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66 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung An die strengen Bestimmungen der nationalsozialistischen Rassenge- setze mussten sich nur diejenigen halten, die nicht für das Regime gebraucht wurden oder nicht über entsprechende Beziehungen verfüg- ten. Die NS-Führung dagegen dachte gar nicht daran, sich den von ihr selbst geschaffenen Bestimmungen zu unterwerfen, baute auf »Gnaden- akte« Hitlers oder ließ einfach Abstammungsunterlagen fälschen. Görings Günstling: Erhard Milch, »Ehrenarier« und Generalfeldmarschall Einer der bekanntesten und mächtigsten »Mischlinge« und zugleich »Ehrenarier« des »Dritten Reichs« war Erhard Milch, Generalfeld- marschall und Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium und zuletzt als Stellvertreter von Rüstungsminister Albert Speer verantwortlich für die Verlängerung des Zweiten Weltkriegs. Unter dem schillernden, bisweilen exzentrischen Reichsmarschall Hermann Göring durchlief der 1892 in Wilhelmshaven als Sohn eines jüdischen Marine-Apothekers und einer »arischen Mutter« geborene Milch eine Karriere, die ihm keineswegs in die Wiege gelegt war. Im Ersten Weltkrieg diente er in der Fliegertruppe, 1923 wurde er Chef der Flugbetriebsleitung der Junkers-Werke und bald darauf Leiter der Junkers-Zentralverwaltung. 1926 kam er in den Vorstand der noch jungen »Lufthansa« und traf hier mit Hermann Göring zusammen, der ihn bis zum Ende des NS-Regimes protegierte. Am 2. Februar 1933 berief Reichspräsident Paul von Hindenburg »den Direktor Deutschen Lufthansa A.G. Erhard Milch unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs zum Vertreter des Reichskommis- sars für die Luftfahrt« – und der hieß Hermann Göring. 1 In dem 1938 im Zentralverlag der NSDAP in München erschienenen Buch von Erich Grissbach, Hermann Göring – Werk und Mensch, heißt es hierzu: Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/1/14 4:50 PM

"Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

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66 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

An die strengen Bestimmungen der nationalsozialistischen Rassenge-setze mussten sich nur diejenigen halten, die nicht für das Regime gebraucht wurden oder nicht über entsprechende Beziehungen verfüg-ten. Die NS-Führung dagegen dachte gar nicht daran, sich den von ihr selbst geschaffenen Bestimmungen zu unterwerfen, baute auf »Gnaden-akte« Hitlers oder ließ einfach Abstammungsunterlagen fälschen.

Görings Günstling: Erhard Milch, »Ehrenarier« und Generalfeldmarschall

Einer der bekanntesten und mächtigsten »Mischlinge« und zugleich »Ehrenarier« des »Dritten Reichs« war Erhard Milch, Generalfeld-marschall und Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium und zuletzt als Stellvertreter von Rüstungsminister Albert Speer verantwortlich für die Verlängerung des Zweiten Weltkriegs.

Unter dem schillernden, bisweilen exzentrischen Reichsmarschall Hermann Göring durchlief der 1892 in Wilhelmshaven als Sohn eines jüdischen Marine-Apothekers und einer »arischen Mutter« geborene Milch eine Karriere, die ihm keineswegs in die Wiege gelegt war.

Im Ersten Weltkrieg diente er in der Fliegertruppe, 1923 wurde er Chef der Flugbetriebsleitung der Junkers-Werke und bald darauf Leiter der Junkers-Zentralverwaltung. 1926 kam er in den Vorstand der noch jungen »Lufthansa« und traf hier mit Hermann Göring zusammen, der ihn bis zum Ende des NS-Regimes protegierte.

Am 2. Februar 1933 berief Reichspräsident Paul von Hindenburg »den Direktor Deutschen Lufthansa A.G. Erhard Milch unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs zum Vertreter des Reichskommis-sars für die Luftfahrt« – und der hieß Hermann Göring.1

In dem 1938 im Zentralverlag der NSDAP in München erschienenen Buch von Erich Grissbach, Hermann Göring – Werk und Mensch, heißt es hierzu:

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Es ist ein kleiner Stab, mit dem Göring die ersten Arbeiten leistet, sein Stell-vertreter ist Erhard Milch, der einige tüchtige Männer aus der Lufthansa mitbringt. Dann sind’s die alten Kameraden aus dem Weltkriege und schließlich eine Reihe von verantwortungsbewussten Männern aus der bis-herigen Abteilung Luftfahrt des Reichsverkehrsministeriums, Männer, die für den Verfall der deutschen Luftfahrt in den Jahren von 1919 bis 1932 nicht verantwortlich zu machen sind.2

Damit begann eine Karriere, die hier nur summarisch wiedergegeben werden kann: 1936 gratulierte der bayerische Ministerpräsident Ludwig Siebert Milch zur Beförderung zum General der Flieger3 und betonte, dass damit die außerordentlichen Verdienste um die Neubegründung der deutschen Luftwaffe ihren Ausdruck gefunden hätten. 1937 wurde Milch Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, 1938 erhielt er von Hitler das Goldene NSDAP-Parteiabzeichen. Im Jahr darauf ernannte Hitler ihn zum Generalinspekteur der Luftwaffe und im Juli 1940 zum Generalfeldmarschall. Wiederum gratulierte Siebert, verbunden mit dem Wunsch: »Mögen Sie mit unserem unvergleichlichen siegreichen Heere bald in die Heimat zurückkehren!«4

Es folgten 1941 die Ernennung zum Generalluftzeugmeister und 1943 zum Präsidenten der Lufthansa.

Milch genoss nicht nur Görings, sondern vor allem Hitlers Vertrauen und nahm an einer Reihe von höchst vertraulichen Besprechungen mit dem »Führer« teil. Er erhielt – dem Historiker Max Domarus zufolge – von diesem am 13. Juni 1940 eine besondere Anerkennung für seinen Anteil an der Besetzung Norwegens. In den »Monologen im Führerhauptquartier« wurde Milch als Gesprächsteilnehmer u. a. am »28. Januar 1942, mittags, Gäste: Milch, Jeschonnek, Galland« oder am »19. Februar 1942, abends: Reichsminister Speer, Generaloberst Milch« genannt.5 Im Führerhauptquartier »Werwolf« nahmen am 7. September 1942 als Gäste Hitlers teil: Reichsminister Albert Speer, Reichskommissar Erich Koch und der inzwischen zum Generalfeldmar-schall avancierte Milch.6 Vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürn-berg bestätigte Milch später, mehrfach bei Hitler gewesen zu sein – auch ohne seinen Mentor Göring. So am 23. Mai 1939, als Hitler den Ausbruch des Krieges mithilfe der Luftwaffe angekündigt hatte.7 Hitler zeigte sich Milch gegenüber dankbar und ließ ihm 1942 anläss-

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lich des 50. Geburtstags eine üppige Dotation zukommen. In einem Vermerk vom 21. März 1942 hielt Albert Bormann, der Bruder des Hit-ler-»Sekretärs« Martin Bormann, für die Privatkanzlei Hitlers dazu fest:

Der Führer hat bei meinem Vortrag angeordnet, dass Generalfeldmarschall Milch aus Anlass seines 50. Geburtstags am 30. März 1942 eine Dotation erhalten soll, und zwar in Form eines Schecks über 250 000 RM. Der Scheck wird von mir zugleich mit einem Schreiben des Führers und einem Bild ausgehändigt werden.8

Reichskanzleichef Hans Heinrich Lammers unterrichtete am 3. April 1942 Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk darüber, dass diese Dotation nach dem Willen Hitlers steuerfrei bleiben solle.9 NSKK-Gruppenführer Albert Bormann habe ihm durch seinen Adju-tanten mitteilen lassen, der »Führer« habe den Auftrag erteilt, den Scheck mit der Nummer A 1 555 20 über die gesamte Summe von 250 000 RM dem Generalfeldmarschall auszuhändigen.

Ebenfalls anlässlich seines 50. Geburtstags sollte Milch außerdem der Ehrendoktortitel der Technischen Hochschule Braunschweig verliehen werden.10 Der Vorschlag kam von der Hochschule, die darauf verwies, dass auch der verstorbene Generaloberst Udet in Braunschweig die Ehrendoktorwürde erhalten habe. Reichskanzleichef Lammers machte darauf aufmerksam, dass die Entscheidung, ob Milch die Auszeichnung annehmen dürfe, ausschließlich Hitler obliege. Reichsmarschall Göring war jedenfalls mit der Verleihung einverstanden, das hatte dessen Staats-sekretär und Generalforstmeister Friedrich Alpers bereits am 18. Feb-ruar 1942 Lammers mitgeteilt.11 Im März 1942 informierte die Reichs-kanzlei sowohl Wissenschaftsminister Bernhard Rust als auch Alpers darüber, dass Hitler von der geplanten Verleihung »der Würde eines Dr.-Ing e.h.« wisse und nichts gegen sie einzuwenden habe.12

Obwohl – oder gerade weil – selbst »Mischling«, machte Milch aus seiner Verachtung für diesen Personenkreis keinen Hehl.13 Als es im März 1928 darum ging, Reichstagsabgeordnete zu bestechen, um die Zivilluftfahrt subventionieren zu lassen, titulierte Milch den Berliner Abgeordneten Georg Reinhold Quaast von der Deutsch Nationalen Volkspartei abfällig als »Halbjuden und furchtbares Schwein«. 1933

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wurde Quaast von den Nationalsozialisten aller Ämter enthoben – nicht aber Milch! Der erfreute sich der Gunst Görings und beteiligte sich an Intrigen, um den Minderheitskanzler Franz von Papen zu stürzen. So nahm er beispielsweise an Besprechungen in Görings Wohnung teil, bei denen es um eben diese Frage ging. Weitere Teilnehmer dieser Runden waren die Prinzen von Wied und Hessen, Gregor Strasser, Rudolf Heß, Ernst Röhm und Wilhelm Frick.14 Möglicherweise hatte Milch zahlrei-che NS-Repräsentanten in der Hand, denn wie David Irving in seiner Göring-Biographie schrieb, trafen in Milchs Dienstzimmer im Reichs-luftfahrtministerium per Rohrpost zahlreiche Abschriften von heimlich mitgehörten Telefonaten ein.15 Darunter das Liebesgeflüster eines Bischofs mit einer Nonne, von dem Milch meinte, dagegen sei Casanova nur ein »armes Würstchen gewesen«. Wirksam setzte sich Milch bei der Vereidigung der Wehrmacht auf Hitler in Szene. Er, der »Halb-jude« – wie es bei Irving hieß –, hatte eine Hand auf die Klinge von Görings Säbel gelegt, die Offiziere im Luftfahrtministerium erhoben die Schwurhand und sprachen die Eidesformel auf Hitler.16

Milch verleugnete seine Abstammung, was durchaus verständlich ist. Teilweise setzte er sich aber an die Spitze der Judenverfolger, was kaum verzeihbar ist. So gab es von Milch keinen Widerspruch, als in einer Geheimbesprechung mit Reichs- und Gauleitern der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, in seiner Anwesenheit am 6. Oktober 1943 in Posen die »Notwendigkeit« unterstrich, auch jüdische Frauen und Kinder zu ermorden.17 »Die Juden müssen ausgerottet werden«, verlangte Himm-ler und mokierte sich zugleich über die große Zahl von Gnadengesu-chen:

(…) bedenken Sie aber selbst, wie viele – auch Parteigenossen – ihr berühm-tes Gesuch an mich oder irgendeine Stelle gerichtet haben, in dem es hieß, dass alle Juden selbstverständlich Schweine seien, dass bloß der Soundso ein anständiger Jude sei, dem man nichts tun dürfe. Ich wage zu behaupten, dass es nach der Anzahl der Gesuche und der Mehrzahl der Meinungen in Deutschland mehr anständige Juden gegeben hat, als nominell überhaupt vorhanden waren. In Deutschland haben wir nämlich so viele Millionen Menschen, die ihren einen berühmten anständigen Juden haben, dass diese Zahl bereits größer ist als die Zahl der Juden. Ich will das bloß deshalb anführen, weil Sie aus dem Lebensbereich Ihres eigenen Gaues bei achtbaren

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und anständigen nationalsozialistischen Menschen feststellen können, dass auch von ihnen jeder einen anständigen Juden kennt.18

Was mag Milch bei solchen Worten gedacht haben? Schlimmer noch: Milch wurde selbst zum Mörder, indem er die Verantwortung für zahl-reiche tödliche Versuche des KZ-Arztes Sigmund Rascher an Häftlin-gen vor allem im Konzentrationslager Dachau trug. Als Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium ließ Milch durch Rascher Höhenflugver-suche an Häftlingen vornehmen, die in der Regel tödlich endeten. Ziel war es zu erkunden, wie in großen Höhen abgeschossene Flieger gerettet werden könnten. Ähnliches galt auch für die unmenschlichen Unter-kühlungsversuche, denen viele Häftlinge unter entsetzlichen Qualen zum Opfer fielen. Hierbei ging es darum, Seeleute aus kaltem Wasser zu bergen und sie trotz immenser Unterkühlung wiederzubeleben. In wel-cher Weise Milch in die tödlichen Experimente einbezogen war, geht aus einem Brief Himmlers an Rascher vom 24. Oktober 1942 hervor. Darin hatte Himmler zu den »Unterkühlungsversuchen« Stellung genommen und Rascher ausdrücklich ermächtigt, »von den Nichtärzten nur Gene-ralfeldmarschall Milch und selbstverständlich dem Reichsmarschall, falls dieser dazu Zeit hat, Bericht zu erstatten«.19 Loyal gegenüber sei-nem Förderer Göring, dem er immerhin seine »Arisierung« zu verdan-ken hatte, zeigte sich Milch keineswegs. Im Reichsluftfahrtministerium war es Milch, der die Befehle unterzeichnete und darüber entschied, welche Flugzeuge gebaut werden sollten. Göring begnügte sich zumin-dest hierbei mit der Rolle des Statisten.

Am 9. April 1943 notierte Goebbels beispielsweise:

Im Sonderwagen haben wir noch lange Besprechungen. Generalfeldmar-schall Milch äußert sich in der schärfsten und kritischsten Weise über den Reichsmarschall. Er macht ihm zum Vorwurf, dass er die technische Ent-wicklung der deutschen Luftwaffe vollkommen auf den Hund habe kommen lassen. Er sei auf den Lorbeeren, die er in den Jahren 1939 und 1940 errun-gen habe, eingeschlafen.20

Milch behauptete in diesem Gespräch, dass die 6. Armee hätte gerettet werden können, wenn er in Stalingrad die Befehlsgewalt gehabt hätte – er hätte auch gegen den Befehl des »Führers« den Rückzug angetreten.

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Milchs ausweichende Antworten bei den Nürnberger Prozessen 71

Es entbrannte eine Debatte, über die Berechtigung eines militärischen Führers, dem obersten Befehlshaber, also Hitler, zuwiderzuhandeln. Schließlich berichtete Milch, »dass der Führer über die Entwicklung der deutschen Luftwaffe außerordentlich ungehalten ist. Er hat sich den Generälen der Luftwaffe gegenüber darüber in der wütendsten und aus-fälligsten Weise geäußert, ohne dabei den Reichsmarschall zu schonen«. Milch wollte darüber hinaus die gesamte zivile Luftkriegführung in einer Hand zusammengefasst sehen und wollte hier Hitler wie Göring Goebbels vorschlagen. Die Konsequenz für Goebbels lautete: „Es ist auch aus diesen Gründen dringend notwendig, Göring eine stärkere Stütze zu geben. Seine Autorität darf unter keinen Umständen verschütt-gehen. Das wäre noch schlimmer als der Schaden, der durch die Säumig-keit der Luftwaffenführung angerichtet worden ist.«

1944 gab es einen letzten »Karriereschub« für Milch: Rüstungs-minister Albert Speer informierte die Obersten Reichsbehörden am 21. Juni 1944 darüber, dass er »aus Anlass der Übernahme der gesamten Luftwaffenrüstung durch den Reichsminister für Rüstung und Kriegs-produktion (…) den Reichsmarschall Hermann Göring als ObdL und RMdL gebeten [habe], mir den Generalfeldmarschall Milch für das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion zur Verfügung zu stellen«. Milch wurde somit Speers Stellvertreter.21 Diskutiert wurde lediglich über die Frage, ob er formell aus dem Amt des Staatssekretärs entlassen werden sollte.22 Entschieden wurde schließlich, dass die ent-sprechende Urkunde anders als üblich abzufassen sei. Darin solle zum Ausdruck kommen, dass Milch mit Rücksicht auf seine neue Verwen-dung die Entlassung beantragt habe.

Milchs ausweichende Antworten bei den Nürnberger Prozessen

Für seine Aktivitäten in der NS-Zeit musste sich Milch vor dem Interna-tionalen Militärgerichtshof in Nürnberg verantworten. Zuvor hatten ihn die Amerikaner ins Gefangenenlager Kaufbeuren gebracht und ihm ver-sprochen, seiner Frau und seiner behinderten Tochter Briefe zu übermit-teln, wenn er gegen Göring aussagen würde. Milch lehnte ab, obwohl die Briten drohten, ihn in diesem Fall selbst als Kriegsverbrecher anzuklagen.

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Der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson – »Justice Jack-son« – vernahm Milch am 8. März 1946 zu seiner Stellung als »Ehren-arier«. Die Passagen der Vernehmung, die im Zusammenhang mit dieser Thematik von Bedeutung sind, lauteten wie folgt:

Justice Jackson: Sie wussten, dass Ihr unmittelbarer Vorgesetzter, Göring, die antijüdischen Verordnungen der Reichsregierung herausgab, nicht wahr?

Milch: Nein, das weiß ich nicht. Soviel ich weiß, sind sie von einer anderen Stelle herausgegeben worden …

Justice Jackson: Wussten Sie nicht, dass die Verordnungen, die Juden und Halbjuden von ihren Stellungen ausschlossen, von Göring erlassen wurden?

Milch: Nein, das weiß ich nicht, sondern, soviel ich weiß, sind die Bestim-mungen vom Innenministerium, das ja auch zuständig gewesen wäre, herausge-ben worden.

Justice Jackson: Mussten Sie nicht selbst gewisse Schritte unternehmen, um die Wirkungen dieser Verordnungen zu umgehen?

Milch: Nein, ich weiß, was Sie meinen. Das war eine Frage, die lange vorher geklärt worden war.

Justice Jackson: Wie lange vorher wurde sie geklärt?

Milch: Soviel ich weiß, im Jahre 1933.

Justice Jackson: 1933, gerade nach der Machtübernahme der Nazis?

Milch: Jawohl.

Justice Jackson: Göring machte Sie damals, wir wollen darüber kein Miss-verständnis aufkommen lassen, zu dem, was Sie Vollarier nennen. Ist das rich-tig?

Milch: Das glaube ich nicht, dass ich durch ihn dazu gemacht wurde, son-dern dass ich es war.

Justice Jackson: Gut, sagen wir, er hat es bescheinigen lassen.

Milch: Er hat mir absolut bei dieser Frage, die unklar war, geholfen.

Justice Jackson: Das heißt, der Mann Ihrer Mutter war Jude, ist das richtig?

Milch: Das ist nicht gesagt.

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Milchs ausweichende Antworten bei den Nürnberger Prozessen 73

Justice Jackson: Sie mussten beweisen, dass keiner Ihrer Vorfahren Jude war?

Milch: Jawohl, das musste jeder.

Justice Jackson: Und in Ihrem Fall betraf es Ihren angeblichen Vater?

Milch: Jawohl.

Justice Jackson: Sie kannten sicherlich von Anfang an die Haltung der Nazi-Partei den Juden gegenüber, nicht wahr?

Milch: Nein, das wurde nicht mitgeteilt, sondern es musste jeder seine Papiere einreichen, und von einem Großelternteil war ein Papier nicht zu fin-den.23

Es ist bemerkenswert, mit welcher Unverfrorenheit Milch den Fragen zu seiner Abstammung auswich. Natürlich wusste er, dass er erst durch einen »Gnadenakt« Hitlers »Vollarier« geworden war, mochte dies aber vor dem Tribunal nicht einräumen.

Der Hauptanklagepunkt hatte Milchs Tätigkeit als Mitglied des »Amtes Zentrale Planung« betroffen. Dieses Amt war durch eine Ver-ordnung Hitlers vom 29. Oktober 1943 eingerichtet worden war. Milch war hier für die Zwangsarbeiterprogramme des Regimes mitverantwort-lich gewesen.24 Während ansonsten die amerikanischen Prozesse vor dem Internationalen Militärtribunal sich gegen Berufsstände richteten (Generäle, Ärzte), stand mit Milch lediglich in einem einzigen Fall ein Einzelner vor Gericht. Milchs Verteidiger Friedrich Bergold und dessen Assistent Werner Milch – ein Bruder des Angeklagten – scheiterten mit ihrer Verteidigungsstrategie, den Angeklagten als unpolitischen Militär darzustellen, der unter Befehlszwang stand und keine persönliche Ver-antwortung besaß.

Lutz Graf Schwerin von Krosigk berichtete in seinen Memoiren, dass eine amerikanische Sekretärin einer deutschen Kollegin vorab verbote-nerweise den Urteilsspruch mitgeteilt hatte: zweieinhalb Jahre Freiheits-entzug. Und ein US-Sergeant soll Milch am Vortag der Urteilsverkün-dung gar zur unmittelbar bevorstehenden Freilassung gratuliert haben. Dazu kam es nicht, denn einer der Richter, Michael A. Musmanno, hatte das Urteil nicht unterschrieben. Er war strikt dagegen, dass Görings rechte Hand in Freiheit gesetzt würde. Er erreichte es in Washington

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und mithilfe der US-Presse, dass Milch zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Später wurde das Strafmaß auf fünfzehn Jahre redu-ziert. Milch wurde 1954 vorzeitig aus der Haft entlassen. Für seine Ver-antwortung bei den tödlichen Dachauer Häftlingsversuchen wurde er nicht zur Rechenschaft gezogen.

Falscher Vater und gefälschtes Geburtsdatum

Am Fall Milch ist exemplarisch nachzuvollziehen, wie eine solche rassi-sche Heraufstufung zum »Arier« verlief. Göring musste bei Hitler vor-stellig werden, um Milch zum »Vollarier« werden zu lassen. Ferner musste er Standesamtsakten fälschen oder verschwinden lassen, damit die Fälschung der Abstammungsurkunden von Milch nicht offensicht-lich werden konnte. Beweis hierfür ist ein Schreiben Görings an den Leiter der Reichsstelle für Sippenforschung in Berlin, das vom 7. August 1935 datiert ist. Unter dem Briefkopf »Der Preußische Ministerpräsi-dent« hatte er folgenden Befehl erteilt:

Der Führer und Reichskanzler hat auf meinen ihm gehaltenen Vortrag hin die arische Abstammung des Staatssekretärs und Generalleutnants

Erhard Milch, geboren 30.12.1892 zu Wilhelmshaven

anerkannt. In Durchführung des Befehls des Führers ersuche ich Sie, die stan-desamtlichen Unterlagen dahin zu berichtigen, dass der Vater des Staatssekre-tärs, der verstorbene Baumeister Carl Bräuer, zuletzt wohnhaft Berlin-Grune-wald Königsallee 9, als solcher eingetragen wird. Das Gleiche gilt für die Geschwister.Mit Rücksicht auf die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit ersuche ich um umgehende Erledigung und Bericht an mich.25

Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass an den Standesamtsunter-lagen in Wilhelmshaven offensichtlich überhaupt keine Manipulationen vorgenommen wurden. Im Gegenteil. Unter der laufenden Nummer 101 ist der standesamtlichen Geburtsanzeige zu entnehmen, dass am 21. März 1892 der kaiserliche Marine-Apotheker Anton Georg Hugo

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3 Faksimile der Geburtsurkunde von Erhard Milch.

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Milch erschien und anzeigte, dass von seiner Ehefrau Clara Auguste Wilhelmine Milch, geborene Vetter, zu Wilhelmshaven in seiner Woh-nung am 30. März 1892 ein Kind männlichen Geschlechts geboren wurde.26 Erst am 4. Mai 1892 kam der Marine-Apotheker erneut ins Standesamt und gab bekannt, dass sein Sohn die Vornamen Erhard Al fred Richard erhalten sollte.

Zu dem von Göring angeordneten Geburtsdatum 30.12.1892 erklärte das zuständige Stadtarchiv Wilhelmshaven, dass in den Gebur-tenregistern von Wilhelmshaven für Dezember 1892 sowie Januar 1893 keine Geburt unter dem Namen Milch vermerkt ist. Möglicherweise hat Görings Anweisung zur Fälschung das Standesamt Wilhelmshaven gar nicht erreicht. Denn der zuständige Archivar Heinz-Dieter Ströhla teilte dem Autor dieses Buches am 13. August 2013 mit, »dass an den hier vorliegenden standesamtlichen Unterlagen keine nachträglichen Mani-pulationen feststellbar sind«.27

Vorsichtshalber aber soll Göring Milchs Mutter veranlasst haben, in einer Erklärung zuzugeben, ihr Sohn Erhard stamme aus einer illegiti-men Verbindung mit einem Arier. Dieser hätte nach Görings »Sprach-regelung« nur »Baumeister Carl Bräuer« sein können, doch findet sich in den Standesamtspapieren kein entsprechender Hinweis.28 Einen Beleg für diese Behauptung konnte nicht gefunden werden. Auch ein Tage-bucheintrag Victor Klemperers vom 18. Oktober 1936: »und Martha berichtet von dem Fliegergeneral Milch, der eine arische Mutter und einen jüdischen Vater habe: er gebe an, seine Mutter habe ihn im Ehe-bruch von einem Arier empfangen«, kann kaum als Beleg für seine »arische« Abstammung geeignet sein.

Die zitierte Anweisung Görings setzt allen Spekulationen ein Ende, er habe im Fall seines Staatssekretärs Milch »möglicherweise« Unterla-gen fälschen lassen. Um die »Legende« eines »Vollariers« hieb- und stichfest werden zu lassen, mussten Akten (in der Regel bezüglich der Vaterschaft) gefälscht werden – und zwar auf Befehl der Partei- und Staatsspitze. Im Zusammenhang mit Milch wird Göring häufig der Satz zugeschrieben: »Wer Jude ist, bestimme ich.«29 Dies mag er vielleicht einmal so gesagt haben, doch aus seinem Brief an das Reichssippenamt geht eindeutig hervor: Das letzte Wort in solchen Fragen lag stets bei Hitler.

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Görings Beziehung zu Juden 77

Görings Beziehung zu Juden

Bisweilen wird Göring eine gewisse Milde gegenüber Juden nachgesagt. Eine solche Darstellung ist schlichtweg falsch. In der Ausgabe vom 20. März 1963 des Nachrichtenmagazins Der Spiegel war beispielsweise zu lesen, wie Görings Privatleben sei auch seine Arbeitsweise nach dem Prinzip ausgerichtet gewesen, seiner Meinung nach vermeidbaren Schwierigkeiten auszuweichen: »Beispielsweise lehnte er es ab, in jedem Juden nur einen Schädling des NS-Staates zu sehen, und er machte den Halbjuden Erhard Milch zum Staatssekretär im Reichsluftfahrtministe-rium. Andere rassisch Verfolgte wurden von ihm, wenn sie ihm nützlich waren, kurzerhand zu Ehrenariern ernannt.«30 Die Angelegenheit Milch belegt, dass diese Aussage nicht zutrifft, Göring konnte niemanden zum »Ehrenarier« befördern.

Es mag sein, dass Göring, der mit Fortschreiten der NS-Diktatur immer weniger ernst genommen wurde, manchem Juden, Halbjuden oder »Mischling« das Leben rettete. Vielleicht war es Pragmatismus, möglicherweise spielten aber auch seine Jugenderfahrungen dabei eine Rolle. In Afrika hatte Görings Vater Ernst Heinrich Bekanntschaft mit dem Arzt Hermann von Epenstein gemacht.31 Epenstein, der einer alten jüdischen Adelsfamilie entstammte, machte Görings Mutter Fanny zu seiner Geliebten. Die Liaison hielt fünfzehn Jahre, und Erhard Milch gab später an, dass aus dieser Beziehung ein illegitimer Halbbruder Görings, Herbert L.W. Göring, stammen würde. Dieser sei so jüdisch gewesen, wie man nur sein könne. Epenstein beendete 1913 die Affäre und warf die Familie Göring aus der Burg Veldenstein. Diese mittelalter-liche Wehranlage oberhalb von Neuhaus an der Pegnitz, etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Nürnberg, hatte er aufwendig restaurieren lassen. 1938 ging sie in den Besitz von Hermann Göring über. Bekannt ist, dass das Verhältnis Hermann Görings zu seinem jüdischen Paten-onkel bis zu dessen Tod 1934 eng und herzlich war.

Eine besondere Beziehung zu Juden hatte Görings zweite Ehefrau Emmy, geborene Sonnemann. Die Schauspielerin nutzte ihre Beziehun-gen, um unter ihren alten Berufskollegen auch Juden zu schützen. Goeb-bels empfand dies als Einmischung in sein ureigenstes Gebiet und hielt am 22. September 1943 fest, Hitler ärgere sich darüber, »dass Frau Göring sich immer in die Theaterfragen hineinmischt und hier eine

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ziemlich unglückliche Personalpolitik betreibt«.32 Dies bestätigt auch David Irving in seiner Göring-Biographie. Dort heißt es zur Rolle von Emmy Göring:

Als Ministerpräsident von Preußen ließ er auch den Generalintendanten seines Staatstheaters, Gustaf Gründgens, Schauspieler wie Wolf Trutz, Paul Bildt, Paul Henckels und Karl Etlinger engagieren, alle mit jüdischen Frauen verheiratet, die auch überlebten. Er ermutigte seine Frau, sich für jüdische Kolleginnen von der Bühne einzusetzen (bis Hitler ihr einen persönlichen Brief schrieb, sie möge die Hilfe für die Juden unterlassen). Doch Göring setzte sich darüber hinweg und hielt die Verbindung mit Juden aufrecht, solange diese ihm schöne Kunstwerke und wertvolle Steine verkaufen konn-ten. In München ging er ungeniert in das Haus Bernheimer am Lenbach-platz hinein, eines der angesehensten Antiquitätenhäuser der Welt, um dort einzukaufen. Und durch Diener ließ er sich Schallplatten mit »Hoffmanns Erzählungen« aus Paris besorgen, da Offenbachs Werke in Deutschland verboten waren.33

In diesem Zusammenhang leistete Bruno Lohse Göring gute Dienste. Der stellvertretende Direktor des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg besorgte für Göring zahlreiche Kunstwerke. Einen besonders guten Kontakt hatte er zu den Brüdern Allen und Manon Loebl. Ihre Galerie in Paris war zwar arisiert worden, aber Loebl blieb dank Göring fakti-scher Besitzer. Über diese Galerie wurden viele Käufe mit den Deut-schen vor allem auch für Göring abgewickelt. Lohse arrangierte es, dass Loebl Göring das Vorkaufsrecht für alle Bilder zusicherte, die er in die Hand bekam. Dafür gewährte ihm Lohse den Schutz vor Verfolgungs-maßnahmen von SD und SS. Am 15. Juni 1943 schrieb Lohse an Göring: »Ich bitte um Anordnung, die sagt, dass ich die Juden Gebrü-der Loebl weiterhin vom SD für meine Ermittlungszwecke zur Verfü-gung stellen lassen kann.« Handschriftlich wurde auf dem Brief ver-merkt: »Lohse soll sehen, dass er das so macht, soll Namen RM [Reichsminister] nicht mit Juden in Verbindung bringen! Wenn es geht unter der Hand machen.«34 Die einzige Bedingung Görings gegenüber Lohse war also, dass sein Name auf keinem Papier bei den Verhandlun-gen mit der Gestapo auftauchen dürfe.

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Goebbels’ Verstoß gegen die Rassengesetze 79

Goebbels’ Verstoß gegen die Rassengesetze

Major Gerhard Engel, Hitlers Wehrmachtsadjutant, schrieb am 2. No-vember 1942 an das Oberkommando der Wehrmacht: »Die Tatsache, dass eine deutsche Frau, ganz gleich unter welchen Umständen, gewillt gewesen ist, in ehelicher Gemeinschaft mit einem Juden zu leben, ist ein Zeichen von Charakterschwäche, die nicht unbeachtet bleiben darf.«35

Wenn die NS-Repräsentanten diesen Satz auch für sich als gültig betrachtet hätten, hätte Joseph Goebbels niemals seine Frau Magda hei-raten dürfen. Denn mit dieser Ehe verstieß ausgerechnet der Chefpropa-gandist gegen die rassenpolitischen Grundsätze, die er lautstark propa-gierte.

Abgesehen von all seinen übrigen Schwächen und Fehlern war Goeb-bels, sofern es um seine Liebschaften ging, nicht eben wählerisch – zumindest hinsichtlich der »rassischen Abstammung«. In seiner Zeit in Wuppertal-Elberfeld unterhielt er ein inniges Verhältnis zu Else Janke, die als technische Lehrerin an der katholischen Volksschule in Rheydt arbeitete und sich als Goebbels’ Verlobte betrachtete. Elses Mutter war allerdings Jüdin. In den Jahren 1924 bis 1926 gibt es kaum einen Tage-bucheintrag von Goebbels, in dem er nicht von Else schwärmte, sich mit ihr stritt und wieder versöhnte, wie beispielsweise folgender Eintrag dokumentiert:

Mit Else wieder aufs innigste vertragen. Eine köstliche Stunde gegenseitigen Verstehens. Ich habe sie gleichsam wieder von Neuem. Sie ist so lieb und anhänglich. Die schärfste Waffe, die die Frauen gegen uns führen: ein Trä-nenstrom. Dagegen sind wir machtlos. Ich höre Else auf dem benachbarten Schulhof kommandieren. Sie freut sich bestimmt schon auf unser Zusam-mensein heute Nachmittag. Sie kann ohne mich nicht mehr sein. Ich bin ihr Alles. Warum gibt mir das Geschick so viel an Liebe? Warum kann ich so viel an Liebe wiedergeben? Bin ich anders als die anderen alle? Ein Glückskind gar?36

Dieses »Glück« hielt nicht lange an. 1922 kam es mit Else Janke zu einem heftigen Wortwechsel über seine Behinderung, bei dem die junge Lehrerin ihm eröffnete, dass ihre Mutter Jüdin sei. Die Beziehung wurde dennoch fortgesetzt, doch Goebbels vermerkte im Tagebuch, der

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80 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

»ursprüngliche Zauber« sei nun dahin. Sein wachsender Antisemitis-mus belastete die Beziehung zunehmend – aber zu Ende ging das Ver-hältnis zur »Halbjüdin« Else Janke erst 1926, als Hitler Goebbels zum Gauleiter von Berlin bestellte.

Am 13. Dezember 1933 war von der einstigen großen Liebe nicht mehr viel zu spüren. Zufällig begegnete Goebbels Else Janke am Rande einer Beerdigung in seiner Heimatstadt: »Ich treffe mittags durch einen Zufall Else Janke und Alma [eine Kollegin von Else]. Else wird abwech-selnd puterrot und kreidebleich. Nachher fragt sie mich, ob ich noch manchmal an sie denke. Ich sage ja und lüge wohl dabei. Sie hat sich gar nicht verändert. Immer noch hübsch und zart wie damals. Über 3 Jahre sahen wir uns nicht.«37 Der letzte Eintrag über Else Janke findet sich am 25. Juni 1933 in den Tagebüchern: Goebbels begnügte sich anlässlich eines Besuchs in Rheydt mit dem Hinweis. »Auf dem Marktplatz gere-det. Dann bei Mutter. Ich regele mit ihr allein die Frage Else J.«38 Da war er längst, mit Magda, geschiedene Quandt, liiert.

Johanna Maria Magdalena Behrend, die spätere Magda Goebbels, wurde am 11. November 1901 als uneheliche Tochter des Ingenieurs Oskar Ritschel und des Dienstmädchens Auguste Behrend geboren. Rit-schel heiratete Auguste nach der Geburt der Tochter, die Ehe hielt aber nur bis 1904. Magda lebte mit ihrem Vater in Brüssel, in dieser Zeit hei-ratete ihre Mutter den jüdischen Kaufmann Richard Friedländer, dessen Name auch Magda annahm. 1920 lernte Magda den zwanzig Jahre älte-ren Großindustriellen Günther Quandt kennen. Am 15. Juli dieses Jah-res erkannte Ritschel sie als leibliche Tochter an, sie verlobte sich mit Quandt und trat vom katholischen zum evangelischen Glauben über. 1919 wurde die Ehe der Quandts geschieden, Magda ging eine Bezie-hung mit dem linken Zionistenführer Chaim Vitaly Arlosoroff ein, der Magda eine Zeit lang zur glühenden Zionistin werden ließ. 1930 trat sie in Berlin der NSDAP-Ortsgruppe Westend bei.

Die Arbeit an der Parteibasis gefiel ihr aber nicht. Darum bot sie an, in der Parteizentrale der Berliner NSDAP mitzuarbeiten. Dort lernte sie Joseph Goebbels kennen, der damals Gauleiter von Berlin war und sie zur Betreuerin seines Privatarchivs machte. Bald entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen den beiden, und sie heirateten am 19. Dezember 1931. Auf Veranlassung von Goebbels legte Magdas Mut-ter 1931 den Nachnamen ihres zweiten Ehemanns Friedländer ab. Seit

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Goebbels’ Verstoß gegen die Rassengesetze 81

der Hochzeit mit Quandt hatte Magda jeden Kontakt mit ihrem ehema-ligen Stiefvater Richard Friedländer vermieden. Dieser war inzwischen verarmt und musste sich mit Gelegenheitsarbeiten als Hilfskellner durchs Leben schlagen. Im Sommer 1938 wurde er bei der sogenannten Juni-Aktion »Arbeitsscheu Reich« in das KZ Buchenwald deportiert. Dort musste er, gesundheitlich schon angeschlagen, schwere Arbeit im Steinbruch verrichten, die in Verbindung mit den katastrophalen Lebensbedingungen zu seinem Tod führte. Seine Urne wurde den Ange-hörigen per Nachnahme, gegen Zahlung von 93 Reichsmark, nach Ber-lin zugestellt. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beigesetzt.

Goebbels, der keine Mittel scheute, Berlin »judenfrei« zu machen, hatte also eine Frau geheiratet, die zwar selbst kein jüdisches Blut in ihren Adern hatte, aber früher enge Beziehungen zu Juden und zionisti-schen Aktivisten unterhalten hatte. Jedem anderen Deutschen wäre eine solche Ehe, wie Goebbels sie mit Magda geschlossen hatte, nicht geneh-migt oder, wenn sie doch zustande gekommen wäre, zum Verhängnis geworden. Goebbels hätte zumindest den öffentlichen Dienst verlassen müssen, ebenso die Wehrmacht – aber er war ja Minister. Und eben die-ser Goebbels echauffierte sich darüber, dass anlässlich der Ausweisung eines maßgebenden Berliner Juden und bei der Überprüfung seiner Hin-terlassenschaft festgestellt worden war, dass der deutsche Kronprinz noch Mitte 1941 »an diesen Juden noch sehr herzliche Briefe geschickt und Bilder mit außerordentlich herzlichen Widmungen hat überreichen lassen«.39 Das Hohenzollernhaus von heute sei keinen Schuss Pulver mehr wert, folgerte Goebbels.

In diesen Zusammenhang passt übrigens eine Meldung der Reichs-musikkammer, die einen eigenen Kontrolldienst mit dem Charakter einer Hilfspolizei unterhielt. Die Kontrolleure hatten am 27. Januar 1935 im Berliner Restaurant Engelhardt »unter dem Deckmantel eines caritativen Handarbeitsclubs (…) einen Kreis ehemaliger aktiver Offi-ziere bei des Kaisers Geburtstagsfeier überrascht«.40 Aus rassenideologi-scher NS-Sicht war aber dieser Vorfall weitaus schwerwiegender: Dem-nach war der »volljüdische« Besitzer des Mohr’schen Konservatoriums Fritz Vogel aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen worden. Den-noch hatte er auch weiterhin »2 Söhne des Ex-Kronprinzen, die beide beim Amtsgericht Werder/H. als Referendar bzw. Assessor tätig sind, im

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Schloss Charlottenhöhe, Potsdam, im Harmonikaspiel unterrichtet«. Folglich war das frühere Kaiserhaus mit wenigen Ausnahmen zumindest für Goebbels höchst unzuverlässig und verdächtig.

Der Kampf gegen die »Geltungsjuden«

Der Propagandaminister, der gleichzeitig NS-Gauleiter von Berlin war, betrachtete es als eine seiner größten »politischen« Leistungen, Berlin nahezu »judenfrei« gemacht zu haben.41 Dennoch klagte er am 19. April 1943 darüber, dass sich noch immer eine »ganze Reihe von sogenannten ›Geltungsjuden‹, von Juden aus privilegierten Mischehen und auch von Juden, die nicht privilegiert sind«, in Berlin befanden. Noch am selben Tag wollte er eine erneute Überprüfung der Juden ver-anlassen. Vor allem aber wollte er den »Judenstern« nicht mehr auf Berlins Straßen sehen: »Entweder muss man ihnen den Judenstern neh-men und sie privilegieren, oder sie im anderen Falle endgültig aus der Reichshauptstadt evakuieren.« Mit aller Härte ging Goebbels in Berlin gegen Juden vor, sprach aber dann selbst von einigen »Misshelligkei-ten«, zu der diese »Evakuierung« geführt habe:

Leider sind dabei auch die Juden und Jüdinnen aus privilegierten Ehen zuerst mit verhaftet worden, was zu großer Angst und Verwirrung geführt hat. Dass die Juden an einem Tage verhaftet werden sollten, hat sich infolge des kurzsichtigen Verhaltens von Industriellen, die die Juden rechtzeitig warnten, als Schlag ins Wasser herausgestellt. Im Ganzen sind wir 4000 Juden dabei nicht habhaft geworden. (….) Die Verhaftung von Juden und Jüdinnen hat besonders in Künstlerkreisen stark sensationell gewirkt. Denn gerade unter Schauspielern sind ja diese privilegierten Ehen noch in einer gewissen Anzahl vorhanden. Aber darauf kann ich im Augenblick nicht übermäßig viel Rücksicht nehmen. Wenn ein deutscher Mann es jetzt noch fertigbringt, mit einer Jüdin in einer legalen Ehe zu leben, dann spricht das absolut gegen ihn, und es ist im Kriege nicht mehr an der Zeit, diese Frage allzu sentimental zu beurteilen.42

Aber selbst Goebbels kam trotz seines Judenhasses nicht umhin, gerade solche »privilegierten« Ehen in Künstlerkreisen zu dulden und

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Die Bespitzelung von Wissenschaftsminister Bernhard Rust 83

den Betroffenen Sondergenehmigungen und Auftrittserlaubnisse zu erteilen. Ferner sei darauf hingewiesen, dass Goebbels die »Evakuie-rungsmaßnahmen« in Berlin für kurze Zeit hatte unterbrechen lassen. Der SD habe sie für ungünstig gehalten, da »sich leider etwas unlieb-same Szenen vor einem jüdischen Altersheim abgespielt hätten, wo die Bevölkerung sich in größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden etwas Partei ergriff«, notierte er am 6. März 1943 in seinem Tagebuch.43

Die Bespitzelung von Wissenschaftsminister Bernhard Rust

Ein anderer Reichsminister, der nach NS-Rassekriterien dieses Amt nicht hätte bekleiden dürfen, war Wissenschaftsminister Bernhard Rust. Offensichtlich hatte die NS-Spitze mit Reichsmarschall Göring gearg-wöhnt, dass die Abstammung von Rust oder seiner zweiten Ehefrau Anna-Sofie, geborene Dietlein – aus nationalsozialistischer Sicht – dunkle Flecken aufwies.

Göring erteilte der Reichsstelle für Sippenforschung am 25. Dezem-ber 1936 den Befehl, »einen vertraulichen persönlichen Bericht« über Rust zu erstellen.44 Das Ergebnis lag schon kurze Zeit später, am 7. Januar 1937, vor. Von vorrangigem Interesse erwies sich für die Natio-nalsozialisten die Abstammung der Ministergattin. Anna-Sofie Rust war die Urenkelin des Ehepaares Steinmann-Gottheimer, wobei sich heraus-stellte, dass Ludwig Steinmann ebenso »Volljude« war wie seine Gattin Eleonore. Nach den Feststellungen der Reichsstelle für Sippenforschung ergab sich, dass die »Ehefrau Rust (…) jüdischer Mischling mit einem der Rasse nach volljüdischen Großelternteil (Mischling 2. Grades, ¼ Jüdin)« war.45

Der Leiter der Reichsstelle für Sippenforschung verwies auf einen Ausweg aus dem Dilemma, nämlich auf eine Vereinbarung mit Reichs-leiter Philipp Bouhler, der zufolge ihm von der Kanzlei des »Führers« sämtliche Begnadigungen in Abstammungsangelegenheiten mitgeteilt werden sollten. Im Übrigen regte er an, dass die von Bormann geführte Partei-Kanzlei solche Abstammungsfragen wie die der Ehefrau Rust

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84 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

unbedingt seiner Dienststelle vorlegen müsse, da sie allein über die Prü-fungsmöglichkeiten verfügen würde.

Diskrepanzen zwischen dem Reichsministerium des Innern, der Par-tei-Kanzlei und der Reichsstelle für Sippenforschung ergaben sich, als es um die Frage ging, nicht nur der Ehefrau von Minister Rust die wichtige »Deutschblütigkeit« zu bescheinigen, sondern auch ihren Geschwis-tern. Der Reichsminister des Innern wandte sich am 1. Februar 1937 »wegen einer Ausdehnung des zugunsten der Geschwister von Dietlein ergangenen Gnadenaktes des Führers und Reichskanzlers auf weitere Nachkommen des Ehepaares Steinmann/Gottheimer« an Bouhler. Für eine »Mitteilung des Veranlassten« wäre er dankbar.46 Als Heinrich von Dietlein, Bruder der Ehefrau Rusts, noch weitere Forderungen stellte, lehnte der Innenminister ab,47 denn solche Bescheide würden im Wider-spruch zu den tatsächlichen Abstammungsverhältnissen stehen. Ihre Erteilung sei daher nur rechtlich zulässig, »wenn der Führer und Reichskanzler im Gnadenwege eine derartige Anordnung getroffen hätte«. Dass Änderungen der Abstammungsbescheide, sofern Hitler sie auf dem »Gnadenweg« anordnete, fast nie den tatsächlichen Abstam-mungsverhältnissen entsprachen, überging der Reichsminister des Innern geflissentlich. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Interesse, dass es Martin Bormann war, der im Herbst 1942 die Verwen-dung des Begriffs »Gnadengesuch« verbot.48

Hieß Robert Ley eigentlich Levi?

Dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley sagte man jüdi-sche Wurzeln nach. Dies jedenfalls behauptete Reichsjugendführer Artur Axmann in seinem Buch Das kann doch nicht das Ende sein. Axmann berief sich dabei allerdings auf Baldur von Schirach, seinen Vorgänger im Amt des Reichsjugendführers, der in seinem Buch Ich glaubte an Hitler geschrieben hatte: »Ich erinnerte mich, wie er [Ley] mir einmal gesagt hatte: ›Ich habe ja eigentlich gar kein Recht, mich als Vorkämpfer der Germanen hinzustellen. Ich bin ja auch sonst kein Vor-bild im Leben.‹« Axmann schrieb dann weiter: »Nun war Ley tot, des-sen Ariernachweis im Panzerschrank von Heß lag. Ley war jüdischer

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Gerüchte um Reinhard Heydrichs »jüdisches Blut« 85

Abstammung und hieß eigentlich Levi. Nicht einmal gerüchteweise wie bei Heydrich und Milch hatte ich je davon gehört.«49

Ley war 1923 in die NSDAP eingetreten und wurde 1925 von Hitler mit der Führung des Gaus Rheinland-Süd beauftragt.50 Seit 1930 gehörte er für den Wahlkreis Köln/Aachen dem Reichstag an, war Reichsinspekteur und Stellvertreter des Reichsorganisationsleiters der NSDAP. Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften wurde er Chef der Deutschen Arbeitsfront (DAF).

Als größte Massenorganisation im Dritten Reich (1938 zählte sie 23 Millionen Mitglieder) kontrollierte die DAF Einstellung und Entlas-sung, Entlohnung und Sozialversicherung sowie die Altersversorgung von Arbeitskräften. Ley, innerhalb der NS-Führung meistens abfällig »Reichs-Trunkenbold« genannt, gründete im Rahmen der DAF nach dem Vorbild von Mussolinis »Opera Nazionale Dopolavoro« die Organisation »Kraft durch Freude« (KdF), um die Bevölkerung stärker an die Partei anzubinden und ihre Freizeit zu gestalten, zu überwachen und gleichzuschalten.

Axmann wollte im Übrigen, wie Millionen anderer, die Hitler blind gefolgt waren, nach dem verlorenen Krieg von Antisemitismus, Juden-verfolgung und Holocaust kaum etwas gewusst haben.51 Er behauptete sogar, dass er und die übrigen Mitglieder des Nationalsozialistischen Schülerbundes die jüdischen Mitschüler nie gehänselt, benachteiligt oder gar bedroht hätten. Außerdem sei sein ältester Bruder Kurt im jüdi-schen Bankhaus Caro & Co. beschäftigt gewesen und danach bei einem jüdischen Geschäftsmann, den er auch auf Reisen begleitet hatte. Er selbst habe erlebt, dass ein Jude einem Jungen empfohlen habe, in die Hitlerjugend einzutreten. Kurzum: Axmann beteuerte, Juden nicht feindlich gesinnt gewesen zu sein, allenfalls habe er eine Abneigung gegen »Ostjuden« gehabt.

Gerüchte um Reinhard Heydrichs »jüdisches Blut«

Jüdische Verwandtschaft wurde übrigens auch Reinhard Heydrich, dem gefürchteten Chef der Sicherheitspolizei und des SD, nachgesagt. Grundlage für eine solche Vermutung war ein Eintrag in Riemanns Musik-Lexikon aus dem Jahr 1916, bei dem hinter dem Namen von

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86 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

Heydrichs Vater – Bruno Heydrich – der Vermerk: »eigentlich Süß« zu finden war.52 Achim Gercke, Sachverständiger für die Überprüfung von Abstammungsbescheiden beim Reichsminister des Innern, wurde beauf-tragt, den Wahrheitsgehalt zu eruieren. Er kam zu dem Ergebnis, dass Heydrich deutscher Herkunft sei, »frei von farbigem oder jüdischem Bluteinschlag«. Gercke erklärte die Entstehung des Gerüchts damit, »dass Oberleutnant Heydrichs Großmutter Ernestine Wilhelmine Heydrich, geborene Lindner, in zweiter Ehe mit dem Schlossergehilfen Gustav Robert Süß verheiratet war und als Mutter einer zahlreichen Kinderschar aus der Ehe mit ihrem ersten Mann Reinhold Heydrich sich des öfteren Süß-Heydrich genannt hat«.53 Letztlich gab es keinen Beweis für jüdisches Blut in Heydrichs Adern, doch hielt sich das Gerücht bis weit über seinen Tod und über das Ende des Nationalsozia-lismus hinaus.

Genährt wurde es im Übrigen auch durch den finnischen Medizinal-rat Felix Kersten, der ab 1939 Himmlers Leibarzt war und den Reichs-führer-SS wie kaum ein anderer kannte. Ihn hatte Kersten am 20. August 1942 anlässlich eines Krankenbesuchs auf Gut Hartzwalde auf das Gerücht angesprochen, dass Heydrich nicht rein arisch sei. Es entspann sich der folgende Dialog:

Himmler: Doch, es stimmt.

Kersten: Wussten Sie das schon früher, oder haben Sie das erst jetzt bei sei-nem Tode erfahren? Weiß das auch Herr Hitler?

Himmler: Das wusste ich schon, als ich noch Chef der bayerischen politi-schen Polizei war. Ich habe damals dem Führer Vortrag gehalten, daraufhin ließ dieser Heydrich zu sich kommen, hat mit ihm lange gesprochen und einen sehr günstigen Eindruck von ihm bekommen. Später erklärte der Führer mir, dieser Heydrich sei ein hochbegabter, aber auch sehr gefährlicher Mann, des-sen Gaben man der Bewegung erhalten müsse. Solche Leute könnte man jedoch nur arbeiten lassen, wenn man sie fest in der Hand behielte, und dazu eigne sich seine nichtarische Abstammung ausgezeichnet, er werde uns ewig dankbar sein, dass wir ihn behalten und nicht ausgestoßen hätten und werde blindlings gehorchen. Das war dann auch der Fall.54

Kersten habe sich an die unterwürfige Art erinnert, mit der Heydrich stets Himmler begegnet sei. Dieser habe erklärt, dass man Heydrich

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Gerüchte um Reinhard Heydrichs »jüdisches Blut« 87

Aufgaben übertragen konnte, an die niemand sonst gern heranging, auch die »Judenaktion«. Kersten habe darauf reagiert und gemeint: »Da haben Sie also, um die Juden zu vernichten, einen ihrer Verwand-ten benutzt, der in Ihrer Hand war. Das ist wirklich ein teuflisches Spiel.«

In einem weiteren Gespräch – so berichtet Kersten – habe Himmler erklärt, Heydrich habe »unendlich unter der Tatsache gelitten, »dass er nicht reinrassig war«. Durch erhöhte Leistungen im Sport habe er beweisen wollen, dass der germanische Anteil in seinem Blut überwiege, zumal bekannt sei, dass der Sport Juden an sich nicht liege. Himmler habe dann gesagt:

Wie leid tat er mir, wenn er mir in seinem Bereich Männer zur Aufnahme in die SS vorschlug und besonders auf ihre ausgezeichnete rassische Abstam-mung hinwies. Ich wusste dann, was in ihm vorging. (…) Ich habe mich oft mit ihm unterhalten und versucht, ihm zu helfen, sogar gegen meine Über-zeugung ihm gegenüber die Möglichkeit der Überwindung des jüdischen Blutanteils durch das bessere germanische Blut zuzugeben und ihn selbst als ein Beispiel dafür bezeichnet. Wie freute er sich, als dieser Gedanke für Vierteljuden, jedoch nur aus rein staatspolitischen Gründen, um die Juden-frage endgültig einer Regelung zuzuführen, in der Rassegesetzgebung zum Ausdruck kam.55

Heydrich sei »herrlich zum Kampf gegen das Judentum« zu gebrau-chen gewesen, fuhr Himmler fort:

Er hatte in sich den Juden rein intellektuell überwunden und war auf die andere Seite übergeschwenkt. Er war davon überzeugt, dass der jüdische Anteil an seinem Blut verdammenswert war, er hasste dieses Blut, das ihm so übel mitspielte. Der Führer konnte sich im Kampf gegen die Juden wirklich keinen besseren Mann aussuchen als gerade Heydrich. Den Juden gegenüber kannte er keine Gnade und kein Mitleid.56

Hans Michael Frank, 1900 in Karlsruhe geboren, begegnete als 19-Jäh-riger erstmals Hitler in München und wurde dessen Rechtsanwalt. Während des Zweiten Weltkriegs war er Generalgouverneur in Polen und wurde als »Judenschlächter von Krakau« bekannt. Er hatte

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möglicherweise ebenfalls jüdische Wurzeln. So war 1953 im Spiegel zu lesen, dass Franks Vater Jude gewesen war, sich vom Bamberger Bischof hatte taufen lassen und dann zum altkatholischen Glauben übergetreten war.57 Hitler hatte laut Spiegel 1933 hiervon erfahren und seinen Hof-fotografen Heinrich Hoffmann wissen lassen, dass ihm an einer Beseiti-gung entsprechender Urkunden über die Herkunft Franks gelegen sei. Recherchen des Autors dieses Buches ergaben, dass im Geburtenregister der Stadt Karlsruhe von 1900, Eingang Nr. 1177, unter der Geburt von Hans Michael Frank als Vater der Sohn eines Ölmüllers aus Edekoben und geprüften Rechtskandidaten Karl Frank angegeben ist.58 Den Karls-ruher Standesamtsunterlagen zufolge war Karl Frank evangelisch, seine Frau Magdalena, geborene Buchmaier, ist als altkatholisch vermerkt. Das Paar hatte 1899 in München altkatholisch geheiratet. Eine jüdische Abstammung Hans Michael Franks scheint damit eher unwahrschein-lich, zumal es laut Stadtarchiv Karlsruhe auch keine Hinweise auf eine Manipulation der Standesamtsunterlagen – wie im Fall Erhard Milch – gibt. Ebenso finden sich im Altkatholischen Ordinariat Bonn keine Hinweise auf die Taufe Karl Franks.59 Hans Michael Frank, der spätere Gouverneur im besetzten Polen, wurde dagegen am 4. Juni 1900 alt-katholisch getauft.60 Der Spiegel scheint demnach einem nicht zu bele-genden Gerücht aufgesessen zu sein.

Schwerin von Krosigks Förderung eines Juden

Der 1932 von Reichskanzler Franz von Papen als Reichsfinanzminister ins Kabinett berufene Lutz Graf Schwerin von Krosigk stellte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 den Wech-sel des Staatssekretärs als erste große Veränderung im Ministerium fest. Er selbst hatte 1932 den Ministerialdirektor Arthur Zarden61 zum Staatssekretär ernannt:

Der bisherige Direktor der Steuerabteilung nahm mir die Sorge um die Steuer ganz ab; aber er war ein loyaler und treuer Mitarbeiter. Aus einer jüdischen Familie stammend und selbst Halbjude, trug er eine Judengeg-nerschaft zur Schau, die sich in manchmal nicht sehr taktvollen Bemer-kungen über seine jüdischen Kollegen [Herbert] Dorn62 und [Hans]

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Ivar Lissner – »Ehrenarier« in Canaris’ Diensten 89

Schäffer63 äußerte. Das war umso merkwürdiger, als auch seine Frau Jüdin war. Zarden suchte in dem Glauben, dass er auch unter Hitler Staatsse-kretär bleiben könne, seine Stellung dadurch zu festigen, dass er an zahl-reichen festlichen Veranstaltungen der damaligen Zeit ausnahmslos teil-nahm und, wenn Damen zugelassen waren, seine Frau mitbrachte.64

Zarden wurde noch 1933 im Rahmen eines von Hitler gegebenen Emp-fangs entlassen. Zarden drängte Hitler in eine Ecke und nötigte ihm das Versprechen ab, ihm ein seinem Rang entsprechendes Amt anzuver-trauen. Selbstverständlich nahm Hitler ein solches Versprechen in kei-ner Weise ernst.

Ivar Lissner – »Ehrenarier« in Canaris’ Diensten

Der deutsche Geheimdienst ließ hinsichtlich der Russland-Aufklärung Ende der Dreißigerjahre zu wünschen übrig. Interessanterweise beschränkte sie sich im Wesentlichen, wie Heinz Höhne in Canaris: Pa-triot im Zwielicht berichtet, »auf die Arbeit zweier ›Nichtarier‹, die dem Staat rüdester Judenverfolgung die besten Russland-Nachrichten der Branche lieferten. Der eine war der jüdische Kaufmann Klatt in Sofia, V-Mann der Abwehrstelle Wien und zugleich japanischer Nachrichten-dienststellen (…), und der andere war der deutschbaltische Schriftsteller Ivar Lissner in Harbin, ein Opfer nazistischer Rassengesetze, der sich gleichwohl zum Schutze seiner gefährdeten Eltern der Abwehr verdingt hatte und präzise Nachrichten über Russlands Luftabwehr funkte.«65

Lissner war 1909 in Riga als Nikolai Ivar Hirschfeld geboren. Sein Vater war Robert Hirschfeld, ein evangelisch getaufter »Volljude«. 1920 zog die Familie, die sich inzwischen Lissner nannte, nach Berlin, dann nach Lyon und 1932 wieder zurück nach Berlin. Ivar Lissner, der sich als Schriftsteller einen Namen gemacht hatte, trat 1932 der NSDAP bei, 1934 der SS, besuchte die SS-Junkerschule und gehörte zwei Jahre lang der Berliner SS-Standarte VI und einem Godesberger SS-Sturm an.

In seinem ersten Buch Blick nach draußen (1935) verteidigte er das »Dritte Reich« gegen »die Hasssaat der Kriegs- und Boykotthetzer« und machte folgerichtig Karriere in der Parteipresse. Er schrieb Artikel

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für den Angriff, das NS-Propagandaorgan von Joseph Goebbels, und arbeitete später für den Völkischen Beobachter. Die beiden Parteiblätter schickten den Parteigenossen als Korrespondenten in den Fernen Osten, wo er in Tokio sein Quartier aufschlug. Lissners Freund Werner Crome bezeugt: »Er war brennend ehrgeizig und wollte kein Paria, kein Out-cast sein. Er überkompensierte diesen Komplex durch besonderen Ein-satz innerhalb der NSDAP.«

Im Spiegel heißt es über sein weiteres Schicksal:

Ein neidischer Schulfreund las eines Tages einen Lissner-Artikel im Angriff; den Nazi dünkte es ungeheuerlich, dass ein Jude in einem NS-Blatt schreibe, und er alarmierte die Partei. Daraufhin schaltete sich die Gestapo ein, die nach monatelangen Ermittlungen feststellte, dass Vater Lissner seinen soge-nannten Ariernachweis frisiert hatte. Robert Lissner wurde wegen »Ver-dachts eines Falscheides« verhaftet. Für seinen Sohn aber brach eine Zeit der Demütigungen an: Anfang September 1939 leitete die Partei ein Aus-schlussverfahren gegen ihn ein, Mitte des Monats schloss ihn die Reichs-schrifttumskammer aus, kurz darauf entzogen ihm die Redaktionen von Angriff und VB die Arbeitserlaubnis. Lissner bot sich als V-Mann an. Er wusste, dass der mächtige Geheimdienst der Wehrmacht über genügend Einfluss verfügte, dem geschassten VB-Mann zu sichern, worum es ihm in erster Linie ging: eine neue berufliche Existenz und die Befreiung seines Vaters aus der Gestapo-Haft.«66

Lissner gelang es, beim Chef der deutschen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, unterzukommen, den er 1938 kennengelernt hatte. In der Fol-gezeit bewährte er sich als äußerst erfolgreicher V-Mann der deutschen Abwehr, der umfassendes Material über Russland lieferte. Bald konnte Lissner seine Forderungen stellen. Er verlangte von seinen Auftragge-bern, zu denen Major Busch und Hauptmann Brede gehörten, man möge ihn rehabilitieren und seinem Vater die Freiheit wiedergeben.

Schon Ende 1940 hatten Busch und Brede bei der Gestapo durchge-setzt, dass Robert Lissner in Freiheit kam und Deutschland mit seiner Frau verlassen durfte. Kurz darauf musste die Reichsschrifttumskammer Ivar Lissner wieder aufnehmen.

Um ihn als Topinformanten zu halten, hatten sich die Nationalsozia-listen sogar bereit erklärt, seinen erneut verhafteten Vater aus dem Kon-

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Ivar Lissner – »Ehrenarier« in Canaris’ Diensten 91

zentrationslager zu entlassen und ihm die Ausreise nach China zu gestat-ten. Ivar Lissner wurde aufgrund seiner Verdienste sogar zum »Ehrenarier« erklärt. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, teilte am 24. August 1941 mit: »Führer hat entschieden, dass der Schriftsteller Dr. Ivar Lissner Deutschblütigen gleichgestellt wird.«67 Die Gleichstellung bezog sich jedoch nicht auf die NSDAP und ihre Gliederungen, sondern nur auf die anderen Lebensbereiche. Allerdings wurde der frisch gekürte »Ehren arier« sogar mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet – offensichtlich war dies weniger wert als eine Mitgliedschaft in der NSDAP.

Lissner bezog Quartier in Harbin, wo er vorgab, er sei ein hoher SS-Führer, den Adolf Hitler persönlich mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet habe. Lissner gab sich auch als Chef der Gestapo für den Fernen Osten aus, der mit der Führung aller dort lebenden Reichsdeut-schen beauftragt sei. Einige Deutsche, die Lissner skeptisch gegenüber-standen, wurden aufmerksam. Einer von ihnen, ein Parteigenosse namens Adalbert E. Schulze, meldete sich Ende Februar 1942 bei dem Polizeiverbindungsführer der deutschen Botschaft in Tokio, dem SS-Standartenführer Josef Meisinger. Ihm erzählte Schulze, in Harbin wun-dere man sich darüber, wie es der Halbjude Lissner geschafft habe, zum Gestapo-Chef Asiens aufzusteigen. Gestapo-Mann Meisinger zeigte sich unangenehm überrascht. Wütend drohte er, »diesem arroganten Juden« das Handwerk zu legen. Er ernannte Schulze zum Gestapo-Ver-treter in Harbin und beauftragte ihn, Lissner zu beschatten.

Meisinger war von April 1941 bis zum Kriegsende als Polizeiverbin-dungsführer und Sonderbeauftragter des SD an der deutschen Botschaft in Tokio sowie als Verbindungsmann zum japanischen Geheimdienst eingesetzt. In dieser Funktion war es seine Aufgabe, den Sowjetagenten Richard Sorge zu beobachten. Doch statt diesem misstrauisch zu begeg-nen, wurde er dessen Saufkumpan und ergiebigste Quelle für Informati-onen, die Sorge nach Moskau meldete. Seinem Chef Walter Schellen-berg meldete er nur Gutes über ihn.68 Nachdem Sorge im Oktober 1941 von den Japanern verhaftet wurde, versuchten Meisinger und der deut-sche Botschafter Eugen Ott die Sache zu vertuschen.

Als Ivar Lissner schließlich doch das Ausmaß des Verrats nach Berlin enthüllte, was zur Ablösung von Ott führte, gehörte Meisinger zu den

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treibenden Kräften, die ihn selbst bei den Japanern anschwärzten und verhaften ließen. Seine rücksichtslosen Methoden, Gegner zu beseiti-gen, wurden auch schnell in den deutschen Gemeinden in Schanghai und Tokio bekannt. Er schickte Regimekritiker beispielsweise von Japan auf Blockadebrechern nach Deutschland, was mit hohen Risiken behaf-tet war. Dabei schärfte er zusätzlich den Kapitänen ein, die Übeltäter bei drohendem Verlust des Schiffes zu töten. Eine andere Methode von Meisinger war, unliebsame Gegner den japanischen Sicherheitsbehör-den auszuliefern.

Meisinger hielt den Zeitpunkt für gekommen, Lissner vollends zu Fall zu bringen. Am 25. Mai 1943 meldete er nach Berlin, Lissner gebe sich als »Angehöriger des Stabs des Führers« aus und berufe sich auf seine »direkte Verbindung zum Führer«. Lissner-Gegner im Auswärti-gen Amt erkannten ihre Chance: Sie leiteten den Bericht Meisingers an den Obersalzberg weiter, wo Walter Hewel, »Botschafter zur besonde-ren Verfügung im Rang eines Staatssekretärs«, ihn Hitler vorlegte. Die-ser gab an, Lissner nicht zu kennen, »solche Leute« solle man »am bes-ten gleich erschießen«. Meisinger hatte freie Bahn, die japanische Spionageabwehr konnte losschlagen. Fünf Tage nach Hitlers Kommen-tar, am 4. Juni 1943, wurden Lissner, sein Freund Crome und dessen Sekretärin von japanischen Polizisten verhaftet.

Über Lissner schrieb Heinz Höhne im Vorwort zu Lissners Biogra-phie Mein gefährlicher Weg:

Lissner war immer auf der Flucht. Als Balte wurde er von den Russen aus Riga vertrieben. Dann war er Deutscher, bis die rassischen Gesetze des Drit-ten Reichs ihn zum Halbjuden machten. (…) Von entscheidender Bedeu-tung für sein Leben aber wurde die nationalsozialistische Judenverfolgung, die ihn in die innere Emigration zwang. Auf seinem gefährlichen Weg bis hin zum wichtigsten Mann der deutschen Abwehr in Ostasien offenbarte er sich niemandem. Er blieb auch seinen besten Freunden ein Rätsel.69

Nach dem Krieg war Lissner von 1949 bis 1956 Chefredakteur der Springer-Illustrierten Kristall. Er siedelte nach Frankreich über und starb 1967 in der Nähe vom Montreux in der Schweiz.

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Der begnadete Wiener Künstler Hans Harald Rath 93

Der begnadete Wiener Künstler Hans Harald Rath

Besonders pikant ist der Fall des Wiener Künstlers Hans Harald Rath. Während des »Dritten Reichs« stand er an der Spitze der Firma J. & L. Lobmeyr, die 1823 in der Wiener Innenstadt gegründet worden war und Gläser höchster künstlerischer Qualität herstellte. Seit 1835 durfte sie sich »Kaiserlicher Hoflieferant« nennen.

Gustav Steengracht von Moyland, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, schrieb dem Staatssekretär in der Reichskanzlei, Friedrich Kritzin-ger, am 12. Juni 1943:

Nach einer Mitteilung der Kanzlei des Führers hat sich der Inhaber der Fir-ma Lobmeyr in Wien, Herr Hans Harald Rath, mit einem Gesuch um Gleichstellung mit Deutschblütigen an die Kanzlei des Führers gewandt. Rath ist, wie er erst jetzt erfahren hat, jüdischer Mischling zweiten Grades; er hat sich bisher gutgläubig für einen Vollarier gehalten, besaß auch den kleinen Ariernachweis des zuständigen Sippenamtes und hat erst jetzt auf-grund von Familienforschungen festgestellt, dass er nach den Nürnberger Gesetzen ein Vierteljude ist.

Das Auswärtige Amt steht mit Herrn Rath, der die meisten Beleuch-tungskörper in den repräsentativen Bauten Deutschlands entworfen hat, seit Jahren in Geschäftsverbindung. Rath hat sich hierbei stets menschlich bescheiden und zuverlässig erwiesen. Künstlerisch ist er zweifellos eine wert-volle Persönlichkeit. Der Herr Reichsminister des Auswärtigen, der Herrn Rath persönlich kennt, befürwortet aus diesem Grunde das vorliegende Gesuch.

Hierbei ist auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass es außenpolitisch nicht wünschenswert erscheint, wenn im Ausland bekannt würde, dass die Kristalllüster in den Repräsentationsbauten des neuen Deutschland von einem Mann entworfen sind, der jüdisches Blut in den Adern hat.70

Die Nachkommen von Hans Harald Rath konnten ein wenig Licht in die Angelegenheit bringen, zumal beispielsweise in den Beständen des Aus-wärtigen Amts oder auch des Bundesarchivs sich keine weiteren Doku-mente zu dem Antrag auf Gleichstellung und zu den entsprechenden Ergebnissen finden. So teilte der heutige Geschäftsführer der Firma Lob-meyr, Leonid Rath, dem Autor schriftlich mit: »Soweit die Geschichte

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94 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

der Familie überliefert ist, war Hans Harald Raths Vater nicht ›deutsch-blütig‹ genug, um Staatsaufträge übernehmen zu können. Aus dem Grund übergab er die Firma seinem Sohn und zog sich nach Tschechien zurück, wo er schon um 1920 ein Haus gekauft und eine Firma gegründet hatte.«71

Auf eine Intervention, wie sie aus dem Schreiben von Staatssekretär Gustav Steengracht von Moyland hervorgeht, gab es keinerlei Hinweise in den Firmenunterlagen. Allerdings konnte Stefan Rath eine Liste von Objekten zusammenstellen, die Lobmeyr in der nationalsozialistischen Zeit meist mit Lüstern, teilweise aber auch mit Glas ausgestattet hatte. Dazu zählten so repräsentative Bauten wie der Zwinger in Dresden, die Wiener Volksoper, das Salzburger Festspielhaus, das Posener Schloss und das Schloss Kleßheim. Dieses in der Nähe von Salzburg gelegene Schloss hatte Hitler ab 1938 für Staatsempfänge und Arbeitstreffen genutzt. Er empfing hier u. a. den italienischen Diktator Benito Musso-lini, den ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy und den rumäni-schen Staatschef Ion Antonescu.

Ferner stattete Lobmeyr das Krakauer Schloss aus, das als Amtssitz von Generalgouverneur Hans Michael Frank diente. Auf der Liste fan-den sich St. Florian, Haus Ribbentrop und vor allem die Berliner Reichs-kanzlei, die Hitler mit enormem Aufwand hatte errichten lassen.

In der Familie Rath kennt jeder die folgende Anekdote, auf die Leo-nid Rath den Autor hingewiesen hat. Sie zeigt, in welcher Weise sogar Hitler, der sich auch zum Architekten berufen fühlte, hinters Licht geführt werden konnte:

Großvater hat sein Handwerk geliebt. Seine Vorfahren waren jüdisch, seine Frau Engländerin, aber es ist relativ wenig überliefert. Jedenfalls wurde er zu einem hochrangigen Nazi-Funktionär zitiert, wo man ihm mitteilte, wie er fortan zu produzieren hatte. Der Geist dieser Zeit sickert aus den Produk-ten: Alles ist größer. Es fehlt das positive Leben – wie wenn man einen Geschwindigkeitsdruck gehabt hätte. (…) Als Albert Speer die Reichskanz-lei plante, wollte Hitler eine monumentale Halle, die nach dem technischen Stand der Zeit aber nicht machbar war – nur: Hitler wollte das nicht wissen. Also baute man ein Modell im falschen Maßstab mit einem getürkten Zoll-stab für Hitler zum Abmessen. Ein Geheimnis, in das wir eingeweiht wur-den, weil ja auch die Lüster proportional passen mussten.72

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Der begnadete Wiener Künstler Hans Harald Rath 95

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Fall erwähnenswert. Denn ähnlich absurd gestaltete sich die Diskussion um die Frage, ob der Bild-hauer Paul Gruson aus Berlin-Kleinmachnow arischer Abstammung war oder nicht. Die NS-Gauleitung Mark Brandenburg sah in ihm einen Halbjuden, die Reichskammer der bildenden Künste dagegen einen Vierteljuden und nahm ihn am 1. Januar 1942 nach vorherigem Ausschluss wieder als Mitglied auf. Für die Partei-Kanzlei forderte Bor-manns Beauftragter Walter Tießler Staatskommissar Hinkel daher auf, für Klarheit zu sorgen.73 Grusons Abstammung war für nationalsozia-listischen Rassisten wichtig geworden, weil er eine Figurengruppe geschaffen hatte, die in dem Berlin-Lichtenberger Schwimmstadion aufgestellt werden sollte. Schon am 13. Mai 1942 hatten die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gegenüber der Brandenburger Gauleitung Stellung bezogen und als Auftraggeber erklärt, dass nach sorgfältiger Prüfung auch durch »den Herrn Reichsminister Dr. Goebbels« und nachdem diesem auch Fotos der Figurengruppe vorgelegen hätten, diese nun im Rahmen einer Sportveranstaltung der BVG enthüllt wer-den sollten.74 Die Antwort der Gauleitung ließ nicht lange auf sich war-ten und strotzte vor antijüdischem Rassenhass.75 Gruson habe sich poli-tisch zwar zurückgehalten, sei aber »Halbjude«. Und wörtlich: »Äußerst bedenklich erscheint es mir nach wie vor, die von ihm geschaffenen Bildwerke im neu hergestellten Schwimmstadion zur Auf-stellung zu bringen. Es erscheint mir nahezu unmöglich, dass Werke eines Halbjuden in einer Sportstätte, die zur Ertüchtigung der deut-schen Jugend dienen soll, zur Aufstellung kommen und damit diesen Künstler halbjüdischer Abstammung in so ungewöhnlicher Weise zu ehren und in den Vordergrund zu stellen.« Ungeachtet der wiederhol-ten Einwände des NS-Gaus kam die Reichskulturkammer, Abteilung Kulturpersonalien, am 24. Juni 1942 zu dem Ergebnis: »Paul Gruson ist Vierteljude.«76 Unabhängig hiervon jedoch war die Angelegenheit damit noch nicht erledigt. Denn nun kamen neue Einwände, dieses Mal vonseiten Tießlers. Abgesehen davon, dass Vierteljuden der Reichskulturkammer angehören dürften, sei es für jeden Nationalsozi-alisten klar, »dass keinerlei Veranlassung besteht, Vierteljuden durch die öffentliche Hand zu fördern bzw. zu unterstützen«. Schließlich gebe es genügend deutsche Künstler. »Aus diesem Grunde steht die Partei-Kanzlei auf dem Standpunkt, dass Plastiken für ein öffentliches

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Schwimmbad nicht ausgerechnet von einem Vierteljuden bezogen wer-den.«77 Gegen seine Überzeugung musste Tießler jedoch der Reichskul-turkammer am 27.Oktober 1942 die Mitteilung machen, er habe nun-mehr auch von der Gauleitung Mark Brandenburg den Bescheid erhalten, dass sie Gruson jetzt als Vierteljuden betrachte: »Damit dürfte die Angelegenheit zu Ihrer Zufriedenheit erledigt sein.«78

Ähnlich verhielt es sich auch mit einem anderen Künstler. SS-Ober-sturmbannführer Rudolf Brandt, Persönlicher Referent und rechte Hand Himmlers, wollte am 16.Oktober 1942 von SS-Obersturmbann-führer Hein aus der Partei-Kanzlei wissen, ob dieser einen Kunstmaler namens Hanisch kenne.79 Dieser arbeite mit einem Braunschweiger Kunstverlag zusammen und sei angeblich mit einer Jüdin verheiratet. Dennoch habe er »jahrelang Bildnisse von führenden Persönlichkeiten angefertigt, u. a. auch vom Reichsführer-SS«. Obwohl kaum weitere Unterlagen vorliegen, ist davon auszugehen, dass es sich hier um den Kunstmaler Reinhold Hanisch gehandelt hat.

Die »Säuberung« des öffentlichen Dienstes

Angesichts der radikalen Verfolgung von Juden in allen Bereichen des Lebens – nicht nur des öffentlichen – durch die Nationalsozialisten mag es erstaunen, dass sich auch 1944 noch »jüdische oder sonstige art-fremde Mischlingen oder artfremd Versippte« im öffentlichen Dienst befanden. Immer wieder waren Anträge auf Sonderregelungen hinsicht-lich der Nürnberger Rassengesetze gestellt und vielfach von unterschied-lichen staatlichen oder Partei-Dienststellen befürwortet worden.

Damit aber sollte ab Anfang 1944 Schluss sein. Hitler hatte sich die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen zwar weitgehend weiterhin persönlich vorbehalten, doch die Vorbereitung der erforderlichen Vorla-gen sollte jetzt ausschließlich in der Hand des »Sekretärs des Führers« und Leiters der Partei-Kanzlei der NSDAP, Martin Bormann, liegen. »Um eine einheitliche Behandlung aller Anträge auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung wegen jüdischen oder sonstigen artfremden Bluteinschlags sicherzustellen«, bestimmte Hitler daher in einem Erlass vom 20. Februar 1944, Entscheidungen, soweit er sie nicht selbst zu tref-fen habe, könnten nur im Einvernehmen mit dem Leiter der Partei-

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Die »Säuberung« des öffentlichen Dienstes 97

Kanzlei erteilt werden.80 Ähnlich lautete eine Verfügung Hitlers vom selben Tag, der zufolge »alle Anträge von jüdischen oder sonstigen art-fremden Mischlingen oder von artfremd Versippten auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung wegen jüdischen oder artfremden Blutein-schlags« im Bereich der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlosse-nen Verbände ab dem 1. Januar 1944 ausschließlich durch Bormann bearbeitet und von diesem Hitler vorgetragen werden sollten, sofern dessen Entscheidung erforderlich war.81 Die Macht Bormanns auch in dieser Frage wird deutlich, als Hitler zudem bestimmte, dass sämtliche Unterlagen in den bisher durch andere Parteidienststellen bearbeiteten Vorgängen dieser Art auf dessen Verlangen an den Leiter seiner Partei-Kanzlei abzugeben waren.

Ein weiteres Mal befasste sich Hitler am 1. April 1944 mit grundsätz-lichen Problemen bei der »Bearbeitung von Mischlingsangelegenhei-ten«. Wiederum war es ein »Führer-Erlass«, der die »Reinerhaltung des deutschen Blutes [als] eine Hauptaufgabe der nationalsozialistischen Führung des deutschen Volkes« zum Inhalt hatte.82 Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, verlangte Hitler »eine einheitliche Behandlung und Bescheidung aller Anträge (…), in denen für Personen mit jüdischem oder sonstigem artfremdem Bluteinschlag oder mit solchen versippte Personen Ausnahmen von den für sie geltenden Vorschriften erstrebt werden«. Da die NSDAP zur »Wahrung des nationalsozialistischen Ideengutes« berufen sei, müsse unbedingt sichergestellt werden, dass die Partei »in maßgebender Weise beteiligt wird«. Dass Bormann mehr als nur eine »graue Eminenz« war, sondern in vielen Fragen das Sagen im »Dritten Reich« hatte, zeigte sich einmal mehr an der Anordnung Hitlers, nach der ihm Fälle, in denen er zu entscheiden hatte, durch den Chef der Reichskanzlei beziehungsweise den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht vorgetragen werden mussten, jedoch stets in Anwesen-heit von Bormann. Anträge aus dem Bereich der NSDAP legte Bor-mann direkt vor. Alle Ausnahmegenehmigungen, die sich Hitler nicht vorbehalten hatte, also geringerer Bedeutung waren, bedurften jedoch stets der Zustimmung Bormanns.

Strenge Bestimmungen galten bekanntermaßen schon zuvor, wie das Reichsministerium des Innern am 25. Januar 1942 gegenüber den Obersten Justizbehörden bekräftigte.83 Im Einvernehmen mit dem Leiter der Partei-Kanzlei unterlagen vor allem Beamte, die selbst

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98 Die »flexible« Handhabung der Rassengesetze durch die NS-Führung

»Mischlinge 1. Grades« oder mit »Mischlingen 1. Grades« verheiratet waren, rigiden Restriktionen. Ohnehin kamen Ausnahmen grundsätz-lich nur bei Beamten in untergeordneten Stellen infrage. Für Erzieher wurden keinerlei Ausnahmen zugelassen, denn von ihnen konnte, wie es hieß, nicht erwartet werden, »dass sie die nationalsozialistische Weltan-schauung, zu deren wesentlichen Bestandteilen die Rassegrundsätze gehören, im Unterricht mit der erforderlichen Überzeugungskraft« ver-treten.

Hans Flesch – »Zivilarzt im Wehrmachtsgefolge«

Ausnahmsweise waren auch 1943 noch einige Ärzte in Deutschland zu finden, die den NS-Rassevorstellungen nicht vollends entsprachen. Am 1. April dieses Jahres hatten 800 bis 900 jüdische Ärzte in Deutschland praktiziert, 1935 waren es etwa 5000 gewesen. Ab 1937 sollte zwar der Ärztestand laut Reichsärzteführer Wagner vollends von Juden »befreit« werden, doch mit einem »Gnadenerweis« hatte Hitler einer kleinen Zahl von jüdischen »Mischlingen 1. Grades« die Approbation belas-sen. Mit diesen Ausnahmen wollte sich insbesondere der Leiter der Pres-sestelle beim Reichsgesundheitsführer, »Pg. Dr. [Rudolf ] Ramm«, nicht abfinden. Er übte – im NS-Staat gefährlich genug – relativ offene Kritik an Hitlers Entscheidungen und schrieb am 4. Mai 1943 an die Reichspropagandaleitung:

Durch Gnadenakt des Führers ist einzelnen jüdischen Mischlingen 1. Gra-des die Approbation als Arzt belassen worden. Welche Motive in dem einen oder anderen Falle zu diesem Beweis des Wohlwollens bestanden, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls haben diese Mischlinge als approbierte Ärzte ein Recht darauf, ärztlich verwendet zu werden. Wenn bei ihrer Ver-wendung entweder durch die Tatsache, dass es sich um Halbjuden handelt oder aber durch das Verhalten dieser im nationalsozialistischen Staate besonders wohlwollend behandelten Bastarde Missstimmung in der Bevöl-kerung hervorgerufen wird, so ist das durchaus verständlich. Auf der ande-ren Seite darf man natürlich nicht verkennen, dass ein geeigneter Arbeitsein-satz als Arzt dieser nicht gerade großen Zahl von jüdischen Mischlingen äußerst schwierig ist. Ich selbst halte die radikale Lösung für die beste: Es

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Hans Flesch – »Zivilarzt im Wehrmachtsgefolge« 99

sollte grundsätzlich allen jüdischen Mischlinge 1. Grades die Approbation als Arzt genommen werden, dann hätten wir saubere Verhältnisse und der nationalsozialistisch eingestellte deutsche Mensch läuft nicht mehr Gefahr, beim Konsultieren eines Arztes einem Halbjuden in die Hände zu fallen.84

Einen Teilerfolg erzielte Ramm Mitte 1943: Es war eine Anordnung erlassen worden, »wonach Mischlinge 1. Grades nicht mehr an einem Ort als alleiniger Arzt tätig sein sollen, sodass jedem Volksgenossen die Wahl eines arischen Arztes möglich ist«. Geradezu bedauernd fuhr Ramm fort: »In Anbetracht des starken Arztmangels auf dem zivilen Gebiet und mit Rücksicht auf die vom Führer getroffene Entscheidung, die manchen jüdischen Mischling Deutschblütigen gleichstellt, dürfte im Augenblick keine Möglichkeit zur Änderung dieser Sachlage gege-ben sein.«85

Entzündet hatte sich die Diskussion am früheren Intendanten der »Funk-Stunde Berlin«, dem »Halbjuden« Hans Flesch, einem Arzt und Rundfunkpionier. Flesch galt als einer der fortschrittlichsten deut-schen Rundfunkleiter. Als Reichskanzler Franz von Papen das NSDAP-Mitglied Ernst Scholz zum Rundfunkkommissar des Reichsinnenminis-teriums ernannt hatte, dauerte es nicht lange, bis Flesch – am 15. August 1932 – entlassen wurde. Wenige Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde Flesch im August 1933 mit anderen Vertretern des Weimarer Rundfunks inhaftiert, zunächst im Konzentrationslager Ora-nienburg, später im Gefängnis Moabit. Im November 1934 begann der »Reichs-Rundfunk-Prozess«, ein 86-tägiger Schauprozess gegen einige der Spitzen des »Systemrundfunks«.

Nach Prozessende durfte der »Halbjude« Hans Flesch weder künst-lerisch noch als Arzt tätig sein. Seine Frau Gabriele musste die Familie mit Sekretariatsarbeiten ernähren. Ab 1943 wurde Flesch von der Reichsärztekammer jedoch erneut als Arzt zugelassen und zunächst einem »arischen« Arzt in Falkensee nahe Berlin als Vertreter zuge-teilt.86 Anschließend wurde er zu Praxisvertretungen für Ärzte im Mili-tärdienst zwangsverpflichtet. Er kam nach Crossen an der Oder, wo er zwei Arztpraxen verwaltete. Ende Januar 1945 wurde die Zivilbevölke-rung Crossens evakuiert, die Rote Armee marschierte auf Berlin zu. Hans Flesch, Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkrieges, sah das Elend verwundeter Soldaten. Statt sich als Zivilist nach Berlin in vorläufige

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relative Sicherheit zu bringen, wandte er sich an die Wehrmacht und richtete in der Hindenburg-Schule in Crossen ein Militärlazarett ein. Als »Zivilarzt im Wehrmachtsgefolge« im Rang eines Bataillonsarztes leitete er dieses Lazarett und ging mit den hinter die Oder zurückwei-chenden deutschen Truppen Richtung Guben. Im März 1945 wurde Flesch als Arzt an den Volkssturm überstellt. Seitdem gilt er als verschol-len.

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