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Willi Fährmann Folget dem Stern

Willi Fährmann Folget dem Stern · 2018-10-05 · Inhaltsverzeichnis November 11.11. MARTIN Martin und Markus mit dem Raben 13 12.11. Martinus, mein Bruder (Teil 1) 21 13.11. Martinus,

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Willi FährmannFolget dem Stern

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Willi Fährmann wurde 1929 geboren.

Nach einer Maurerlehre holte er die

Studienqualifikation an Abendschulen nach und studierte anschlie-

ßend an den Pädagogischen Hochschulen in Oberhausen und Münster.

Er arbeitete als Lehrer und als Schulrat. Er zählt zu den bedeutendsten

deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren und erhielt zahlreiche na-

tionale und internationale Auszeichnungen, u. a. den Deutschen Ju-

gendliteraturpreis für »Der lange Weg des Lukas B.«.

DER AUTOR

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Willi Fährmann

Folgetdem Stern

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Umwelthinweis:

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

1. Auflage

Erstmals als OMNIBUS Taschenbuch Oktober 2004

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2004 OMNIBUS Taschenbuch/C. Bertelsmann

Jugendbuch Verlag München in der Verlagsgruppe

Random House GmbH

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

Umschlagbild und Vignetten: Astrid Kroemer

Umschlaggestaltung: Basic-Book-Design,

Karl Müller-Bussdorf

kb · Herstellung: ReD

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Gesetzt aus der Goudy

Druck: Clausen & Bosse, Leck

ISBN 3-570-21384-6

Printed in Germany

Band 21384

Der Taschenbuchverlag für KinderVerlagsgruppe Random House

www.omnibus-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

November

11. 11.MARTIN

Martin und Markus mit dem Raben 13

12. 11.Martinus, mein Bruder (Teil 1) 21

13.11.Martinus, mein Bruder (Teil 2) 26

14. 11.Die Macht der Liebe 32

15. 11.Das schönste Rad der Welt 35

16. 11.Tollwut 40

17.11.Zwölf Wünsche für Elisabeth (Teil 1) 46

18. 11.Zwölf Wünsche für Elisabeth (Teil 2) 54

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19. 11.Zwölf Wünsche für Elisabeth (Teil 3) 60

20. 11.Der Weihnachtsbaum, der zu früh dran war 66

21. 11.Bon voyage 70

22. 11.Cappuccino und Isabella (Teil 1) 85

23. 11.Cappuccino und Isabella (Teil 2) 93

24. 11.Cappuccino und Isabella (Teil 3) 101

25. 11.Linda 107

26. 11.Die Maus 114

27. 11.Eine Rose im Poncho 121

28. 11.Richard Tsim, der Vogelfänger 126

29. 11.Ein Fisch ist mehr als ein Fisch (Teil 1) 136

30. 11.Ein Fisch ist mehr als ein Fisch (Teil 2) 143

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Dezember

1. 12.Ein Fisch ist mehr als ein Fisch (Teil 3) 153

2. 12.Die Tatarenkanone (Teil 1) 159

3. 12.Die Tatarenkanone (Teil 2) 164

4. 12.Das Mädchen im Turm 171

5. 12.Der geraubte Nikolaus 180

6. 12.NIKOLAUS

Die Legende von Nikolaus und Jonas mit der Taube 194

7. 12.Die Geschichte von den drei Schülern 202

8. 12.Die Geschichte von der ausländischen Arbeiterin 211

9. 12.Die Legende vom steinharten Herzen 220

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10. 12.Die Legende vom Mann mit den

drei goldenen Äpfeln 225

11. 12.Interview mit einer Holzfigur 229

12. 12.Begegnung in der Nacht 234

13. 12.»Spagettifresser« 244

14. 12.Die Hechte werden bald beißen 248

15. 12.Ein Stern ging auf 258

16. 12.Tod am Brunnen 263

17. 12.Meine Oma konnte übers Wasser laufen 275

18. 12.Lauter Lügen 280

19. 12.Irgendwie hat sich der Junge verändert 284

20. 12.Meine Oma fand immer eine Lösung 292

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21. 12.Der Weihnachtswolf 296

22. 12.Der große Frieden 303

23. 12.Es stand ein Stern in Bethlehem 305

24. 12.Wie Ochs und Esel in der Heiligen Nacht

in den Stall kamen 311

25.12.WEIHNACHTEN

Mirjam 316

26. 12.Freu dich, Erd und Sternenzelt

Nur eine alte Geschichte. 329

27. 12.Manuel hat gelacht 331

28. 12.Vor den Toren 335

29. 12.Der Indianerkönig 337

30. 12.Die Badewanne 342

31. 12.Zur Jahreswende

Jan und die toten Säuglinge 347

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Januar

1. 1.Zum neuen Jahr 359

2. 1.Der Esel, der den König trug (Teil 1) 360

3. 1.Der Esel, der den König trug (Teil 2) 368

4. 1.Der Esel, der den König trug (Teil 3) 378

5. 1.Das Zeichen am Himmel 390

6.1.DREI KÖNIGE

Daniel und der Hund des Königs 391

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November

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11.11.Martin

Martin und Markus mit dem Raben

Über Nacht war der Winter gekommen. Denganzen Tag über fegte ein scharfer Eiswinddurch die Straßen der kleinen Stadt. Er wir-

belte Schneeflocken vor sich her. Erst gegen Abend wur-de der Himmel klar. Dunkel lagen die Häuser. Die meistenMenschen waren früh in die Federn gekrochen. Nur imGasthaus »Zum Goldenen Apfel« brannte noch Licht.Auf dem Platz vor dem Haus waren einige Pferde an eiser-nen Ringen festgebunden. Sie scharrten mit den Hufenim Schnee. Ihr Fell rund um das Maul war weiß vomReif. Die Tür der Gaststube öffnete sich einen Spalt. EinJunge schlüpfte heraus und ging zu den Pferden. EinemApfelschimmel tätschelte er den Hals. Mit seiner Handwischte er den Schnee vom Sattel. Voll und rund stand derMond am Himmel. Der Schnee glitzerte in seinem mattenLicht.

Lange hielt es der Junge in der Kälte nicht aus. Er lief zu-

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rück ins warme Haus. Einen Augenblick lang schien helldas Licht durch die Tür. Da war es deutlich zu sehen: DerJunge trug einen Raben auf seiner linken Schulter.

In der Stube lärmten Männer. Becher klirrten. Würfelrollten über die weiß gescheuerte Tischplatte. Die Männerhatten rote, erhitzte Gesichter. Ihre eisernen Helme, dieSchwerter und Mäntel lagen achtlos über Tische undBänke verstreut.

»Wir trinken auf Martin, den jüngsten Hauptmann inunserer Legion«, rief einer.

»Lang soll er leben!« Sie hoben die Becher.Der Junge mit dem Raben stand hinter Martin. Plötzlich

reckte der Rabe seinen Kopf und schrie laut und deutlich:»Martin! Martin!«

»Wenn ich es nicht mit eigenen Ohren hören könnte«,sagte ein alter grauhaariger Offizier, »ich würde es nichtglauben, dass ein dummer Vogel so gut sprechen kann.«

»Der Rabe hat mehr Verstand als ihr alle.« Martin standauf. »Es ist spät geworden. Lasst uns ins Lager reiten. Mor-gen müssen wir früh hinaus.«

»Martin hat all sein Geld im Spiel verloren. Jetzt will ernach Hause«, johlte einer. »Kein Pfennig ist mehr bei ihmzu holen. Seine Taschen sind leer.«

»Martin hat Recht, Freunde«, sagte der Alte. »Wir müs-sen ins Lager zurück, los, wir brechen auf.«

»Martin, Martin«, kreischte der Rabe.»Ist gut, ist gut«, lachte der Junge. »Unser Herr kommt

ja schon.« Er tippte dem Vogel mit dem Finger gegen denSchnabel.

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»Gib mir meinen Mantel, Markus«, befahl Martin. DerJunge legte seinem Herrn den dicken roten Mantel um dieSchultern und reichte ihm Helm und Schwert.

Martin trat ins Freie. »Der Wind weht kalt«, knurrte erund schlug seinen Mantelkragen hoch. Markus zurrte denSattelgurt fest. Der Apfelschimmel wieherte.

»Finster ist es zwischen den Häusern«, sagte Martin zuMarkus. »Du solltest eine Laterne mitnehmen, wenn wirdes Abends in die Stadt gehen.«

»Ja, Herr«, antwortete Markus.Die Offiziere ritten los. Im neuen, weichen Schnee waren

die Tritte der Pferde kaum zu hören. Nur dort, wo der Winddas Pflaster blank geweht hatte, klangen die Hufschlägehell durch die Nacht.

»Martin, Martin«, rief der Rabe.»Ja, ja, ich reite nicht zu schnell, damit ihr folgen könnt«,

sagte Martin. Markus musste aber doch rennen, wenn erMartin nicht aus den Augen verlieren wollte.

Fest krallte sich der Rabe an seine Schulter.»Eigentlich könntest du fliegen, du fauler Bursche«,

schimpfte Markus. Der Rabe schlug zwar gelegentlich mitden Flügeln, blieb aber auf der Schulter des Jungen sitzen.

Am Stadttor brannte eine Laterne. In ihrem trübenLichtschein hockte ein zerlumpter Mensch. Hoch reckteer seinen nackten Arm. In der Hand hielt er die Bettel-schale.

»Hast du etwa auf uns gewartet?«, rief ein Offizier über-mütig. »Du sollst bekommen, was du verdienst!« Er rittscharf an dem Bettler vorbei, sodass der Schnee hoch auf-

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flog und den armen Mann überstäubte. Stumm hielt derMensch den Reitern die Bettelschale entgegen. Schimpf-worte und höhnische Bemerkungen waren alles, was dieSoldaten für ihn übrig hatten.

Auch Martin sah den Bettler in der Kälte hocken. Derarme Mann saß da, sagte kein Wort und schaute Martin ru-hig an. Martin wich dem Blick nicht aus. Er zügelte seinPferd.

»Komm endlich, Martin«, riefen seine Freunde. »Bettlergibt es zu viele auf der Welt. Komm endlich, komm! Soller selbst sehen, wie er sich durchschlägt.«

Martin hörte nicht auf sie. Er sprang vom Pferd undbeugte sich zu dem Menschen hinunter.

Markus mit dem Raben, der hinter den Reitern herge-rannt war, hatte Martin inzwischen erreicht. Was machtesein Herr dort bei dem Bettler im Schnee?

»Martin, Martin«, krächzte der Rabe.Einen Augenblick lang schaute Martin auf. Er lächelte

dem Vogel zu. »Ich hab dich verstanden«, sagte er.Dann wandte er sich an den Bettler. »Ich besitze keinen

einzigen Pfennig mehr, Mann«, erklärte er ihm. »Alleshabe ich beim Würfelspiel verloren.«

Der Arme ließ die Bettelschale sinken und starrte trau-rig vor sich in den Schnee. »Kalt ist mir, kalt«, murmelteer und presste die nackten Arme eng an seinen Leib.

Martin zögerte einen Augenblick. Doch dann riss er sei-nen warmen roten Umhang von den Schultern, zog seinSchwert und trennte mit einem wuchtigen Hieb den Man-tel mitten entzwei.

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»Hülle dich darin ein, du armer Mensch«, sagte er unddeckte ihn mit der einen Hälfte des Mantels behutsam zu.

Markus staunte, denn Martin besaß nur diesen einenMantel. Es schien seinem Herrn Freude zu machen, denMantel zu teilen. Fröhlich schwang er sich aufs Pferd undrief: »Markus mit dem Raben, renn los, damit wir bald insLager kommen.«

Martins Freunde hatten von ferne zugesehen. Sie warte-ten am Lagertor. »Wer den Armen helfen will, der fängtden Regen mit einem Sieb auf«, spotteten sie.

Selbst der alte Offizier schüttelte den Kopf und sagte:»Ein halber Mantel, das ist gar kein Mantel.« Aber Martinschwieg.

»Geteilte Wärme ist doppelte Wärme«, rief Markus denMännern zu.

»Grünschnabel«, fuhr ihn der Alte an. »Gib besser Achtauf deinen Herrn, wenn er wieder solchen Unsinn machenwill.«

»Komm ins Haus, Markus«, sagte Martin. »Vergissnicht, den Raben zu füttern.«

Markus konnte zunächst nicht einschlafen. Er lag aufseiner Decke, nahe bei der Tür. Das Mondlicht schiendurchs Fenster. Der Rabe hockte mit aufgeplustertem Ge-fieder auf seiner Stange, den Kopf tief eingezogen. Martinsruhige Atemzüge zeigten es an, sein Herr schlief bereits.Auch dem Jungen fielen schließlich die Augen zu.

Im Traum hörte Markus es deutlich: »Martin, Mar-tin!«, klang es durch den Raum. Der Junge fuhr erschreckthoch.

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»Still, du Lausevogel!«, zischte Markus den Raben an.Der aber schlief und rührte sich nicht.

Martin richtete sich schlaftrunken auf. »Halt deinen Ra-benvogel still«, murmelte er.

»Der Rabe war’s nicht«, flüsterte Markus. Aber Martinhörte ihn nicht mehr. Er hatte sich auf die andere Seite ge-dreht und schlief weiter.

Der Junge lauschte eine Weile, doch nichts rührte sich.Da schlief auch er wieder ein.

Wenig später ertönte ein zweites Mal die Stimme: »Mar-tin, Martin!« Die beiden schreckten hoch.

»Jetzt reicht’s mir aber«, maulte Martin. »Gib endlichRuhe, du Miststück!«

Markus wandte keinen Blick von dem Vogel. Doch dersaß da, den Kopf tief im Gefieder verborgen.

»Der Rabe war es nicht«, sagte der Junge.»Wer sonst?«, knurrte Martin verschlafen.Markus war hellwach. Er setzte sich auf, lehnte seinen

Rücken gegen die Wand und starrte in das Zimmer. Nichtsrührte sich. Kein Laut war zu hören. Endlich sank Markuszurück in Schlaf und Traum.

Wieder wuchsen aus dem Dunkel die Lichter, die Schat-ten, die Bilder. Wer war das, der sich da langsam auf dasHaus zubewegte? Markus erkannte die Gestalt sofort. Eswar kein Zweifel möglich. Der Bettler stand dort beimFenster. Den roten Mantel hatte er um die Schultern ge-legt. Aber wie sah er jetzt aus? Ein helles, strahlendes Lichtumfloss ihn. Markus musste die Augen zu schmalen Schlit-zen zusammenkneifen.

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»Martin, Martin!«, rief die Lichtgestalt. »Was du demMenschen in der Kälte getan hast, das hast du mir getan.«

Markus richtete sich auf und rieb die Augen. In diesemAugenblick fuhr auch der Soldat hoch und suchte seinenSchuh. Er wollte nach dem Raben werfen.

Doch warum hielt Martin inne? Warum warf er nicht?Was sah er? Er staunte und schwieg.

Das Licht zerfloss. Nur der Mondenschein machte dieKammer ein wenig hell. Martin und Markus schauten sichan. Sie sprachen kein Wort mehr in dieser Nacht, obwohlder eine vom anderen hörte, dass er noch lange wach lag.

»Martin, Martin«, kreischte der Rabe, als die gelbe Win-tersonne ihre ersten Strahlen durch die Scheibe schickte.

Markus sprang auf und trat an Martins Lager. »Ichglaube, Herr, der Rabe hat die Ruhe gestört. Er hat heuteNacht so seltsam geschrien.«

»Es war nicht dein Rabe, Markus!«, antwortete Martinleise. »Der Heiland ist uns begegnet. Im armen Menschenist er uns begegnet, wie er selbst gesagt hat.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Markus.»Ich war nackt und du hast mich bekleidet, hat er ge-

sagt.«»War’s doch mehr als ein Traum?«, fragte der Junge.Da antwortete Martin: »Wovon wir heute noch träu-

men, Junge, das kann morgen schon wirklich sein.«An den folgenden Tagen war Markus emsig beschäftigt.

Aus dünnen Brettstückchen und bunten Glasscherbenbaute er eine Laterne.

Eine Woche später musste er Martin wieder in die Stadt

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begleiten. Er zündete das Öllicht in der Laterne an. Herr-lich drang der Schein durch das farbige Glas. Richtige Bil-der waren zu erkennen: der rote Mantel, der arme Mann imSchnee, der Apfelschimmel und das Schwert.

»Du bist ja ein Künstler, Markus. Durch die Bilderscheint hell das Licht«, sagte Martin. »Deine Laterne er-zählt eine Geschichte, Markus.«

»Ja«, antwortete Markus. »Eine Geschichte für jedenschimmert hindurch. Eine Geschichte der neuen Welt.«

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12. 11.

Martinus, mein Bruder

Teil 1

Das Ziel vor Augen, schüttelte Ambros die Mü-digkeit ab und beschleunigte seine Schritte. Indie Grauschleier des nasskalten Novembertages

zeichnete sich der Kirchturm von Candes wie ein dunklerSchatten. Gerade als die Glocke anschlug, eilte Ambrosdurch das südliche Tor. Die Stadt lag wie erstickt unter denniedrig hängenden Wolken. Kein Mensch zeigte sich. DieStraße führte auf den Marktplatz. Das graublaue Basalt-pflaster glänzte vor Nässe. Gestutzte Platanen säumten denPlatz. Sie hatten die letzten Blätter längst abgeworfen unddie knorrigen Zweige überwölbten wie bizarre Sparren ei-nes Daches die Gehsteige. Fenster und Türen rundum wa-ren geschlossen. Nur das Portal der großen Kirche standweit offen.

Er warf einen Blick hinein, aber auch dort sah er nie-mand. In einer Seitenkapelle flackerte eine fast herunter-

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gebrannte Kerze. Der schwache Duft von Weihrauch hingin der Luft.

Das Licht zog Ambros an. Er ließ das Bündel von derSchulter gleiten und entzündete eine neue Kerze. Überdem Flämmchen wärmte er seine Hände. »Zu spät«, mur-melte er, »zu spät.«

Harter Hufschlag und das Rattern von Rädern auf demPflaster schreckten ihn auf. Er griff nach dem Bündel undverließ die Kirche.

Vor dem Gasthaus »Zum goldenen Eber« band ein un-tersetzter grauhaariger Mann seinen schweren Ackergaulan. Das Pferd dampfte. Der Mann warf ihm eine Decke, dieer vom Wagen genommen hatte, über den Rücken. Danntrat er in die Gaststube.

Ambros folgte ihm, zog die Tür hinter sich ins Schlossund blieb unschlüssig stehen. Eine alte Frau hockte nebendem Kamin, in dem ein Feuer brannte. Sie sprach mit demWagenbesitzer.

»Sind alle fort«, sagte die Frau. »Gleich nach der Früh-messe sind sie aufgebrochen. Nach Tours, in seine Stadt,wollen sie ihn bringen. War ein langer, langer Zug. Habnoch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen.«Sie wandte sich Ambros zu.

»Woher? Wohin?«, fragte sie.Ambros zuckte die Achseln und trat näher an das Feuer.»Ich hörte, dass er sich hier in Candes aufhielt. Da

machte ich endlich wahr, was ich mir schon seit Jahren ge-schworen hatte. Ich wollte ihn sehen, wollte …«

»Weißt du es denn nicht? Martin ist tot.«

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