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1 Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Education 2016/2017 Unterrichtsmaterial zur „Echtzeit“ am 29. Juni 2017 im Herkulessaal der Münchner Residenz Pjotr I. Tschaikowsky: Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13 Winterträume Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Franz Welser-Möst, Dirigent Winterträume Pjotr Iljitsch Tschaikowskys 1. Symphonie im Musikunterricht Einführung Autor: Kilian Sprau Pjotr Iljitsch Tschaikowsky im Alter von 53 Jahren. Gemälde von N Kusnezow, 1893 (Ausschnitt; Quelle: BR)

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Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Education 2016/2017

Unterrichtsmaterial zur „Echtzeit“ am 29. Juni 2017

im Herkulessaal der Münchner Residenz

Pjotr I. Tschaikowsky:

Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13 Winterträume

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Franz Welser-Möst, Dirigent

Winterträume

Pjotr Iljitsch Tschaikowskys 1. Symphonie im Musikunterricht

Einführung Autor: Kilian Sprau

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky im Alter von 53 Jahren. Gemälde von N Kusnezow, 1893 (Ausschnitt;

Quelle: BR)

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Dieser Reader enthält Abschnitte zu folgenden Themen:

ALLGEMEINE HINWEISE ............................................................................................................................................. 3 ARBEITSBÖGEN UND HÖRÜBUNGEN ............................................................................................................................ 3 DIE SYMPHONIE ZUM ANHÖREN ................................................................................................................................. 3 ZUM WEITERHÖREN ................................................................................................................................................. 3

PJOTR I. TSCHAIKOWSKY: SYMPHONIE NR. 1 G-MOLL WINTERTRÄUME OP. 13 ............................................... 4

DER KOMPONIST: PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY (1840–1893)..................................................................................... 4

SPÄTROMANTISCHE SYMPHONIK: FORM ALS PROBLEM ................................................................................................... 5

TSCHAIKOWSKYS 1. SYMPHONIE: ZUR WERKGESTALT ..................................................................................................... 7 Satzfolge ......................................................................................................................................................... 7 Tonartenplan .................................................................................................................................................. 7 Formmodelle................................................................................................................................................... 8 Besetzung ....................................................................................................................................................... 8

WINTERTRÄUME: POETISCHE IMPLIKATIONEN DES WERKTITELS ........................................................................................ 9

AUFGABEN ..................................................................................................................................................... 11

STIMMUNG – AUSDRUCK – ‚POESIE‘ ......................................................................................................................... 11 Selbst kreativ werden (1): Ein Bild malen ..................................................................................................... 11 Selbst kreativ werden (2): Eine kurze Geschichte erfinden ........................................................................... 12 Klang und Bild: Der Musik ein Gemälde/Foto zuordnen ............................................................................... 12 Klang und Bild: Einer Geschichte Musik zuordnen ........................................................................................ 15

MITSPIELSATZ ....................................................................................................................................................... 16

DER 1. SATZ: DREI ‚THEMEN‘ UND IHRE ENTWICKLUNG ................................................................................................ 17

DER 2. SATZ: MEISTERHAFTE INSTRUMENTATION ........................................................................................................ 18

DER 4. SATZ: DRAMATISCHE STEIGERUNGEN .............................................................................................................. 18

ANHANG ........................................................................................................................................................ 19

1. Abbildungsnachweis ............................................................................................................................ 19 2. Partitur................................................................................................................................................. 19 3. Aufnahme: ........................................................................................................................................... 19 4. Literatur ............................................................................................................................................... 19

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Allgemeine Hinweise

Die folgenden Seiten bieten, aus Anlass der Echtzeit 2016/17 des Bayerischen Rundfunks,

Anregungen dafür, Schülerinnen und Schüler auf ein musikalisches Live-Erlebnis vorzubereiten. Im

Fokus steht ein Werk des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: seine 1. Symphonie g-

Moll op. 13, die den Untertitel Winterträume trägt. In der Echtzeit am 29. Mai 2017 erklingen der

erste, zweite und vierte Satz.

Der Reader bietet Einführungen in unterschiedliche Aspekte des Werks sowie Vorschläge zu ihrer

Behandlung im schulischen Musikunterricht. Der Anhang informiert über die verwendeten Quellen.

Arbeitsbögen und Hörübungen

Zum Reader gehören auch mehrere separate Powerpoint-Dokumente. Sie enthalten Gestaltungs-,

Hör- und Mitspielaufgaben zu Ausschnitten des Werks, die im Echtzeit-Konzert am 24. Mai

aufgeführt werden.

Die Symphonie zum Anhören

Folgender Link führt zu einer Aufnahme des Werks in einer Einspielung mit dem Symphonieorchester

des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Riccardo Muti:

http://www.br-so.de/education/schueler-und-lehrer/echtzeit/

Zum Weiterhören

Christiane Neukirch, Russischer Romantiker europäischer Prägung, BR radioWissen.

http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/tschaikowsky-romantik-europa-100.html

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Pjotr I. Tschaikowsky: Symphonie Nr. 1 g-Moll Winterträume

op. 13

Der Komponist: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893)

Seine Musik ist Ausdruck eines ästhetisch-kulturellen Grenzgangs. Einerseits war Pjotr (Peter)

Tschaikowsky der Star unter den russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts: Er selbst

identifizierte sich zutiefst mit der Kultur seiner Nation, integrierte etwa die Klänge heimischer

Folklore in seine Musiksprache oder imitierte sie authentisch. Bereits früh wurde dieser ‚nationale‘

Charakter seiner Musik wahrgenommen: Über Tschaikowskys 1. Symphonie etwa, die im Mittelpunkt

dieses Readers steht, schrieb ein Kritiker: „Das ist eine wirklich russische Sinfonie. In jedem Takt

dieser Musik spürt man, daß so etwas nur ein Russe schreiben konnte.“1 Bei Tschaikowskys Tod, der

ihn bereits mit 53 Jahren ereilte, galt der Komponist in seiner Heimat als „nationaler Heros“, sein

Begräbnis war ein Staatsereignis, das aus der persönlichen Kasse des Zaren finanziert wurde.2

Unter den Vertretern nationaler Schulen des 19. Jahrhunderts war Tschaikowsky der erste Russe,

dessen Musik es zu nachhaltigem Weltruhm brachte, dokumentiert u.a. durch sein gefeiertes

Auftreten als Dirigent eigener Werke bei der Eröffnung der New Yorker Carnegie Hall (1891) und

einen Ehrendoktor der Universität Cambridge (1893). Bei seinen zahlreichen Auslandsreisen wurde er

als musikalischer Botschafter seiner Heimat verstanden, und dieser Auffassung kam entgegen, dass

man seine Musik einerseits zwar als durchaus speziell und exotisch wahrnahm, andererseits jedoch

auch als ‚anschlussfähig‘, als mit den Gepflogenheiten der mitteleuropäischen Musikkultur vereinbar.

Anders als etwa die Vertreter des sogenannten ‚Mächtigen Häufleins‘, eines Zusammenschlusses von

fünf St. Petersburger Komponisten, deren ästhetisches Credo jeden westlichen Einfluss auf die

russische Musikkultur strikt ablehnte, war Tschaikowsky Schüler des Anfang der 1860er Jahre

gegründeten Petersburger Konservatoriums gewesen; dort hatte er eine professionelle

Musikerausbildung nach westlichem Vorbild erhalten. Die Gattungen, die er in seinen Werken

bediente – etwa die Symphonie, das Solokonzert, das Kunstlied und das Streichquartett – suchten

erkennbar den Anschluss an die mitteleuropäische Tradition. ‚Experimentellen‘, quasi

avantgardistischen Tendenzen, wie sie etwa den drastischen Naturalismus seines bedeutenden

Zeitgenossen Modest Mussorgskij prägen, findet man in Tschaikowskys Werk nicht.

Gerade dieser gewissermaßen zwischen ‚West und Ost‘ vermittelnde Charakter brachte seinem

Œuvre aber auch Kritik im eigenen Lande ein. Gewissen Mitgliedern des Petersburger ‚Häufleins‘ ging

sein Russizismus nicht weit genug; ihnen galt Tschaikowsky als talentloser

„Konservatoriumskomponist“, dessen Phantasie von den „Fesseln“3 seiner europäischen Ausbildung

gehemmt werde. Andererseits war manchem mitteleuropäischen Kritiker noch immer zuviel des

vermeintlich ‚Wilden‘, ‚Unzivilisierten‘ in Tschaikowskys Musik. Der Wiener Kritikerpapst Eduard

Hanslick etwa, Freund und Fürsprecher von Johannes Brahms und Sprachrohr einer klassizistischen

Ästhetik, stand Tschaikowskys Violinkonzert, dessen Uraufführung er rezensierte, verständnislos

gegenüber.4 Den Siegeszug von dessen Œuvre im In- und Ausland konnten solche teils ideologisch

motivierte Ressentiments allerdings nicht aufhalten. Ein gar nicht so geringer Ausschnitt aus seinem

1 G. Laroš, zitiert nach Pribegina, S. 31.

2 Kohlhase, Sp. 1601 (Zitat) und 1603. Zum folgenden Absatz vgl. ebenfalls den Artikel von Kohlhase.

3 So der Komponist César Cui, Mitglied des ‚Mächtigen Häufleins‘, in einer Zeitungskritik, zitiert nach Pribegina,

S. 16. 4 Vgl. Pribegina, S. 124.

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Gesamtwerk zählt noch heute zu den ‚Evergreens‘ der klassischen Musik, darunter seine Ballette

Schwanensee und Nussknacker, seine Symphonien Nr. 4 f-Moll, Nr. 5 e-Moll und Nr. 6 h-Moll

(Pathétique), das brillante Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll, das nicht weniger virtuose Violinkonzert D-

Dur, die Oper Eugen Onegin und die nicht zuletzt durchs Kino ins kollektive Unterbewusste

abgesunkene Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia. Freilich harren zahlreiche Werke noch immer

ihrer Entdeckung gerade durch das westliche Publikum, allen voran die über einhundert Lieder, die

vielfach durch unwiderstehliche melodische Schönheit bestechen, deren umfängliche Rezeption

allerdings die Sprachbarriere erschwert.

Spätromantische Symphonik: Form als Problem

Wenn sich ein Komponist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür entschied, Symphonien zu

schreiben, so bedeutete dies eine ästhetische Stellungnahme. In Deutschland, einem der Zentren der

musikalischen Entwicklung Mitteleuropas, die von russischen Komponisten hellhörig zur Kenntnis

genommen wurde, tobte zu der Zeit, in der Tschaikowsky sich den Weg zur kompositorischen Reife

bahnte, der ästhetische Streit zwischen den sogenannten ‚Neudeutschen‘ und den sogenannten

‚Konservativen‘. Als einer der wichtigsten Zankäpfel dieses Parteienkonflikts galt die zukünftige

Entwicklung der Symphonie. Die ‚Neudeutschen‘ scharten sich um die Komponisten-Trias Richard

Wagner, Franz Liszt und Hector Berlioz. Sie propagierten die von Liszt etablierte Form der einsätzigen

Symphonischen Dichtung, deren künstlerische Geschlossenheit sich durch den Bezug zu einem

außermusikalischen Programm ergab, etwa einer Geschichte oder Ereignisfolge, die es auf

musikalische Weise umzusetzen galt. Ihnen erschien die alte, aus der Wiener Klassik stammende

viersätzige Form der Symphonie überholt. Die ‚Konservativen‘ hingegen verlangten in der Nachfolge

Mendelssohns und Schumanns, gerade die traditionelle viersätzige Form müsse beibehalten und mit

neuem Geist erfüllt werden; der ‚neudeutschen‘ Idee der Programmmusik hielten sie die Vorstellung

einer ‚absoluten‘ Musik entgegen, die ihren Kunstwert gerade nicht durch einen außermusikalischen

Bezug, sondern durch innere, rein musikalische Stringenz erlangte. Beide Parteien glaubten auf ihre

Weise das Erbe der Beethovenschen Symphonik anzutreten.

Pjotr Tschaikowsky war von Wagner, insbesondere seiner Orchesterbehandlung und

Instrumentationstechnik, beeindruckt.5 Die von Liszt inaugurierte Gattung der einsätzigen

Symphonischen Dichtung schätzte er, und er schuf hochbedeutende bzw. erfolgreiche Werke dieser

Art, obgleich er sie nicht so nannte, sondern beim älteren Terminus Ouvertüre (Fantasie-Ouvertüre

Romeo und Julia; Festouvertüre 1812) blieb oder von Orchesterfantasie (Francesca da Rimini) sprach.

Andererseits aber war Tschaikowsky ja bestrebt, die russische Musik an die große Tradition der

mitteleuropäischen Musikkultur anzuknüpfen; eine radikale Absetzungsbewegung von Aspekten

dieser Tradition, wie sie für die ‚neudeutsche‘ Ästhetik bestimmend war, kam für ihn daher nicht in

Frage. Und so stellte er sich früh der Herausforderung, auf seine Weise die Gattungsgeschichte der

viersätzigen Symphonie fortzuschreiben. Seine ‚poetische‘ Auffassung von Musik, die auf Schumann

verweist (siehe unten den Abschnitt Winterträume: Poetische Implikationen des Werktitels), erlaubte

ihm dabei, programmmusik-artige Aspekte in seine Symphonien zu integrieren. Anders ausgedrückt:

Tschaikowsky „unterscheidet […] nicht grundsätzlich zwischen absoluter Musik und

Programmmusik.“6

Das Anknüpfen an die Tradition der viersätzigen symphonischen Form freilich war für Komponisten

des späteren 19. Jahrhunderts kein einfaches Unterfangen mehr. Die Welt der Wiener Klassik, in der

die Symphonie als mehrsätzige Form ihren Ursprung hat, war zu einer fernen Vergangenheit jenseits 5 Vgl. Kohlhase, Sp. 1597; Pribegina 25.

6 Kohlhase, Sp. 1643.

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der unmittelbaren kompositorischen Lebenswelt geschwunden. Es ist eine Welt, in der die Idee der

‚thematischen Arbeit‘ noch nicht das Gewicht hatte, das man ihr später, im 19. und 20. Jahrhundert,

beigemessen hat. Die Sonatenhauptsatzform etwa, die dem Kopfsatz einer traditionellen Symphonie

zu Grunde liegt, ist ursprünglich hauptsächlich von einem übergeordneten harmonischen Prinzip

bestimmt: dem Gang von der Ausgangstonart in die Dominanttonart und wieder zurück (in

Mollwerken wird häufig die Paralleltonart angesteuert). Es ist ein verhältnismäßig einfaches Prinzip,

das sich aus der barocken Suitensatzform herleitet. Wenn Komponisten wie Haydn und Mozart in

ihren Sonatenhauptsätzen zusätzlich musikalische ‚Themen‘ auftreten ließen, die sie im Satzverlauf

‚verarbeiteten‘, so geschah dies gewissermaßen an der kompositorischen Oberfläche: Der formale

Zusammenhalt des Sonatenhauptsatzes wurde auf anderer Ebene, von der harmonischen Makro-

Fortschreitung Tonika-Dominante-Tonika gewährleistet. Die Harmonik bildete somit die Substanz der

Sonatenhauptsatzform. Noch Mendelssohn, ausgebildet vom Beethoven-Zeitgenossen Carl F. Zelter,

war als Heranwachsender ganz selbstverständlich an diesen kompositorischen Horizont herangeführt

worden.

Als aber Tschaikowsky Anfang der 1860er Jahre sein Kompositionsstudium absolvierte, hatte sich der

Blick auf die Sonatenform und damit auch die Symphonie gewandelt. In Deutschland hatte Adolf

Bernhard Marx seine wegweisende Lehre von der musikalischen Komposition (4 Bände, 1837–1847)

veröffentlicht und darin als entscheidendes Element des Sonatenhauptsatzes den Konflikt zwischen

zwei kontrastierenden Themen beschrieben. Beide Themen sollten vom Komponisten in einer

Exposition vorgestellt werden, in einer Durchführung verarbeitet und miteinander verschränkt

werden, um schließlich in einer Reprise wieder säuberlich voneinander getrennt zu erscheinen.

Dieses am Schaffen Beethovens entwickelte Schema wurde für die Komponisten in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen verpflichtend, wenn sie sich der Tradition der

viersätzigen Symphonie stellen wollten, und sie betrachteten es keineswegs nur als Hilfestellung: Es

konnte durchaus zum Zwang ausarten.

Von Tschaikowsky, der nach Marx‘ Lehrbuch unterrichtet worden war,7 ist (wie übrigens auch von

Brahms) bekannt, dass seine 1. Symphonie ihn unendliche Mühe kostete,8 und die Nachwelt ist

seinem symphonischen Erstling nicht nur wohlwollend gegenübergetreten. In Tschaikowskys ersten

drei Symphonien, liest man, seien „die Durchführungsteile reines Flickwerk voll einfallsloser Füllsel“.

Man muss dieser Auffassung nicht zustimmen, um anzuerkennen, dass die Gestaltung der

7 Vgl. Kohlhase, Sp. 1957.

8 Vgl. Pribegina, S. 31.

Titelblatt zum dritten Band der Kompositionslehre von

Adolf Bernhard Marx (1845). Darin wird das Modell der

Sonatenhauptsatzform aufgestellt, das für Komponisten in

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Standard

geriet. Tschaikowskys Unterricht am Petersburger

Konservatorium orientierte sich an diesem Werk.

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musikalischen Form für den Komponisten harte Arbeit bedeutete: Er selbst hat sich sogar –

übertrieben selbstkritisch – „fehlender Geschicklichkeit im Umgang mit der Form“9 bezichtigt.

Tschaikowskys 1. Symphonie: Zur Werkgestalt

Das Publikum der Uraufführung, die 1868 in Moskau stattfand, hat sich von solchen Fragen offenbar

nicht in seiner Begeisterung stören lassen. Es nahm Tschaikowskys 1. Symphonie mit „lebhafter

Resonanz“10 auf und genoss v.a. die Schönheiten des zweiten Satzes. Der Kritiker Laroš schrieb seine

bereits zitierte Hymne auf eine „wirklich russische Symphonie“. Für russische Symphonieorchester

wurde das Werk mit der Zeit zu einem Repertoirestück. Der Komponist selbst war noch nicht völlig

zufrieden; er arbeitete das Werk um und gab ihm 1883 mit der souveränen Hand des gereiften

Meisters eine neue Gestalt; diese zweite Fassung ist die endgültige. Wie schon die ursprüngliche

Version übernimmt sie die traditionelle Satzfolge der viersätzigen Symphonie in der von Beethoven

geprägten Form: Sonatenhauptsatz – Langsamer Satz – Scherzo – Finale.

Satzfolge

Die Satzüberschriften lauten:

1. Satz: Allegro tranquillo (Träume einer Winterreise)

2. Satz: Adagio cantabile ma non tanto (Land der Öde, Land der Nebel)

3. Satz: Scherzo. Allegro scherzando giocoso

4. Satz: Finale. Andante lugubre Allegro moderato – Allegro maestoso – Allegro vivo

Die Aufführungsdauer beträgt ungefähr eine Dreiviertelstunde; die Sätze Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 4 sind

dabei etwa gleich (nämlich jeweils gute 10 Minuten) lang; das rasch vorbeiwirbelnde Scherzo (für das

Tschaikowsky auf Material aus einer unveröffentlichten Klaviersonate zurückgriff) ist kürzer als die

übrigen Sätze. In der Echtzeit am 29.6. wird es fortgelassen.

Tonartenplan

Der tonartliche Aufbau des Werks ist deutlich am traditionellen Ideal der tonalen Geschlossenheit

orientiert: Die Haupttonarten der vier Sätze stehen also in naher wechselseitiger Verwandtschaft.

Grundtonart des Werks ist g-Moll.

1. Satz: g-Moll → D-Dur → g-Moll/G-Dur

2. Satz: Grundtonart Es-Dur, changierend nach c-Moll

3. Satz Scherzo: c-Moll

4. Satz: g-Moll → G-Dur

9 Schonberg, S. 399. Das Zitat stammt aus einem Brief Tschaikowskys an seine Freundin Nedeschda von Meck.

10 Pribegina, S. 31.

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Formmodelle

Auch die den einzelnen Sätzen zugrundeliegenden Formmodelle beziehen sich unmissverständlich

auf klassische Muster.

1. Satz: Sonatenhauptsatzform

Der erste Satz stellt eine Sonatenhauptsatzform nach dem von Marx etablierten thematischen

Entwicklungsprinzip dar. Für die Durchführung ist allerdings ein drittes Thema, das in der

Schlussgruppe der Exposition eingeführt wird, wichtiger als das zweite Thema.

Exposition Durchführung Reprise

2. Satz: Fünfteilige Liedform

Dem ersten folgt ein Satz in erweiterter Liedform: Der Hauptteil kehrt nicht nur einmal, sondern

zweimal in jeweils variierter Form wieder, das Material des Mitteilteils kommt dementsprechend

zweimal zum Einsatz, beim zweiten Mal ebenfalls in veränderter Gestalt.

A Es-Dur/c-Moll B As-Dur A‘ As-Dur/f-Moll B‘ Es-Dur A‘‘ Es-Dur/c-Moll

3. Satz: Dreiteilige Liedform

A B A‘

4. Satz: Sonatenhauptsatzform mit Langsamer Einleitung ∞ Rondoform

Das Finale lässt sich als raffinierte Verschachtelung von Formmodellen begreifen. Es erinnert in der

Anordnung der thematischen Abschnitte an eine Sonatenhauptsatzform mit Langsamer Einleitung,

wobei die Wiederkehr des 2. thematischen Abschnitts mit einer Reminiszenz an die Langsame

Einleitung des Satzes beginnt. Insofern aber die Langsame Einleitung selbst bereits das Material des

zweiten thematischen Abschnitts vorstellt und die Durchführung v.a. das 1. Thema verarbeitet, trägt

der Satz zugleich Merkmale einer Rondoform.

Langsame Einleitung

Exposition Durchführung Reprise

Besetzung

Die Instrumentation des Werks entspricht der für Tschaikowsky typischen großen spätromantischen

Orchesterbesetzung, in der in Holz und Blech jeweils vier Instrumentenfamilien vertreten sind,

außerdem Streichorchester und erweitertes Schlagwerk zum Einsatz kommen. Auffällig ist eine das

Werk übergreifende Klangdramaturgie, die zunächst mit Ab-, dann wieder mit Zunahme der

Orchesterstärke arbeitet:

Im langsamen Satz erscheinen die Hörner reduziert, auch fallen die Pauken und Trompeten

fort.

Im dritten Satz treten die Pauken und Trompeten wieder hinzu.

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Im Finale erreicht die Horngruppe dann ihre ursprüngliche Quartettstärke wieder;

Piccoloflöte, Posaunen und Basstuba, Große Trommel und Becken treten erst jetzt erstmals

hinzu.

1. Satz 2. Satz 3. Satz 4. Satz

2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 4 Hörner 2 Trompeten Pauken 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe

2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 2 Hörner 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe

2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 2 Hörner 2 Trompeten Pauken 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe

Piccoloflöte 2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 4 Hörner 2 Trompeten 2 Tenorposaunen 1 Bassposaune Basstuba Pauken Becken Große Trommel 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe

Winterträume: Poetische Implikationen des Werktitels

Zwei der Sätze seiner 1. Symphonie hat Tschaikowsky mit Titeln versehen, die über das rein

musikalische Geschehen hinaus auf außermusikalische Zusammenhänge verweisen. Von der

Überschrift des ersten Satzes – Träume einer Winterreise – leitet sich der Beiname des ganzen Werks

ab: Winterträume. Die Überschrift des zweiten Satzes schließt hieran an, indem sie die passenden

landschaftlichen Assoziationen wachruft: Land der Öde, Land der Nebel. Man sollte aber von diesen

Verbalzusätzen nicht auf einen etwaigen ‚programmatischen Gehalt‘ der Symphonie schließen,

jedenfalls nicht im Sinne einer Erzählung oder Ereignisfolge, am der sich der Komponist beim

Komponieren orientiert hätte und deren Kenntnis zum Verständnis der Musik notwendig wäre. Dies

ist schon deshalb nicht möglich, weil ja der dritte und vierte Satz auf entsprechende Überschriften

verzichten – ein ‚Programm‘ im engeren Sinne existiert also zur 1. Symphonie Tschaikowskys nicht.

Eher wird man die beiden Satzüberschriften als poetische „Fingerzeige für Vortrag und Auffassung“11

begreifen dürfen: So hatte 1839 Robert Schumann die Funktion der Überschriften bezeichnet, die er

selbst Charakterstücken wie etwa seinen Kinderszenen voranstellte. Schumann ging es darum, die

11

Schumann, S. 170.

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Phantasie der Musizierenden und Hörenden anzuregen, ihnen Hilfestellungen und Inspiration für die

Ausführung und das Erleben seiner Musik zu bieten – nicht aber, sie gedanklich einzuengen und auf

ein fixiertes Programm festzulegen. Tschaikowsky war von Schumanns Konzept einer ‚poetisierten‘

Musik sehr angetan; Schumann selbst war für ihn „der markanteste Vertreter der zeitgenössischen

musikalischen Kunst“12. Als Tschaikowsky ein Heft mit Klavierstücken für Kinder schrieb, nannte er es,

auf Schumanns berühmtes Album für die Jugend op. 68 anspielend, Kinderalbum à la Schumann

(op. 39).

Es ist also keine konkrete Reise, es sind keine konkret benennbaren, etwa durch Tonmalerei

dargestellten Ereignisse, auf die Tschaikowsky mit seinen Überschriften anspielen möchte. Man wird

nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass seine 1. Symphonie, wie einst Beethovens

Pastoralsymphonie, „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“13 zum Ziel hat. Und in dieser

Hinsicht ist der Begriff Winterträume tatsächlich sehr ergiebig. Denn der Winter ist ja nicht nur ein

meteorologisches Datum, er ist, gerade im Zeitalter der Romantik, ein Begriff mit tiefem,

existenziellem Symbolgehalt. Bei jungen Hörer*innen von heute mögen sich, wenn sie an den Winter

denken, vor allem positive Assoziationen einstellen: Bilder von lustigen Schneeballschlachten, von

Wintersport und Weihnachtsgeschenken, die sich vor dem inneren Auge auftürmen. In der Tat

kannte auch das 19. Jahrhundert die freundlich-idyllischen Seiten des Winters – obgleich das

Weihnachtsfest in seiner heutigen Form sich damals erst zu entwickeln begann und man vom

fröhlichen Treiben alpinen Wintersports noch keine Ahnung hatte. Aber anders als für die meisten

Mitteleuropäer der heutigen Zeit stellte der Winter für die Menschen des mittleren 19. Jahrhunderts

auch eine ernste Bedrohung dar, zumal in Russland, wo die Kälte enorm, die Distanzen zwischen

bewohnten Gebieten teils unabsehbar weit, die Winternächte tief und dunkel waren. Entsprechende

poetische Aspekte lassen sich aus der Gegenposition des Winters zum ‚Frühling‘ herleiten, der

Lieblingsjahreszeit der Romantiker. So wie der Frühling als „Innbegriff des neuerweckten Lebens“ der

„Jugend und Liebe“ galt, stand der Winter für „existenzielle Einsamkeit“ und „Heimatlosigkeit“, für

die Stagnation „des Alters und des Todes“14. Besonders eindrucksvoll ist die Trostlosigkeit

winterlicher Atmosphäre von Wilhelm Müller und Franz Schubert im Liederzyklus Winterreise (1828)

gestaltet worden; auf diesen monumentalen Zyklus, der von einsamer Wanderung,

Hoffnungslosigkeit und sozialer Isolation erzählt, scheint Tschaikowsky direkt anzuspielen, wenn er

den ersten Satz seiner Symphonie Träume einer Winterreise nennt. Das landschaftliche Äquivalent

hierzu bietet der Titel des zweiten Satzes, Land der Öde, Land der Nebel. Dabei ist nicht

entscheidend, welches Land hier konkret gemeint sein könnte. Wichtig sind vielmehr die

emotionalen Korrelate der Ödnis und des Nebulösen, Verhangenen, Tristen.

Uns so wechseln in Tschaikowskys 1. Symphonie lichte und lebhafte Passagen mit melancholisch

düsteren ab; beide Seiten des Winters sind auf poetisch-ästhetisierte Weise präsent. Doch selbst die

Ödnis der dunklen Jahreszeit kann das leuchtende Klanggewand eines virtuos instrumentierten

Orchesters und den mitreißenden Schwung einer genussvoll zelebrierten Klangdramaturgie nicht

verleugnen. Spätestens das lebhafte Finale löst jegliche depressive Stimmung im Taumel des

klingenden Rausches auf. Und noch die düstersten Momente der ersten beiden Sätze liegen ja

immerhin unter dem distanzierenden Schleier der in der ersten Satzüberschrift genannten „Träume“

bzw. ihrer klanglichen Äquivalente. Ob der von Tschaikowsky heraufbeschworene Winter und seine

emotionalen Begleiterscheinungen also ‚wirklich‘ sind, oder ob man sie sich eher als Gegenstände

einer lebhaft träumenden Phantasie vorzustellen hat, bleibt offen. Dies aber ist sicher: Intention der

Musik ist es, die Phantasie anzuregen, ihrerseits zu poetischen Empfindungen und Träumereien zu

12

Zitiert nach Helm, S. 64. 13

So das von Beethoven seiner 6. Symphonie mitgegebene Motto. 14

Butzer/Jacob, S. 117 und 425.

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inspirieren. Die jungen Hörerinnen und Hörer der Echtzeit auf eine solche Erfahrung vorzubereiten,

ist die Absicht der folgenden Seiten.

Aufgaben

Die folgenden Höraufgaben finden sich ebenfalls in den separaten PPP-Dateien. Sie fordern

Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich bewusst mit der musikalischen Gestaltung der 1. Symphonie

Tschaikowskys auseinanderzusetzen und das Werk auf diese Weise gut kennenzulernen.

Stimmung – Ausdruck – ‚Poesie‘

Die folgenden Aufgaben sind zunächst dazu gedacht, Schülerinnen und Schüler jüngeren Alters zum

aufmerksamen Zuhören zu motivieren. Der emotionale Gehalt der Musik Tschaikowskys soll auf

‚poetische‘ Weise mit außermusikalischen Zusammenhängen in Verbindung gebracht werden:

Bildern von Winterlandschaften, der Erzählung von einer stürmischen Winterreise und selbst

erdachten Wintergeschichten, die von der Musik inspiriert werden. Auf dieser Ebene wird noch nicht

der Anspruch erhoben, ‚objektive‘ Beobachtungen an der Musik selbst vorzunehmen.

Wenn dann allerdings die zu Bild und Wort hergestellten Verknüpfungen von den Schülerinnen und

Schülern im Unterrichtsgespräch reflektiert werden, findet durchaus ‚Werkbetrachtung‘ statt, eine

Art von Höranalyse auf basaler Ebene, die ohne musiktheoretisches Fachvokabular auskommt,

deshalb aber nicht weniger ernst zu nehmen ist. Die Schülerinnen und Schüler verbalisieren ihre

Assoziationen zur Musik und vergleichen diese miteinander, ebenso wie ihre selbst gemalten Bilder

und selbst entworfenen Geschichten. Dabei machen sie sich klar, auf welche Elemente der Musik sie

geachtet haben.

Selbst kreativ werden (1): Ein Bild malen

Arbeitsaufträge:

Ihr hört den ersten Satz aus Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer: ca. 12 Minuten]. Dieser trägt

die Überschrift „Träume einer Winterreise“. Stellt Euch vor, was für Winterträume zu dieser Musik

passen würden. Malt ein Bild, das diese Träume darstellt.

[Nach dem Malen:] Erzählt Euch gegenseitig die Winterträume, die auf Euren Bildern zu sehen sind.

[Nach dem Erzählen:] Sucht Euch ein Bild von einer Mitschülerin oder einem Mitschüler aus, das

Euch besonders gefallen hat. Ihr hört die Musik nun noch einmal. Stellt Euch, während Ihr die

Musik hört, die Träume vor, die auf dem Bild zu sehen waren.

[Nach dem Hören:] Überlegt Euch: Habt Ihr Euch die Träume Eurer Mitschülerin/Eures Mitschülers

zur Musik vorstellen können? Hat sich die Musik beim zweiten Hören anders angefühlt als beim

ersten Mal?

Kommentar: Diese Aufgaben dienen in aller erster Linie zur Anregung der Phantasie und zum eigenen

kreativen ‚Nachschaffen‘. Eingeübt wird also eine ‚poetische Hörhaltung‘, in dem Sinne, in dem

Robert Schumann den Begriff ‚poetisch‘ verstand. Tschaikowsky war in seiner Art, Musikstücken

poetische Titel zugeben – z.B. „Träume einer Winterreise“ – von Schumann beeinflusst (siehe oben,

Winterträume: Poetische Implikationen des Werktitels).

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Wegen der zu hohen Datenmenge kann kein Audio-Insert mit dem gesamten Symphoniesatz in die

PPP-Datei integriert werden. Link zur Aufnahme: siehe S. 3.

Selbst kreativ werden (2): Eine kurze Geschichte erfinden

Arbeitsaufträge:

Ihr hört einen Ausschnitt aus dem zweiten Satz von Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer: ca.

2 Minuten]. Stellt Euch dazu eine Geschichte vor, in der ein Mensch durch eine Winterlandschaft

geht. Was erlebt er oder sie? Welche Dinge sieht er/sie? Was hört er/sie? Schreibt Euch Eure

wichtigsten Ideen auf.

[Nach dem Aufschreiben:] Erzählt Euch gegenseitig, was die Hauptfigur Eurer Geschichte in der

Winterlandschaft gesehen und gehört hat und wem sie begegnet ist.

[Nach dem Erzählen:] Ihr hört die Musik nun noch einmal. Erinnert Euch, während Ihr die Musik

hört, daran, was Eure Mitschülerinnen und Mitschüler erzählt haben.

[Nach dem Hören:] Überlegt Euch: Habt Ihr Euch die Erzählungen Eurer Mitschüler zur Musik

vorstellen können? Hat sich die Musik beim zweiten Hören anders angefühlt als beim ersten Mal?

Kommentar: Diese Aufgaben haben eine ähnliche Funktion wie die vorigen Abschnitt gestellten. Sie

erfordern aber höhere Sprachkompetenzen und ein höheres Reflexionsniveau.

Klang und Bild: Der Musik ein Gemälde/Foto zuordnen

Arbeitsaufträge:

Ihr hört einen Ausschnitt aus dem ersten [oder zweiten Satz] von Pjotr Tschaikowskys 1.

Symphonie [Dauer: jeweils ca. 1 Minute]. Welches der drei Bilder passt Eurer Meinung nach zu

dieser Musik?

[Anschließend:] Überlegt Euch: Welche Gefühle löst das Bild, das Ihr ausgewählt habt, in Euch aus?

Welche Eigenschaften der Musik passen zu diesen Gefühlen?

Kommentar: Es gibt zu dieser Aufgabenstellung keine ‚richtige‘ Lösung: Assoziationen und Gefühle

sind subjektiv. Es ist aber möglich, die eigenen subjektiven Eindrücke mit der konkreten

musikalischen Struktur in Verbindung zu bringen. Man kann den Schülerinnen und Schülern zu

diesem Zweck mehr oder weniger objektive Kriterien zur Benennung der Eigenschaften von Musik an

die Hand geben (z.B. laut/leise, schnell/langsam, hohe Töne/tiefe Töne, rhythmisch

gleichmäßig/ungleichmäßig, geordnet/chaotisch, ruhig/aufgeregt …).

Mögliche Bilder:

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http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/kunst-und-krempel/kunst-krempel-winterlandschaft-110.html

http://www.br.de/radio/br-heimat/programmkalender/ausstrahlung-889700.html

http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/winter-reise-literatur-100.html

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http://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/gesundheit/lawine-kurs-gefahr-gesundheit100.html

http://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/winter-in-schwaben/schwaben-winter-100.html

http://www.br.de/nachrichten/oberbayern/inhalt/wintereinbruch-oberbayern-102.html

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http://www.br.de/nachrichten/schwaben/inhalt/schwaben-ostern-schnee-100.html

Klang und Bild: Einer Geschichte Musik zuordnen

Arbeitsaufträge:

Ihr hört einen Ausschnitt aus der Erzählung Der Schneesturm von Alexander Puschkin (1831).

Puschkin ist einer der bedeutendsten russischen Dichter des 19. Jahrhunderts; auch Tschaikowsky

schätzte ihn sehr. In der Geschichte geht es ziemlich abenteuerlich zu: Ein junger Mann und eine

junge Frau wollen mitten im Winter aus ihren Elternhäusern fliehen, um sich heimlich miteinander

zu verheiraten. Leider geht die Sache schief, denn ein Schneesturm kommt auf, und der junge

Mann verirrt sich auf seiner nächtlichen Fahrt mit dem Schlitten.

Text: Wladimir hatte kaum die Umzäunung seines Hofes hinter sich gelassen, als es so heftig zu

stürmen und zu schneien begann, dass er sich bald nicht mehr auskannte. In wenigen Augenblicken

war die Straße verweht. Jede Sicht ging in dem trüben, gelblichen Nebel und in dem dichten

Schneeflockenwirbel verloren. Himmel und Erde schienen ineinander zu verschwimmen. […] Alle

Augenblicke drohte der Schlitten umzukippen. […] Der Himmel klärte sich nicht auf. […] Schließlich

wurde ihm klar, dass er die Richtung verfehlt hatte.15

Ihr hört nun zwei Ausschnitte aus dem letzten Satz von Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer:

je ca. 1 Minute]. Welche dieser zwei Stellen passt Eurer Meinung nach besser zu der gehörten

Szene aus Puschkins Erzählung? Aufgrund welcher musikalischen Eigenschaften passt sie besser?

Kommentar: Hier gilt das Gleiche wie für die vorige Aufgabenstellung – Assoziationen und

emotionale Deutungen von Musik sind zunächst einmal subjektiv. Aber man kann sie durch konkrete

Bezugnahme auf die musikalische Struktur mithilfe zumindest teilweise objektiver Kriterien zu

begründen versuchen. Diese Kriterien können dieselben sein wie in der vorangegangenen Aufgabe.

15

Puschkin, S. 76.

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Mitspielsatz

Die von der Doktrin des ‚Sozialistischen Realismus‘ spürbar geprägte Tschaikowski-Biographie von

Galina Pribegina weist des Öfteren darauf hin, dass der Komponist sich für seine Musik vom Tonfall

russischer Volkslieder habe inspirieren lassen.16 Das Hauptthema des zweiten Satzes ist dazu

geeignet, diese Vorstellung zu illustrieren. Es handelt sich bei diesem Thema über weite Strecken um

eine eher lose Aneinanderreihung von zweitaktigen Phrasen, die alle auf Varianten eines einfachen,

in sich kreisenden Motivs aufgebaut sind. Den Abschnitt von T. 10 nach A bis T. 15 nach A17 kann man

gut als in sich geschlossene Einheit musizieren.

Die folgende (Mit-)Spielpartitur entspricht strukturell überwiegend18 dem originalen Satz der

genannten Passage. Die Melodiestimme kann auf einem beliebigen Melodieinstrument (ggfs. von der

Lehrkraft) gespielt werden; die drei Unterstimmen lassen sich etwa auf Stabspielen oder

Boomwhackers realisieren.

Der Satz ist auch als Mitspielsatz zur laufenden Aufnahme ausführbar. Das hierzu verwendbare

Audio-Insert in der PPP-Datei Mitspielsatz beginnt mit einem vorangehenden Takt zum ‚Eingrooven‘.

Die vierte Zählzeit dieses Taktes entspricht dann dem in der Mitspielpartitur notierten Auftakt:

Partitur

Melodiestimme (z.B. Klavier)

16

Mit Bezug auf die 1. Symphonie: Pribegina, S. 27 ff. 17

Partitur siehe Literaturangaben im Anhang. 18

Der Bass pausiert bei Tschaikowsky in T. 5/6. Der tonikale Schlusstakt wurde der Geschlossenheit halber hinzugefügt. Die Rhythmik wurde vereinfacht. Gegenstimmen in Flöte und Fagott wurden fortgelassen.

Vorangehender Takt: 1 – 2 – 3 – 4

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1. Begleitstimme (z.B. Xylophon, Boomwhackers…)

2. Begleitstimme (z.B. Xylophon, Boomwhackers…)

3. Begleitstimme (z.B. Bassxylophon, Boomwhackers…)

Die PPP-Datei Der 2. Satz: Meisterhafte Instrumentation enthält Hörbeispiele zum Hauptthema des

zweiten Satzes und den Veränderungen, die es im Satzverlauf erfährt.

Der 1. Satz: Drei ‚Themen‘ und ihre Entwicklung

Der Kopfsatz von Tschaikowskys 1. Symphonie ist ganz dem Gestaltungsprinzip der thematischen

Entwicklung verpflichtet (siehe oben, Abschnitt Spätromantische Symphonik: Form als Problem). Die

Aufgabenstellungen der PPP-Datei 1. Satz: Drei Themen und ihre Entwicklung hält zahlreiche

Hörbeispiele bereit, die den Schülerinnen und Schülern dabei helfen sollen, die Hauptthemen des

Satzes in Erinnerung zu behalten. Die Anordnung der Hörbeispiele entspricht der Reihenfolge, in der

die ausgewählten Stellen im Satzverlauf auftreten; auf diese Weise wird begünstigt, dass die

Hörer*innen dem Verlauf des Satzes im Konzert gut folgen können. Die jeweiligen Abschnitte der

Sonatenhauptsatzform sind in der Datei angegeben, müssen aber natürlich nicht im Unterricht

thematisiert werden.

Die folgende Liste ordnet den Formteilen des Sonatenhauptsatzes die Foliennummern der PPP-Datei

zu:

Exposition: Folien 3–7

Durchführung: Folien 8–10

Reprise: Folien 11–14

Coda: Folien 15–18

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Der 2. Satz: Meisterhafte Instrumentation

Der 2. Satz mit seinem liedhaften Thema bietet zahlreichen Orchesterinstrumenten Gelegenheit zur

kantablen Klangentfaltung. Das Satzbild ist vielfach sparsam gestaltet, der Sound des vollen

Orchesters zugunsten des solistischen Spiels der Blasinstrumente zurückgenommen. Zu den

besonders ausdrucksvollen Effekten gehören Dialoge zwischen solistischen Bläsern.

Die Powerpointdatei Der 2. Satz: Meisterhafte Instrumentation bietet diesbezüglich eine Reihe von

Hörbeispielen, die stets mit einer Höraufgabe verbunden sind. Ziel der Aufgaben ist es, den

Schülerinnen den Klang einzelner Blasinstrumente anhand charakteristischer Werkstellen

einprägsam zu präsentieren, sodass Wiedererkennungseffekte im Konzert möglich werden. Die

Anordnung der Hörbeispiele entspricht auch hier der Reihenfolge, in der die ausgewählten Stellen im

Satzverlauf auftreten.

Der 4. Satz: Dramatische Steigerungen

Immer wieder nutzt der Komponist Tschaikowsky die Klangpalette der großen spätromantischen

Orchesterbesetzung für großangelegte Steigerungen. Für den letzten Satz seiner 1. Symphonie gilt

dies in mehrerlei Hinsicht.

Zum einen erweitert Tschaikowsky die Besetzung im Finale gegenüber den vorangegangenen Sätzen.

Hinzu treten Piccoloflöte (zusätzlich zu den beiden Großen Flöten), drei Posaunen und Basstuba

sowie Große Trommel und Becken. Durch die angewachsene klangliche Wucht des

Orchesterapparats erfährt die symphonische Gesamtform im Finale also eine deutliche Steigerung.

Zugleich aber realisiert Tschaikowsky auch innerhalb dieses Satzes mehrmals große

Steigerungsaufbauten. So wird von der Langsamen Einleitung allmählich in das schnelle Allegro-

Tempo des Hauptteils übergeleitet, und das erneute ‚Herunterfahren‘ des Tempos wenige Minuten

vor Schluss bereitet nur eine umso drastischere Steigerung hin zur fulminanten Stretta vor, die dann

die Geschwindigkeit gegenüber dem Hauptteil nochmals erhöht.

Die PPP-Datei Der 4. Satz: Dramatische Steigerungen enthält einige Hörbeispiele, die Tschaikowskys

virtuose Behandlung des Orchesterapparats auf eindrucksvolle Weise deutlich werden lassen.

Abermals sind die Hörbeispiele in der Reihenfolge angeordnet, in der die jeweiligen Stellen im

originalen Satzverlauf auftreten. Die begleitenden Texte sind diesmal eher als erzählende

Kommentare zum musikalischen Geschehen angelegt. Man kann sie den Schülerinnen und Schülern

vorlesen und dazu die Audio-Inserts hören lassen.

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Anhang

1. Abbildungsnachweis

S. 1: Nikolay Kusnezow: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, 1893

https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/starke-stuecke-peter-tschaikowsky-souvenir-

de-florence-100.html

Weitere Abbildungsnachweise finden sich direkt im Text.

2. Partitur

Pjotr I. Tschaikowsky, Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13, Dover 1992.

http://imslp.org/wiki/Symphony_No.1,_Op.13_(Tchaikovsky,_Pyotr)

3. Aufnahme:

Pjotr I. Tschaikowsky, Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13; Ausführende: Symphonieorchester des

Bayerischen Rundfunks; Leitung: Riccardo Muti; Live-Aufnahme aus der Philharmonie im Münchner

Gasteig (2003)

4. Literatur

Butzer, Günter / Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2008

Helm, Everett: Tschaikowsky, Reinbek bei Hamburg 1976

Kohlhase, Thomas: Čajkovskij […], Pëtr Il’ič, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine

Enzyklopädie der Musik, 2. neubearb. Ausg., hg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 3,

Bärenreiter/Metzler, Kassel u.a. 2000, Sp. 1596–1655

Pribegina, Galina A.: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Berlin 1988

Puschkin, Alexander: Erzählungen, München 1976.

Schonberg, Harold C.: Die großen Komponisten. Ihr Leben und Werk, Bindlach 1990

Schumann, Robert: Briefe. Neue Folge, hg. von F. Gustav Jansen, 2. vermehrte und verbesserte

Auflage, Leipzig 1904