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Willkommen im Labyrinth der Sprachgeschichte Sprachen zwischen Saurierpark und Zukunftsmusik

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Willkommen im Labyrinth der Sprachgeschichte

Sprachen zwischen Saurierpark und Zukunftsmusik

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Fangen wir die Sprachgeschichte mal ganz von vorne an:

Die Entstehung der Spracheaus traditioneller jüdisch-christlicher Sicht

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„Am Anfang war das Wort,“

sagt das Johannes-Evangelium.

Aber welches Wort?

Johannes spielt auf den Anfang der Schöpfungsgeschichte an – er theologisch, wir

heute Abend rein sprachlich.

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Erster Schöpfungsakt – das Licht:Das erste gesprochene Wort – gleich zweimal

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Das gibt’s doch nicht!Doch, im Althebräischen!

,es werde (zukunftsgerichteter Wunsch = (jehi) יהיBefehl)

יהיו (wajjehi) = und es ward (vergangene Handlung)

● Die gleiche Zeitwortform kann im Althebräischen je nach Umtext gegensätzliche Zeiten ausdrücken.

● Oft entscheidet allein das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines „ו“ (und) über Vergangenheit oder Zukunft – für dieselbe Zeitform!

● Es gibt nur die Zeiten „Perfekt“ und „Imperfekt“ (auch „Futur“ genannt), und keine Gegenwart...

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Das gibt’s doch nicht!Doch, in Bibelübersetzungen!

● Ausgerechnet das hebräische Imperfekt (= Futur) mit .dient als Erzählzeit der Vergangenheit (und) “ו„Daher in deutschen Übersetzungen des AT oft unnötige / störende Reihungen „Und..., und..., und...“. Da wird zu wörtlich übersetzt!

● In Übersetzungen der zehn Gebote wird das hebräische Imperfekt (= Futur) oft nicht als Gebot, sondern als zukünftige Handlung ausgedrückt. Beispiele: Tu ne tueras pas (fr.). No matarás (sp.). Não matarás (pt.). Jeweils „Du wirst nicht töten“ statt „Du sollst nicht töten“. Da wird das „Futur“ zu wörtlich genommen!

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Das gibt’s doch nicht!Doch, im Althebräischen!

● Das indoeuropäische Zeitenraster (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) gilt im Althebräischen nicht (aber im Neuhebräischen schon).

● Unsere indoeuropäische Sicht der Dinge ist nicht der Weisheit letzter Schluss!

● Wer eine andere semitische Sprache kennt (Aramäisch, Arabisch), dem wird vieles von dem hier Gesagten bekannt vorkommen.

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Frage zur Schöpfungsgeschichte:In welcher Sprache sprach Gott?

● Zu sich selbst?

● Zu den Dingen, Pflanzen und Tieren?

● Zu Adam? (Erst mal nicht zu Eva; die erfährt alles von ihrem Mann! Ob Alice Schwarzer das weiß?)

Gott sprach natürlich Hebräisch!

● Anders war das für die Autoren der Schöpfungsgeschichte nicht denkbar.

● Daraus ergibt sich die religiöse Bedeutung des Hebräischen für gläubige Juden.

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Nach der Vertreibung aus dem Paradies:Die Spracheinheit bröckelt – oder nicht?

● In 1. Moses 10, 5 steht: „Von ihnen haben sich die Inselvölker abgezweigt. Das sind die Nachkommen Japhets nach ihren Ländern, ihren Sprachen, ihren Geschlechtern, ihren Völkerschaften.“

Zitiert nach der sog. Züricher Bibel. Im hebr. Original steht genauer: איש ללשנו (isch lilschono, jeder nach seiner Sprache).

● In 1. Moses 11, 1 steht dann aber überraschenderweise: „Es hatte aber alle Welt einerlei Sprache und einerlei Worte.“

?!

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Turmbau zu Babel:Babylonische Sprachverwirrung

● Die Menschen wollten angeblich einen Turm bis in den Himmel bauen. Das missfiel Gott sehr.

● „Und der Herr sprach: Siehe, sie sind ein Volk und haben eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. Wohlan, lasst uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr des anderen Sprache verstehe.“ (1. Moses 11, 6-9)

Gesagt, getan – und damit leben wir heute noch!

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Babylonische Sprachverwirrung:Literaturgeschichtliche Deutung

Der Mythos von der babylonischen Sprachverwirrung sollte gleich mehrere weltliche Dinge religiös erklären:

● die Existenz einer riesigen Turmruine im heidnischen Babylon (ein Tempel für die Stadtgötter?)

● die Verstreuung der Juden in der damals bekannten Welt

● die Existenz verschiedener, für die Juden unverständlicher Sprachen

Rückschluss von Erlebtem auf dessen Ursache

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Sprachenvielfalt:Ist sie wirklich eine Strafe?

● Von den derzeit rund 6900 aktiv genutzten Sprachen ist ungefähr die Hälfte am Aussterben.

● Heute versuchen wir sterbende Sprachen zu retten oder wenigstens zu dokumentieren, soweit es noch geht!

● Mit jeder aufgegebenen Sprache geht Wissen und geistiges Potenzial verloren, das die Menschheit vielleicht irgendwann dringend brauchen könnte.

● Für die Sprachenvielfalt gelten ganz ähnliche Gesetze wie für die Artenvielfalt!

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Sprachenvielfalt:Wissenschaftliche Erklärung

● Innerhalb einer Gruppe oder Familie ergaben sich im Alltag Laute oder Lautfolgen zur Verständigung.

● Die so entstandene Sprache wurde komplexer und verbreitete sich mit der Gruppe oder Familie.

● Fehlende Kontakte führten zum allmählichen Auseinanderdriften solcher Gruppensprachen.

● In verwandten Gruppen konnten sich verwandte Sprachen halten (Dialekte, Sprachfamilien).

● Außenkontakte oder deren Fehlen formen eine Sprache ebenso wie ihre innere Entwicklung.

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Sprachenvielfalt:Beispiele für sprachrelevante Kontakte

Es gab und gibt nicht nur Anleihen an den fremden Wortschatz, sondern auch lautliche und grammatische Einflüsse – und Wissensvermittlung!

● Arabischer Einfluss auf das Spanische (al-)

● Arabischer Einfluss auf das europäische Zahlensystem (Zahl 0 ermöglicht feste Stellenwerte)

● Germanischer Einfluss auf das Französische („behauchtes h“)

● Türkischer Einfluss auf das Ungarische (viele ö / ü, Spuren des dunklen i)

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Verständnishilfen in der Vielfalt:Fremde Anleihen

● dt. Frisör, Coiffeur <= frz. friseur (veraltet), coiffeur

● dt. Schlager <= engl. hit (Schlag, Hit; Lehnübersetzung)

● fr. hinterland <= dt. Hinterland

● kroat. / tschech. / ungar. vikend <= engl. weekend

● poln. urlop (Urlaub) <= dt. Urlaub

● poln. klejnot (Juwel) <= dt. Kleinod

● russ. ветер [weter] (Sturm) <= dt. Wetter

● ung. ebéd (Mittagessen) <= kroat. objed

● dt. Plumeau (Federbett) <= frz. plumeau (Staubwedel)

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Die Falle:Falsche Freunde (1)

● dt. Fantasie (Einbildungskraft) <||> fr. fantaisie (Laune)

● süddt. Plümo/Blimo (Federbett) <||> fr. plumeau (Staubwedel)

● dt. bio (biologisch) <||> schwed./dän. bio (Kino)

● dt. Stunde <||> schwed. stund (Weile)

● dt. nuttig (nuttenhaft) <||> nl. nuttig (nützlich)

● dt. Öl <||> schwed. öl, dän. øl (Bier)

● dt. eventuell / fr. éventuellement (möglicherweise) <||> engl. eventually (schließlich, letztendlich)

● dt. / fr. morbide (krankhaft) <||> it. morbido (mürbe)

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Die Falle:Falsche Freunde (2)

● fr. merci (Dank, danke) <||> engl. mercy (Gnade)

● fr. blesser (verletzen) <||> engl. to bless (segnen)

● fr. fermer (schließen) <||> ital. fermare (anhalten)

● fr. bistro (Kneipe) <||> russ. быстро [bystro] (schnell)

● it. burro (Butter) <||> span. burro (Esel)

● it. solerte (eifrig) <||> port. solerte (schlau)

● engl. time (Zeit) <||> schwed. timme (Stunde)

Und so weiter und so fort...

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Hinterfragt:Wer steuert die Sprachentwicklung?

● Heraklit von Ephesos (um 520 – 460 v. Chr.):

„Panta rhei.“ (Alles fließt. Alles entwickelt sich von selbst weiter.)

● Culcha Candela (heute):

„Keiner fragt wieso

Keiner fragt warum

Keiner fragt wie's geht

Denn es geht schon von allein“

● Wenn die wüssten, was ich Ihnen hier unterjuble...

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Sprachenschicksale:Lebendige und tote Sprachen

● Wörter und Sprachen sind wie lebendige Wesen:

Sie werden geboren, blühen auf, entwickeln sich weiter, welken dahin und sterben. Ihr Lebenselixier sind die Menschen, die sie sprechen. Ohne sie sterben sie.

● „Künstliche Beatmung“ nützt meist nicht viel. Diese Erfahrung mussten schon viele Dialekte und Minderheitensprachen machen.

● Aber auch das Erbe „toter“ Sprachen ist wichtig und wirkt weiter. Beispiele: Althebräisch, Altfranzö-sisch, Altgriechisch, Latein => unsere Kultur.

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Hebräisch und wir:Wozu nützt z.B. Althebräisch heute?

● als Grundlage der modernen Sprache (Neuhebräisch = Ivrit)

● zum religiösen Gebrauch der Juden

● zum Verständnis der Urtexte des Alten Testaments

● zum Verständnis von Wörtern, Ausdrücken und Redewendungen, die (teils übers Jiddische und das Rotwelsche) ins Deutsche gekommen sind

Ähnliches gilt für viele alte Sprachen, auch für das Altfranzösische (abgesehen vom religiösen Gebrauch und den Übertragungswegen).

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Hebräisch und wir:Hebräische Anleihen

Wegen der engen, auch personellen Verbindung des Hebräischen mit dem Jiddischen und dem Deutschen gibt es zahlreiche Lehnwörter und Lehnübersetzungen.

Und das, obwohl Hebräisch zu den semitischen Sprachen, das Deutsche aber zu den germanischen Sprachen gehört!

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Hebräisch und wir:Tohuwabohu

● Dt.: heilloses Durcheinander (bayerisch: Verhau)

● Kommt von 1. Mose 1, 1-2:

● „[...] wehaarets hajetah tohu wabohu.“

● Nach Luther und anderen: „(Gott schuf Himmel und Erde,) und die Erde war wüst und leer“.

● Ursprung und Sinn der beiden Wörter umstritten.

● Französisch: tohu-bohu, capharnaüm, bazar (Fam.) neben fouillis, désordre, bordel (Fam.).

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Hebräisch und wir:Hals- und Beinbruch!

Ursprünglich wünschte man im Jiddischen:

Hals und Bein baruch! (< hebr. ברוך [baruch] = gesegnet, gebenedeit)

Daraus wurde:

Hals und Bein beruch!

Dann:

Hals und Bein bruch!

Als das keiner mehr richtig verstand, „verbesserte“ man die Schreibung – und brachte so den heutigen Widersinn hervor.

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Hebräisch und wir:Jemandem zeigen, wo der Barthel den Most holt

● Barthel < hebr. ברזל [barsel] (Eisen, Brecheisen)

● Most < rotwelsch Moos (Geld) < hebr. מעות [ma'oth] (kleine Münzen)

Wörtlich: jemandem zeigen, wo das Brecheisen das Kleingeld holt

● Heute: jemandem zeigen, wo's langgeht

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Da geht es weder um einen Mann namens Bartholomäus noch um unvollständig vergorenen Wein!

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Hebräisch und wir:Einen guten Rutsch wünschen

= einen guten Jahresbeginn wünschen

Rutsch < hebr. רוש [rosch] (Anfang),

verwendet in hebr. השנה רוש [rosch haschana] (Beginn des Jahres, Jahresanfang)

----------------------------------------------------------------------Keinerlei Bezug zum Ausrutschen!

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Jede Sprache ein Universum

● Jede Sprache bildet das ganze Leben ihrer Sprecher ab.

● Sie hat mehrere Ebenen, die teils parallel laufen, aber sich auch berühren und sogar kreuzen können, z.B.:

Standard (Hochsprache) / literarisch / beruflich / Jargon / familiär / derb / obszön / dialektal / frz. argot / verlan …

● In ein und demselben Text können verschiedene Ebenen und Entwicklungsstufen gemischt vorkommen.

● Es gibt Bewegungen auf und ab, rein und raus. Derzeit „in“: toll, geil, Scheiße; „out“: D-Zug, Apfelsine, Schädelbruch.

● Es kann sprachgeschichtliche Rückgriffe und Vorgriffe geben.

● Ganz zu schweigen von fremdsprachlichen Anleihen...

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Französisch:Argot

Das französische Gegenstück zum deutschen Rotwelsch

● Zunächst als Geheimsprache der Bettler und Gauner vor allem in und um Paris entwickelt

● Inzwischen mitten in der Gesellschaft angekommen – wenn auch nicht in vollem Umfang. Viele Argot-Ausdrücke sind inzwischen in die familiäre Umgangssprache übergegangen.

● Literarisch bekannt vor allem durch die vollständig in Argot geschriebenen Kriminalromane von San Antonio.

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Französisch:Geläufige Argot-Wörter

● bide (statt ventre = Bauch).

● bosser / trimer / turbiner (statt travailler = arbeiten)

● falzar (statt pantalon = Hose)

● flic (statt policier = Polizist)

● fric / pèze / pognon (statt argent = Geld)

● godasse (statt chaussure = Schuh)

● limace / liquette (statt chemise = Hemd)

● paluche (statt main = Hand)

● pif (statt nez = Nase), au pif (pi mal Daumen)

Argot verstehen, aber nicht unbedacht anwenden!

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Französisch:Verlan

● Heute die angesagteste Pariser Jugendsprache

● Von l'envers (das Umgekehrte):

l'envers > *vers-l'en > verlan

● Bis jetzt nur Nischensprache

● Keine bloße Umkehrung, sondern Kneten, bis es passt

Bekannte Beispiele:

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Französisch:Bekannte Verlan-Ausdrücke

● Lèse béton ! (statt Laisse tomber ! = Vergiss es!)

● meuf (statt femme = Frau)

Je la kife grave, cette meuf (statt Je suis fol amoureux de cette femme = Ich stehe ganz toll auf diese Frau).

● beur (statt Arabe = Araber; oft herabsetzend)

Davon abgeleitet:

beurette (statt femme arabe = Araberin)

Verlan nur verstehen, nicht anwenden!

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Belgisches Intermezzo (1):Ein versöhnlicher Belgierwitz

● Frage:

Pourquoi est-ce que les Belges font leur service militaire de préférence dans les sous-marins ? (Warum leisten die Belgier ihren Militärdienst am liebsten im U-Boot ab?)

● Antwort:

Parce qu'au fond ils ne sont pas si bête. (Weil sie im/am Grund gar nicht so dumm sind.)

Die Übersetzung hinkt. Warum wohl?

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Wie entstanden die romanischen Sprachen?

● Ihr Ursprung ist rund 1.500 Jahre jünger als derjenige der biblischen Schöpfungsgeschichte.

● Sie sind das Produkt eines Reiches, das zu groß geworden war, um sein Gebiet mit lateinisch sprechenden Menschen zu füllen.

(Latein war ja ursprünglich nur die Sprache der Stadt Rom und ihrer näheren Umgebung!)

● Und die Lateiner ließen sich von den Sprachen der unterworfenen Völker beeinflussen.

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Das Römische Reich um 117 n. Chr.

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Latein:Sprachliche Zersplitterung

● Der lateinischen Sprache ist passiert, was heute dem Englischen droht: regionales Auseinanderdriften und Pidginisierung.

● Die schiere Ausdehnung des Römischen Reiches und die beschränkten Mittel für Besiedelung und Kulturaustausch ließen die lateinische Volkssprache in Dialekte und Sprachen zerfallen.

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Welchen Unterschied gibt es zwischen Sprache und Dialekt?

Es gibt keine allgemeingültige Definition. Annäherungen:

● Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Kriegsmarine.

● Ein Dialekt ist eine Sprache, die politisch Pech gehabt hat.

● Eine Sprache ist ein mehrere Dialekte verbindender oder unterdrückender Standard.

Beispiele:

● Niederländische Sprache und plattdeutscher Dialekt

● Hochdeutsch und Schwizerdütsch

● Hochfranzösisch und Dialektfranzösisch

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Französische SpracheDialekt oder patois?

● Dialekt:

Regionale Variante der Hochsprache

Französische Hochsprache < Dialekt von Paris und Umgebung

Die französischen Dialekte waren früher stark ausgeprägt und auch literarisch sehr aktiv, wurden aber durch das absolute Königtum und den staatlichen Zentralismus stark zurückgedrängt.

● patois:

Variante einer Minderheitensprache auf französischem Boden (Bretonisch, Flämisch, Deutsch, Okzitanisch, Katalanisch)

● Die Franzosen machen meist nicht diese Unterscheidung.

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Woher kommen die romanischen Sprachen?

● Die romanischen Sprachen kommen nicht vom klassischen Latein, sondern von der lateinischen Volkssprache (Umgangssprache).

● Sprachwissenschaftler nennen diese Volkssprache meist „Vulgärlatein“ (von lat. vulgus = Volk). Das hat nichts mit Vulgarität zu tun! Dennoch vermeide ich dieses Wort, da es falsch verstanden werden kann.

● Das Volkslatein hatte bereits viele neue Formen und Wörter und Ansätze zu einer veränderten, oft einfacheren Grammatik. Beispiel: lat. equus (Pferd) > vlat. caballu(m) > it. cavallo, fr. cheval.

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Warum sprechen die Germanen immer noch germanisch (z.B. deutsch)?

● Selbst zur Zeit seiner größten Ausdehnung hat das Römische Reich nicht sein Ziel erreicht, die Germanengebiete bis zur Elbe dauerhaft zu besetzen und zu befrieden.

● Der Mangel an Latein sprechenden Menschen im Grenzgebiet verhinderte dort eine massive Weiterverbreitung dieser Sprache.

● Die einsetzende germanische Völkerwanderung drängte das Lateinische schließlich bis weit in die linksrheinischen Gebiete zurück.

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Die „Barbaren“ und das Römische Reich

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Römisches Reich:Der Anfang vom Ende

● Aufgabe der Provinz Dacia (in etwa das heutige Rumänien) im Jahr 270

● Teilung des Römischen Reiches im Jahr 395 (Weströmisches Reich ./. Oströmisches Reich)

● Invasion des Gebiets des heutigen Frankreich durch germanische Stämme (Alamannen, Franken, Visigothen, ...)

● Niedergang des Weströmischen Reiches (Schlusspunkt 476)

● Ausbreitung der fränkischen Herrschaft (Merowinger bis Karolinger) bis an die Pyrenäen

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Teilung des Römischen Reiches (395)

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Dumme Frage:Woraus besteht der rumänische Wortschatz?

Die Rumänen sind stolz darauf, trotz slawischen Umfeldes eine romanische Sprache zu sprechen.

Was würde daher ein Rumäne antworten, wenn man ihn fragte, ob es wahr ist, dass der rumänische Wortschatz ausschließlich aus Wörtern romanischer Herkunft besteht?

Er würde stolz sagen: „Da!“

Das bedeutet auf Rumänisch „Ja!“ – und ist slawischer Herkunft...

Noch Fragen?

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Frankenreich 768 - 814

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Warum sprechen die Franzosen heute nicht deutsch?

● Die Franken stellten in den ehemals römischen Gebieten nur eine dünne Herrscherschicht.

● Das Volk sprach weiterhin die romanische Volkssprache:

- im Norden: langues d'oïl (heute Französisch)

- im Süden: langues d'oc (heute Okzitanisch)

● Es ergab sich dadurch eine dauerhafte romanisch-germanische Sprachgrenze, die noch heute entlang des Vogesenkamms bis Lothringen führt.

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Woher weiß man, wer damals welche Sprache sprach?

Nach dem Tod Ludwigs des Frommen (840) sollte das Frankenreich unter seine drei Söhne aufgeteilt werden:

- Westteil: Karl der Kahle

- Mittelteil: Lothar mit der Kaiserwürde

- Ostteil: Ludwig der Deutsche

Das Reich hätte dann so ausgesehen:

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● Die Dreiteilung des Reichs passte Karl und Ludwig nicht. Sie verbündeten sich gegen ihren Bruder – und zwar schriftlich, noch vor dem Vertrag von Verdun!

Das Bündnis umfasste Karl und Ludwig sowie ihre beiderseitigen Unterführer und Vasallen.

● Problem: Die Unterführer und Vasallen sprachen nur Altfranzösisch bzw. Althochdeutsch.

Daher schworen Karl und Ludwig in der Sprache der Unterführer des Bruders, und dann die jeweiligen Unterführer in ihrer eigenen Sprache.

● So kam es zum ersten schriftlichen Beleg für die sprachliche Aufteilung des Frankenreiches.

Karl und Ludwig gegen Lothar:Die Straßburger Eide (842)

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Ende der Teilungen:Nach dem Vertrag von Ribemont (880)

● xxx

● Lothringen: im ostfränkischen Reich

● Hochburgund + Arelatisches Reich: Burgunder (Wandalen)

● Kgr. Italien: Langobarden, Lokalkönige, dann Otto I. (951 in Pavia langobardische Königskrone, 962 in Rom Kaiserkrönung)

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Belgisches Intermezzo (2):Die Belgier schlagen zurück

● Frage: Pourquoi est-ce que les autoroutes belges sont illuminées et les autoroutes françaises ne le sont pas? (Warum sind die belgischen Autobahnen beleuchtet, und die französischen Autobahnen nicht?)

● Antwort: Parce que les Français se prennent tous pour des lumières. (Weil alle Franzosen sich für Leuchten halten.)

● Kultureller Hintergrund: Stolz der Franzosen auf le siècle des lumières (die Zeit der Aufklärung)

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Französische Sprache:Was ist vom Altfranzösischen geblieben?

● Eine Reihe von Wörtern und Redewendungen

● Einige merkwürdig geschriebene Anreden

● Einige sprachliche Verschlimmbesserungen

● Ein reicher Schatz von Literatur

- Heiligen- und Heldenepen

- höfische Romane

- Antiken- und Schicksalsromane

- Dichtung der Trouvères (./. Troubadours)

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Französische Sprache:Merkwürdig geschriebene Anreden

Haben Sie sich auch schon gewundert, dass manche frz. Männernamen in der Mehrzahl zu stehen scheinen?

Beispiele: Charles, Georges, Hugues, Jules

Grund:

Im Altfranzösischen gab es nur 2 Fälle (entgegen 6 im Latein), darunter der Casus rectus als Wer-Fall und Anrede. Und in diesem Fall endeten männliche Wörter und Namen in der Einzahl auf „-s“. Da Namen häufig der Anrede dienen, blieb das „-s“ bis heute erhalten.

Außer in solchen „Ausnahmen“ (= Sauriern) hat der Casus rectus nicht überlebt.

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Französische Sprache:Wo sie einem ein X für ein U vormacht

● Im Altfranzösischen gab es für die Anzeige der Mehrzahl (Plural) nur ein „-s“, z.B. chevals (Pferde), chevels (Haare). Da „l“ vor Mitlaut (Konsonant) zu „u“ wurde, ergaben sich daraus: chevaus, cheveus.

● Im Mittelalter arbeiteten die Klosterbrüder oft mit material- und arbeitssparenden Ligaturen. Eine davon war die Ligatur für „u“ + „s“. Sie ähnelte einem „X“. Man schrieb also etwa chevaX bzw. cheveX (Haare) – bei gleichgebliebener Aussprache.

● Und dann fiel jemand auf, dass da ja ein „u“ fehlte und klatschte es wieder dazwischen. Er vergaß aber, aus dem „X“ wieder ein „s“ zu machen. Das ergab chevaux bzw. cheveux.

Und diese unnötig doppelt gemoppelten Formen müssen jetzt alle Französischschüler lernen!

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Entwicklung romanischer Deklinationen („Mauer“ mit bestimmtem Artikel)

Fall Latein Italienisch Französisch Rumänisch

Wer? murus il muro le mur zidul

Wessen? muri del muro du mur zidului

Wem? muro al muro au mur zidului

Wen? murum il muro le mur zidul

Anrede mure ! --- --- zidule !

Ablativ muro --- --- ---

Wer? muri i muri les murs zidurile

Wessen? murorum dei muri des murs zidurilor

Wem? muris ai muri aux murs zidurilor

Wen? muros i muri les murs zidurile

Anrede muri ! --- --- zidurilor !

Ablativ muris --- --- ---

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Entwicklung romanischer Konjugationen (hier: Gegenwart von „singen“)

Latein Italienisch Standard-Französisch

Moderne frz. Umgangs-sprache

canto (ich) canto je chante je chante

cantas (du) canti tu chantes tu *chante

cantat (er/sie/es) canta il / elle / on chante il / elle / on chante

cantamus (wir) cantiamo nous chantons on chante

cantatis (ihr) cantate vous chantez vous chantez

cantant (sie) cantano ils / elles chantent ils / elles *chante

Jede Person hat eine andere Endung.

Jede Person hat eine andere Endung.

Vier von sechs Personen haben gleich ausgesprochene Endungen.

Fünf von sechs Personen haben gleich ausgesprochene Endungen.

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Konjugation durch persönliche Fürwörter statt durch Endungen

Das ist die Tendenz vieler Sprachen. Beispiele:

● Im Englischen tanzt nur noch die 3. Person Einzahl der Gegenwart mit ihrem „-s“ aus der Reihe.

● Im Dänischen und Schwedischen kennen die Zeitwörter überhaupt keine Personenunterscheidung mehr. In keiner Zeitstufe!

● Aber:

Wir Deutsche machen es doppelt gemoppelt, nämlich mit Endungen und persönlichen Fürwörtern.

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Geschlechtliche Welt

Als natürlich erschiene folgende Unterscheidung:

● Lebewesen: Einteilung in Männlein (Maskulinum) und Weiblein (Femininum).

● Alles andere: keines von beiden (ne-utrum), also sächlich (Neutrum)

Aber warum ist im Deutschen ein Baum männlich, eine Türe weiblich und ein Mädchen sächlich?

Und warum ist das in anderen Sprachen ganz anders?

Warum wird die ganze Welt in solche Einteilungen gepresst, obwohl diese oft sinnlos erscheinen?

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Geschlechter:Grundsätzliche Unterscheidung

● Natürliches Geschlecht (eigentlich außersprachlich, aber oft sprachlich berücksichtigt)

Beispiele: it. autista m/w, frz. orthopédiste m/w.

● Grammatisches Geschlecht (sprachintern)

Oft ererbt, wortformabhängig oder zufällig.

Was im Französischen männlich ist, kann im Italienischen weiblich, im Spanischen wieder männlich, im Deutschen aber sächlich sein.

Manchmal ist das praktisch für Rückbezüge im Satz:

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Geschlechter:Rückbezüge (1)

Ganz praktisch – bis auf den letzten Satz:

Die Frau vergaß ihren Regenschirm. Ihr Sohn bemerkte es nicht. Aber ein Mann beobachtete sie dabei. Dessen Tochter sah ihn groß an.

Wen sah die Tochter an? (Den Mann? Den Sohn der Frau?)

FAZIT:

Auch die Geschlechter schaffen keine heile Welt!

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Geschlechter:Rückbezüge (2)

Ziemlich unpraktisch:

Der Großwildjäger pirschte sich mit seinem Sohn an den Löwen heran. Doch bevor er zum Schuss kommen konnte, erschoss ihn ein Wilderer.

Wer stirbt da?! (Der Jäger? Sein Sohn? Der Löwe?)

FAZIT:

Geschlechter nützen nur etwas, wenn sie nicht allein dastehen!

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Geschlechter:Wie viele davon braucht der Mensch?

Jede Sprache hat ihre eigenen Regeln:

● männlich, weiblich, sächlich: Altgriechisch, Deutsch, Englisch, Latein, Polnisch, Russisch, Tschechisch...

● männlich, weiblich, gemischt: Italienisch, Rumänisch...

● männlich, weiblich: Französisch, Portugiesisch, Spanisch...

● utrum, ne-utrum: Dänisch, Norwegisch, Schwedisch...

● ohne Geschlecht: Estnisch, Finnisch, Ungarisch...

Bei den geschlechtslosen Sprachen spielt auch das natürliche Geschlecht grammatisch keine Rolle.

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Geschlechter:Wie funktionieren geschlechtslose Sprachen?

Beispiel Ungarisch (ähnlich: Estnisch, Finnisch):

● Kein Wort besitzt geschlechtsspezifische Endungen.

● Man kann zwar das natürliche Geschlecht angeben, indem man ein Wort mit „férfi“ (Mann), „nő“ (Frau), „fiú“ (Junge) oder „lány“ (Mädchen) kombiniert. Das tut man aber nur, wenn notwendig. Und all diese Wörter sind grammatisch geschlechtslos.

● Für „er“, „sie“ und „es“ gibt nur das eine Wort „ő“.

Trotzdem funktioniert die ungarische Sprache, und die Ungarn sind nicht ausgestorben!

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Romanisches Sprachgebiet heute (Europa)

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Hauptsächliche romanische Sprachen in Europa

Westromanische

(Endungen auf -s erhalten)

● Französisch

● Galizisch (Galicisch)

● Katalanisch (Festland, Alghero)

● Norditalienische Dialekte

● Okzitanisch / Provenzalisch

● Portugiesisch

● Rätoromanisch / Ladinisch

● Spanisch

Ostromanische

(Endungen auf Selbstlaut)

● Hochitalienisch

● Mittel- und süditalienische Dialekte

● (Moldawisch, bis 2013)

● Rumänisch (+ Aromunisch?)

Südromanische (su / sa)

● Katalanisch (Balearen)

● Sardisch

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Gemeinsames Erbe:Germanisch „w“ => romanisch „g(u)“

Germanisch Französisch Italienisch

dt. Wirren guerre (Krieg) guerra (Krieg)

engl. warranty garantie (Garantie)

garanzia (Garantie)

dt. warten garder (hüten, bewahren)

guardare (schauen, hüten)

dt. verwüsten gâter (verderben)

guastare (verderben)

lat. vadum x dt. waten

gué (Furt) guado (Furt)

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Typisch Französisch:Mit Schwund muss man rechnen!

● vlat. habutu[m] (gehabt):

> it. avuto / fr. eu (heutige Aussprache: *u)

● vlat. saputu[m] (gerochen, geschmeckt):

> it. saputo (gerochen, gewusst) / fr. su (gewusst)

● lat. ape[m] (Biene):

> it. ape / afr. ef > afr. e > [außer Gebrauch]

Ersatz durch längere Verkleinerungsform:

lat. apicula[m] (Bienchen) > fr. abeille

● Wörter (fast) ohne Schwund sind oft späte Rückgriffe, kirchliche oder „gelehrte“ Formen.

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Französisch heute:Wortbildungen

● Gegenwärtige „normale“ Mehrheit der Substantive auf -tion:

agrégation, caution, climatisation, compétition, composition, consommation, décoration, émotion, potion, ration, …

● Saurier der Vergangenheit (= „Ausnahmen“), die auf -aison/-oison enden:

conjugaison, déclinaison, oraison, poison, raison, saison, …

● Zukunftsmusik ( = Avantgarde / „Pioniere“):

agreg', clim', compète, compo, conso, déco, …

ACHTUNG: Die Ausdrücke der Avantgarde sind – bis jetzt – nur zum umgangssprachlichen Gebrauch!

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Französische Sprache:Einzelschicksale von Wörtern

● Manchen Wörtern hat die französische Sprachgeschichte übel mitgespielt.

● Andere haben sich elegant aus der Affäre gezogen.

● Wieder andere haben doppelt Karriere gemacht.

Einige Beispiele:

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Französische Sprache:Verschlimmbesserung (poids = Gewicht)

Gegen Ende des Mittelalter: Wiederbesinnung auf die kulturellen und religiösen Wurzeln, volkssprachliche Bibelübersetzungen, Infragestellung der kirchlichen Tradition, Reformation, Reform der französischen Sprache, – aber nicht immer richtig. Beispiel:

Bekannt: fr. pois (Erbse) < vlat. pisu(m)

Vermeintlich: fr. pois (Gewicht) < lat. pondus (Gewicht)

=> Falsche „Korrektur“ des Gewichts zu poids

Denn: fr. pois (Gewicht) < vlat. pensu(m) (Gewicht)

Heute müssen wir alle die falsche Wortform poids lernen!

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Deutsche / Französische Sprache:Boutique – der Laden mit den Apothekerpreisen

● Klassisch griechisch αποθηκη [apotheke] > dt. Apotheke.

● Klassisch griechisch αποθηκη [apotheke] > volkstümlich griechisch [aboutiki] > frz. aboutique > mit bestimmtem Artikel: l’aboutique.

● Irgendwann wusste keiner mehr, wo der Artikel aufhörte und das Substantiv anfing. So wurde aus l’aboutique schließlich la boutique.

● Dann frz. boutique > dt. Boutique, wo es jetzt neben der Apotheke – also neben sich selbst – steht.

Das ändert aber nichts an den Preisen...

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Französische Sprache:Die Zahl Null

● Unerlässlich für die moderne Mathematik.

● Unter anderem am Fehlen der Null scheiterte das römische Zahlensystem.

● Zweimalige Anleihe ans Arabische:

1) arab. sifr (Korn, Leere, Nichts) > spätlat. / it. cifra > afr. cifre > nfr. chiffre (Ziffer)

2) arab. sifr (Korn, Leere, Nichts) > it. zephiro > zevero > zero > nfr. zéro (Null)

Als chiffre bedeutet das Wort etwas, und als zéro bedeutet es nichts. Das ursprünglich selbe Wort!

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Französische Sprache:Der Teddybär

● Jedes französischsprachige Kind hat heute seinen plauschigen Teddybären, gewöhnlich nounours (Bärchen) genannt.

● Ein Bär heißt aber auf Französisch un ours.

● Kinder erkennen oft die französischen Wortgrenzen nicht und sagen daher le nours statt l’ours.

● Die Erwachsenen legen noch eins drauf, indem sie zu dem angeblichen Wort nours die Koseform nounours bilden.

« Où est ton nounours ? » (Wo ist dein Teddybär?)

Auch so entwickelt sich Sprache weiter!

ACHTUNG: Dieses Wort ist sehr familienfreundlich, aber absolut nicht schul-, studien- und berufstauglich!

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Es gäbe ja noch so viel zu sagen, aber...

Vielen Dank für Ihre Geduld!

© Hans-Rudolf Hower

[email protected] / http://www.verbalissimo.com

Quellennachweis:

Alle fremden Grafiken stammen aus Wikipedia.

Autor von „Romanisches Sprachgebiet heute“:Gerhard Ernst, Romanische Sprachgeschichte (lizenziert

unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons)