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Wie kommt der Geist in die Materie – und hat er einen Sinn? Prof. Dr. F. Jarre Lehrstuhl f¨ ur Mathematische Optimierung Mathematisches Institut, Heinrich-Heine Universit¨ at D¨ usseldorf 23. Feb. 2018 Die physikalische Welt: Wie ist es zu erkl¨ aren, dass mit dem Bewusstsein in der Natur ein System aus dem Nichts entstanden ist, das ¨ uber sich selbst reflektiert? Um diese Paradoxie aufzul¨ osen sei zun¨ achst auf einen Ansatz von Russell zur¨ uckgegriffen: Russell hat die axiomatischen Grundlagen der Mathematik, wie sie heute gelehrt wird, ganz wesentlich mitbegr¨ undet. Die komplexen Zahlen, so wie wir sie kennen, lassen sich durch eine Handvoll ganz einfacher Axiome (in [1] unten erl¨ autert) komplett beschreiben – komplett in dem Sinn, dass es nichts gibt, was die Men- schen w¨ ussten und was sich nicht aus den Axiomen herleiten ließe. Und mit einer einzigen einfachen Iterationsvorschrift [2] lassen sich darauf aufbauend so kom- plizierte fraktale Mengen wie die Mandelbrotmenge definieren, eine Menge deren Bilder auch den meisten Laien irgendwann einmal begegnet sein wird. Eine fas- zinierende Menge von buchst¨ ablich unendlicher Vielfalt, aus Knospen entstehen st¨ andig weitere ganz ¨ ahnliche Knospen und jede doch ein wenig anders. Ausschnitt aus der Mandelbrotmenge [3]. Dies f¨ ahrt immer so fort, vom Hundertsten ins Tausendste. Es gibt eine Vielzahl von Gesetzen, mit denen sich diese ¨ Ahnlichkeiten beschreiben ließen – die wurden nur nie aufgeschrieben, zum Einen weil es keinen interessiert, zum Anderen, weil das Grundgesetz zur Erzeugung dieser Menge bekannt und leicht nachvollziehbar ist. Mengen wie die Mandelbrotmenge ließen sich auch in h¨ oheren Dimensionen oder in einem 4-dimensionalen Raum-Zeit-Modell definieren und w¨ urden dann sogar noch faszinierendere Strukturen liefern, die sich aber nicht mehr so leicht visualisieren ließen, dass auch der Laie sie bewundern k¨ onnte. Und auch in 2 1

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Wie kommt der Geist in die Materie– und hat er einen Sinn?

Prof. Dr. F. JarreLehrstuhl fur Mathematische Optimierung

Mathematisches Institut, Heinrich-Heine Universitat Dusseldorf23. Feb. 2018

Die physikalische Welt:Wie ist es zu erklaren, dass mit dem Bewusstsein in der Natur ein System ausdem Nichts entstanden ist, das uber sich selbst reflektiert? Um diese Paradoxieaufzulosen sei zunachst auf einen Ansatz von Russell zuruckgegriffen: Russellhat die axiomatischen Grundlagen der Mathematik, wie sie heute gelehrt wird,ganz wesentlich mitbegrundet. Die komplexen Zahlen, so wie wir sie kennen,lassen sich durch eine Handvoll ganz einfacher Axiome (in [1] unten erlautert)komplett beschreiben – komplett in dem Sinn, dass es nichts gibt, was die Men-schen wussten und was sich nicht aus den Axiomen herleiten ließe. Und mit einereinzigen einfachen Iterationsvorschrift [2] lassen sich darauf aufbauend so kom-plizierte fraktale Mengen wie die Mandelbrotmenge definieren, eine Menge derenBilder auch den meisten Laien irgendwann einmal begegnet sein wird. Eine fas-zinierende Menge von buchstablich unendlicher Vielfalt, aus Knospen entstehenstandig weitere ganz ahnliche Knospen und jede doch ein wenig anders.

Ausschnitt aus der Mandelbrotmenge [3].

Dies fahrt immer so fort, vom Hundertsten ins Tausendste. Es gibt eineVielzahl von Gesetzen, mit denen sich diese Ahnlichkeiten beschreiben ließen –die wurden nur nie aufgeschrieben, zum Einen weil es keinen interessiert, zumAnderen, weil das Grundgesetz zur Erzeugung dieser Menge bekannt und leichtnachvollziehbar ist.

Mengen wie die Mandelbrotmenge ließen sich auch in hoheren Dimensionenoder in einem 4-dimensionalen Raum-Zeit-Modell definieren und wurden dannsogar noch faszinierendere Strukturen liefern, die sich aber nicht mehr so leichtvisualisieren ließen, dass auch der Laie sie bewundern konnte. Und auch in 2

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Dimensionen waren sie selbst dann immer noch faszinierend und kompliziert,wenn die Iteration nicht ad infinitum ausgefuhrt wurde, sondern nach endlichvielen Schritten abgebrochen wurde – letztlich sind alle Bilder, die zur Mandel-brotmenge veroffentlicht wurden, immer das Ergebnis eines endlichen Abbruchsder Iteration.

Ahnlich wie die Mandelbrotmenge aber noch deutlich komplexer verlauft diereale Welt der Physik: Lasst sich die Mandelbrotmenge noch durch den zeitli-chen Verlauf eines einzigen Teilchens – des Startpunktes der Iterationsfolge –definieren, so interagiert in der realen Welt der Physik eine unvorstellbar großeZahl von Elementarteilchen nach einfachen Gesetzen miteinander, Gesetze, wel-che die Menschen gerade mehr oder weniger vollstandig am Entschlusseln sind.Ist in der Beschreibung der Mandelbrotmenge der Verlauf des Teilchens deter-ministisch, so kommen in der realen Welt der Physik noch eine Vielzahl vonEinflussen hinzu, die nach derzeitigem Verstandnis wohl grundsatzlich nichtde-terministisch sind, bedingt z.B. durch die Heisenbergsche Unscharferelation oderdie Unvorhersehbarkeit des radioaktiven Zerfalls eines einzelnen Teilchens – hierkennen wir mit der Halbwertszeit nur einen statistischen Mittelwert. Schließlichwird die Zeitachse bei der Definition der Iterationsfolge zur Beschreibung derMandelbrotmenge in diskreten Zeitschritten durchlaufen, entspricht also einergequantelten Zeitachse, wahrend wir uns die Zeitachse in der realen Welt derPhysik als stetig vorstellen. (Ob sie wirklich stetig ablauft wissen wir letztlichnicht.)Bei all diesen Unterschieden ergeben sich aber auch aus diesen einfachen Ge-setzen der Physik ebenfalls ganz faszinierende Strukturen – Galaxienhaufen,Pulsare, Quasare, schwarze Locher, Neutronensterne, Sterne und Planeten,

Crab Nebula, Ergebnis einer Supernova im Jahr 1054 [4].

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auf denen sich so eine komplizierte Substruktur wie das Leben entwickeln konnte.Die Entwicklung des Lebens haben Evolutionsbiologen in weiten Teilen nach-vollziehen konnen, angefangen von ersten organischen Strukturen, die z.B. anschwarzen Rauchern in der Tiefsee entstanden sein mogen, uber die Entwicklung

Schwarzer Raucher und Riesenrohrenwurmer an einem Schwarzen Raucher;Wurmer die sich symbiotisch mit chemoautotrophen Bakterien ernahren [5].

erster elementarer organischer Sensoren, die z.B. Temperatur oder Licht regis-trieren konnten, uber neuronale Entwicklungen, die diese sensorische Informa-tion verarbeiten konnten bis hin zu einem Gedachtnis “da gab es neulich was zufressen” und “hier haben neulich Raubtiere gelauert”, das einen evolutionarenVorteil im taglichen Kampf ums Uberleben mit sich brachte.

GeistOrganismen lernten bei Gefahr zu fliehen oder gefahrliche Situationen zu mei-den, ein Gefuhl von Hunger oder von Angst zu entwickeln, sie lernten denNachwuchs zu schutzen, zunachst instinktiv, und aus solchen Instinkten ent-wickelten sich Fursorglichkeitsgefuhle. Derart Entwicklungen fanden oft parallelin unterschiedlichen Tierarten statt. Das Auge hat sich mehrfach in ganz un-terschiedlicher Weise im Tierreich entwickelt, beim Oktopus ganz anders (undbesser) als bei den Saugetieren und wieder anders als bei den Facettenaugender Insekten. Auch planendes Denken kann bei Rabenvogeln, Papageien und

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Ein Orang-Utan nutzt einen Zweig um Insekten zu angeln [6].Auch Goffinkakadus fertigen sich z.B. zielgerichtet Werkzeuge

an und nutzen diese um komplexe Probleme zu losen.

anderen Tieren beobachtet werden, und beim Menschen hat sich dieses bis hinzur Reflexion uber Natur und sich selbst weiterentwickelt. Diese Entwicklung desBewusstsein angefangen bei den leblosen Elementarteilchen ist ein sehr langerProzess, ahnlich wie die Berechnung der Mandelbrotmenge angefangen bei denAxiomen der reellen bzw. komplexen Zahlen auch ein sehr langer Prozess ist.

Die Frage “Wie kann Materie Geist hervorbringen?” spannt einen weitenBogen. In seiner ganzen Lange vermag der einzelne Mensch diesen Bogen kaumzu uberblicken. Er kann die Gesamtentwicklung in allen Details nicht erfassenund so manifestiert sich die Entstehung des Bewusstsein als ein Wunder, aberein Wunder, das sich beinahe Schritt fur Schritt nachvollziehen lasst, so wie sichauch die wunderbare Struktur der Mandelbrotmenge Schritt fur Schritt nach-vollziehen lasst. Insofern ist das Wunder der Entstehung von Bewusstsein einWunder der Komplexitat, die sich aus einfachen Regeln ergeben kann und die-ses Wunder wiederholt sich in der Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen,Menschen, die sich einerseits gleichen, so wie sich die Knospen der Mandelbrot-menge gleichen, und die andererseits doch stets verschieden sind, so wie auch dieKnospen der Mandelbrotmenge stets verschieden sind (abgesehen von gewissenSymmetrien). Anders als bei der Mandelbrotmenge fehlt uns noch das Grund-verstandnis zur physikalischen Welt und wird uns immer fehlen – der Menschals Teil des Systems “Welt” kann dieses System nie als Ganzes verstehen auchnicht mithilfe von Computern, wie leistungsstark diese auch immer sein mogen.Ein einfaches mathematisches Selbstanwendungsprinzip, so ahnlich wie Godeles benutzt hatte, um die Unvollstandigkeit des Wissens uber die naturlichenZahlen zu beweisen.

Andererseits wird der Mensch trotz des Godelschen Unvollstandigkeitssatzeswohl immer mehr von dem, was fur ihn an den naturlichen Zahlen von Belang

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sein sollte fruher oder spater austufteln, und viele der bleibenden offenen Fragenwie vielleicht z.B. die Frage “Gibt es unendlich viele Primzahlzwillinge?” werdenfur die meisten Menschen schlicht ohne Belang bleiben. Es ist zu hoffen und zuerwarten, dass der Mensch auch in der Physik und der Biologie nach und nachan den Punkt gelangt, an dem viele der entscheidenden offenen Fragen geklartwerden konnen. Zur Frage nach der Entstehung des Bewusstseins scheinen schonganz wesentliche Teile dieses Puzzles bekannt zu sein. Komplett nachvollziehenwird sich dieses Puzzle niemals lassen.

Auch wenn die einzelnen Schritte in der Entwicklung des Bewusstseins nach-vollziehbar sein sollten, so ist damit die grundsatzliche Frage “Wie kann MaterieGeist hervorbringen?” doch nicht zufriedenstellend beantwortet.

Naive pauschale Fragen wie diese bergen immer das Risiko von Missverstand-nissen: Wie kann der Mensch ein Auto bauen? Ein einzelner Mensch kann dasnicht! Der Bau eines Autos ist nur moglich wenn tausende Menschen zusammen-arbeiten, Erze abbauen, verhutten, gießen und frasen, wenn andere MenschenErdol fordern, wieder andere dieses zu Kunststoff verarbeiten, in Fabriken, dievon nochmals anderen Menschen konzipiert und erbaut wurden, sprich wennbuchstablich ein ganzes Heer von Menschen zusammenwirkt. Dieses Heer vonMenschen erzeugt ein Produkt, dessen Komplexitat vielleicht kein einziger vonihnen ganz durchschaut; die Materialeigenschaften der verwendeten Kunststof-fe wurden von Chemikern optimiert, die Lenkung von Ingenieuren entworfen,das Getriebe von anderen Ingenieuren, usw.; es steckt eine solche Vielzahl vonEinzelentwicklungen in einem einzigen Auto, dass ein einzelner Mensch das garnicht alles verstehen kann. Und doch wissen wir, dass das Auto vom Menschengebaut wurde. Der Mensch als Spezies kann komplexe Produkte erzeugen, diekein einziger Mensch je erschaffen konnte.

Vom Menschen erbaut – von einem Heer von Menschen,Hochhauser in Seoul, Korea. (Eigene Aufnahme).

Auch der Geist ist ein komplexes Phanomen, an Materie gekoppelt, und keineinziges Materieteilchen konnte ihn je erzeugen. Die uberraschende Komplexitat

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von Substrukturen, die sich aus einer großen Anzahl von Wiederholungen ein-facher Regeln ergibt, wurde bei der Mandelbrotmenge oder der Entstehung desLebens bereits angesprochen. Dabei ist zu beachten, dass nicht jede willkurli-che Sammlung von Axiomen geeignet ist, Phanomene wie die Mandelbrotmengezu erzeugen; die hier verwendeten Regeln folgen einer gewissen inneren Logik,sowohl die Axiome der Mathematik, auf denen die Mandelbrotmenge aufbaut,als auch die Gesetze der Physik, aus denen sich unsere reale Welt ergibt. Sonehmen wir z.B. an, dass die Axiome der Mathematik in sich widerspruchsfreisind und dass sie so zusammengesetzt sind, dass sich (nach Galilei) die Gesetzeder Physik in der Sprache der Mathematik schreiben lassen. Erst diese inne-re Logik der Axiome der Mathematik erzeugt die unendlich feine Struktur derMandelbrotmenge.

Ob diejenigen Ereignisse der realen Welt, die wir als Zufall auffassen, d.h. alsfur den Menschen grundsatzlich unvorhersehbar, ob diese Ereignisse auch eineminneren Konzept folgen, das konnen wir nicht wissen – sobald wir das wussten,waren die Ereignisse ja nicht mehr grundsatzlich unvorhersehbar. Wenn es furden Zufall aber auch ein inneres Konzept gibt, so ist dieses einerseits sicher vielkomplizierter als bei den Axiomen der reellen Zahlen – sonst konnte man es jadoch finden, andererseits wird es sich dann auch in konkreten Eigenschaften derrealen Welt manifestieren, Eigenschaften, die auch bei den Untersuchungen zurEntstehung des Bewusstseins von Belang sein mussen, aber nicht greifbar sind.Im Ruckblick beobachten lasst sich die Entwicklung des Bewusstseins daher,denn im Ruckblick ist der Zufall aufgelost, aber von vorne herein zu erklarenvermogen wir ihn nicht. Es bleibt aber die Moglichkeit, die Entstehung des Be-wusstseins als Folge eines moglicherweise gegebenen, aber fur den Menschengrundsatzlich unvorhersehbaren, inneren Konzepts des Zufalls anzusehen, undob wir dieses innere Konzept als absolut unbegreiflichen, nicht mehr eingrenz-baren Gott verstehen, wie der katholische Theologe Karl Rahner Gott zu be-schreiben versucht, oder als Weltgeist im Sinne Hegels oder als was auch immer,das unterliegt unseren personlichen Praferenzen.

SinnDen Zweck einer Handlung konnen wir in vielen Situationen direkt erkennen;druckt ein Mitmensch auf eine Fußgangerampel, so mochte er in der Regel dieStraße uberqueren. Der Sinn und Zweck des Knopfdruckens ist klar. Mit derErlangung von individuellem Bewusstsein ubertragt der Mensch die Frage nachdem Sinn; er beginnt die erweiterte Suche nach einem Sinn, einem Sinn derWelt, einem Sinn seines individuellen Lebens. Menschen, die nachdenken undfragen, erfahren dann, dass sie es nicht vermogen, die Welt und deren Sinn zuverstehen.

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Im judischen Museum in Berlin. (Eigene Aufnahme).Schon im Kapitel Hiob des Alten Testaments hat der Mensch die Frage nach

der Sinnhaftigkeit des Seins gestellt in Anbetracht von Katastrophen indieser Welt. (Zu Hiob siehe [7]).

Die Welt konnen sie als winziger Teil dieser Welt nicht verstehen und auf dieSinnfrage kann letztlich wohl niemand auf der Welt eine ubertragbare Antwortgeben ohne die Welt uberhaupt wirklich verstanden zu haben. UbertragbareAntwort bedeutet hier, dass die Antwort nicht nur fur einen selbst sondernauch fur alle anderen richtig ware. Jemand, der an Christus glaubt, der hat mitdiesem Glauben einen Sinn fur sich selbst gefunden, einen Sinn, der manch an-deren Menschen auch Sinn sein kann, aber wieder anderen vielleicht auch nicht.Von daher ist das Christentum nicht auf alle ubertragbar. Und im Zuge derrasanten Fortschritte naturwissenschaftlicher, archaologischer und historischerErkenntnisse, die sich uber die Fachdisziplinen hinweg gegenseitig erganzen undbestatigen, geraten die uberlieferten Grundlagen der alten Religionen, welchelange vor den Zeiten von Galilei, Newton oder Einstein den Menschen Halt undZuversicht – aber auch Mord und Krieg – geboten hatten, bei immer mehr Men-schen in Zweifel. Insbesondere viele amerikanische christliche Kirchen suchenauch heute noch den Konflikt mit den Naturwissenschaften, ein Konflikt, dendie katholische Kirche und die evangelische Kirche in Deutschland langst hintersich gelassen haben. Doch wie schwer muss es z.B. auch fur einen Pfarrer hiersein, den Glauben an die Wiederauferstehung Christi wirklich zu hinterfragen –wie kann er als unbedeutender kleiner Mensch es wagen, den Allerhochsten an-zuzweifeln? Welche Gewissensbisse muss er sich dazu machen? Und wenn er wieDrewermann, Kung oder Ludemann auf die inneren Zweifel hort, sie offentlichmacht, dann ist er fur die Kirche nicht mehr zu tragen. Berufliche Nachteile bishin zur Arbeitslosigkeit konnen die Folge sein, eine seelische und eine existen-zielle Herausforderung. Und Kritiker aus den Reihen des Islams haben heute

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noch gravierendere Konsequenzen zu furchten, sollten sie eigene Zweifel publikmachen. Eine wissenschaftliche, d.h. ergebnisoffene Forschung ist in der Theolo-gie der alten Religionen kaum moglich. Das ist bedauerlich, handelt es sich beider Frage nach Gott doch um eine zentrale Frage, die bewusste Menschen sichstellen.

Totenbuch des Priesters Min Pasenedjemib, 6.-4. Jhdt v. Chr.Auf 19 m Lange sind detaillierte Anweisungen auf Papyrus

niedergeschrieben, wie das Leben im Jenseits weiterlauft, wie mandas Ungeheuer Am‘am passiert usw. (Eigene Aufnahme im Louvre).

Atheisten, Agnostiker, Zweifler, fragende oder suchende Menschen mussenSinnkrisen durchlaufen. Dabei mochte ein solch suchender Mensch naturlichnicht akzeptieren, dass Christen oder Angehorige anderer Religionen ihm gegen-uber einen Darwinistischen Wettbewerbsvorteil haben sollten, einfach deshalb,weil sie (seiner Uberzeugung nach) an sachlich unzutreffende Fakten glauben,die ihnen dann aber einen Sinn und Lebenskraft geben. Ein Suchender kannsich daher nicht darauf beschranken, sachliche Fehler in den Uberlieferungender einzelnen Religionen zu suchen oder auf diese zu verweisen; er muss aucheinen alternativen Sinn finden, ein eigenes Lebensziel.

Die etablierten Religionen bieten in der Regel eine Antwort auf die Sinnfra-ge; Judentum, Christentum und Islam versprechen das ewige Leben und habendamit die Erwartungen an das Leben sehr weit hoch gesetzt. Etwas Vergleich-bares wie das ewige Leben ist fur einen Atheisten meist nicht in Sicht. Er magerkennen, dass das ewige Leben ganz objektiv auch fur Christen und Muslimegenausoviel oder genausowenig in Sicht ist wie fur ihn selbst, doch diese Erkennt-nis liefert keinen Halt und ist daher unbefriedigend. Ihm stellt sich letztlich dieFrage, was macht das Leben lebenswert? Dies ist immer eine personliche Frage,deren Antwort genausowenig auf alle anderen Menschen ubertragbar ist wie dieeinzelnen Religionen.

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Auch wenn der Atheist bei dieser Frage weitgehend auf sich allein gestelltist, seien hier beispielhaft mogliche Antworten skizziert. Fur den, der Freundeoder Familie hat, kann ein wichtiger Sinn in diesen Mitmenschen liegen, in denguten und den schmerzhaften Erinnerungen mit diesen Menschen. Dieser Sinnbesteht dann in beidem, in den Hohen und den Tiefen der erlebten Gefuhle,durch die der Mensch wachst und zu dem wird, was er ist. Solche Erinnerun-gen pragen jeden Einzelnen etwas anders. Man kann sich entscheiden, dass mandas Leben so will wie es nun mal ist, oder man kann sich entscheiden, dassman das nicht will, und dann wird es auch keinen Spaß machen und qualen-de Fragen werden unbeantwortet bleiben. Diese Entscheidung ist nichts, wassich wissenschaftlich oder mathematisch beweisen ließe, es ist eine personlicheWillensentscheidung, und auch mit einer positiven Entscheidung werden immernoch ausreichend Probleme aber auch ausreichend Schones auf einen zukom-men. Dabei zeigt sich: Ob man eine gegebene Situation als frustrierend oderals angenehm empfindet, hangt nicht nur von der Situation selbst sondern auchganz wesentlich von der eigenen Einstellung ab – zutiefst eindrucklich geschil-dert in Viktor Frankls “Trotzdem Ja zum Leben sagen”, einem Buch, in demder Autor die Sinnfrage trotz seiner Haft als Jude in deutschen KZs und nachErmordung seiner Mutter, seines Bruders und seiner schwangeren Frau undohne Ruckgriff auf religiosen Glauben positiv fur sich zu beantworten vermag.Auch unter weniger gravierenden Umstanden kann man mit dem Leben hadernoder aber Genugtuung dabei empfinden, im taglichen Leben Entbehrungen zuertragen. Es ist die Einstellung, die einen dabei tragt, und die das Leben letztlichlebenswert macht.

Wer sich als Ziel setzt, diese Welt, in der wir alle leben, bewahren zu hel-fen oder sich fur Gerechtigkeit auf dieser Welt einzusetzen, der mag darin seinepersonliche Bestimmung finden und wer seine Ziele am eigenen Ich orientiert,findet darin vielleicht auch einen Sinn. Das weltweit zu beobachtende Gespur derMenschen, die sich in der Verfolgung altruistischer Ziele oft erfullter und gluck-licher fuhlen als bei der Verfolgung egoistischer Ziele, das mag “in den Genen”liegen, Gene, deren Entwicklung, wie oben ausgefuhrt, durch unergrundbare,d.h. grundsatzlich nicht vorhersehbare Ereignisse mit gesteuert wurde. Wer anein inneres Konzept in diesem Zufall glauben mochte kann die Entwicklung die-ser Gene daher auch als indirekte Konsequenz dieses hoheren Prinzips verstehen,das – neben den vielen problematischen Entwicklungen in der menschlichen Exi-stenz – “in diesen Genen” letztlich auch ein Gespur fur das Wesentliche in dieserWelt mit vermittelt hat. Wem sein Gefuhl also sagt, mit der sich uns erschließ-baren Welt ist noch nicht alles gegeben, da muss noch mehr sein, der kann indieser personlichen Hoffnung auch ohne Widerspruch zu den Naturwissenschaf-ten leben.

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Finisterre, im Mittelalter das Ende der Welt. (Eigene Aufnahme).

SchlussbemerkungWissen hat mindestens zwei Seiten. Einmal, wenn ich etwas hore und sagen

kann “ja das war mir bekannt”, dann habe ich es gewusst. Das ist aber langenicht dasselbe wie das Wissen im richtigen Moment bewusst zu haben, einsetzenzu konnen und Zusammenhange daraus herstellen zu konnen. Dazu muss manmanche Sachen mehrfach lesen oder selber aufschreiben (oder unterstreichen). Indiesem Sinne steht in obigem Text vielleicht nichts Neues, es mag aber vielleichttrotzdem helfen, sich einzelne Punkte erneut zu vergegenwartigen.

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Die ersten 5 Bilder sind von Wikipedia entnommen, die Auflosung wurde furdiesen Text komprimiert.

Literatur und Anmerkungen

[1] Die hier genannten Axiome der Mathematik sind im Wesentlichen die ele-mentaren Rechenregeln, die wir in der Schule gelernt haben, wie Kommuta-tivgesetz, Assoziativgesetz, usw. Diese Regeln scheinen das zu beschreiben,was man von den Zahlen intuitiv erwartet. So besagt das Kommutativge-setz der Addition z.B. dass es egal ist, ob ich erst 3 Apfel auf den Tischlege und spater noch 4 weitere dazulege oder umgekehrt. Am Ende lie-gen in beiden Fallen gleich viele Apfel auf dem Tisch. Diese Regel wird alssinnvoll angenommen und als Axiom postuliert, aber nicht bewiesen. Wenndiese einfachen Grundregeln aber gelten, dann kann alles Weitere, was inder Mathematik zu den reellen und komplexen Zahlen bekannt ist, darausabgeleitet werden. Diese Axiome sind die Grundlage fur alles, was wir uberdie reellen Zahlen wissen.

[2] Die hier zugrunde gelegte Iteration kann durch eine Zahlenfolgex0, x1, x2, . . . beschrieben werden, wobei die Elemente der Folge keine re-ellen sondern komplexe Zahlen sind, also durch Punkte in der 2-dimensio-nalen Ebene reprasentiert werden konnen. Man wahlt sich zunachst einekomplexe Zahl c und fangt mit x0 = 0 an. Aus einem gegebenen Folgegliedxk lasst sich dann das nachste Folgeglied xk+1 ganz einfach berechnen:xk+1 = x2

k + c. Und wenn nun die Elemente der so definierten Zahlenfolgex0, x1, x2, . . . beschrankt bleiben, also nicht “ins Unendliche abwandern”,so farbt man die Zahl c schwarz. Wenn man das fur jeden Punkt c derEbene so macht, so erhalt man eine “zerfledderte” schwarz gefarbte Men-ge mit einem unendlich komplizierten Rand; die Abbildung [3] zeigt einenwinzigen Ausschnitt dieser Menge, und auch in diesem Ausschnitt ist derRand unendlich verzweigt. Aus rein asthetischen Grunden kann man an-schließend z.B. noch berechnen, welche Kraft auf ein Elektron in einemder noch nicht gefarbten Punkte ausgeubt wurde, wenn die schwarze Men-ge elektrisch geladen ware und diese Kraft auf einer Farbskala auftragen.Dann entstehen Bilder wie in [3].

[3] Teilansicht der Mandelbrot-Menge. Ausschnitt 7 einer Zoom-Sequenz. Er-stellt von Wolfgang Beyer mit dem Programm Ultra Fractal 3.

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[4] This is a mosaic image, one of the largest ever taken by NASA’s HubbleSpace Telescope of the Crab Nebula, a six-light-year-wide expanding rem-nant of a star’s supernova explosion. Japanese and Chinese astronomersrecorded this violent event nearly 1,000 years ago in 1054, as did, almostcertainly, Native Americans. The orange filaments are the tattered remains

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of the star and consist mostly of hydrogen. The rapidly spinning neutronstar embedded in the center of the nebula is the dynamo powering the nebu-la’s eerie interior bluish glow. The blue light comes from electrons whirlingat nearly the speed of light around magnetic field lines from the neutronstar. The neutron star, like a lighthouse, ejects twin beams of radiation thatappear to pulse 30 times a second due to the neutron star’s rotation. A neu-tron star is the crushed ultra-dense core of the exploded star. The CrabNebula derived its name from its appearance in a drawing made by Irishastronomer Lord Rosse in 1844, using a 36-inch telescope. When viewed byHubble, as well as by large ground-based telescopes such as the EuropeanSouthern Observatory’s Very Large Telescope, the Crab Nebula takes on amore detailed appearance that yields clues into the spectacular demise ofa star, 6,500 light-years away. The newly composed image was assembledfrom 24 individual Wide Field and Planetary Camera 2 exposures taken inOctober 1999, January 2000, and December 2000. The colors in the imageindicate the different elements that were expelled during the explosion. Bluein the filaments in the outer part of the nebula represents neutral oxygen,green is singly-ionized sulfur, and red indicates doubly-ionized oxygen.

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[5] Black smoker at a mid-ocean ridge hydrothermal vent, Tube worms feedingat base of a black smoker chimney hydrothermal vent. NOAA Photo Library

Diese Dateien sind gemeinfrei (public domain) weil sie Material enthalten,das von Angestellten der US National Oceanic and Atmospheric Admini-stration im Verlaufe ihrer offiziellen Arbeit erstellt wurde.

[6] Nehrams2020, editor on the English Wikipedia: An orangutan using abranch to get to insects at the San Diego Zoo.

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[7] Das Buch Hiob des Alten Testaments beschreibt einen rechtschaffenenvorbildlich gottesfurchtigen Menschen Hiob. Gott wettet mit dem Teufel,dass Hiob auch dann zu Gott halt, wenn der Teufel ihm alles nimmt, sei-nen Reichtum, seine Gesundheit, seine Kinder. Und so erfahrt Hiob einenSchicksalsschlag nach dem anderen, und hadert sehr mit Gott und der Welt.Seine Freunde versuchen ihm beratend beizustehen, enttauschen ihn aber

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zusatzlich. Zu guter Letzt jedoch gibt Gott ihm erneut Reichtum, Gesund-heit, neue Kinder und ein gesegnetes Leben. Die ersten Kinder bleiben dasOpfer der albernen Wette mit dem Teufel.

Was diese Geschichte, die uber einen langeren Zeitraum hin nach undnach aus einer ursprunglich sumerischen Vorlage entstanden ist, genau aus-drucken soll bleibt der Interpretation des Lesers uberlassen. Denkbar ist,dass das Einzige, was wirklich zahlt, das ewige Leben mit Gott im Jenseitsist. Dort losen sich alle Entbehrungen des irdischen Daseins auf, im Ruck-blick ist das irdische Leben nur ein unbedeutender Schritt, dessen einzigesZiel die Qualifizierung fur das ewige Leben ist. Vor diesem Hintergrundwusste Gott, dass Hiob sich auch bei allen Ruckschlagen qualifizieren wird,und darin anderen Menschen ein Vorbild sein wird. Im Jenseits wird auchHiob dankbar sein, dass er im irdischen Leben ein Beispiel fur die un-erschutterliche Treue Gottes und somit Werkzeug fur Gottes guten Willensein durfte. Er wird zusammen mit allen seinen Kindern an Gottes Herr-lichkeit teilhaben.

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