Wenn Juristen Doktor spielen

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  • 7/21/2019 Wenn Juristen Doktor spielen

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    Egal, was ich versuche, die Schlafattacken kann ich nicht steuern: Dominik Wiederkehr

    IV Wenn Juristen Doktor spielen

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  • 7/21/2019 Wenn Juristen Doktor spielen

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    Die Invalidenversicherung setzt sich neuerdings ber Gutachten ihrer eigenen rzte hinweg,um Renten zu verhindern. Ein Betroffener erzhlt.

    Bei der IV ist seit der fnften Gesetzesrevision 2008 die Sparwut aus gebrochen. Neue Renten werden nur nochzurckhaltend bewilligt, alte seit 2012 strenger berprft. Dafr mehren sich die Berichte ber wundersame Heilungen:Kranke, die jahrelang eine Rente bezogen haben, haben pltzlich keinen Anspruch mehr auf IV-Gelder.

    Mglich machen das die medizinischen Abklrungsstellen (Medas), die Patienten begutachten. Hufig leben die Medas fastausschliesslich von Auftrgen der IV. Nach einer solchen Begutachtung sind Beschwerden bei den Patienten oft entwedernicht mehr vorhanden oder einfach nicht nachweisbar. Da es ja Fachleute sind, die das beurteilen, gibt es an denEinschtzungen auch keinen Zweifel.

    Wie das Gericht Kranke gesund macht

    Zumindest war das bis vor kurzem so. Nun geht die IV noch einen Schritt weiter: Auch wenn sich sogar die ei genenGutachter einmal fr eine Rente aussprechen, kann sie deren Meinung bergehen und zwar mit dem Segen desBundesgerichts. Dieses urteilte im Sommer ber den Fall einer Justiererin, die die Medas-rzte wegen Kopfschmerzen undDepression als nur teilweise arbeitsfhig bezeichneten. Die IV lehnte eine Rente trotzdem ab und erhielt Schtzenhilfevom hchsten Gericht. Es sei nicht an den rzten, zu entscheiden, ob ein medizinisches Leiden zu Arbeitsunfhigkeit fhre,sondern an der rechtsanwendenden Stelle, also an der IV-Stelle oder an einem Gericht. Die Gtter in Schwarz lsenoffiziell die Gtter in Weiss ab.

    Was das bedeutet, muss jetzt auch Dominik Wiederkehr erfahren. Der gelernte Polygraf aus Rorbas ZH leidet anNarkolepsie. Den Betroffenen fehlen im Hirn Botenstoffe, die den Tag-Nacht-Rhythmus regulieren und nicht knstlichzugefhrt werden knnen. Egal, ob und wie lange Wiederkehr geschlafen hat: Kurz nach dem Aufstehen ist er so mde,

    dass er in Tiefschlaf fallen knnte. Oft passiert das auch. Dann kann ihn kein Wecker aus dem Schlaf reissen. Er verpasstTermine, kommt zu spt, ruft nicht zurck. Mit Ritalin und Sport hlt er sich wach.

    Es ist wie ein ewiger Jetlag

    Manchmal kann ich auch mehrere Nchte nicht schlafen. Dann kommt der Rhythmus erst recht durcheinander. Es ist wieein ewiger Jetlag, sagt der 38-Jhrige. Er spricht schnell, viel und ausschweifend. Beim Treffen mit dem Beobachter hat erdrei schlaflose Nchte hinter sich, verliert bisweilen den Faden, wiederholt sich. Seine Aussprache ist undeutlich, dieGedanken scheinen schneller zu sein als seine Zunge. Die Worte sprudeln aus ihm heraus. Reden, reden, reden. Das istmeine Methode, um wach zu bleiben. Andere irritiert das manchmal.

    In der Arbeitswelt kann Dominik Wiederkehr schon lange nicht mehr bestehen. Erste Krankheitsanzeichen bemerkt er vor15 Jahren, als er whrend der Arbeit am Bildschirm immer fter einschlft. Er verliert eine Stelle nach der anderen. 2004findet man am Zentrum fr Schlafmedizin in Zrich heraus: Er hat Narkolepsie, mglicherweise als Sptfolge eines Unfallsin der Kindheit, als ihm ein umstrzendes Fussballtor Stirnplatte und Gesicht zerschmetterte. Beweisen lsst sich das nichtmehr. Ich fhlte mich nach der Diagnose trotzdem erleichtert. Nach jahrelangem Rtseln gab es endlich einen Grund frmeine Mdigkeit.

    Doch als Polygraf ist er arbeitsunfhig. Als er 2005 wieder einen Job verliert, stellt ihn sein Vater, der ehemalige NationalratRoland Wiederkehr, in der von ihm mitgegrndeten und gefhrten Stiftung RoadCross an, die sich fr mehr

    Verkehrssicherheit engagiert. Der Vater will verhindern, dass sein Sohn zum IV-Fall wird.

    Dominik Wiederkehr hlt in Berufsschulen Vortrge zur Unfallprvention. Er hat einen guten Draht zu den Schlern, aberimmer fter kommt er zu spt oder gar nicht. Mitte 2008 geht es nicht mehr, sein Vater muss ihn entlassen. DerRoadCross-Stiftungsrat diskutiert gar darber, ob er einen Teil des Lohns rckwirkend zurckzahlen soll, verzichtet dannaber darauf.

    Der IV-Arzt hielt Ritalin fr DrogenAnfang 2009 meldet sich Dominik Wiederkehr bei der IV an, beantragt eine Umschulung. Es folgen jahrelange Abklrungen,rztliche Untersuchungen und Stellungnahmen. Dabei passieren Fehler, die Wiederkehr zermrben. So unterstellt ihm einIV-Arzt Drogenabhngigkeit weil er Ritalin mit Amphetamin verwechselt, wie ein Spezialarzt spter klarstellt.

    Immerhin: Alle rzte besttigen die Narkolepsie, ein Psychiater stellt zudem eine narzisstisch-neurotischePersnlichkeitsstrung fest, die ihm bei der Bewltigung der Krankheit im Weg stehe. Die rzte empfehlen eineabwechslungsreiche Ttigkeit, vorzugsweise im Freien, mit der Mglichkeit, sich hinzulegen, wenn Schlafattackenkommen. Doch alle Versuche als Grtner oder Tierpfleger scheitern. Wiederkehr schafft es nicht, Verpflichtungen undTermine einzuhalten.

    2012 bricht die IV die beruflichen Massnahmen ab und gibt ein weiteres Gutachten in Auftrag, diesmal bei einer Medas.Diese besttigt die Dia gnosen. Der Psychiater hlt fest, dass die Kombination von Narkolepsie und Persnlichkeitsstrungzu einer deutlichen Einschrnkung fhre. Das Fazit: Wiederkehr sei nur zu 50 Prozent arbeitsfhig. Der IV-Arzt des

    regionalrztlichen Dienstes teilt die Ansicht.

    Doch die IV, die den Medas-Empfehlungen sonst so gern folgt, wenn diese in ihrem Sinn sind, sieht das anders: In einerschludrig abgefassten Verfgung voller Rechtschreibfehler, Falschangaben und Namensverwechslungen schreibt die IV-Stelle Zrich, Wiederkehr sei in angepasster Ttigkeit voll arbeitsfhig. Er habe zwischen 2005 und 2008 ja drei Jahre lang

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  • 7/21/2019 Wenn Juristen Doktor spielen

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    Autor: Conny Schmid

    Bild: Pascal Mora

    arbeiten knnen.

    Entscheid ist nicht ideal begrndet

    Eine abenteuerliche Argumentation, zumal die Zeit bei RoadCross der beste Beweis dafr ist, dass ihm das eben nichtgelingt. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zrich besttigt formale Fehler. Die Verfgung habeEntwurfcharakter, so Mediensprecherin Daniela Aloisi. Sie wurde wohl nicht gegen gelesen, bevor sie rausging. DerEntscheid sei nicht ideal begrndet und wre besser mndlich erffnet worden. Inhaltlich sei er aber korrekt. Aus den

    Akten gehe klar hervor, dass eine Arbeitsfhigkeit von 80 bis 100 Prozent erreichbar wre. Aus der Sicht desRechtsanwenders gibt es keinen Rentenanspruch. Auch die diagnostizierte Persnlichkeitsstrung schrnke dieLeistungsfhigkeit nicht ein. Die psychiatrischen Befunde waren weitgehend unauffllig. Der Kunde wre vollerwerbsfhig, wenn die Narkolepsie richtig therapiert wrde.

    Wre, wrde. Fr Dominik Wie derkehr ist unerheblich, ob die Narkolepsie theoretisch therapiert werden knnte: Faktischgelingt es ihm nicht. Er hat Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht eingereicht. Egal, was ich versuche, dieSchlafattacken kann ich nicht steuern. Laut Gutachten ist es die Kombination der beiden Krankheiten Narkolepsie undPersnlichkeitsstrung, die ihn einschrnkt. Fr die IV zhlt diese rztliche Meinung aber nicht. In der Verfgung heisst es:Die abschliessende Beantwortung der Arbeitsfhigkeit ist rechtlicher Natur und obliegt nicht den rzten.

    Das liegt ganz auf der Linie des Bundesgerichts. Viele Geschdigtenanwlte kritisieren diese Rechtsprechung scharf. DerZrcher Rechtsanwalt Philip Stolkin hat das Urteil an den Europischen Gerichtshof fr Menschenrechte weitergezogen.Unglaublich, was sich die Kollegen anmassen, sagt er. Gutachten sind Beweise, ergrndet mit medizinischemFachwissen, das Juristen abgeht. Wenn die Juristen sich hier einmischen, beeinflussen sie die Beweisfhrung in ihrem Sinnund verletzen das Recht auf ein faires Verfahren.

    20. Mrz 2015, Beobachter 6/2015

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    http://www.beobachter.ch/archiv/inhaltsverzeichnisse/editionsarchiv/2015/6/1/