3
Leben unter der Lupe: Am Beispiel des Bakteriums Escherichia coli untersuchen Forscher am Dresdner Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, wie sich Zellen teilen. 1/2003 M AX P LANCK F ORSCHUNG 49 PHYSIK komplexer Systeme I n der unbelebten Natur ist die Ent- deckung und Beschreibung dyna- mischer Selbstorganisationsprozesse für Chemiker und Physiker längst Alltag. Sie kennen viele Systeme – beispielsweise Flüssigkeiten oder che- mische Reaktionen –, in denen sich Atome oder Moleküle selbstständig zu regelmäßigen Strukturen ordnen. „In jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen, dass diese Prozesse auch in der Biologie innerhalb von Zellen und in Zellverbänden eine wichti- ge Rolle spielen“, sagt Markus Bär. „Zur Erforschung ist neben dem bio- logischen Experiment die mathema- tische Modellierung ein wichtiges Werkzeug.“ Bär bildet dynamische Prozesse nach, die in der Natur das Wechsel- spiel zwischen Ordnung und Unord- nung begleiten. Seine Nachwuchs- gruppe „Strukturbildung“ arbeitet an lebenden Organismen. Dabei entste- hen Modelle, die den Forschern ein tieferes Verständnis jener Mechanis- men vermitteln, die hinter der Bil- dung einer bestimmten Struktur stecken. Damit können Biologen, Biochemiker und Biophysiker in ihren Labors gezielter und effektiver experimentieren. Ein Untersuchungsobjekt der Dresdner Physiker ist das Sozialleben des Bakteriums Myxococcus xantus. Wie Angela Stevens vom Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften rücken auch Bär und seine Kollegen Uwe Börner, Andreas Deutsch und Hans 48 M AX P LANCK F ORSCHUNG 1/2003 FASZINATION Forschung Wie Zellen Wellen schlagen Reichenbach M. xantus mit ihrem mathematischen Instrumentarium zu Leibe (siehe MAXPLANCKFORSCHUNG 2/2002, S. 42 f.). Unter bestimmten Bedingungen zeigt das Bakterium ein merkwürdiges Verhalten. Gerät eine Kolonie in eine nahrungsarme Umgebung, dann bilden jeweils bis zu 100 000 Zellen einen Fruchtkör- per, der lange Hungerzeiten überste- hen kann. Dem geht ein faszinieren- des Schauspiel voraus: Die Kolonie zieht sich in Wellen wandernder Zel- len zusammen. Die Berge des sehr regelmäßigen Wellenmusters enthal- ten viele Bakterien, die Täler dage- gen nur wenige. EIN ANSTOSS REGT ZUR UMKEHR AN Die Ursachen für dieses charak- teristische Muster liegen nach Mei- nung der Forscher in der Art der Be- wegung sowie in der Kommunikation zwischen einzelnen Myxobakterien. Die stäbchenförmigen Zellen gleiten entlang ihrer Längsachse geradeaus, bis sie frontal auf einen Artgenossen prallen. Beim Zusammenstoß tau- schen sie ein Eiweißmolekül (Protein- molekül) aus, das an ihrer Oberfläche sitzt: den so genannten C-Faktor. Dieser Austausch veranlasst die Bak- terien vermutlich, im „Bakterien- Autoscooter“ ihre Bewegungsrich- tung um 180 Grad umzukehren. Allerdings genügen diese einfachen Regeln nicht allein, um das Wellen- muster (englisch rippling) auch wirk- lich entstehen zu lassen. Die Forscher Forscher des MAX-PLANCK-INSTITUTS FÜR PHYSIK KOMPLEXER SYSTEME in Dresden beschäftigen sich nicht nur mit toter Materie: Mittels mathematischer Modelle simuliert ein Team um DR. MARKUS BÄR, Leiter der Nachwuchsgruppe „Strukturbildung“, erstaunlich realitätsnah, wie sich Kolonien von Myxobak terien bei Nahrungsarmut verhalten – oder wie ein Kolibakterium vor der Zellteilung seine Mitte findet. interessiert nun, nach welchen zu- sätzlichen Regeln die Bakteriengesell- schaft im kollektiven Rippelballett tanzen. Dazu simulieren Bär und sei- ne Kollegen das Verhalten der Myxo- bakterien mit einem anderen mathe- matischen Werkzeugkasten als Ange- la Stevens – sie verwenden „Zelluläre Automaten“: Diese teilen einen ma- thematischen Raum in gleichmäßige Zellen ein, die sich nach gewissen Spielregeln verhalten. Deshalb sind sie ein ideales Instrument für die mathematische Simulation einer hungernden Myxobakterien-Kultur. Im Computer repräsentiert eine qua- derförmige mathematische Zelle ein idealisiertes Bakterium. In der Simu- lation bewegen sich diese Zellen schrittweise – wie die Einzelbilder eines Films. Dabei gelten für sie ge- nau die einfachen Regeln, die man bei echten Myxobakterien vermutet. Die Dresdner Physiker testeten, welche zusätzliche Bedingungen ein möglichst realistisches Rippeln ver- ursacht. Sie fanden heraus, dass der Schlüssel in der Phase nach einem Zusammenstoß liegen könnte, bei dem der Austausch des C-Faktors ei- ne Bewegungsumkehr erzwingt. Da- zu führten sie die neue Regel ein, dass ein Bakterium nach einer „Imp- fung“ mit dem C-Faktor eine be- stimmte Zeit lang keinen neuen C- Faktor aufnehmen kann. Stößt es während dieser Immunitätsperiode auf einen neuen Partner, marschiert es, statt umzukehren, unbeirrt weiter geradeaus. FOTO: MPI FÜR ENTWICKLUNGSBIOLOGIE/JÜRGEN BERGER

Wie Zellen Wellen schlagen - pks.mpg.debaer/wellzell.pdf · MinD und MinE. Min steht für Mini-zelle und weist auf eine besondere ... Ursachen des Teilungsprozesses in einem Kolibakterium

Embed Size (px)

Citation preview

Leben unter der Lupe: Am Beispiel des Bakteriums Escherichia coli untersuchen Forscher am Dresdner Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, wie sich Zellen teilen.

1 / 2 0 0 3 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 49

PHYSIK komplexer Systeme

In der unbelebten Natur ist die Ent-deckung und Beschreibung dyna-

mischer Selbstorganisationsprozessefür Chemiker und Physiker längstAlltag. Sie kennen viele Systeme –beispielsweise Flüssigkeiten oder che-mische Reaktionen –, in denen sichAtome oder Moleküle selbstständigzu regelmäßigen Strukturen ordnen.„In jüngster Zeit mehren sich dieAnzeichen, dass diese Prozesse auchin der Biologie innerhalb von Zellenund in Zellverbänden eine wichti-ge Rolle spielen“, sagt Markus Bär.„Zur Erforschung ist neben dem bio-logischen Experiment die mathema-tische Modellierung ein wichtigesWerkzeug.“

Bär bildet dynamische Prozessenach, die in der Natur das Wechsel-spiel zwischen Ordnung und Unord-nung begleiten. Seine Nachwuchs-gruppe „Strukturbildung“ arbeitet anlebenden Organismen. Dabei entste-hen Modelle, die den Forschern eintieferes Verständnis jener Mechanis-men vermitteln, die hinter der Bil-dung einer bestimmten Strukturstecken. Damit können Biologen,Biochemiker und Biophysiker inihren Labors gezielter und effektiverexperimentieren.

Ein Untersuchungsobjekt derDresdner Physiker ist das Soziallebendes Bakteriums Myxococcus xantus.Wie Angela Stevens vom LeipzigerMax-Planck-Institut für Mathematikin den Naturwissenschaften rückenauch Bär und seine Kollegen UweBörner, Andreas Deutsch und Hans

48 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 1 / 2 0 0 3

FASZINATION Forschung

Wie Zellen Wellen schlagen

Reichenbach M. xantus mit ihremmathematischen Instrumentarium zuLeibe (siehe MAXPLANCKFORSCHUNG

2/2002, S. 42 f.). Unter bestimmtenBedingungen zeigt das Bakteriumein merkwürdiges Verhalten. Geräteine Kolonie in eine nahrungsarmeUmgebung, dann bilden jeweils biszu 100 000 Zellen einen Fruchtkör-per, der lange Hungerzeiten überste-hen kann. Dem geht ein faszinieren-des Schauspiel voraus: Die Koloniezieht sich in Wellen wandernder Zel-len zusammen. Die Berge des sehrregelmäßigen Wellenmusters enthal-ten viele Bakterien, die Täler dage-gen nur wenige.

EIN ANSTOSS REGT

ZUR UMKEHR AN

Die Ursachen für dieses charak-teristische Muster liegen nach Mei-nung der Forscher in der Art der Be-wegung sowie in der Kommunikationzwischen einzelnen Myxobakterien.Die stäbchenförmigen Zellen gleitenentlang ihrer Längsachse geradeaus,bis sie frontal auf einen Artgenossenprallen. Beim Zusammenstoß tau-schen sie ein Eiweißmolekül (Protein-molekül) aus, das an ihrer Oberflächesitzt: den so genannten C-Faktor.Dieser Austausch veranlasst die Bak-terien vermutlich, im „Bakterien-Autoscooter“ ihre Bewegungsrich-tung um 180 Grad umzukehren.

Allerdings genügen diese einfachenRegeln nicht allein, um das Wellen-muster (englisch rippling) auch wirk-lich entstehen zu lassen. Die Forscher

Forscher des MAX-PLANCK-INSTITUTS FÜR PHYSIK KOMPLEXER SYSTEME in Dresden beschäftigen sich nicht nur mit toter Materie: Mittels mathematischer Modelle simuliert ein Team um DR. MARKUS BÄR,

Leiter der Nachwuchsgruppe „Strukturbildung“, erstaunlich realitätsnah, wie sich Kolonien von Myxobak terien bei Nahrungsarmut verhalten – oder wie ein Kolibakterium vor der Zellteilung seine Mitte findet.

interessiert nun, nach welchen zu-sätzlichen Regeln die Bakteriengesell-schaft im kollektiven Rippelballetttanzen. Dazu simulieren Bär und sei-ne Kollegen das Verhalten der Myxo-bakterien mit einem anderen mathe-matischen Werkzeugkasten als Ange-la Stevens – sie verwenden „ZelluläreAutomaten“: Diese teilen einen ma-thematischen Raum in gleichmäßigeZellen ein, die sich nach gewissenSpielregeln verhalten. Deshalb sindsie ein ideales Instrument für die mathematische Simulation einer hungernden Myxobakterien-Kultur.Im Computer repräsentiert eine qua-derförmige mathematische Zelle einidealisiertes Bakterium. In der Simu-lation bewegen sich diese Zellenschrittweise – wie die Einzelbilder eines Films. Dabei gelten für sie ge-nau die einfachen Regeln, die manbei echten Myxobakterien vermutet.

Die Dresdner Physiker testeten,welche zusätzliche Bedingungen einmöglichst realistisches Rippeln ver-ursacht. Sie fanden heraus, dass derSchlüssel in der Phase nach einemZusammenstoß liegen könnte, beidem der Austausch des C-Faktors ei-ne Bewegungsumkehr erzwingt. Da-zu führten sie die neue Regel ein,dass ein Bakterium nach einer „Imp-fung“ mit dem C-Faktor eine be-stimmte Zeit lang keinen neuen C-Faktor aufnehmen kann. Stößt eswährend dieser Immunitätsperiodeauf einen neuen Partner, marschiertes, statt umzukehren, unbeirrt weitergeradeaus. FO

TO: M

PI F

ÜR

ENTW

ICKL

UN

GSB

IOLO

GIE

/JÜ

RGEN

BERG

ER

1 / 2 0 0 3 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 51

Verdopplung der DNA. Danach mussdie Mutterzelle in ihrem Leib dierichtige Stelle für die Selbstteilungfinden. Liegt sie daneben, schnürt sieeine Tochterzelle ohne vollständigeDNA-Ausstattung ab. Eine solcher-maßen verstümmelte Minizelle istnicht lebensfähig. Wie aber findetdie Mutterzelle die richtige Soll-bruchstelle?

WO BITTE, SO DIE FRAGE,LIEGT DIE MITTE?

Die Zellteilung ist extrem komplexund wird noch kaum verstanden. Ex-perimente ergaben jedoch erste Hin-weise auf einige wichtige Mechanis-men. Teilt sich ein Kolibakterium,dann produziert es in der Mitte seinesstäbchenförmigen Körpers eine Trenn-wand, Septum genannt. Wie eineschließende Irisblende wächst es vonder äußeren Zellwand in das Zell-innere hinein. Am inneren Rand desnoch offenen Septums sitzt ein Ring(Z-Ring), den ein Protein mit demKürzel FtsZ bildet. Fts steht für denenglischen Begriff filamentous tem-perature sensitive, auf Deutsch „tem-peraturabhängig fadenförmig“. Zudiesem Namen wurden die Biologenvon Mutationen des Gens inspiriert,das die Programmsequenz zur Her-stellung von FtsZ trägt. Das mutierteFtsZ-Protein verhindert bei gewissenTemperaturen eine Teilung. Stattdes-sen wird das Bakterium immer längerund erreicht schließlich eine faden-förmige Gestalt. Die Forscher glau-ben, dass das korrekte FtsZ das

wachsende Septum an der richtigenStelle im Bakterium positioniert –nämlich in seiner Mitte. Doch woherweiß das FtsZ, wo die Mitte liegt?

Diese harte Nuss versucht KarstenKruse mit einem mathematischenModell zu knacken. Es soll wichtigeexperimentelle Indizien zu einemsinnvollen Gesamtbild vereinigen.„Haupttäter“ bei der Ausbildung desSeptums scheinen drei Proteine zusein. Die Biologen nennen sie MinC,MinD und MinE. Min steht für Mini-zelle und weist auf eine besondereEigenschaft hin: Mutationen in denMin-Proteinen können das Bakteri-um dazu bringen, sich an einem sei-ner Enden (Pole) statt in der Mitte zuteilen und so eine unvollständigeMinizelle abzuschnüren. Experimen-te an E. coli zeigen, dass MinC dieBildung des Z-Rings verhindernkann. Wäre die Konzentration vonMinC in der Mitte geringer als an-derswo, könnte der Z-Ring nur andiesem korrekten Platz entstehen.Genau das passiert vermutlich imKolibakterium während der Teilung.

Wie aber hält die Zelle MinC vonder Mitte fern? Hier kommen dieProteine MinD und MinE ins Spiel.MinD-Moleküle setzen sich gern in-nen an die Zellwand. Da sie zudemGesellschaft suchen, versammeln siesich an einem der beiden Pole von E.coli. Das wäre schon das Ende derGeschichte, wenn nicht MinE alsweiterer Akteur die Szene betretenwürde. In seiner Gegenwart passiertFolgendes: Nach etwa 10 bis 60 Se-

kunden wird es dem MinD offenbarin seinem Bakterienpol zu ungemüt-lich. Es löst sich ab und wandertschnell zum anderen Pol, wo es sicherneut auf der Zellmembran versam-melt. Nach der gleichen Ruhezeitwird das MinD wieder aufgescheuchtund zu seinen alten Platz zurückge-trieben.

Dieses Spiel wiederholt sich stän-dig: Wie eine Schaukel schwingt dieKonzentration der MinD-Molekülean den beiden Polen des Kolibakteri-ums auf und ab. Da die MinD-Mo-leküle hin und her „rasen“, verbrin-gen sie die meiste Zeit an einem derPole. Im zeitlichen Mittel betrachtet,ist also ist ihre Konzentration an denbeiden Polen viel höher als in derBakterienmitte.

Nun tritt der dritte Akteur auf: dasMinC, die „FtsZ-Bremse“. Wie einHund an der Leine folgt es demMinD. Wegen dieser engen Verbin-dung kopiert das MinC einfach dasKonzentrationsprofil von MinD. Alsohat die MinC-Konzentration im Zeit-mittel ebenfalls eine Delle in derBakterienmitte. Diese Delle erlaubt esdem FtsZ, genau dort den Z-Ringund damit die Ansatzstelle für dasSeptum zu bilden. Der Choreografhinter dieser dynamischen Bestim-mung der richtigen Sollbruchstelleist also das MinE.

Die Dramaturgie des Proteinspielshaben die Forscher aus mehreren In-dizien entwickelt. Ob es die wahrenUrsachen des Teilungsprozesses ineinem Kolibakterium beschreibt, er-

PHYSIK komplexer Systeme

50 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 1 / 2 0 0 3

analytischer Mathematik gezeigt,dass eine Myxobakterien-Kolonieauch ohne C-Faktor-Immunität rip-peln kann. Dafür stellten die Wissen-schaftler modifizierte Regeln auf, dieweitere Partner in der Nachbarschaftzweier kollidierender Bakterien ein-beziehen: Wenn diese die Entschei-dung eines Stoßpartners beeinflus-sen, ob er danach kehrtmachen solloder nicht, dann führt die virtuelleKolonie ebenfalls ein schönes Rip-pelballett auf.

Welche Abzweigung die Natur ge-nommen hat, versuchen die DresdnerPhysiker nun mit einem erweitertenModell herauszufinden. Es basiertwieder auf Zellulären Automatenund testet die konkurrierenden Re-geln. Bär und seine Kollegen schlie-ßen nicht aus, dass sogar beide Re-geln gemeinsam das Rippelballettder Myxobakterien dirigieren.

In der benachbarten AbteilungBiologische Physik von Frank Jüli-cher beschäftigt sich Karsten Krusenicht mit Kolonien, sondern mit einereinzelnen Bakterienzelle: mit Esche-richia coli, der im Dickdarm desMenschen siedelt. E. coli zählt auchzu den Lieblingen einer internationa-len Wissenschaftlergemeinde, die andem Bakterium unter anderem dieZellteilung untersucht – einen ele-mentaren Vorgang des Lebens.

Vor der Teilung kopiert eine Zellealle wichtigen Bausteine in ihrem In-neren, um sie auf die neuen Tochter-zellen aufzuteilen – bei E. coli sindes zwei. Besonders wichtig ist die

FASZINATION Forschung

Kolonie von Myxococcus xanthus: Ein einzelnes Bakteriumist etwa 6 Mikrometer (millionstel Meter) lang.

Während sie sich zu Frucht-körpern zusammenzieht, zeigt einehungernde Myxococcus-xanthus-

Kolonie ein charakteristisches Wellenmuster. In den dunklen Be-

reichen sammeln sich die Bakterien.Eine „Wellenlänge“, also der Ab-

stand von einem dunklen Wellen-berg zum nächsten hellen Wellental,

beträgt 10 bis 20 Zellenlängen.

Die virtuelle M. xanthus-Kolonie der Dresdner Physiker: Wenn derenBakterien nach einer Kollision für einige Minu-ten „immun“ gegen dieAufnahme neuen C-Fak-tors bleiben, erzeugen sie ein sehr realistischesWellenmuster.

FOTO

S : G

ESEL

LSCH

AFT

FÜR

BIO

TECH

NO

LOG

ISCH

EFO

RSCH

UN

G

FOTO

S: W

OLF

GAN

GFI

LSER

/ MPI

RPH

YSIK

KOM

PLEX

ERSY

STEM

E

Simulieren die Bewegungsmuster von Bakterien und die Teilung von Zellen: Karsten Kruse (links) und Markus Bär.

Eine simulierte C-Faktor-Immu-nität von einigen Minuten erzeugt inder virtuellen Kolonie erstaunlichrealistische Rippelmuster. Bleiben dieBakterien dagegen während ihresStoßballetts ständig aufnahmebereitfür den C-Faktor, dann entsteht keinWellenmuster. Das Dresdner Modellbietet einen weiteren Vorteil: Weiljede der hunderttausende mathema-tischer Zellen ein Bakterium reprä-sentiert, beobachten die Forscher dasVerhalten der Individuen. Tatsäch-lich bewegen sich die virtuellen Zel-

len fast wie die Einzel-ler in einer echten Myxobakterien-Kolo-nie. Das Modell zeigtauch, dass hinter demkollektiven Rippelmu-ster eine präzise Cho-reografie steckt: Diemeisten Zellen in ei-nem Wellenberg keh-ren koordiniert um,wenn dieser mit einementgegenkommenden

Wellenberg zusammenstößt. Das äh-nelt den experimentellen Beobach-tungen an echten Kulturen – offen-bar kann das Modell das Verhaltenhungernder Myxobakterien schonrecht realistisch beschreiben.

Allerdings ist noch nicht entschie-den, ob die zeitweilige Immunitätgegen den C-Faktor die wirklich ent-scheidende Ursache des Rippelns ist.Angela Stevens und ihr KollegeFrithjof Lutscher haben ein alternati-ves Modell vorgeschlagen und mit FO

TO: W

OLF

GAN

GFI

LSER

Diskussion en passant: Karsten Kruse, Markus Bär und Doktorand Uwe Börner (von links).

52 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 1 / 2 0 0 3

scheint allerdings unsicher. Die ex-perimentellen Befunde haben nochviele Lücken. An diesem Punkt setztnun Karsten Kruse an. Mit seinemmathematischen Modell kann er inComputersimulationen testen, obdieses Drehbuch die erwünschte Proteinschaukel produziert – oder obalternative Drehbücher bessere Re-sultate liefern.

Dabei kommt dem Theoretiker einegrundlegende Eigenschaft des Sys-tems entgegen: Wie schon in derMyxobakterien-Kultur produzierenviele Beteiligte – hier die MinC-D-E-Moleküle – ein regelmäßiges Muster.Genau solche Muster können dieDresdner Physiker gut nachbauen,wenn sie den mathematischen Werk-zeugkasten der Physik komplexerSysteme geschickt einsetzen. ZumGlück erlaubt E. coli einige wichtigeVereinfachungen, die das Modellie-ren erleichtern. Kruse braucht zumBeispiel nur die MinD- und MinE-Konzentrationen zu berücksichtigen,da das MinC ja dem MinD gehorsamfolgt. Außerdem kann er die Gestaltvon E. coli ohne entscheidende Ein-bußen durch einen mathematischenZylinder vereinfachen. Das erlaubt es dem Forscher, in seinem Modellallein die MinD- und MinE-Konzen-tration entlang der Längsachse desBakteriums zu berücksichtigen: Ausursprünglich drei räumlichen Di-mensionen wird eine – was die ma-

thematischen Gleichungen viel über-sichtlicher macht.

Für Experten sei erwähnt, dassKruses Gleichungen zur Klasse der„Reaktions-Diffusions-Modelle“ ge-hören. Solche Modelle führte 1952der geniale englische MathematikerAlan Turing ein. Der Pionier derComputerwissenschaften wollte be-reits damals die Bildung von Struktu-ren in biologischen Systemen theo-retisch beschreiben. Alfred Gierer undHans Meinhardt vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie inTübingen haben mit diesem mathe-matischen Ansatz viel dazu beigetra-gen, die Entwicklung des Süßwasser-polypen Hydra zu verstehen. DieserWeg führte auch Karsten Kruse zumErfolg: Bei richtiger Einstellung derKonzentration von MinD und MinEproduziert sein Modell tatsächlichSchwingungen, die den experimen-tellen Daten sehr nahe kommen.

WELCHES DREHBUCH

IST AUTHENTISCH?

Die Welt der lebenden Organismenwäre langweilig, wenn ihre komple-xen Lebensprozesse nicht die Ent-wicklung alternativer Modelle her-ausfordern würde. Folgerichtig gibtes zwei weitere Drehbücher für dasMinC-D-E-Spiel von anderen For-schergruppen, davon eine um HansMeinhardt. Sie beruhen auf ähn-lichen Grundannahmen, unterschei-

den sich aber in wesentlichen Punk-ten. Alle drei Drehbücher beschrei-ben die Mechanismen während derPositionierung des Septums zwarverschieden, aber jedes auf eindeuti-ge Weise. Damit stellen sie klare Fra-gen, die sich durch gezielte Laborex-perimente an echten Bakterien be-antworten lassen.

Karsten Kruses Drehbuch nimmtzum Beispiel an, dass die MinD-Pro-teine sich gern zu „Aggregaten“ ander Zellmembran zusammenklum-pen. Zwei Experimente haben dieseVoraussage kürzlich bestätigt. Dochtrotz dieses erstaunlichen Erfolgswird es noch ein weiter Weg sein, bis E. coli seine letzten Geheimnisseüber die Zellteilung preisgibt. Dabeiwerden die mathematischen Modellesicher noch wichtige Impulse fürweitere Experimente liefern.

Die Selbstorganisation von Biomo-lekülen oder Zellen zu kollektivenMustern spielt in vielen Lebenspro-zessen eine grundlegende Rolle.,,Mathematische Werkzeuge werdeneines Tages auch zur Beantwortungder Frage beitragen, wie sich die Zel-len unseres Körpers bei der embryo-nalen Entwicklung spezialisierenund verschiedene Organe ausbilden“,sagt Bär. ,,Allerdings wird erst einenoch weit engere Zusammenarbeitzwischen Theoretikern und Experi-mentatoren den Weg zu diesem Ver-ständnis ebnen.“ ROLAND WENGENMAYR

FASZINATION Forschung

Das Hin- und Herwandern der MinD-Moleküle (hell markiert) im Escherichia-coli-Bakteriumwährend eines Experiments am Max-Planck-Institutfür molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden.Das Bakterium ist zwei Mikrometer lang. Die Zeit zwischen zwei Bildern beträgt etwa 20 Sekunden.

Simulation des MinD-Schwingens nach dem Modellvon Karsten Kruse. Links: Die MinD-Proteine (dunkel)schwingen zwischen den beiden Bakterienpolen hin und her. Rechts: Im zeitlichen Mittel befinden sich die meisten MinD-Proteine in den Polen, in der Bakterienmitte ist ihre Konzentration niedrig.

FOTO

: MPI

RM

OLE

KULA

REZE

LLBI

OLO

GIE

UN

DG

ENET

IK

FOTO

: MPI

RPH

YSIK

KOM

PLEX

ERSY

STEM

E, Ü

BERA

RBEI

TUN

G: R

OH

RER