie- rung der Welthandelsordnung: Kompetenzen und Rechtsordnung der WTO, Ber. d. Dt. Gesell. f. Völkerrecht 40 (2003), S. 283ff.; Jagdish N. Bhagwati, In Defense of Globa- lization, 2004; Armin von Bogdandy, Law and Politics in the WTO – Strategies to Cope with a Deficient Relationship, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609ff.; Manfred Bor- chert, Außenwirtschaftslehre – Theorie und Politik, 7. Auflage 2001; Lüder Gerken, Der Wettbewerb der Staaten, 1999; ders., Von Freiheit und Freihandel – Grundzüge einer ordoliberalen Außenwirtschaftstheorie, 1999; Robert Gilpin, Globalization, Nation- States, Transnational Corporations, International Organizations and International Governance, Studia Diplomatica 57 (2004), S. 7 ff.; David Held/Anthony McGrew/Da- vid Goldblatt/Jonathan Perraton, Global Transformations. Politics, Economics and Cul- ture, 1999; Meinhard Hilf, Die Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung: Struk- tur, Institutionen, Verfahren, Ber. d. Dt. Gesell. f. Völkerrecht 40 (2003), S. 257ff.; Douglas A. Irwin, Against the Tide – An Intellectual History of Free Trade, 1996; Robert Kappel/Juliane Brach, Handel, Hierarchien und Kooperation in der Globalisierung, 2008 (GIGA Working Papers No.95); Peter B. Kenen, The International Economy, 4. Auflage 2000; Markus Krajewski, Verfassungsperspektiven und Legitimation des Rechts der Welthandelsorganisation, 2001; Paul R. Krugman, The Return of Depression Eco- nomics and the Crisis of 2008, 2009; Paul R. Krugman/Maurice Obstfeld, Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 8. Auflage 2009; Jonathan Perra- ton/David Goldblatt/David Held/Anthony McGrew, Die Globalisierung der Wirt- schaft, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 134ff.; Klaus Rose/ Karlhans Sauernheimer, Theorie der Außenwirtschaft, 14. Auflage 2006; Stefan A. Schirm, Globale Märkte, nationale Politik und regionale Kooperation in Europa und den Amerikas, 2. Auflage, 2002; Pierre de Senarclens/Ali Kazancigli (eds.), Regulating Glo- balization: Critical Approaches to Global Governance, 2007; Horst Siebert, Rules for the Global Economy, 2009; Joseph Stiglitz, Globalization and its Discontents, 2002; ders. Making Globalization Work, 2006; Helmut Wagner, Einführung in die Weltwirt- schaftspolitik, 6. Auflage 2009; Carl Christian von Weizsäcker, Logik der Globalisie- rung, 2. Auflage, 2000; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998. Die Welt verändert sich rapide, Staaten und Kontinente wachsen ökonomisch und poli- tisch zusehends zusammen. Der Wandel dringt immer stärker in die alltäglichen Lebens- welten ein und verändert vertraute soziale Kontexte und Lebensgewohnheiten. Den Menschen bereitet dies Sorge. ‘Globalisierung’ ist für die Mehrzahl der Menschen so zu einem negativ besetzten Begriff geworden. 1 Das Widerstreben gegen die mit der ‘Globa- lisierung’ verbundenen Zumutungen bringt Tausende von Bürgern auf die Straße und § 1 1 Vgl Klaus Dörre, Globalisierung und Globalisierungskritik, 2010. § 1 Oeter 41 1

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A. Begriff und Entwicklung derWelthandelsordnung

Welthandelsordnung im Spannungsfeld von Wirtschaft, Recht undPolitik

Literatur:Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, 1997; Wolfgang Benedek, Die Konstitutionalisie-rung der Welthandelsordnung: Kompetenzen und Rechtsordnung der WTO, Ber. d. Dt.Gesell. f. Völkerrecht 40 (2003), S. 283ff.; Jagdish N. Bhagwati, In Defense of Globa-lization, 2004; Armin von Bogdandy, Law and Politics in the WTO – Strategies to Copewith a Deficient Relationship, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609ff.; Manfred Bor-chert, Außenwirtschaftslehre – Theorie und Politik, 7. Auflage 2001; Lüder Gerken, DerWettbewerb der Staaten, 1999; ders., Von Freiheit und Freihandel – Grundzüge einerordoliberalen Außenwirtschaftstheorie, 1999; Robert Gilpin, Globalization, Nation-States, Transnational Corporations, International Organizations and InternationalGovernance, Studia Diplomatica 57 (2004), S. 7 ff.; David Held/Anthony McGrew/Da-vid Goldblatt/Jonathan Perraton, Global Transformations. Politics, Economics and Cul-ture, 1999; Meinhard Hilf, Die Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung: Struk-tur, Institutionen, Verfahren, Ber. d. Dt. Gesell. f. Völkerrecht 40 (2003), S. 257ff.;Douglas A. Irwin, Against the Tide – An Intellectual History of Free Trade, 1996; RobertKappel/Juliane Brach, Handel, Hierarchien und Kooperation in der Globalisierung,2008 (GIGA Working Papers No.95); Peter B. Kenen, The International Economy, 4.Auflage 2000; Markus Krajewski, Verfassungsperspektiven und Legitimation des Rechtsder Welthandelsorganisation, 2001; Paul R. Krugman, The Return of Depression Eco-nomics and the Crisis of 2008, 2009; Paul R. Krugman/Maurice Obstfeld, InternationaleWirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 8. Auflage 2009; Jonathan Perra-ton/David Goldblatt/David Held/Anthony McGrew, Die Globalisierung der Wirt-schaft, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 134ff.; Klaus Rose/Karlhans Sauernheimer, Theorie der Außenwirtschaft, 14. Auflage 2006; Stefan A.Schirm, Globale Märkte, nationale Politik und regionale Kooperation in Europa und denAmerikas, 2. Auflage, 2002; Pierre de Senarclens/Ali Kazancigli (eds.), Regulating Glo-balization: Critical Approaches to Global Governance, 2007; Horst Siebert, Rules forthe Global Economy, 2009; Joseph Stiglitz, Globalization and its Discontents, 2002;ders. Making Globalization Work, 2006; Helmut Wagner, Einführung in die Weltwirt-schaftspolitik, 6. Auflage 2009; Carl Christian von Weizsäcker, Logik der Globalisie-rung, 2. Auflage, 2000; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998.

Die Welt verändert sich rapide, Staaten und Kontinente wachsen ökonomisch und poli-tisch zusehends zusammen. Der Wandel dringt immer stärker in die alltäglichen Lebens-welten ein und verändert vertraute soziale Kontexte und Lebensgewohnheiten. DenMenschen bereitet dies Sorge. ‘Globalisierung’ ist für die Mehrzahl der Menschen so zueinem negativ besetzten Begriff geworden.1 Das Widerstreben gegen die mit der ‘Globa-lisierung’ verbundenen Zumutungen bringt Tausende von Bürgern auf die Straße und

§ 1

1 Vgl Klaus Dörre, Globalisierung und Globalisierungskritik, 2010.

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hat zu einem weitverzweigten Netzwerk von ‘globalisierungskritischen’ Bewegungen ge-führt.2 Die Welthandelsorganisation erscheint in den Augen dieser ‘Globalisierungskri-tiker’ als Inkarnation der bekämpften ‘Ökonomisierung’ und ‘Globalisierung’ der Le-benswelten. Das Unbehagen, das weite Teile der Öffentlichkeit gegenüber den Phäno-menen der Globalisierung empfinden, überträgt sich damit unweigerlich auch auf dieInstitutionen der Welthandelsordnung – und damit die WTO und das GATT. Ob diesberechtigt ist, kann hier am Anfang der Darstellung der Institutionen der Welthandels-ordnung nicht schlüssig beantwortet werden. Bevor man eine solche Bewertung trifft,sollte man sich unbedingt eine genaue Kenntnis der rechtlichen Institutionen der Welt-handelsordnung verschaffen. Dem dient nicht zuletzt dieses Buch.

In einem ersten Teil soll hier zunächst der politische und ökonomische Hintergrund derWelthandelsordnung und des Welthandelsrechts beleuchtet werden. Ausgangspunkt istdabei das inhaltlich schwer greifbare, aber gleichwohl wirkungsmächtige Phänomender ‘Globalisierung’, das die Bemühungen um die Ausbildung einer tragfähigen Welt-handelsordnung ohne Zweifel stark beflügelt hat.3 Im Bereich der Wirtschaft lösen sichmit der Ausbildung weltumspannender Produktions- und Distributionsketten, der wech-selseitigen Durchdringung der Märkte und der Ausbildung einer immer weiter ausdiffe-renzierten internationalen Arbeitsteilung – gerade auch innerhalb der Unternehmens-konglomerate weltweit agierender Konzerne – die Grenzen der ‘Volkswirtschaften’ im-mer weiter auf und das System der Wirtschaft konfiguriert sich neu.4 Die Politik tut sichjedoch schwer, auf diese Prozesse der Veränderung ökonomischer Organisation ange-messen zu reagieren.5 Die Reichweite staatlicher Wirtschafts-, Sozial- und Rechtspolitikendet prinzipiell an den Grenzen nationaler Gebietshoheit – wenn man es nicht mit einemgezielt über diese Grenzen hinausgreifenden Politikansatz ‘extraterritorialer Wirkung’ zutun hat. ‘Extraterritoriales’ Handeln des Staates aber schafft neue Konflikte, die wieder-um eigens dafür geschaffener Instrumente der Konfliktvermeidung und Konfliktschlich-tung bedürfen.

Nationale Politik fühlt sich in der Folge durch die Prozesse der ‘Globalisierung’ heraus-gefordert, wenn nicht gar bedroht. Die globale Organisation der Wirtschaft gibt denökonomischen Akteuren ganz neue Optionen und Wahlmöglichkeiten. Politik wird zumStandortfaktor, der von den ökonomischen Akteuren auf seine (positiven wie negativen)Anreizwirkungen hin bewertet wird.6 Die Staaten geraten in eine Wettbewerbssituation,die sie in ihrer politischen Entscheidungsautonomie beschränkt, Unternehmen die Mög-lichkeit gibt, unter Umständen gar Staaten gegeneinander auszuspielen. Verkehrsinfra-struktur, Bildungssysteme, Kulturangebot, Steuern, Umweltschutzstandards, die Syste-me sozialer Sicherung, Arbeitsrecht und Tarifvertragssysteme werden zu Variablen indiesem Standortwettbewerb. Die tradierten Gefüge der sozialen Sicherungssysteme und

2 Vgl Adam Warden, A Brief History of the Anti-Globalization Movement, International and Comparative LawRev. 12 (2004), S. 237 ff.

3 Vgl zu den konkurrierenden Deutungen Peter M. Haas et al. (eds.), Controversies in Globalization, 2010; BoikeRehbein/Hermann Schwengel, Theorien der Globalisierung, 2008; David Held (ed.), Globalization Theory: Ap-proaches and Controversies, 2007; Justin Rosenberg, Globalization Theory, International Politics 42 (2005),S. 2-74.

4 Vgl nur Wagner.5 Vgl insoweit Richard Westra, Political Economy and Globalization, 2010; Jude C. Hays, Globalization and the

New Politics of Embedded Liberalism, 2009; Achim Hurrelmann, Zerfasert der Nationalstaat? Die Internatio-nalsierung politischer Verantwortung, 2008; Saskia Sassen, The State and Globalization, Michigan J. of Int‘l. L.25 (2004), S. 1241 ff.

6 Vgl etwa Gerken, S. 22ff.

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des Arbeitsrechts geraten unter Druck, werden zu ‘negativen Standortfaktoren’, derenUmbau (und Abbau) von den Befürwortern des globalen Wettbewerbs für unerlässlicherklärt wird, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können.7 Staaten – und die indiesen Staaten organisierten Gesellschaften – reagieren darauf mit ganz unterschiedlichenStrategien. Folgten sie nur ihren intuitiven Reflexen, würden sich die Mehrheiten in vielenIndustriegesellschaften rein defensiv verhalten und den Versuch unternehmen, sich hinterstaatlich verwalteten Schutzmauern abzuschotten und vor dem Veränderungsdruck ab-zuschirmen.8 Andere Gesellschaften gehen offensiv mit den Veränderungsnotwendigkei-ten um und versuchen, sich durch besonders radikalen Wandel Wettbewerbsvorteile zuverschaffen. Die meisten Staaten und Gesellschaften aber kombinieren Elemente beiderStrategien in ganz unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Konservierende Schutz-maßnahmen – auch durchaus im Sinne der (partiellen) Abschottung gegen außen – gehenhier einher mit Formen internationaler Kooperation und staatenübergreifend abge-stimmtem Wandel in Politik, Recht und Ökonomie.9 Diese Dialektik von (mit Instru-menten primär des Rechts bewirkter) Abschirmung und internationaler Kooperation zuergründen, ist das Anliegen des ersten Kapitels, das damit die Basis legt für das Ver-ständnis der Aufgabenstellung der WTO.

Welthandelsordnung und Globalisierung

Klassische AußenhandelstheorieWie lässt sich nun die rasante Entwicklung des Welthandels in Kategorien der ökono-mischen Theorie erfassen? Die klassische Außenhandelstheorie vermag darauf zunächstkeine wirkliche Antwort zu geben. Sie geht allerdings auch auf das späte 18. Jahrhundertzurück, auf die bahnbrechenden Arbeiten von Adam Smith, der damals noch allein mitder Kategorie absoluter Kostenvorteile bei der Produktion eines Gutes im Verhältniszweier Länder arbeitete.10 Mit dieser Annahme absoluter Kostenvorteile vermochte ermodellhaft die Vorteile internationaler Arbeitsteilung zu belegen – schließlich ist unterder Annahme solcher absoluter Kostenvorteile die Spezialisierung auf die Herstellungdes Gutes, bei dem der jeweilige Kostenvorteil besteht, für beide Staaten mit Wohl-standsgewinnen verbunden, da für die Produktion der gleichen Menge an nachgefragtenGütern so weniger Aufwand betrieben werden muss als bei Herstellung beider Güterjeweils nur für den nationalen Markt. Die Annahme absoluter Kostenvorteile erklärtgrenzüberschreitenden Handelsaustausch allerdings nur in recht geringem Umfang. Ei-nen großen Erkenntnisgewinn brachte hier die Etablierung der Kategorie der kompara-tiven Kostenvorteile zu Beginn des 19. Jahrhunderts.11 David Ricardo und John StuartMill wiesen nach, dass eine Spezialisierung einer Volkswirtschaft auch dann sinnvoll ist,wenn ein Land hinsichtlich der Produktion beider Güter effizienter ist als ein anderesLand, solange der Effizienzvorsprung bei beiden Gütern unterschiedlich groß ist.12 Wenndie Volkswirtschaften sich nun auf die Produktion der Güter mit den jeweils größtenkomparativen Kostenvorteilen konzentrieren, erzielen beide Staaten Wohlstandsgewin-

I.

1.

7 Vgl Markus Burianski, Globalisierung und Sozialstandards, 2004.8 Vgl Rawi Abdelal/Adam Segal, Has Globalization Passed its Peak?, Foreign Affairs 86 (2007), S. 103 ff.9 Vgl insoweit nur den Sammelband von de Senarclens/ Kazancigli.

10 Vgl zu Adam Smith nur Irwin, S. 75ff.11 Vgl zum Theorem der komparativen Kosten Rose/Sauernheimer, S. 387 ff., Kenen, S. 19ff. sowie Gerken, Von

Freiheit und Freihandel, S. 10ff.12 Vgl zur Bedeutung von Ricardo und Mill in diesem Kontext Irwin, S. 90 ff.

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ne, da sie bei gleich bleibendem Einsatz der Produktionsfaktoren die zur Verfügung ste-hende Gütermenge erhöhen.

Beide Modelle sind natürlich sehr simplifiziert und arbeiten mit kontrafaktischen An-nahmen. Zwar gibt es absolute und komparative Kostenvorteile, die aus Unterschiedenin der natürlichen Faktorausstattung resultieren. Produktivitätsunterschiede zwischenVolkswirtschaften resultieren heute aber meist aus ganz anderen Faktoren – Unterschie-den in der Kapitalausstattung einer Wirtschaft, in der Unternehmensorganisation, in derIntensität von Forschung und Entwicklung und den daraus resultierenden Vorsprüngenin Technologie und Know-how, in Ausbildungsstand und Flexibilität der Arbeitnehmer-schaft.13 Alles dies aber sind im Zeitablauf veränderbare Faktorausstattungen. Die mo-derne neoklassische Handelstheorie versucht dementsprechend eine Vielzahl von Varia-blen zu erfassen, die über die komparativen Kostenvorteile einer Volkswirtschaft (oderauch eines Unternehmens) im Verhältnis zu anderen Volkswirtschaften und Unterneh-men entscheiden.14 Differenzieren kann man dabei grob nach Währungstheorien, nachHandelstheorien im engeren Sinne und nach Zolltheorien.

Instrumente der AußenhandelspolitikAus den theoretischen Ansätzen der Zolltheorie und der daraus abgeleiteten Schutzzoll-politik hat sich die Wirtschaftspolitik der Industrie- wie der Entwicklungsländer in denletzten 150 Jahren nur allzu gerne bedient. Im mittleren und späten 19. Jahrhundertwaren es vor allem die Staaten Kontinentaleuropas und die USA, die sich hinter Zoll-mauern gegen die übermächtige englische Konkurrenz abzuschotten suchten. Die Revo-lution in Russland führte zur völligen Abschottung des russischen Wirtschaftsraumes.Nach der Weltwirtschaftskrise der späten Zwanziger Jahre setzte schließlich geradezuein Protektionismuswettlauf ein, gespeist aus den damals prominenten Autarkieideolo-gien, die mit autoritärer Ständestaatlichkeit und Faschismus ein Bündnis eingingen, ge-speist aber auch aus dem Gedankengut des Keynesianismus, der als Aufruf zu umfas-sender staatlicher Wirtschaftssteuerung missverstanden wurde. Die Bemühungen umGründung einer universellen Welthandelsorganisation (ITO) nach 1945 waren Ausdruckder versuchten Abkehr von diesem Erbe – das Scheitern der ITO am Widerstand des US-Kongresses Demonstration der tiefsitzenden Verankerung des Protektionismus selbst inden USA und der damit einhergehenden strategischen Deformation der Handelspolitik.Die USA wie die europäischen Staaten predigten immer gerne den Freihandel, wo es umdie Öffnung fremder Märkte zum Nutzen der eigenen Industrien ging; doch wenn es umdie Öffnung der eigenen Märkte in Bereichen geht, in denen Freihandel zu Lasten dereigenen Wirtschaft zu gehen drohte, griff man zugleich doch unverfroren zurück aufInstrumente aus der Mottenkiste des traditionellen Protektionismus. Diese Dialektikprägt die Wirtschaftspolitik der Industrie-, aber auch der Schwellen- und der Entwick-lungsländer seit Jahrzehnten. Trotz des freihändlerischen Impetus des GATT und derWTO kommt man also nicht wirklich darum herum, sich auch mit den klassischen In-strumenten der Außenwirtschaftspolitik zu beschäftigen, die von den Staaten seit langer

2.

13 Zur Rolle der Produktionsfaktoren und der Produktivität in den Erklärungsansätzen der klassischen Handels-theorie vgl Rose/Sauernheimer, S. 405 ff.; Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 11ff., 134ff.; Kenen, S. 45ff.;Kappel/Brach, S. 8ff.

14 Vgl insoweit nur die Lehrbücher von Borchert; Kenen; Krugman/ Obstfeld; Maennig/ Wilfling, Aussenwirt-schaft; Rose/ Sauernheimer; als fundamentale Kritik an der neoklassischen Außenwirtschaftstheorie siehedagegen Gerken, Von Freiheit und Freihandel, S. 11ff., insb.S. 77ff.

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Zeit zur Abschottung der eigenen Märkte und zur politischen Steuerung des Außenhan-dels benutzt werden.

Zölle und SteuernKlassisches Instrument der Außenwirtschaftspolitik sind die Zölle und deren funktionaleÄquivalente im Bereich der Abgaben und Steuern.15 Spezifikum des Zolls ist die An-knüpfung an das Merkmal des Grenzübertrittes, das als Grundtatbestand eine Abga-benpflicht in Form des Zolles auslöst. Zölle sind ein uraltes Instrument staatlicher Ab-gabenpolitik. Ursprünglich wurden sie vor allem zur Erzielung staatlicher Einnahmenverwendet. Dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staat fehlte es an der Verwal-tungskraft, direkte und indirekte Steuern von seinen Bürgern zu erheben; er war aufverwaltungspraktisch einfach einzuziehende Abgaben angewiesen – und Zölle waren ei-ne dieser ganz einfachen Formen der Abgabenerhebung. Schon der Merkantilismus ent-deckte allerdings, dass sich Zölle auch ganz hervorragend als Instrumente der Interven-tion in den Außenhandel eignen. Mit Zöllen kann man ohne große Umstände die Wett-bewerbssituation von Importwaren zugunsten der Produkte der heimischen Wirtschaftmanipulieren. Je nach Höhe des Zollsatzes kann man der eigenen Wirtschaft auf dieseWeise hohe Gewinnmargen sichern, unter Umständen Importwaren gänzlich vom eige-nen Markt fernhalten.

Funktional weitgehend austauschbar mit Zöllen sind bestimmte Formen der Abgabenund Steuern, die nach inländischer und ausländischer Herkunft differenzieren. Ohne er-hebungstechnisch direkt an den Grenzübertritt anzuknüpfen, können hier dennoch Im-portwaren verteuert und so die Wettbewerbssituation inländischer Waren verbessertwerden. Relevant sind in dieser Hinsicht vor allem die sogen. Abschöpfungen, bei denender Preis eingeführter Waren systematisch auf ein Niveau entsprechend oder gar ober-halb der Preise heimischer Güter heraufgeschleust werden, sowie die Einfuhrausgleichs-steuern, mit denen höhere Steuerbelastungen inländischer Waren durch ergänzende Ab-gaben ausgeglichen werden.16

Zölle stellen den ‘Klassiker’ der traditionellen Außenhandelspolitik dar. Sie sind auf-grund der Erhebung an den Grenzen relativ leicht zu administrieren, eignen sich hervor-ragend als Instrument der gezielten Intervention in das Wettbewerbsverhältnis von Im-portwaren zu heimisch produzierten Gütern und sind dennoch relativ marktkompati-bel, da sie ausländische Produzenten und deren Güter nicht kategorisch vom Markt ver-bannen, sondern den Konsumenten immer noch die Wahlfreiheit lassen, auch importierteGüter zu kaufen – wenn auch unter beträchtlichen Preiszuschlägen.

Export- und ImportkontrollenGleiches kann man von den klassischen Export- und Importkontrollen nicht sagen, dieim WTO-Sprachgebrauch unter dem Begriff der ‘nichttarifären Handelshemmnisse’ ge-führt werden. Derartige administrative Handelskontrollen lassen den grenzüberschrei-tenden Handel zum Spielball politischer Interventionen und bürokratischer Willkür wer-den. Häufig handelt es sich dabei um quantitative Beschränkungen der Ein- und Aus-fuhr, bei denen staatlicherseits bestimmte Quoten bzw. Kontingente festgesetzt werden,

a)

b)

15 Zum Zoll vgl aus ökonomischer Perspektive Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 151ff., sowie Kenen, S. 177ff.16 Vgl hierzu Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 156ff.

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in deren Umfang allein Im- und Exporte zulässig sind.17 Auch hier unterscheidet mannach Wert- und Mengenkontingenten. Einen Sonderfall stellen die sogen. Zollkontin-gente dar, bei denen nur ein bestimmter Handelsumfang zollrechtlich bevorzugt behan-delt wird, während alle das Kontingent übersteigenden Ein- oder Ausfuhren mit prohi-bitiv hohen Zollsätzen belegt werden, die Außenhandel mit diesen Gütern nicht mehr alssinnvoll erscheinen lassen. Ein Beispiel für diese Form quantitativer Beschränkungen wardas Zollkontingent, das die EU im Rahmen ihrer Bananenmarktordnung für sogen.„Dollarbananen“ aus Lateinamerika festgesetzt hatte.

Eine Sonderform stellen auch die Fälle absoluter Ein- bzw. Ausfuhrverbote dar, ebensodie Praktiken ‘freiwilliger Exportbeschränkungen’, die den Ausfuhrstaaten bzw. Produ-zenten meist unter erheblichem politischen Druck abgepresst werden.18 Spezifische Pro-bleme sind mit diskretionären Ein- und Ausfuhrkontrollen verbunden, wie sie etwa imBereich der strategischen Ausfuhrkontrollen von Rüstungsgütern und militärisch ver-wendbaren Technologiegütern gängig sind. Der Außenhandel wird hier einer fallbezo-genen Ermessensentscheidung staatlicher Behörden unterstellt, was die Teilnahme amAußenwirtschaftsverkehr mit erheblichen Unsicherheiten belastet, weiß man als Han-delsunternehmen im Vorhinein doch nie genau, ob das geplante Geschäft nun getätigtwerden kann oder nicht. Es mag in besonderen Sektoren gute Gründe für solche admi-nistrativen Kontrollen geben – auf breiter Front sind sie dagegen Gift für die Einbettungeiner Volkswirtschaft in den Welthandel.

Enorme Verbreitung haben schließlich die ganz unterschiedlichen Formen indirekt pro-tektionistischer Maßnahmen, bei denen vordergründig nicht nach der Herkunft der Wa-ren diskriminiert wird, die aber sachlich importierte und heimische Güter ungleich tref-fen.19 Zu nennen sind insoweit etwa die technischen Normungen und die Vorschriftenüber Beschaffenheit und Herstellung von Waren aus Gründen des Verbraucher-, Ge-sundheits- oder Umweltschutzes. Derartige Formen mittelbarer, oft „versteckter“ nicht-tarifärer Handelshemmnisse sind Legion in der Wirtschaftspolitik der Staaten und be-schäftigen die Praxis des GATT seit vielen Jahrzehnten.

WährungspolitikEin tradiertes Instrument der staatlichen Beeinflussung des Außenhandels ist auch immerdie Geld- und Währungspolitik gewesen. Über die Beeinflussung der Wechselkurse kön-nen Staaten den Außenhandel erheblich verformen. Über bewusst niedrig gehalteneWechselkurse lassen sich starke Anreize zur Intensivierung der Ausfuhren setzen, ver-bessern niedrige Wechselkurse doch die relative Wettbewerbsstellung der heimischenAnbieter auf den Weltmärkten. Das Stützen hoher Wechselkurse begünstigt dagegen denKonsum von Importwaren, sind diese doch im Gefolge der überbewerteten Währungrelativ kostengünstiger als Waren aus inländischer Produktion.

In Krisenzeiten haben Staaten auch immer wieder zu weitergehenden Eingriffen in dengrenzüberschreitenden Geldverkehr geneigt. Formen der Devisenbewirtschaftung überbestimmte Beschränkungen von laufenden Zahlungen in Fremdwährung und über ge-spaltene Wechselkurse verformen gezielt den Außenhandel auch mit Gütern und Dienst-

c)

17 Rose/Sauernheimer, S. 605 f., sowie Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 158ff.18 Vgl hierzu Rose/Sauernheimer, S. 607 f., sowie Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 158ff., dort mit dem

interessanten Beispiel der Selbstbeschränkungsabkommen unter dem Multifaserabkommen (S. 160-164).19 Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 160.

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leistungen, da bei fehlender Zahlungsfähigkeit in Devisen ausländische Produkte kaummehr nachgefragt werden können.

InvestitionsbedingungenZugriff auf die Modalitäten der außenwirtschaftlichen Verflechtung nehmen Staatenaußerdem über die Festlegung von Investitionsbedingungen, also der Verabschiedungvon rechtlichen Vorgaben für Art, Umfang und konkrete Ausgestaltung von ausländi-schen Direktinvestitionen. Gängig sind insoweit vor allem Beschränkungen ausländi-scher Anteilsbesitze bzw. Mindesterfordernisse der Beteiligung inländischer Gesellschaf-ter gewesen. Doch auch Erfordernisse eines bestimmten „local content“, also der Ver-arbeitung inländischer Vorprodukte, sind vielfach bis heute anzutreffen.

Wettbewerbspolitische InstrumenteÜberdies können Staaten über das Instrumentarium der Wettbewerbspolitik auf Ausmaßund Form der außenwirtschaftlichen Verflechtung zugreifen. Sowohl Kartellverfahrenund wettbewerbsrechtliche Missbrauchskontrolle wie im Besonderen das Instrument derFusionskontrolle können gegen ausländische Unternehmen eingesetzt werden, um zustarke Marktmacht ausländischer Anbieter zu verhindern.20

SubventionenErhebliche Verzerrungswirkungen für den Außenhandel gehen schließlich von Subven-tionen zugunsten einheimischer Erzeuger bzw. zugunsten des Konsums inländischer Pro-dukte aus. Vor allem Finanztransfers des Staates an Erzeuger beeinflussen in erheblichemAusmaß die Wettbewerbssituation, wird doch der subventionierte Produzent in seinerKostenstruktur besser gestellt als der ausländische Anbieter, der die gesamten Herstel-lungskosten des Gutes aus dem Erlös erwirtschaften muss. Hohe Bedeutung kommtSubventionen vor allem in Situationen scharfen Preiswettbewerbs und damit einherge-henden Tendenzen der Marktbereinigung zu, können Staaten doch über gezielte Sub-ventionierung versuchen, die ausländischen Konkurrenten der heimischen Hersteller ausdem Markt zu drängen.21

Globalisierung der WirtschaftDie Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat zu so dramatischen Veränderungen im Sys-tem der Weltwirtschaft geführt, dass man dafür einen eigenen Begriff prägte - ‘Globali-sierung’. Beim Begriff der ‘Globalisierung’ handelt es sich allerdings – sieht man genauhin – um ein sehr unspezifisches Konzept. Je nach Verwendungskontext und intellektu-eller Prägung des Nutzers können mit dem Begriff der ‘Globalisierung’ ganz unterschied-liche Phänomene gemeint sein. Gemeinsam ist all den verschiedenen Verwendungen nurdas Element der ‘Internationalisierung’, des Ausgreifens über die Grenzen der national-staatlichen Systeme hinweg. Der Begriff der ‘Globalisierung’ erfasst damit landläufigganz verschiedene – wenn auch vielleicht nicht völlig voneinander unabhängige – Pro-zesse der staatenübergreifenden, in der Tendenz weltweiten Verflechtung sozialer Le-

d)

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f)

3.

20 Zu den daraus erwachsenden Problemen für die Welthandelsordnung vgl Friedl Weiss, From World TradeLaw to World Competition Law, Ford. Int’l L. J. 23 (2000), S. 250ff., sowie Olivier Cadot/Jean-Marie Grether/Jaime de Mello, Trade and Competition Policy – Where Do We Stand?, J.W.T. 34 (2000), S. 1ff.

21 Vgl hierzu Rose/Sauernheimer, S. 607 f.

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benszusammenhänge.22 Ausgangspunkt ist dabei sicherlich die ‘Internationalisierung’der Wirtschaft. Zumindest insoweit besteht breite Übereinstimmung: die ‘Internationa-lisierung’ der Wirtschaft hat in den letzten fünfzehn Jahren einen Quantensprung erlebt,der die Grenzen der alten ‘Volkswirtschaften’ mehr und mehr erodieren lässt.23

Prozesse der ‘Internationalisierung’ der Wirtschaft sind an sich nichts unbedingt Neues.Schon das europäische Mittelalter hatte mit dem sprunghaften Wachstum des Fernhan-dels und der Herausbildung europaweiter Handelsnetze einen ersten Schub anhalten-der ‘Internationalisierung’ der Wirtschaft erfahren. Die Hanse sei nur als Symbol dieserEntwicklung hier erwähnt. Das – primär ökonomisch motivierte – Ausgreifen Europasnach Übersee, das in die Eroberung des amerikanischen Kontinents und die allmählicheKolonialisierung Afrikas und Asiens mündete, war so etwas wie eine erste ‘Globalisie-rung’ der Wirtschaft, aber ihr folgend auch der Politik – mit all den Zumutungen undPhänomenen der ‘Entfremdung’, die dies für die betroffenen Gesellschaften unweigerlichbedeutet. Schon im 19. Jahrhundert hatte sich damit das System einer ‘Weltwirtschaft’herausgebildet, in das alle Teile der Welt eingegliedert waren, mit Formen globaler Ar-beitsteilung, transkontinentalen wirtschaftlichen Verflechtungen, aber natürlich auchentsprechenden Abhängigkeiten und ‘Vermachtungen’ der wirtschaftlichen Austausch-beziehungen.

Die (zumindest partielle) Liberalisierung des Welthandels nach 1945 und die Auflösungder Kolonialreiche mit ihren wirtschaftlichen Abschottungseffekten führten in der zwei-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem weiteren Internationalisierungsschub der Wirt-schaft. Es bildeten sich auf Unternehmensebene global players aus, global operieren-de ‘multinationale Unternehmen’, die weltumspannende Netzwerke aus Produktions-stätten und Vertriebsorganisationen ausgebildet haben, um mit ihren spezifischen Pro-dukten möglichst alle Märkte dieser Welt zu durchdringen.24 Im Bereich der Rohstoff-gewinnung und -ausbeutung begann dieser Prozess schon sehr früh, noch vor dem ErstenWeltkrieg, ebenso wie im Bereich der chemischen Industrie. Nach 1945 erfasste dieserTrend auch die Anlage- und Konsumgüterindustrie. Das Phänomen der ‘multinationalenUnternehmen’ ist mithin alles andere als neu, wurde im übrigen wissenschaftlich auchschon in den Siebziger und Achtziger Jahren sehr intensiv diskutiert, auch in den Rechts-wissenschaften.25

Was ist dann eigentlich das Neue an der ‘Internationalisierung’ der Wirtschaft der letztenzehn bis fünfzehn Jahre? Völlige Einigkeit besteht in dieser Frage nicht, doch gibt eszumindest einige zentrale Faktoren, über deren Relevanz weitgehender Konsens besteht.Vier Entwicklungen werden gemeinhin als entscheidende Faktoren der aktuellen Pro-zesse der ‘Globalisierung’ der Wirtschaft ausgemacht. Zentrale Bedeutung hat dabei si-cherlich zunächst einmal die revolutionäre Entwicklung im Bereich der Kommunikati-onstechnologie. Der technologische Quantensprung, den wir im Bereich der Telekom-munikation und mit der Herausbildung des Internet erlebt haben,26 verändert gravierend

22 Zum (recht unscharfen) Konzept der ‘Globalisierung’ siehe nur von Weizsäcker, S. 47ff.; Beck, S. 28ff., 39ff.;Perraton/Goldblatt/Held/McGrew, S.134ff.; Siebert, S. 20 ff.

23 Vgl dazu nur Paul Hirst/Grahame Thompson, Globalisierung? Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Na-tionalökonomien und die Formierung von Handelsblöcken, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung,1998, S. 86ff.; Perraton/Goldblatt/Held/McGrew, S.139ff.

24 Siehe nur von Weizsäcker, S.54ff., sowie Gilpin, S. 7 ff.25 Vgl etwa die Beiträge und Diskussion in Ber. d. Dt. Gesell. f. Völkerrecht 18 (1978): Internationalrechtliche

Probleme multinationaler Korporationen.26 Siehe dazu etwa Ronald J. Deibert, Network Power, in: Richard Stubbs/Geoffrey R.D. Underhill (Hrsg.), Political

Economy and the Changing Global Order, 2000, S. 198ff.

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die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns. Informatorisch sind die Märktenun quasi in Echtzeit miteinander vernetzt, einschließlich der Kapitalmärkte und Börsen.Dies ermöglicht ganz andere Formen der Arbitrage- und Spekulationsgeschäfte. Das Fi-nanzmarktkapital ist global in einem ungeahnten Ausmaß beweglich geworden, was alsSchattenseite eine erhebliche Volatilität, Außenabhängigkeit und Verletzlichkeit der Fi-nanzmärkte mit sich bringt.27 Die globale Finanzkrise seit 2008 hat diese Risiken derglobalen Finanzmärkte aller Welt drastisch vor Augen geführt.28 Zugleich ermöglicht dieneue Kommunikationstechnologie im Bereich der unternehmensbezogenen Dienstleis-tungen völlig neue Organisationsformen. Distanzen spielen vielfach kaum mehr eineRolle, Tätigkeiten wie Abrechnung und Buchhaltung, aber auch der Betrieb von Call-Centern und Ähnlichem kann aus den Unternehmen in spezialisierte Fremdfirmen aus-gelagert werden, und in letzter Konsequenz dann in Niedriglohnländer wie Indien.

Parallel dazu haben die letzten zwei Jahrzehnte eine radikale Veränderung der Trans-portketten erlebt, mit drastisch sinkenden Frachtraten.29 Der Siegeszug des Container-verkehrs spielt hier eine tragende Rolle, aber auch die wettbewerbliche Reorganisationdes Straßengütertransports. Sinkende Frachtraten ermöglichen ganz andere Formen derweiträumig vernetzten, arbeitsteiligen Organisation von Güterproduktionsprozessen.Produktionsprozesse werden neu gegliedert, die vertikale Integration der Produktions-prozesse zurückgefahren, mehr und mehr Teilprozesse im Wege des outsourcing in spe-zialisierte Zulieferunternehmen und Dienstleister ausgelagert.30 ArbeitskostenintensiveProduktionen oder Produktionsprozesse lassen sich dann im Unternehmens- oder Pro-duktionsverbund in andere Länder mit niedrigeren Kosten auslagern; Produktionspro-zesse werden im Gefolge dieser ‘Wertschöpfungsketten’ sehr komplex, aber in der Or-ganisation auch flexibler.31 Inzwischen werden bestimmte Produktionsprozesse selbstinnerhalb multinationaler Konzerne schon im Wettbewerb der verschiedenen Standortequer über die Welt vergeben.

Globalisierung – Chancen und RisikenAngesichts der tiefen Verwurzelung protektionistischer Ansätze in der tradierten Wirt-schaftspolitik gerade auch der großen Industriestaaten kann man sich fragen, was ei-gentlich den Anreiz zu einer gezielten Liberalisierung des Welthandels und zu einer Zu-rückdrängung staatlicher Interventionen in den Außenhandel liefern sollte. Wenn ausder Perspektive klassischer Außenwirtschaftspolitik der Protektionismus als vorteilhaftgesehen wurde, warum sollte er dann heute auf einmal von Übel sein? Zwei Argumentelassen sich im Kern für eine solche Neubewertung anführen: Zum einen die Erfahrungenmit verschiedenen Formen des Protektionismuswettlaufes, zum anderen die neue Qua-

4.

27 Siehe nur von Weizsäcker, S. 98ff.; Siebert, S. 25; Henry Peter Gray (ed.), Globalization and International Eco-nomic Instability, 2005; Claudia M. Buch, Globalization of Financial Markets. Causes of Incomplete Integrationand Consequences for Economic Policy, 2004.

28 Vgl zur globalen Finanzkrise nur Krugman; Richard A. Posner, A Failure of Capitalism: The Crisis of ‘08 andthe Descent into Depression, 2009; Peter Bofinger, Ist der Markt noch zu retten? Warum wir jetzt einen starkenStaat brauchen, 2009; Colin Read, Global Financial Meltdown. How Can We Avoid the Next Economic Crisis,2009.

29 Perraton/Goldblatt/Held/McGrew, S.143ff.; Gerd Aberle, Transportwirtschaft, 4. Auflage, 2003, S. 44ff., 59ff.30 Siehe dazu Mitchell Bernard, Post-Fordism and Global Restructuring, in: Richard Stubbs/Geoffrey R.D. Un-

derhill (Hrsg.), Political Economy and the Changing Global Order, 2000, S. 152ff., sowie Winfried Ruigrok,International Corporate Strategies and Restructuring, ebda., S. 320ff.

31 Siehe Kappel/Brach, S. 34ff., ferner Thomas Hutzschenreuther/Stephan Dresel/Wolfgang Ressler, Offshoringvon Zentralbereichen, 2007, S. 9ff.

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lität der sich globalisierenden Wirtschaft. Wenn alle wichtigen Handelsmächte ihre hei-mische Wirtschaft hinter Zollmauern und nichttarifären Handelshemmnissen abzuschir-men suchen, so bricht tendenziell der Welthandel und damit die Arbeitsteiligkeit derWeltwirtschaft zusammen. Ganz abgesehen von den immensen Anpassungskosten, dieeine derartige Entwicklung notwendig hervorruft, führt sie auch zu erheblichen Wohl-standseinbußen. Die Opportunitätskosten in der Herstellung der Güter nehmen bei sin-kender Arbeitsteiligkeit tendenziell zu – der Konsument muss immer mehr an Kaufkraftfür die gleiche Gütermenge aufwenden.

Hinzu kommt die enorme wirtschaftliche Verflechtung der Volkswirtschaften der In-dustriestaaten. Schirmt ein Staat seine heimische Wirtschaft hinter Zollmauern und an-deren Handelshemmnissen ab, so verteuert er damit unweigerlich die Kosten der Vor-produkte seiner für den Weltmarkt produzierenden Industrien. Diese Erfahrung musstedie US-Administration etwa im Gefolge der zum Schutz der US-Stahlproduzenten ver-hängten Ausgleichszölle auf Importstahl machen. Während die inländischen Stahlher-steller damit eine geschützte Marktnische zugewiesen bekamen, verteuerten sich dieVorprodukte der stahlverarbeitenden Industrien in den USA, litt damit deren Wettbe-werbsfähigkeit. Zollschutz und andere Handelshemmnisse in bestimmten Sektoren sindfolglich unter Bedingungen hochverflochtener Wirtschaften mit weltumspannenden Pro-duktionsnetzwerken zutiefst ambivalent – der Schutz der einen Branche schlägt sich un-weigerlich als Nachteil anderer, von der geschützten Branche abhängiger Wirtschafts-sektoren nieder.

Traditionelle Außenwirtschaftspolitik gerät in der Folge in eine tiefe Krise: Was früherso eindeutig positiv erschien als Instrument des Schutzes der gesamten heimischen Wirt-schaft, erweist sich auf einmal als Instrument der (internen) Umverteilung von Nachteilenund Lasten aus der einen Branche in andere Branchen.32 Die potentiell von Zöllen undanderen Handelshemmnissen begünstigten Branchen werden zwar weiterhin nachAußenschutz rufen – dieser Außenschutz hat aber unter den neuen Bedingungen hohepolitische Kosten, bringt er doch andere Branchen im Lande selbst unweigerlich gegendie Politik auf. Protektionismus wird damit tendenziell zum Nullsummenspiel, wennnicht zum Negativsummenspiel – was dem einen gegeben wird, muss anderen genommenwerden.

Das alte Plädoyer für den Freihandel gewinnt damit auf einmal eine ganz neue Überzeu-gungskraft. Erschienen die Beweisführungen für die Vorteilhaftigkeit allgemeinen Frei-handels, wie das Ricardo-Theorem, dem ökonomischen Laien traditionell als relativblutleere Abstraktionen, so ist die Vorteilhaftigkeit eines liberalisierten Welthandels aufeinmal unmittelbar anschaulich geworden. Der Preisverfall vieler Güter mag für die Pro-duzenten in den Industriestaaten vielfach fatal sein – für die Konsumenten ist er eindeutigvorteilhaft. Mit dem gleichen Finanzaufwand kann er seinen Konsum erheblich steigern.Über die Effizienzgewinne, die mit vertiefter Arbeitsteilung einhergehen, die Skalenef-fekte bei Großproduktionen für globale Märkte, über Produkt- und Verfahrensinnova-tionen, die sich auf globalisierten Märkten in Windeseile ausbreiten können, führt derweitgehend freie Handel der modernen Weltwirtschaft zu immensen Wohlstandsgewin-nen quer durch die Industriegesellschaften.33 Wertschöpfung und Produktivität konntenenorm gesteigert werden; Produktionen mit geringer Produktivität werden ausgelagert

32 Siehe hierzu nur von Weizsäcker, S. 16ff.33 Siehe von Weizsäcker, S. 7ff. sowie Bhagwati..

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in Länder mit geringen Lohnkosten, was die Produkte wiederum verbilligt und zugleichArbeitsplätze in Niedriglohnländern mit verbreiteter Armut schafft.34

Für die einzelnen Staaten und Gesellschaften bringt dies in vielen Bereichen Verände-rungen und Herausforderungen mit sich. Die Standorte von Unternehmen, Produkti-onsanlagen und den entsprechenden Dienstleistern sind nicht mehr selbstverständlicheErgebnisse bestimmter historischer Entwicklungen, sondern unterliegen der – tendenzielljederzeit revidierbaren – Entscheidung der wirtschaftlichen Akteure, in Abhängigkeit vonden lokalen Rahmenbedingungen und Standortfaktoren.35 Politik muss nicht mehr nurum Neuansiedlungen von Unternehmen kämpfen, sondern auch um die Bewahrung dertradierten Standorte. In der Folge entsteht ein zunehmender Wettbewerbsdruck in denBereichen der standortrelevanten Politikbereiche (Standortwettbewerb).36 Und was istpotentiell kein relevanter Standortfaktor? Arbeitskosten, also Lohnhöhen und Lohnne-benkosten, aber auch die Organisation des Faktors Arbeit, also Arbeitsrecht, hier ins-besondere Kündigungsschutz und Tarifvertragssysteme, die über die Flexibilität in derOrganisation der Produktion entscheiden, werden zu ganz wichtigen Faktoren, ebensowie die Haushaltspolitik der Staaten.37 Hinzu kommen die Qualität der Verkehrs- undder Kommunikationsinfrastruktur, die Politik mit ihrer staatlichen Infrastrukturpolitikmitgestaltet. Die rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen an einem Stand-ort sind ebenfalls von erheblicher Bedeutung, also das Maß an Rechtssicherheit, dieLeistungsfähigkeit der Justiz, die Dauer und Komplexität von Genehmigungsverfahren,die Neutralität und Unbestechlichkeit der Verwaltung. Zentraler Faktor wird schließlichdie Qualität der Bildung und Ausbildung einer Bevölkerung. Nur hohe Investitionen indas Humankapital, also Bildung und Ausbildung der Erwerbsbevölkerung, sichern dieAttraktivität eines Standortes. Die sich so ausprägenden ‘Wissensökonomien’ verlangenferner nach verbessertem rechtlichen Schutz der Investitionen in Wissen – der Hinter-grund für die Stärkung der geistigen Eigentumsrechte.

Weite Teile der Politik mutieren damit von Fragen der gesellschaftlichen Selbstbestim-mung im Rahmen tradierter Institutionen und Wertsetzungen zu reaktiven Anpassungs-prozessen unter dem Druck regionalen und globalen Standortwettbewerbs.38 Politikwird im Gefolge zu erheblichen Teilen des Charakters der kollektiven Selbstbestimmungdurch die Mitglieder entkleidet, wird zum Mechanismus der Reaktion auf und der An-passung an externe ‘Sachzwänge’. Je mehr Politik bei den notwendig werdenden Refor-men mit diesen externen ‘Sachzwängen’ argumentiert, ob zu Recht oder zu Unrecht,desto mehr empfinden sich die Betroffenen als bloßes Objekt außenbestimmter Prozesse.Soziale Sicherungssysteme, Tarifverträge und Lohngefüge, Regelungen des Arbeitsrechts,aber u.U. auch des Arbeitsschutzes, des Umweltschutzes erscheinen mehr und mehr der

34 Siehe Dani Rodrik, One Economics, Many Recipes: Globalization, Institutions, and Economic Growth, 2009.35 Siehe John Cantwell (ed.), Globalization and the Location of Firms, 2004; vgl ferner Jeffrey Frankel, Globa-

lization of the Economy, in: Joseph S. Nye/D. Donahue (Hrsg.), Governance in a Globalizing World, 2000,S. 58ff.; Schirm, S. 49ff.; Gerken, Wettbewerb der Staaten, S. 6ff., 26ff.

36 Gerken, Wettbewerb der Staaten, S. 22ff.; Geoffrey Garrett, Global Markets and National Politics: CollisionCourse or Vitious Circle?, IO 52 (1998), S. 787ff.

37 Siehe dazu etwa Fritz W. Scharpf, Demokratie in der transnationalen Politik, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Politik derGlobalisierung, 1998, S. 228ff.

38 Siehe Reimut Zohlnhöfer, Globalisierung der Wirtschaft und nationalstaatliche Anpassungsreaktionen, Zeit-schrift f. inteRn Beziehungen 12 (2005), S. 41 ff.

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politischen Selbstbestimmung des jeweiligen Gemeinwesens enthoben, werden als po-tentielle Opfer im Standortwettbewerb empfunden.39

Politische Steuerung und Legitimation

Politische Reaktionen - ‘Strategische Handelspolitik’Im Ergebnis sind die Wohlstandsgewinne des Freihandels ungleich über die Volkswirt-schaften und Regionen verteilt. Während die Industriegesellschaften vom Freihandelüber die letzten Jahrzehnte enorm profitiert haben, hat sich die Armut in anderen Teilender Welt eher verfestigt.40 Tendenziell haben sich die terms of trade im Welthandel zu-gunsten technologieintensiver Industrieprodukte und zu Lasten der Rohstoffproduzen-ten verschoben. Staaten und Regionen, die auf dem Weltmarkt nur Rohstoffe aus Berg-bau und Agrarwirtschaft anzubieten haben, konnten an den Wohlstandsgewinnen derletzten Jahrzehnte folglich kaum teilhaben.41 Auch die arbeitsintensive Fertigung inNiedriglohnländern schafft zwar Arbeitsplätze, im Verhältnis aber wenig gesellschaftli-chen Wohlstand.

Aus der Sicht der Entwicklungsökonomie erscheint der Freihandel damit als recht am-bivalent.42 Während im Vergleich die Staaten mit offener Volkswirtschaft und Strategiender gezielten Einbindung in den Weltmarkt eher gut abgeschnitten haben, verzeichnendie Staaten mit dezidiert protektionistischer Außenwirtschaftspolitik durchgängigschlechte Resultate im Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung.43 Auch als Entwick-lungsstrategie kann (dosierter) Freihandel also durchaus vorteilhaft sein.44 Zugleich löstaber die vorbehaltlose Einbindung in den Weltmarkt unbestreitbar nicht alle Probleme:Staaten mit einseitiger Wirtschaftsstruktur, die allein auf Rohstoffproduktion ausgerich-tet sind, haben letztlich wenig Vorteile aus der Öffnung für den Welthandel gezogen.Eine Politik gezielter Schutzzölle scheint durchaus vorteilhaft, wenn es um Strategi-en ‘nachholender Entwicklung’ geht, wie zunächst Japan und dann einige der ’Tiger-staaten’ Ost- und Südostasiens demonstriert haben.45 Voraussetzung dafür ist allerdings,dass der Schutzzoll nur temporärer Natur ist und die geschützten Anbieter sich nichtdauerhaft in ihren Nischen einrichten können, sondern auf Herstellung internationalerWettbewerbsfähigkeit orientiert sind, nicht auf die Erzielung von Monopolrenten. Vor-aussetzung ist zugleich, dass die betreffenden Anbieter aus Entwicklungs- und Schwel-lenländern mit ihren Produkten auch tatsächlich Zugang zu den ökonomisch dominan-ten Märkten der Industriestaaten erlangen – einer der zentralen Anreize für vor allemSchwellenländer, der WTO beizutreten.

Probleme einer einseitigen Freihandelsorientierung stellen sich daneben gerade auch fürIndustriestaaten im Blick auf die ‘externen Kosten’ bestimmter Produktionen und Kon-summuster. Um die Probleme dieser Externalitäten in den Griff zu bekommen, bedarf es

II.

1.

39 Vgl nur beispielhaft einerseits Wolfgang Streeck, Industrielle Beziehungen in einer internationalisiertenWirtschaft, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 169ff. sowie Peer Zumbansen, QuodOmnes Tangit: Globalization, Welfare Regimes and Entitlements, in: Eyal Benvenisti/Georg Nolte (Hrsg.), TheWelfare State, Globalization, and International Law, 2004, S.136ff., andererseits von Weizsäcker, S. 57ff.

40 Siehe Stiglitz, S. 4ff.; Perraton/Goldblatt/Held/McGrew, S. 145ff.41 Vgl auch Wolf-Dieter Narr/Alexander Schubert, Weltökonomie – Die Misere der Politik, 1994, S. 122ff.42 Vgl William R. Thompson/Rafael Reuveny, Limits to Globalization: North-South Divergence, 2010.43 Vgl in diesem Sinne schon Dieter Senghaas, Von Europa lernen – Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen,

1982, S. 41ff.44 Zu den Gründen hierfür vgl auch von Weizsäcker, S. 30ff.45 Vgl auch hierzu schon Senghaas (Fn 43), S. 35ff., 258ff.

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steuernder Eingriffe in die Wirtschaft, die auch den Außenhandel in Mitleidenschaft zie-hen können.46 Klassisches Beispiel dafür liefern die produkt-, aber auch die produkti-onsbezogenen Umwelt- und Gesundheitsstandards, die natürlich tendenziell ausländi-sche Produktionen, die diesen Standards nicht gerecht werden, aus dem Markt zu ver-bannen suchen. Die Staaten haben in diesem Punkt unbestreitbar legitime Gründe, Be-schränkungen des Handels zu verhängen. Die Welthandelsordnung muss diese berech-tigten Anliegen respektieren und entsprechende Eingriffe – wenn auch unter Bedingungenund in kontrollierter Form – ermöglichen; sie muss zugleich aber die Staaten im Gebrauchdieser Eingriffsbefugnisse disziplinieren, um überschießende Tendenzen und Missbräu-che mit protektionistischer Zielsetzung zu verhindern.47

Schwierigkeiten ergeben sich auch im Hinblick auf das Problem der ‘Unteilbarkeiten’ beisteigenden Skalenerträgen. Ist eine Produktion mit hohen Fixkosten verbunden, aberzugleich mit drastisch fallenden Durchschnittskosten der Produktion bei steigender un-ternehmensinterner Produktionszahl, also mit intern steigenden Skalenerträgen, so ent-stehen nahezu unüberwindbare Marktzutrittshürden.48 Es bilden sich klassische Mono-pole oder Oligopole aus, die dann unter Ausnutzung ihrer Marktmacht hohe Monopol-renditen zu erwirtschaften suchen. Die Pharmaindustrie dient immer wieder als Beispielfür diese Konstellation. Freihandel führt hier nicht zu verstärktem Wettbewerb und Ef-fizienzgewinnen, sondern nur zur Verstärkung des Monopols und gesteigerten Mono-polrenditen.

All diese Befunde eines partiellen „Freihandelsversagens“ führen im Ergebnis dazu, dassMarktinterventionen – und damit auch Eingriffe in den Außenhandel – aus Sicht derStaaten in bestimmtem Umfang weiter als legitim erscheinen. Niedergeschlagen hat sichdiese Wahrnehmung in der Konzeption einer ‘strategischen Handelspolitik’, die beigrundsätzlichem Bekenntnis zur Zielsetzung des Freihandels gezielt Korrekturen durchwirtschaftspolitische Eingriffe des Staates in den Bereichen zu bewirken sucht, in denenman von einem „Freihandelsversagen“ ausgeht.49 Auf einer solchen Konzeption einerhybriden Handelspolitik, die Elemente des Freihandels mit Formen staatlicher Interven-tion in das Wirtschaftsgeschehen mischt, beruht letztlich auch die WTO, die die Erhe-bung von Zöllen zunächst als normale Erscheinung des Welthandels zugrundelegt undnur die Höhe der Zollsätze allmählich abzubauen sucht, über bestimmte Eingriffstatbe-stände aber auch staatliche Maßnahmen der Marktkorrektur als legitim einstuft undhinnimmt.50

Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass mit dem hybriden Konzept der ‘strategischenHandelspolitik’ bestimmte Versuchungen und Missbrauchsgefahren verbunden sind.Wenn schon staatliche Eingriffe unter bestimmten Umständen als zulässig angesehenwerden, so erwächst daraus eine Versuchung, die Eingriffstatbestände immer weiterauszuweiten und unter missbräuchlichen Vorwänden auch Marktinterventionen als le-

46 Vgl zum Problem der ‘Externalitäten’ grundlegend Rudolf Richter/Eirik Furubotn, Neue Institutionenökono-mik, 1996, S. 110ff., ferner Gerken, Von Freiheit und Freihandel, S. 46ff.

47 Siehe auch Ernst-Ulrich Petersmann, Trade and Protection of the Environment after the Uruguay Round, in:Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Enforcing Environmental Standards. Economic Mechanisms as Viable Means?,1996, S. 165ff.; Meinhard Hilf, Freiheit des Welthandels contra Umweltschutz, NVwZ 2000, S. 481ff.; PetrosMavroidis, Trade and Environment after the Shrimp-Turtles Litigation, J.W.T. 34 (2000), S. 73ff.; Benedek,S. 296ff.

48 Vgl hierzu Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 210ff.49 Zum Konzept der ‘strategischen Handelspolitik’ vgl einerseits Maennig/Wilfling, Außenwirtschaft, S. 205ff.,

andererseits kritisch Irwin, S. 207ff. sowie Gerken, Von Freiheit und Freihandel, S. 61ff.50 Vgl nur Jackson, World Trading System, S. 139ff.

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gitim auszugeben, die gar nicht auf Phänomene des „Freihandelsversagens“ reagieren,sondern nur bestimmte nationale Wirtschaftssektoren vor dem rauhen Wind des Wett-bewerbs abschirmen sollen.

Die Forderung nach ‘Verrechtlichung’ der WeltwirtschaftsordnungIm Blick auf die angedeuteten Risiken und Gefahren einer ‘strategischen Handelspolitik’der Staaten des Nordens wie des Südens erweist sich eine deutliche Verrechtlichung derWelthandelsordnung als unabdingbar. Gerade der hybride Charakter der gängigen Han-delspolitik bringt manifeste Gefahren der Doppelbödigkeit mit sich – im Sinne des „Pre-digens von Wasser und des Trinkens von Wein“, also des rhetorischen Propagierens desFreihandels bei handfestem Rückgriff auf Instrumente des Protektionismus im grauenAlltag der nationalen Außenwirtschaftspolitik. Verrechtlichung muss hier zweierlei leis-ten – sie muss einerseits möglichst klare Grenzen zwischen legitimen Eingriffen der Staa-ten und illegitimen Formen des blanken Protektionismus ziehen, über die Ausformungmöglichst präziser materieller Standards für die Handels- und Außenwirtschaftspolitik,und sie muss andererseits die Auslegung und Anwendung dieser Standards möglichstweitgehend der Selbstbeurteilung der Staaten entziehen, durch Überantwortung der Aus-legungsentscheidung in streitigen Fällen an neutrale Dritte, also an von den Staaten ab-gekoppelte Streitschlichtungsgremien, die sich nur dem Gesamtwohl der Welthandels-ordnung, und nicht den Interessen einzelner Staaten verpflichtet fühlen.51 Ohne den ers-ten Schritt der Verrechtlichung fiele die Welthandelsordnung dem ungeordneten Gegen-einander von Rechtsbehauptung und Gegenbehauptung anheim, der strategischen Ma-nipulation und jederzeitigen Umformulierung der anwendbaren Regeln. Ohne den zwei-ten Schritt bliebe die Auslegung und Anwendung der Regeln Spielball der vorhandenenMachtasymmetrien, mit der Versuchung vor allem der großen Handelsmächte, sich nurrhetorisch an allgemeine Regeln zu binden, diese aber im Konfliktsfall dann schamlos zumissachten.52

Das Gefahrenpotential der die Völkerrechtsordnung prägenden Machtasymmetrien darfhier keinesfalls unterschätzt werden.53 Gerade die großen Handelsblöcke – die Außen-handelspolitik der USA und der EG demonstrieren dies immer wieder – stehen in einerpermanenten Versuchung, eine Rhetorik der hehren Grundsätze internationaler Ord-nungspolitik zu kombinieren mit brachialer Interessenpolitik im Detail, unter völligerMissachtung auch der eingegangenen rechtlichen Verpflichtungen.54 Ganze Serien vonStreitbeilegungsverfahren gegen die USA wie die EG legen Zeugnis ab von dieser stetenVersuchung. Letztlich bedroht eine Hinnahme dieser Praxis eines ‘kalten’ Abschieds ausder reziproken Verpflichtungsstruktur der WTO die Grundfesten der Welthandelsord-nung. Im Kern beruht das Gelingen der Uruguay-Runde und damit die WTO auf einemdeutlichen „quid pro quo“ zwischen Industriestaaten und Staaten der Dritten Welt: Die

2.

51 Siehe Joost Pauwelyn, The Sutherland Report: A Missed Opportunity for Genuine Debate on Trade, Globa-lization and Reforming the WTO, J.I.E.L. 8 (2005), S. 329 ff.; vgl auch Siebert, S. 57ff.; von Weizsäcker, S. 126ff.;Gilpin, S. 7 ff.

52 Das noch nicht wirklich gelöste Problem liegt hier vor allem im Verfahren der Durchsetzung von Schieds-sprüchen über Handelssanktionen – vgl nur Hilf, S. 273ff.

53 Vgl aber zu den gängigen Reaktionsmöglichkeiten des Völkerrechts auf Probleme der MachtasymmetrieChristian Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century, RdC281 (1999), S. 9, 380ff., 432ff.

54 Vgl zu den Hintergründen dieser Versuchung aus spieltheoretischer Sicht Robert A. Green, Antilegalistic Ap-proaches to Resolving Disputes between Governments: A Comparison of the International Tax and TradeRegimes, Yale J. Int’l L. 32 (1998), S. 79, 106ff.; vgl ferner Siebert, S. 9 ff., 32 ff.

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große Zahl der Drittweltstaaten akzeptierte das Verlangen der Industriestaaten nachAusweitung der Handelsliberalisierung auf das Feld der Dienstleistungen und nach ver-bessertem Schutz der geistigen Eigentumsrechte im Gegenzug zum Versprechen der Öff-nung der Gütermärkte des Nordens für die für Entwicklungsländer relevanten Güterka-tegorien, vor allem im Bereich der Textilien und der Agrargüter.55 Verabschieden sichdie großen Handelsmächte des Nordens klammheimlich von diesem Synallagma, so gerätdie Balance der erwarteten Nutzen und Kosten für erhebliche Teile der WTO-Mitgliederaus den Fugen. Die extrem schwierigen Verhandlungen in Seattle, Doha und Cancúnkönnen als Menetekel in dieser Richtung gesehen werden.

Was das WTO-Übereinkommen, wenn dessen materielle Verpflichtungen und institu-tionelle Regelungen halbwegs respektiert werden, zu leisten vermag, ist die Absicherungder Vertragspartner gegen eine Aushöhlung des reziproken Verpflichtungsgefüges. Diekonkreten Standards des WTO-Rechts schreiben im Wege der formalisierten völker-rechtlichen Bindung diese reziproken Nutzenerwartungen fest. Mittels der institutiona-lisierten Streitbeilegung und des Trade Policy Review Mechanism stellt das WTO-Systemzugleich einen relativ effizienten Mechanismus der compliance control zur Erfüllung, löstalso im Ansatz das Problem, wie kleine Staaten die ihnen in Machtkategorien völligüberlegenen großen Handelsmächte zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen anhalten kön-nen, und stellt gleichzeitig den handelspolitischen Dauerkontrahenten USA und EG einenMechanismus zivilisierter Streitaustragung zur Verfügung.56

Ein paralleles Problem im Binnenbereich der Staaten findet mit der WTO ebenfalls denAnsatz einer Lösung. Indem die Staaten eine weitgehende Regelbindung herbeiführen,deren ordnungsgemäße Umsetzung dem Urteil neutraler Dritter anheim gegeben wird,vermögen sich nationale Regierungen und Parlamente auch gegenüber gesamtwirtschaft-lich schädlichen Partikularinteressen abzusichern, die ihre Organisationsmacht umsetzenkönnen in die Forderung nach weitgehendem Schutz ohne Rücksicht auf die dadurcheintretenden Verluste an anderer Stelle. Sind derartige wirtschaftliche Interessen schlag-kräftig genug organisiert, so vermögen sie Regierungen häufig zur ‘Geisel’ ihrer Interes-sen zu machen, selbst wenn die Politik weiß, dass sie mit der Bedienung dieser Interessenden Langfristinteressen der eigenen Wirtschaft eher schadet als nutzt.57 Kann man jedochauf die rechtliche Einbindung in ein Korsett halbwegs klarer völkerrechtlicher Verpflich-tungen verweisen, deren Missachtung unweigerlich auf einen selbst zurückschlagen wür-de, so hat man ein triftiges Argument zur Hand, derartige Ansinnen abzulehnen. Regie-rung und Parlament büßen in dieser Perspektive im Außenverhältnis zwar an Hand-lungsmacht ein, vergrößern aber zugleich nach innen ihre Handlungsspielräume, auchmächtige gesellschaftliche Interessengruppen auf Distanz zu halten.

Vorteilhaft ist die Verrechtlichung und die damit bewirkte Regelbindung aber erst rechtin der Perspektive der einzelnen privatwirtschaftlichen Akteure. International agierendeUnternehmen haben nichts so sehr zu fürchten wie plötzliche, nicht vorhersehbare Ver-schiebungen der terms of trade, in Form der Verschiebung von Wechselkursrelationen,aber auch in Form handelspolitischer Maßnahmen wie der plötzlichen Verhängung neuerZölle oder anderer handelshemmender Maßnahmen. Gegen Wechselkursschwankungenhat der Markt zuverlässige Sicherungsstrategien entwickelt, die zwar Transaktionskos-

55 Vgl auch Benedek, S. 288f, 291f.56 Vgl nur Jackson, World Trading System, S. 124ff., sowie Hoekman/Kostecki, Political Economy, S. 74ff.57 Vgl zu dieser Problematik von Weizsäcker, S. 16ff., sowie Gerken, Von Freiheit und Freihandel, S. 253ff. und

Green (Fn 54), S. 108f.

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ten verursachen, für die Unternehmen aber Planungssicherheit gewährleisten. Gegenpolitisch motivierte Eingriffe in die Wettbewerbssituation und die Kostengefüge gibt esdagegen bislang nur sehr beschränkt Absicherung. Grenzüberschreitend tätige Unter-nehmen haben daher grundsätzlich ein hohes Interesse an möglichst weitgehender Kon-stanz und Berechenbarkeit der handelspolitischen Rahmenbedingungen für ihre Wirt-schaftstransaktionen.58 Je komplexer das Unternehmens- und/oder Produktionsnetz-werk ist, das staatenübergreifend konstruiert wird, desto anfälliger wird die Unterneh-mensstrategie für politische Störungen.59 Erratische Ausschläge der Handelspolitik kön-nen unter diesen Bedingungen weltweite Unternehmensstrategien komplett zerstören undInvestitionen in Milliardenhöhe entwerten. Aus Sicht der Unternehmen muss daher einhohes Interesse an einer Verstetigung der Außenwirtschaftspolitik bestehen.

Zentral ist dabei vor allem die Berechenbarkeit der Handelshindernisse und der über dieHandelspolitik beeinflussten Bedingungen des internationalen Wettbewerbs. Freihandelan sich ist aus dieser Perspektive kein Selbstzweck. Mit gewissen Verformungen desFreihandels lässt sich aus der Perspektive der einzelnen Wirtschaftsakteure durchaus le-ben, wenn diese Interventionsmechanismen und Rahmenbedingungen konstant sind.Solange Staaten politisch legitime Gründe vorbringen, in den Außenhandel unter be-stimmten Umständen zu intervenieren, wird die Wirtschaft mit diesen Eingriffen lebenmüssen. Ein hohes Interesse besteht aber daran, die aus diesen Anliegen erwachsendenEingriffe im Wege der Verrechtlichung der internationalen Handelspolitik zu verstetigenund über möglichst weitgehende Regelbindung kalkulierbar zu machen, um so Pla-nungssicherheit für Investitionsentscheidungen und Unternehmensstrategien zu schaf-fen.60

Das aufgeklärte Eigeninteresse der Staaten und ihrer Organe einerseits, der Wirtschafts-teilnehmer andererseits erweist sich mithin als weitgehend gleichgerichtet. Beide Ak-teursgruppen haben ein deutliches Interesse daran, über Regelbindung und Verfahrender ‘entstaatlichten’ Streitbeilegung Außenwirtschaftspolitik zu verstetigen und demDruck der organisationsstarken Wirtschaftslobbys zu entziehen. Nur bei Vermeidungder Phänomene der ‘Geiselnahme’ staatlicher Wirtschaftspolitik durch einflussreicheLobbys und pressure groups lässt sich so etwas wie eine an den Interessen der Gesamt-wirtschaft orientierte, nachhaltige Wirtschaftspolitik gewährleisten.61 Wirtschaftspolitikwird dabei – und dies grassiert immer wieder als Fehldeutung der WTO und ihres zen-tralen Anliegens – nicht allein auf Durchsetzung des Freihandels orientiert sein können,sondern muss in erheblichem Umfang die Existenz staatlicher Eingriffe in den Handelals gegeben unterstellen und darüber hinaus als legitim anerkennen, will sie nicht an denRealitäten der Politik vorbeigehen.62 Wichtig für die Konstruktion der rechtlichen Stan-dards und der institutionellen Arrangements ist nicht die Durchsetzung einer absolutgesetzten wirtschaftspolitischen Ideologie im Sinne eines „Freihandels um jeden Preis“,sondern ist die Verstetigung staatlicher Wirtschafts- und Handelspolitik über möglichstpräzise rechtliche Standards, mit deren Hilfe legitime Eingriffe der Mitgliedstaaten un-terschieden werden können von Formen des Protektionismus, als der Durchsetzung par-tikularer Sonderinteressen unter Missachtung der gesetzten Regeln. Wichtig ist ferner die

58 Vgl hierzu auch Susan K. Sell, Big Business and the New Trade Agreements: The Future of the WTO?, in: RichardStubbs/Geoffrey R. D. Underhill (Hrsg.), Political Economy and the Changing Global Order, 2000, S. 174ff.

59 Vgl zur besonderen Rolle der multinationalen Unternehmen auch Held/McGrew/Goldblatt/Perraton, S. 242ff.60 Vgl auch Siebert, S. 9.61 Siehe auch von Weizsäcker, S. 30ff.62 Vgl nur Hoekman/Kostecki, Political Economy, S. 303ff., 413ff.

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Gewährleistung einer möglichst gleichmäßigen Anwendung der Regeln, über Verfahreneffektiver compliance control und unparteilicher Streitschlichtung, sowie die Bereitstel-lung von funktionsfähigen Verhandlungsmechanismen, über die das Regelwerk fortent-wickelt und veränderten Bedingungen angepasst werden kann.63 An diesen Zielsetzun-gen wird sich das Regelwerk der WTO messen lassen müssen, und nicht an den Forde-rungen nach der Verwirklichung partikularer Ordnungsmodelle aus Politik und Gesell-schaft der Industriestaaten. Als Regelwerk der Welthandelsordnung stellt das System derWTO zudem einen Interessenkompromiss zwischen Belangen der ‘beati possidentes’ inden Industriestaaten des Nordens und den Anliegen der ‘havenots’ des Südens dar. Diesgilt es bei der Bewertung der einzelnen Teile des Regelwerkes im Blick zu behalten.

Die Welthandelsordnung als MehrebenensystemEs ergibt mithin Sinn, ein staatenübergreifendes völkerrechtliches Regelwerk für denWelthandel zu schaffen. Mit der Ausbildung dieser neuen Ebene einer mit eigenen Insti-tutionen und Entscheidungsverfahren versehenen Welthandels- und Weltwirtschaftsord-nung entsteht ein Gefüge gestufter Politikarenen, das die Politikwissenschaften gängi-gerweise als ‘Mehrebenensystem’ bezeichnen.64 Mehrere Ebenen der Politikgestaltungsind hier in einer komplexen Arbeitsteiligkeit übereinander angeordnet, vom klassischennationalstaatlichen Politiksystem über die Formen regionaler Wirtschafts- und Politik-integration wie im Gefüge der Europäischen Union und Gemeinschaft bis hin zu einerEbene globaler Politikgestaltung, wie sie mit der WTO für den Bereich der Welthandels-ordnung entstanden ist. Diese Ebenen dürfen nicht völlig isoliert voneinander betrachtetwerden, sondern bedingen einander und bleiben aufeinander bezogen, da es für ihreWirksamkeit der funktionierenden Verzahnung mit den anderen Ebenen bedarf.

Für Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie die Bundesrepublik Deutschland er-weist sich die Situation als besonders komplex, da die Bundesrepublik ihre Befugnis zurFormulierung einer Außenhandelspolitik fast vollständig auf die EU übertragen hat. Nurin Randbereichen vor allem sicherheitspolitisch motivierter Außenhandelskontrollenkommt der Bundesrepublik heute noch eine eigenständige Regelungskompetenz für Fra-gen des Außenwirtschaftsverkehrs zu. Zu denken ist hier an die Rüstungsexportkon-trollen des Kriegswaffenkontrollgesetzes und an die Exportkontrollen für auch militä-risch verwendbare, sog. dual use-Güter nach dem Außenwirtschaftsgesetz. Die klassi-schen Fragen der Außenhandelspolitik sind dagegen gemäß Art. 24 Abs. 1 GG alter Fas-sung (bzw. nunmehr Art. 23 GG) im Wege der Übertragung von Hoheitsrechten auf dieEU übergegangen, in deren ausschließliche Zuständigkeit die gemeinsame Handelspoli-tik nunmehr fällt.65 Administrativ umgesetzt wird diese gemeinsame Handelspolitik da-gegen nach wie vor in wichtigen Bereichen durch die Mitgliedstaaten, die etwa durchihre Zollverwaltungen die gemeinschaftlich festgesetzten Zölle vereinnahmen und dieAußengrenzen auch im Bereich des Wirtschaftsverkehrs kontrollieren.

3.

63 Ob die Balance beider Mechanismen in der WTO ausgeglichen ist, wird allerdings bezweifelt – vgl nur Arminvon Bogdandy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609ff., insb. S. 624ff.

64 Zur Kategorie des ‘Mehrebensystems’ vgl nur Arthur Benz, Mehrebenen-Verflechtung: Verhandlungsprozes-se in verbundenen Entscheidungsarenen, in: ders./Fritz W. Scharpf/Reinhard Zintl (Hrsg.), Horizontale Poli-tikverflechtung. Zur Theorie von Verhandlungssystemen, 1992, S. 147ff. sowie Roland Czada, Vertretung undVerhandlung. Aspekte politischer Konfliktregelung in Mehrebenensystemen, in: Arthur Benz/Wolfgang Sei-bel (Hrsg.), Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft, 1997, S. 237ff.

65 Vgl Thomas Oppermann, Europarecht, 4. Auflage, 2009, S. 702ff.; Marc Bungenberg, Außenbeziehungen undAußenhandelspolitik, EuR 2009, Beiheft 1, S. 195, 201 ff.

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Die Europäische Union kann sich ihrerseits in übergreifende Regelwerke und Systemeder Handelsliberalisierung einbringen, wie sich aus Art. 206 AEUV (ex Art. 131 EG)ergibt. Die damalige EG ist dementsprechend im eigenen Namen und in Ausübung ei-gener Befugnisse Mitglied der WTO und des GATT geworden. Die Verpflichtungen ausden WTO-Übereinkommen setzt die EU eigenständig um durch den Erlass entsprechen-der unionsrechtlicher Rechtsakte. Bei Streitigkeiten aus den Übereinkommen der WTOkann die EU auch in eigenem Namen klagen und verklagt werden. Im Hintergrund mi-schen die Mitgliedstaaten aber kräftig mit, vor allem wenn es um Fragen der Umsetzunggeht. Haben sich Sperrminoritäten gebildet, so kann es für die Union sehr schwierig sein,gegen das WTO-Recht verstoßende Rechtsnormen aufzuheben oder zu modifizieren, wiedie lange Leidensgeschichte des Bananenmarktstreites gezeigt hat.

LegitimationsproblemeIm Gefolge der Ausbildung eines eigenständigen völkerrechtlichen Vertragsregimes stelltsich unabweisbar die Frage nach der politischen Legitimation der Regeln und Entschei-dungen, die das System hervorbringt.66 Diese Frage ist im nationalstaatlichen Politik-system üblicherweise durch die Verfassung und das in dieser niedergelegte Mehrheits-prinzip geklärt. Die gewählten Repräsentanten des Volkes treffen mit Mehrheit die zen-tralen Entscheidungen, verabschieden Gesetze, wählen die Regierung und schließen Ver-träge. Für die überstaatliche Ebene der ‘internationalen Regime’ gibt es aber keine direktgewählten Repräsentanten des Volkes, die legitimiert wären, mit Mehrheit Entscheidun-gen zu treffen.67 Das Recht behilft sich hier mit einer Art Ersatzkonstruktion. Der klas-sische völkerrechtliche Vertrag wird von Regierungen, die ja ihrerseits indirekt gewählteVertreter des Volkes sind, ausgehandelt und bedarf dann der Zustimmung des jeweiligenParlamentes. Zumindest in diesem Zustimmungsverfahren findet so etwas wie Entschei-dung im Modus der direkten Repräsentation statt, ähnlich wie beim Erlass von Gesetzen.Dies hat man traditionell als ausreichend angesehen, um dem Vertrag eine angemessenedemokratische Legitimation zu verleihen. Doch trägt diese Legitimationskonstruktionwirklich noch im Falle des WTO-Übereinkommens?

Legitimation der VerhandlungsführerZentrale Akteure der Verhandlungen, aus denen ein Vertrag wie das WTO-Überein-kommen hervorgeht, sind üblicherweise die nationalen Regierungen. Nun handelt es sichbei den Regelungsgegenständen der WTO – wie oft im Völkerrecht – um sehr spezielleMaterien, von denen der typische Politiker nicht allzu viel verstehen dürfte. Die konkre-ten Verhandlungen ruhen daher in der Regel auf den Schultern stark spezialisierter Bü-rokraten aus den Außen- und Wirtschaftsministerien der Mitgliedstaaten.68 Wirkliche

4.

a)

66 Vgl hierzu etwa die kritischen Überlegungen von Steve Charnovitz, WTO Cosmopolitics, N.Y.U. J. Int‘l. L. &Pol’y 34 (2002), S. 299ff.; Krajewski, S. 217ff.; von Bogdandy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609 (614ff.).

67 Vgl als Überblicksdarstellung zur Diskussion, die über die Probleme der mangelnden ‘demokratischen Legi-timation’ der internationalen Rechtssetzung geführt wird, nur Armin von Bogdandy, Demokratie, Globali-sierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 63 (2003), S. 853 (859ff.); außerdemFriedrich Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003; Alfred C. Aman, The DemocracyDeficit: Taming Globalization Through Law Reform, 2004; Adam Lupel, Globalization and Popular Sover-eignty: Democracy’s Transdnational Dilemma, 2009; Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Demokratie in der Weltge-sellschaft, 2009.

68 Siehe von Bogdandy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609 (619); Krajewski, S. 91ff.

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Kontrolle übt die Politik insoweit üblicherweise nur in innenpolitisch heiklen Problem-feldern aus, wie etwa in Fragen der Agrarpolitik.

Die Einflüsse der nationalen Parlamente im Verhandlungsprozess sind üblicherweise erstrecht gering zu schätzen. Zwar wird in manchen Staaten das Parlament vor Aufnahmeder Verhandlungen in die Formulierung der Verhandlungsziele eingeschaltet, kann ge-legentlich auch Teilnehmer in die Verhandlungsdelegation entsenden.69 Die Befugnis, eindie Verhandlungsdelegation bindendes Mandat zu erteilen, ist dagegen schon eher seltenanzutreffen. Selbst soweit dies geschieht, hat das Parlament in der Regel nur wenig Ein-fluss auf das Ergebnis der Verhandlungen (mit Ausnahme der USA, wo der Senat so etwaswie eine Kontrolle über den Umfang und den Gang der Verhandlungen hat).70

Grund für diesen beschränkten Einfluss ist die Eigendynamik der Verhandlungssituati-on bei komplexen Vertragsverhandlungen. Es handelt sich bei der Aushandlung eineskomplexen Vertragsregimes um eine sehr spezifische Entscheidungssituation. Wenn dieParteien wissen, dass sie – im eigenen Interesse – tunlichst ein seriöses Verhandlungser-gebnis erzielen sollten, und daher prinzipiell zu Abstrichen an den eigenen Ausgangspo-sitionen bereit sind, so kann es im Interessenabgleich der Verhandlungssituation zu sehrdynamischen Verschiebungen der Interessenformulierungen wie der angepeilten Kom-promisse kommen. Will man erfolgreich verhandeln, so darf man sich im Blick auf dieseSituationen nicht zu stark im Vorhinein binden lassen. Das Verhandlungsergebnis ent-zieht sich daher in hohem Maße der Kontrolle durch Außenstehende und kann in derFolge immer mit dem Argument gerechtfertigt werden, ein besseres Ergebnis habe sichnicht erzielen lassen.71 Hinzu kommt – gerade im Kontext der WTO – die Machtasym-metrie der beteiligten Akteure. Große ‘Handelsmächte’ wie die USA und die EU habenganz andere Chancen der Durchsetzung ihrer Interessen als kleine Staaten mit marginalenAnteilen am Welthandel. Es ist daher oft kaum festzumachen, welche Bedeutung dieAnliegen einzelner Staaten im schließlich gefundenen Kompromisspaket spielen. Nurin ‘aggregierter’ Form, im Verein mit den gleichgerichteten oder ähnlichen Interesseneiner Vielzahl anderer Staaten, haben die Belange der meisten Mittel- und Kleinstaatenüberhaupt eine Chance, ihren Niederschlag im endgültigen Vertragstext zu finden.

Steuerung durch nationale ParlamenteAn diesem Befund ändert auch die in vielen Staaten praktizierte Beteiligung des Parla-mentes am Vertragsschlussverfahren nichts.72 In großen Staaten wie den USA bzw. Ver-bundgemeinwesen wie der EU haben die Repräsentativkörperschaften schon vor Auf-nahme der Verhandlungen eine Mitentscheidungsbefugnis. Der amerikanische Präsidentbedarf für die Aufnahme von Handelsverhandlungen – zumindest de facto – eines Man-dats des US-Senates, da ohne das berühmte fast track-Mandat oder eines seiner neueren

b)

69 Vgl zum US-amerikanischen Beispiel Jackson/Davey/Sykes, Legal Problems, 4. Auflage, S. 143ff. sowie DavidW. Leebron, Implementing the Uruguay Round in the U.S., in: John H. Jackson/Alan Sykes (Hrsg.), Implemen-ting the Uruguay Round, 1997, S. 175, 190ff.

70 Sophie Neunier, Managing Globalization? The EU in International Trade Negotiations, JCMS 45 (2007),S. 905 ff.; Krajewski, S. 96ff.; vgl allerdings auch zur neuen Rechtslage unter dem Lissabon-Vertrag Marc Bun-genberg, Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik, EuR 2009, Beiheft 1, S. 195, 210 ff.

71 Krajewski, S. 223ff.72 Vgl nur Christophe Bellmann/Richard Gerster, Accountability in the World Trade Organization, J.W.T. 30

(1996), Nr. 6, S. 31 (51f.); Krajewski, S. 102ff.

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Äquivalente die spätere Ratifikation des Vertrages ein hoffnungsloses Unterfangen wä-re.73 In der EU bedarf die Kommission nach Art. 218 Abs. 2 AEUV der Erteilung eineseinschlägigen Verhandlungsmandates durch den Rat. Das Mandat enthält vielfach Gren-zen der Verhandlungsbefugnis der Exekutive, über die diese sich nicht hinwegsetzen darf,ohne die spätere Ratifikation der ausgehandelten Verträge zu gefährden.

Um eine gewisse Flexibilität im Kontext der Verhandlungen zu ermöglichen, hat es sichals sinnvoll erwiesen, Vertreter der mitentscheidungsbefugten Repräsentativkörperschaf-ten in die Verhandlungsdelegation aufzunehmen – so üblich mit Senatsvertretern im Falleamerikanischer Delegationen, mit Ratsvertretern in Delegationen der EU. Darüber hin-aus erstattet die Verhandlungsdelegation üblicherweise dem zur Letztentscheidung be-rufenen Organ regelmäßig Bericht über die Verhandlungsfortschritte, um so eine Rück-koppelung über die Akzeptanz der in Aussicht genommenen Kompromisse zu erlangenund unter Umständen auch das Verhandlungsmandat weiter zu entwickeln.

Das fertig ausgehandelte Übereinkommen bedarf allgemein der Zustimmung durch eineparlamentarische Repräsentativkörperschaft – in der Bundesrepublik durch den Bun-destag, in den USA durch den Senat, in der EU durch den Rat. Im Kontext des Zustim-mungsverfahrens hat das Parlament formell eine echte Mitentscheidungsbefugnis. DieseMitentscheidung ist aber in der Regel durch zwei Umstände stark relativiert. Zum einenfehlt es den Parlamenten oft am nötigen technischen Know-how, um die Implikationenund Konsequenzen des vorgelegten Vertrages wirklich in allen Einzelheiten zu überbli-cken. Auch weiß das Parlament meist nicht so recht, in welchen Punkten Abstriche anden eigenen Vorstellungen wirklich unabdingbar waren, um zu einem Verhandlungser-gebnis zu kommen. Hinzu kommt die Zeitdimension – meist hat das Parlament wenigZeit zur Prüfung des Vertragswerkes – und die besonderen Verfahrensmodalitäten. Sohat das Parlament üblicherweise keine Möglichkeit, Änderungen am Vertrag vorzuneh-men bzw. in diesem Sinne der Regierung Nachverhandlungen aufzutragen. Das Parla-ment kann den Vertrag nur tel quel annehmen oder ablehnen – und zumindest in parla-mentarischen Systemen des Westminster-Typus wird es kaum jemals die von ihm ge-stützte Regierung desavouieren wollen durch Ablehnung eines Vertrages. Das Zustim-mungsverfahren droht damit aber, zur reinen Formalie zu werden und kann nur sehrbedingt als Quelle demokratischer Legitimation für ein Vertragswerk wie die WTO an-geführt werden.74

Steuerung durch nationale Regierungen bei der Ausführung des WTO-RechtsIm operativen Alltag des Vertragsregimes sind die nationalen Parlamente dann praktischvöllig aus den Entscheidungsprozessen ausgeklammert. Die Ministerkonferenzen und diepermanent tagenden Gremien des WTO-Rates in Genf sowie die verschiedenen Arbeits-gruppen und informellen Verhandlungsgremien werden allein durch die Regierungenbeschickt und instruiert. Nennenswerte Rückkoppelung erfährt dieser rein exekutivischeVerhandlungsprozess durch die Parlamente kaum – schon aus Gründen der mangelndenInformation, denn die Regierungen und Ministerialbürokratien haben ihrerseits kein

c)

73 James Bacchus, A Few Thoughts on Legitimacy, Democracy, and the WTO, in: Ernst-Ulrich Petersmann (Hrsg.),Preparing the Doha Development Round: Challenges to the Legitimacy and Efficiency of the World TradingSystem, 2004, S. 109 (115ff.).

74 John H. Jackson, The World Trade Organization, Constitution and Jurisprudence, S. 33 und 100; von Bogdan-dy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609 (619f.); Krajewski, S. 223ff.

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allzu großes Interesse, die Parlamente im Detail auf dem Laufenden zu halten.75 Punk-tuelle Ausnahmen von dieser Regel finden sich nur im Falle der USA und der EU, wosowohl Rat als auch EP sich recht eingehend Bericht erstatten lassen und das Handelnder Kommission in den Organen der WTO kritisch begleiten.

Fazit: Dominanz der Regierungen auf der Grundlage mittelbarer LegitimationDas Fazit dieser Überlegungen zur politisch-demokratischen Legitimation der WTO undihrer Verhandlungsstrukturen ist eindeutig: Die Legitimation ist – in den üblichen Ka-tegorien der Politikwissenschaft und der Demokratietheorie gemessen – eher schwach.Die Legitimationskette verläuft praktisch allein über die nationalen Exekutiven, die dasFunktionieren des WTO-Systems weitgehend bestimmen. Diese Legitimation ist aber ei-ne nur mittelbare, die weitreichende Befugnisse eigener Rechtsetzung kaum zureichendabzustützen in der Lage wäre. Die Vertragsparteien waren insoweit gut beraten – unab-hängig von ihrem eifersüchtigen Pochen auf nationalen Souveränitätsrechten – der WTOkeine abgeleitete Rechtsetzungsgewalt zuzugestehen wie man sie aus dem Kontext derEuropäischen Gemeinschaft kennt.76 Die WTO verfügt – im Gegensatz zur EU – überkeinen eigenen Strang direkter demokratischer Legitimation und wird eine derartige di-rekte Legitimation wohl auch in absehbarer Zeit kaum erlangen können, sieht man sichdie Heterogenität ihrer Mitglieder und die daraus resultierenden Probleme in der Kon-struktion einer eigenen Linie direkter demokratischer Repräsentation an.77 Die Abstüt-zung auf die mittelbare Legitimation über die Regierungen ist insoweit alternativlos –zieht aber dem weiteren Ausbau des WTO-Systems enge Grenzen. Die Anlagerung wei-terer Regelungsmaterien und die Ausarbeitung neuer materieller Standards wird daherauch in Zukunft der Vertragsänderung (und damit der Beteiligung der nationalen Par-lamente) bedürfen, denn die Themenstellungen, über die in der WTO verhandelt wird,sind für die Mitgliedsgesellschaften von zu hoher Bedeutung, um sie allein den Exekuti-ven zu überlassen.78

‘Konstitutionalisierung’- WTO als ‘Verfassung’ der Weltwirtschaft?

Ausgangsfrage: Transformation der Werte durch Ebenenwechsel?Trotz dieses eher ernüchternden Befundes wird die WTO gerne als Beispiel für das Phä-nomen herangezogen, das in der Völkerrechtslehre als „Konstitutionalisierung des Völ-kerrechts“ beschrieben wird.79 Gemeint wird dabei üblicherweise die Umformung desVölkerrechts zu einer an bestimmten Grundwerten orientierten ‘Wertordnung’, in Ab-kehr von der traditionellen, rein auf dem Willen der Staaten aufbauenden Koordinati-

d)

III.

1.

75 Vgl dazu auch von Bogdandy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609 (620).76 Zu den Hintergründen, aber auch Folgeproblemen dieser Grundentscheidung vgl von Bogdandy, Max Planck

UNYB 5 (2001), S. 609 (625ff.).77 Vgl nur Brigitte Weiffen, Die Ausbreitung der Demokratie – eine Komponente der Globalisierung?, in: Johan-

nes Kessler/Christian Steiner, Facetten der Globalisierung: Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur, 2009,S. 96ff.; Markus Krajewski, Zur Demokratisierung von Global Economic Governance, in: Hauke Brunkhorst(Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, 2009, S. 215ff.

78 Unbenommen bleibt jedoch die Möglichkeit der ‘authentischen Interpretation’ der Bestimmungen der WTO-Übereinkommen nach Art. IX:2 WTO-Übereinkommen; vgl zur potentiellen Bedeutung dieser Vorschrift inlegitimationstheoretischer Sicht von Bogdandy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609 (631f.).

79 Vgl zu diesem Konzept nur Jochen A. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, Ber. d. Dt. Gesell. f.Völkerrecht 39 (2000), S. 427ff.; Christian Tomuschat, International Law as the Constitution of Mankind, in:United Nations (Hrsg.), International Law on the Eve of the Twenty-First Century, 1997, S. 37ff.; Robert Uer-pmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 56 (2001), S. 565 (566ff.).

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onsordnung des klassischen Völkerrechts. Zwar bleibt auch das moderne Völkerrechtder ‘Konstitutionalisierung’ angebunden an die Staaten als zentrale Akteure des Völker-rechts. Völkerrecht spiegelt aber in dieser Neukonstruktion des Völkerrechts als ei-ner ‘Verfassungsordnung’ der Staatengemeinschaft nicht mehr allein den empirisch kon-kret nachweisbaren, übereinstimmenden Willen der Staaten wider, sondern orientiertsich an elementaren, der Disposition der Staaten im Kern entzogenen Grundwerten undGrundprinzipien, die auch da zur Ableitung von rechtlichen Standards herangezogenwerden können, wo die Staaten sich nicht konkret auf positive Standards und Regelngeeinigt haben.

Nun wird man diese Transformation zu einer ‘Wertordnung’ nicht allein am Faktum desEbenenwechsels festmachen können. Das Einziehen einer neuen Ebene rechtlicher Ver-haltenskoordination, das mit der Bildung eines neuen ‘internationalen Regimes’ verbun-den ist, führt per se noch nicht über die klassische Selbstkoordination der Staaten hinaus.Durch die Verlagerung des rechtlichen Diskurses auf die Ebene einer eigenen, organisa-torisch verselbständigten zwischenstaatlichen Organisationsstruktur findet also nochkeine Transformation der zugrundeliegende Interessen und Werte statt.

Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung?‘Konstitutionalisierung’ im üblichen Begriffsverständnis setzt so etwas wie die zuneh-mende Verrechtlichung einer bestehenden Ordnung voraus, die Herausbildung einer ei-genen konstitutionellen, verfassungsähnlichen Ordnung mit eigenen Grundprinzipien,auch die Ausbildung eines eigenen Kranzes spezifischer Kollektivgüter, also einerArt ‘Gemeinwohls’ der in ihr verfassten Staatengemeinschaft.80 In diesem Sinne wird manim Kontext der WTO sicherlich von einem Prozess der ‘Konstitutionalisierung’ sprechenkönnen, bildet sich das Welthandelsrecht doch zusehends zu einer in sich geschlossenen,auf eigenen Prinzipien beruhenden Rechtsgemeinschaft aus.81 Die demokratische Legi-timation dieser Rechtsordnung ist, wie wir gesehen haben, eher schwach ausgeprägt.Umso stärker ist das Bemühen um rechtsstaatliche Legitimität. Vor allem mit dem Systemder gerichtsförmig ausgebildeten Streitschlichtung hat die WTO einen entscheidendenSchritt hin zu einer rechtsstaatlichen Ordnung vollzogen. Das Recht ist in seinem Ope-rationsmodus in den schwierigen Konfliktsfällen nunmehr der Selbstbeurteilung durchdie Streitparteien entzogen, ist also abgelöst von den Machtasymmetrien, die Völkerrechttrotz verschriftlichter Normtexte allzu oft noch als „Recht des Stärkeren“ erscheinenlassen. Die autoritative Streitentscheidung durch neutrale Drittinstanzen eröffnet denWeg der Fortbildung des WTO-Rechts zu einer am Leitbild der normativen Konsistenzund Kohärenz orientierten Rechtsordnung, die sich die konkreten Normtexte im Blickauf ihre leitenden Prinzipien anverwandeln und zu einem einheitlichen Normenkorpuszusammenbauen kann.82

Noch wenig entwickelt ist dagegen der für Konstitutionalisierungsprozesse ebenfallszentrale Aspekt des empowerment der Einzelnen und der civil society.83 Das WTO-Rechtberührt zwar in vielfältiger Weise die Rechtsstellung der Einzelnen und vor allem der am

2.

80 Vgl dazu allgemein Stefan Oeter, Gemeinwohl in der Völkerrechtsgemeinschaft, in: Winfried Brugger u.a.(Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002, S. 215ff.

81 Siehe insoweit nur Ernst-Ulrich Petersmann, Constitutional Functions and Constitutional Problems of Inter-national Economic Law, 1991, insb. S. 210ff., sowie Krajewski, S. 161ff.

82 Vgl aber von Bogdandy, Max Planck UNYB 5 (2001), S. 609 (623ff.).83 Zur Kategorie des empowerment vgl nur Thomas M. Franck, The Empowered Self – Law and Society in the

Age of Individualism, 1999.

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Welthandel teilnehmenden Unternehmen. Die nach wie vor rein staatszentrierte Kon-struktion der WTO als Organisation und die Ausgestaltung des Streitschlichtungsver-fahrens als strikt zwischenstaatliches Schiedsverfahren haben den Akteuren der Zivilge-sellschaft den Zugang zu den Entscheidungsprozessen im Rahmen der WTO bislang je-doch weitgehend verwehrt – sofern es den Einzelnen bzw. Unternehmen nicht gelingt, ‘ih-ren’ Staat zur Durchsetzung ihrer Interessen einzuspannen.84

Bedeutung von InstitutionenAls zentrale Kategorie der Prozesse der ‘Konstitutionalisierung’ erweist sich damit dieAusgestaltung der für ein Regime spezifischen Institutionen.85 Nur mittels entsprechen-der Institutionen kann es gelingen, die für das klassische Völkerrecht prägende Wahr-nehmung der relevanten Belange als staatenbezogener Eigennutzenkalküle („Staatsrä-son“) aufzuheben und zu einer Konstruktion übergeordneter Belange umzuformen, alsozu einer Kategorie von Gemeinschaftsinteressen der beteiligten Staaten, die diese im Ver-tragsregime festlegen und in den Institutionen des Vertragsregimes weiter ausformen.86

Auf diesem Weg hat die WTO – vor allem dank ihres Streitschlichtungssystems – schonein gutes Stück zurückgelegt. Den Beteiligten ist mittlerweile sehr wohl bewusst, dass inder WTO nicht nur spezifische Eigeninteressen in konkreten Streitfällen auf dem Spielstehen, sondern dass in der Konstruktion der WTO so etwas wie ein ‘Gemeinwohl’ derStaatengemeinschaft aufgehoben ist, das im alltäglichen Funktionieren der Welthandels-ordnung immer wieder neuer Bestätigung und Konkretisierung bedarf. In welchem Um-fang es der WTO mittlerweile gelungen ist, diese gemeinsamen Belange der Mitglied-staaten zur Geltung zu bringen und durchzusetzen, wird die weitere Lektüre des Bucheserweisen. Der Bedeutung der institutionellen Architektur für die Chancen des WTO-Rechts, das wirtschaftspolitische Handeln der Staaten wirklich zu beeinflussen, sollteman sich auch bei der Beschäftigung mit den Details von GATT, GATS und TRIPS immerbewusst bleiben.

3.

84 Vgl Werner Meng, Verfahrensrechtliche Rechtsstellung der Individuen in Bezug auf das WTO-Recht, in: Fest-schrift für Rudolf Bernhardt, 2001, S. 65ff.; Stefan Oeter, Gibt es ein Rechtsschutzdefizit im WTO-Streitbeile-gungsverfahren?, in: Carsten Nowak/Wolfram Cremer (Hrsg.), Individualrechtsschutz in der EG und der WTO,2002, S. 221ff.; Joel P. Trachtman/Philip M. Moremen, Costs and Benefits of Private Participation in WTO Dis-pute Settlement: Whose Right is it Anyway?, Harv. Int‘l. L. J. 44 (2003), S. 221ff.

85 Vgl nur David Schneiderman, Constitutionalizing Economic Globalization, 2008.86 Siehe dazu Oeter (Fn 84), S. 233ff.

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