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Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem Expertise im Auftrag des Deutsch-Französischen Ministerrates Dezember 2010

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Wirtschaftsleistung, Lebensqualitätund Nachhaltigkeit:Ein umfassendes Indikatorensystem

Expertise im Auftrag desDeutsch-Französischen Ministerrates

Dezember 2010

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Wirtschaftsleistung, Lebensqualitätund Nachhaltigkeit:Ein umfassendes Indikatorensystem

Expertise im Auftrag desDeutsch-Französischen Ministerrates

Dezember 2010

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Conseil d‘Analyse Économique113 rue de Grenelle75007 ParisTel.: 0033 1 / 4275 5300Fax: 0033 1 / 4275 5127E-Mail: [email protected]: http://www.cae.gouv.fr

Sachverständigenrat zur Begutachtungder gesamtwirtschaftlichen EntwicklungStatistisches Bundesamt65180 WiesbadenTel.: 0049 611 / 75 2390 / 3640 / 4694Fax: 0049 611 / 75 2538E-Mail: [email protected]: http://www.sachverstaendigenrat.org

Erschienen im Januar 2011Preis: € 15, - [D]Best.-Nr.: 7700008-11900-1ISBN: 978-3-8246-0941-3© SachverständigenratGesamtherstellung: Bonifatius GmbH Druck-Buch-Verlag, D-33042 Paderborn

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Vorwort III

CAE / SVR - Expertise 2010

VORWORT

1. Mit Schreiben vom 20. April 2010 hat die Bundesregierung durch das Bundesministeri-um für Wirtschaft und Technologie den Sachverständigenrat gebeten, in Zusammenarbeit mit dem französischen Conseil d’Analyse Économique (CAE) eine Expertise zur Messung von nachhaltigem Wachstum und gesellschaftlichem Fortschritt zu erstellen, die an den Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi Kommission vom September 2009 anknüpft. Der Auftrag zu dieser gemeinsamen Expertise geht auf eine Aufforderung des Deutsch-Französischen Ministerrates vom 4. Februar 2010 zurück. Die Expertise hat den Titel

„Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem“.

2. Im Laufe des Jahres 2010 haben sich die Anzeichen gemehrt, dass die Welt im Begriff ist, sich langsam von der schwersten wirtschaftlichen Krise der vergangenen sechs Jahrzehnte zu erholen. Dieser Zeitpunkt, darüber besteht in der Politik, der Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit weitgehende Einigkeit, sollte keine bloße Rückkehr zum Vorkrisenzustand signalisieren, sondern vielmehr ein Augenblick des Innehaltens und ernsthaften Nachdenkens sein. Aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften und der Statistik sollten drei eng miteinander verbundene Schlüsselfragen im Zentrum derartiger Betrachtungen stehen: Erstens, wie kön-nen wir unser Berichtswesen über die Wirtschaftsleistung verbessern, um es so der Politik zu ermöglichen, die aktuelle Lage zu beurteilen sowie rechtzeitig und angemessen zu reagieren, wenn Krisen entstehen? Zweitens, wie können wir unseren Blickwinkel von der derzeitigen Konzentration auf die Wirtschaftsleistung hin zu einer generelleren Beurteilung der Lebens-qualität erweitern, um das zu betrachten, was für das menschliche Wohlergehen wirklich zählt? Und drittens, wie können wir Warnsignale entwickeln, die uns Hinweise geben, wenn unser derzeitiger Lebensstil die Nachhaltigkeit gefährdet, um unseren Kurs zu unserem eige-nen Wohl und dem zukünftiger Generationen zu ändern? Die erste und wohl bedeutendste Schlussfolgerung unserer Expertise ist die Ablehnung jedes Ansatzes, der die Messung des menschlichen Fortschritts mit nur einem einzigen Indikator vornehmen will. Das Leben ist zu komplex und die Anforderungen an statistische Ausweise sind zu verschieden, um die Zusammenfassung des erreichten Zustands in einem einzigen umfassenden Indikator sinnvoll zu ermöglichen. Obwohl ein solcher Indikator das Prinzip der Wirtschaftlichkeit betonen würde und leicht zu kommunizieren wäre, würde er kaum den In-formationserfordernissen moderner demokratischer Gesellschaften gerecht. Stattdessen emp-fehlen wir, dass das umfassende Berichtswesen aus einem Indikatorensystem („dashboard“) bestehen sollte. Das System, das wir vorschlagen, steht für weitere Diskussionen offen. Es ist umfassend genug, um eine sinnvolle Diskussion der einzelnen Facetten der menschlichen Wohlfahrt zu ermöglichen, zugleich ist es aber nicht zu detailliert. Auch repräsentiert es die drei Kernfragen Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit recht ausgewogen. Der Ansatz erkennt an, dass ein Monitoring des materiellen Wohlstands unabdingbare Vor-aussetzung für sinnvolle Wirtschaftspolitik ist, dass das Leben aber zugleich mehr zu bieten hat als materiellen Wohlstand. Unser Ansatz berücksichtigt aber auch, dass der menschliche

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IV Vorwort

CAE / SVR - Expertise 2010

Fortschritt im Hinblick auf nicht-materielle Aspekte nur schwer zu fassen ist und dass es rat-sam ist, in einer langfristigen Sicht die Konsequenzen eines unveränderten menschlichen Le-bensstils aufzuzeigen. 3. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Übersetzung der englischen Version der Expertise. Auf letztere haben sich beide Sachverständigenräte verständigt, und sie stellt daher die verbindliche Fassung dar. 4. Die beiden an der Erstellung der Expertise beteiligten Institutionen haben folgende Ar-beitsteilung vorgenommen. Kapitel I ist eine gemeinsame Einleitung und Zusammenfassung. Der CAE übernahm die Führung bei der Erstellung des Kapitels II, der deutsche Sachverstän-digenrat die Verantwortung für das Kapitel III. Kapitel IV wurde in Abschnitt 2 von französi-scher Seite konzipiert, Abschnitt 3 vom deutschen Sachverständigenrat, während die Ab-schnitte 1, 4 und 5 in diesem Kapitel wiederum ein gemeinsames Projekt darstellen. 5. Der CAE möchte Professor Christian Saint-Etienne sehr herzlich dafür danken, dass er sich bereit erklärt hat, auf französischer Seite als Koordinator zu fungieren. Der CAE ist auch Philippe Cunéo und Claire Plateau vom INSEE sehr dankbar für wertvolle Kommentare und ihren Beitrag zu dieser Expertise. Dem gesamten Stab des Conseil d’Analyse Économique wird für seinen forschungsbezogenen und logistischen Beitrag ge-dankt, im Besonderen Christine Carl und Agnès Mouze. Die französischen Beiträge zur Ex-pertise wären ohne die wissenschaftlichen Berater des CAE nicht möglich gewesen. In diesem Zusammenhang wird gedankt: Associate Professor Jézabel Couppey-Soubeyran, Professor Jerôme Glachant, Professor Lionel Ragot, Professor Stephane Saussier, Professor Thomas Weitzenblum und Associate Professor Anne Yvrande-Billon. Ein besonderer Dank geht an den Generalsekretär des CAE, Pierre Joly, für seine wertvollen Beiträge und die Koordinie-rung der Expertise auf französischer Seite. 6. Im deutschen Sachverständigenrat hat Professor Dr. Christoph M. Schmidt die tragende Rolle übernommen. Für seine Funktion als Hauptautor und Koordinator auf deutscher Seite danken ihm die anderen Mitglieder ganz herzlich. Ohne seinen intensiven Einsatz wäre die Expertise nicht in dieser Form zustande gekommen. Der Sachverständigenrat dankt Diplom-Volkswirt Joachim Schmidt ganz herzlich für seine Übersetzungsleistungen. Die Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt und seinen Mitarbeitern war auch bei der Erstellung dieser Expertise wieder ausgezeichnet. Der Sachverständigenrat dankt insbe-sondere den Mitarbeitern aus den Fachbereichen der volkswirtschaftlichen und umweltöko-nomischen Gesamtrechnungen für wichtige Kommentare. In gewohnter und bewährter Art und Weise haben die Angehörigen der Verbindungsstelle zwischen dem Statistischen Bun-desamt und dem Sachverständigenrat bei der Erstellung dieser Untersuchung einen enga-gierten und wertvollen Beitrag geleistet: Dem Geschäftsführer, Diplom-Volkswirt Wolfgang

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Vorwort V

CAE / SVR - Expertise 2010

Glöckler, und seiner Stellvertreterin, Diplom-Volkswirtin Birgit Hein, sowie Anita Demir, Christoph Hesse, Klaus-Peter Klein, Uwe Krüger, Sabrina Mäncher, Volker Schmitt und Hans-Jürgen Schwab gilt daher unser besonderer Dank. Die vorliegende Expertise hätte der Sachverständigenrat nicht ohne den unermüdlichen Ein-satz seines wissenschaftlichen Stabes erstellen können. Ein ganz herzlicher Dank geht an Dip-lom-Volkswirtin und Diplom-Wirtschaftssinologin Ulrike Bechmann, Hasan Doluca, M.S., Dr. Malte Hübner, Dr. Anabell Kohlmeier, Dr. Heiko Peters, Dr. Stefan Ried, Diplom-Volkswirt Dominik Rumpf, Dr. Christoph Swonke, Dr. Marco Wagner und Dr. Benjamin Weigert. Ein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang dem ehemaligen Generalsekre-tär Dr. Ulrich Klüh, der bis zum 31. Juli 2010 an diesem Bericht mitwirkte und dessen Einsatz wesentlich zum Gelingen der Expertise beigetragen hat. Ein weiterer Dank geht an den Gene-ralsekretär Dr. Jens Clausen, für die Koordinierung der Arbeiten im wissenschaftlichen Stab und seine inhaltlichen Anregungen ab dem 1. August 2010. Fehler und Mängel, die diese Expertise enthält, gehen allein zu Lasten der Unterzeichner. Paris und Wiesbaden, 6. Dezember 2010 Conseil d’Analyse Économique

Christian de Boissieu

Jean-Philippe Cotis

Michel Didier

Christian Saint-Etienne

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Peter Bofinger

Wolfgang Franz

Christoph M. Schmidt

Beatrice Weder di Mauro

Wolfgang Wiegard

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VI Inhalt

CAE / SVR - Expertise 2010

Inhalt Seite

ERSTES KAPITEL Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken ............................................................... 1

1. Die Herausforderung ........................................................................................... 2 2. Die Ausgangslage ................................................................................................ 6

Elemente der Wirtschaftsleistung und des gesellschaftlichen Fort-schritts .............................................................................................................. 7 Ungelöste Probleme ......................................................................................... 10

3. Prinzipien und praktische Hürden ....................................................................... 12 4. Wesentliche Ergebnisse ....................................................................................... 15

Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand .............................................. 15 Lebensqualität .................................................................................................. 18 Nachhaltigkeit .................................................................................................. 22

5. Wie geht es weiter? .............................................................................................. 27 Anhang ................................................................................................................................. 30 Literatur ................................................................................................................................ 31

ZWEITES KAPITEL Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand ............................................................. 33

1. Wirtschaftsleistung und laufender materieller Wohlstand .................................. 34 Messprobleme .................................................................................................. 34 Von der Produktion zum materiellen Wohlstand ............................................ 37

2. Wie das BIP ein besseres Maß für die Wirtschaftsleistung wird ......................... 39 Dienstleistungen .............................................................................................. 40 Qualitätsänderungen und Außenhandelsaspekte ............................................. 45 Schwer behebbare Schwächen ........................................................................ 46 Ein Zwischenfazit ............................................................................................ 48

3. Arbeitsmarktaspekte ............................................................................................ 49 4. Ein breiteres Indikatorenset des materiellen Wohlstands .................................... 51

Einkommen und Konsum ................................................................................ 51 Einkommensverteilung .................................................................................... 53 Vermögen und Zeitverwendung ...................................................................... 55 Ein Zwischenfazit ............................................................................................ 58

5. Schlussbemerkungen ........................................................................................... 58 Anhang ................................................................................................................................. 60 Literatur ................................................................................................................................ 62

DRITTES KAPITEL Lebensqualität .................................................................................................................... 65

1. Konzeptionelle Fragen: Die blaue oder die rote Kapsel? .................................... 65 „Top-down“-Ansätze: Verlockend, aber nicht überzeugend ........................... 65 „Bottom-up“-Ansätze: Sinnvoll, aber nicht einfach ........................................ 68

2. Empirische Umsetzung: Kein Kinderspiel .......................................................... 71 Berücksichtigung heterogener Präferenzen ..................................................... 71 Rein statistische Ansätze ................................................................................. 72

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Inhalt VII

CAE / SVR - Expertise 2010

Seite 3. Praktische Umsetzung: Frankreich und Deutschland .......................................... 75

Die Auswahl der Dimensionen ........................................................................ 75 Lebensqualität in Frankreich und Deutschland ............................................... 77

4. Elemente unseres Indikatorensystems: Eine detaillierte Diskussion ................... 82 Gesundheit ................................................................................................. 82 Bildung ...................................................................................................... 85 Persönliche Aktivitäten ............................................................................. 89 Politische Einflussnahme und Kontrolle ................................................... 93 Soziale Kontakte und Beziehungen ........................................................... 95 Umweltbedingungen ................................................................................. 96 Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit ........................................... 98

5. Vorschläge zur zukünftigen Arbeit ...................................................................... 100 Ein Résumé ...................................................................................................... 103

Literatur ................................................................................................................................ 104 VIERTES KAPITEL Nachhaltigkeit ..................................................................................................................... 107

1. Konzeptionelle Fragen: Dimensionen der Nachhaltigkeit ................................... 107 2. Makroökonomische Nachhaltigkeit ..................................................................... 111

Nachhaltigkeit des Wachstums ........................................................................ 112 Externe Nachhaltigkeit .................................................................................... 114 Fiskalische Nachhaltigkeit ............................................................................... 115

3. Finanzielle Nachhaltigkeit ................................................................................... 122 Finanzkrisen und Nachhaltigkeit ..................................................................... 124 Entwicklung angemessener Indikatoren .......................................................... 126

4. Ökologische Nachhaltigkeit ................................................................................. 133 Die Notwendigkeit zur Betrachtung der ökologischen Nachhaltigkeit ........... 133 Treibhausgasemissionen .................................................................................. 136 Rohstoffproduktivität und Rohstoffverbrauch ................................................ 142 Biodiversität .................................................................................................... 148

5. Zusammenfassende Bemerkungen ...................................................................... 151 Anhang ................................................................................................................................. 155 Literatur ................................................................................................................................ 162

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VIII Verzeichnis der Schaubilder

CAE / SVR - Expertise 2010

Verzeichnis der SchaubilderSeite

1 Korrelation von Bruttoinlandsprodukt und Wohlstand ................................................. 6 2 Korrelation von Lebenszufriedenheit und Bruttoinlandsprodukt ................................. 6 3 Nichtmaterielle Indikatoren für Lebensqualität ............................................................ 21 4 Indikatoren zur Nachhaltigkeit ...................................................................................... 24 5 Indikatorensystem für Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit ........... 30 6 Ausbildungsleistungen nach verschiedenen statistischen Methoden für

Frankreich ..................................................................................................................... 44 7 Beschäftigtenquote in Europa ....................................................................................... 50 8 Konsumausgaben pro Kopf ........................................................................................... 52 9 Bedeutung der privaten und staatlichen Konsumausgaben in ausgewählten

Ländern im Jahr 2009 .................................................................................................... 53 10 Ungleichheit der Einkommensverteilung ...................................................................... 56 11 Kumulierte Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland und

Frankreich ..................................................................................................................... 57 12 Vermögen der Haushalte nach Dezilen in Deutschland und Frankreich ...................... 57 13 Sparquoten nach der Einkommenshöhe in Frankreich im Jahr 2003 ............................ 61 14 Nichtmaterielle Indikatoren für Lebensqualität ............................................................ 79 15 Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL) .................................................................... 84 16 Schüler und Studenten (ISCED 1-6) im Alter von 15 bis 24 Jahren ............................ 87 17 Arbeitnehmer in Schichtarbeit ...................................................................................... 91 18 Mitspracherecht und Verantwortlichkeit ....................................................................... 95 19 Belastung der städtischen Bevölkerung durch Luftverschmutzung mit

Feinstaub ....................................................................................................................... 97 20 Bevölkerungsanteil der Menschen ohne Armutsrisiko .................................................. 99 21 Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors .............................................................. 113 22 Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) ........................................................ 114 23 Leistungsbilanzsalden in der EU-27 .............................................................................. 115 24 Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo und Nettoinvestitionen des Staates ........... 117 25 Altenquotient für die Jahre 2010 bis 2060 in der EU .................................................... 119 26 Kredit- und Vermögenspreislücken vor und nach Bankenkrisen ................................. 130 27 Geschätzte kumulierte Lücken ...................................................................................... 131 28 CO2-Emissionen durch Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur Energiege-

winnung in ausgewählten Ländern im Jahr 2008 .......................................................... 140 29 Rohstoffeinsatz und –verbrauch sowie Rohstoffproduktivität in Deutschland

und Frankreich .............................................................................................................. 145 30 Verschiedene Maße zum Verbrauch von abiotischen Rohstoffen (DMC) in

Deutschland ................................................................................................................... 147 31 Rohstoffproduktivität und Rohstoffverbrauch in Deutschland und Frankreich ............ 148

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Verzeichnis der Tabellen IX

CAE / SVR - Expertise 2010

Verzeichnis der Tabellen Seite

1 Indikatorenset zum materiellen Wohlstand ................................................................... 18

2 Wachstum in Frankreich und Deutschland gemessen mit alternativen Indika-toren ............................................................................................................................... 37

3 Wertschöpfung und Erwerbstätigkeit nach Wirtschaftsbereichen in Frankreich und Deutschland im Jahr 2009 ...................................................................................... 41

4 Verteilung der Haushaltseinkommen in Frankreich im Jahr 2003 ................................ 54

5 Auswirkungen auf die Zufriedenheit ............................................................................ 67

6 Lebensqualität – Dimensionen und Facetten ................................................................ 76

7 Vorgeschlagene Indikatoren zur Lebensqualität ........................................................... 78

8 Gesundheit – Variablen für die Hauptkomponentenanalyse (PCA) ............................. 84

9 Gesundheit – Gewichtung der ersten Hauptkomponente .............................................. 85

10 Ausbildung – Variablen für die Hauptkomponentenanalyse (PCA) ............................. 88

11 Ausbildung – Gewichtung der ersten Hauptkomponente ............................................. 89

12 Persönliche Aktivitäten – Variablen für die Hauptkomponentenanalyse (PCA): Deutschland ....................................................................................................... 92

13 Persönliche Aktivitäten – Gewichtung der ersten Hauptkomponente: (PCA): Deutschland ................................................................................................................... 93

14 Alterungsbedingte Ausgaben in den Jahren 2010 und 2060 ......................................... 120

15 Berechnung zur fiskalischen Nachhaltigkeit.................................................................. 121

16 Anpassungserfordernisse bei unterschiedlichen Potenzialwachstumspfaden ............... 122

17 Treibhausgasemissionen in Deutschland und Frankreich ............................................. 138

18 CO2-Emissionen durch die Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur Energie-gewinnung in der Welt und nach Ländern .................................................................... 141

19 A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen .............................. 156

Verzeichnis der Kästen

1 Zur Abbildung von Verteilungsfragen in den Volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnungen: Untergliederung des Sektors private Haushalte nach Haushalts-gruppen .......................................................................................................................... 39

2 Evaluation der individuellen nicht-marktmäßigen Bildungs- und Gesund-heitsdienste in Frankreich ............................................................................................. 43

3 Messung des Handels in der Europäischen Union ........................................................ 46

4 Methodische Fragen ...................................................................................................... 128

5 Maße zu Rohstoffproduktivität und -verbrauch: Nutzung und Probleme ..................... 144

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ERSTES KAPITEL

Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

Die Herausforderung1.

2.

3.

Die Ausgangslage

Prinzipien und praktische Hürden

4. Wesentliche Ergebnisse

Anhang

5. Wie geht es weiter?

Literatur

Elemente der Wirtschaftsleistung und des gesellschaftlichen FortschrittsUngelöste Probleme

Wirtschaftsleistung und materieller WohlstandLebensqualitätNachhaltigkeit

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Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken 1

CAE / SVR - Expertise 2010

Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

1. Im Laufe des Jahres 2010 haben sich die Anzeichen gemehrt, dass die Welt im Begriff ist, sich langsam von der schwersten wirtschaftlichen Krise der vergangenen sechs Jahrzehnte zu erholen. Dieser Zeitpunkt, darüber besteht in der Politik, der Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit weitgehende Einigkeit, sollte keine bloße Rückkehr zum Vorkrisenzustand signalisieren, sondern vielmehr ein Augenblick des Innehaltens und ernsthaften Nachdenkens sein. Aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften und der Statistik sollten drei eng miteinander verbundene Schlüsselfragen im Zentrum derartiger Betrachtungen stehen: Erstens, wie kön-nen wir unser Berichtswesen über die Wirtschaftsleistung verbessern, um es der Politik zu ermöglichen, die aktuelle Lage zu beurteilen sowie rechtzeitig und angemessen zu reagieren, wenn Krisen entstehen? Zweitens, wie können wir unseren Blickwinkel von der derzeitigen Konzentration auf die Wirtschaftsleistung hin zu einer generelleren Beurteilung der Lebens-qualität erweitern, um das zu betrachten, was für das menschliche Wohlergehen wirklich zählt? Und drittens, wie können wir Warnsignale entwickeln, die uns Hinweise geben, wenn unser derzeitiger Lebensstil die Nachhaltigkeit gefährdet, um unseren Kurs zu unserem eige-nen Wohl und dem zukünftiger Generationen zu ändern? Dies sind die Fragen, die in dieser gemeinsamen Expertise des französischen Conseil d’Analyse Économique (CAE) und des deutschen Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) angesprochen werden. Die Studie wurde im Verlauf des Jahres 2010 im Auftrag des Französischen Präsidenten und der Deutschen Bun-deskanzlerin erarbeitet. Sie enthält die Ergebnisse angeregter und intensiver wissenschaftli-cher Debatten, detaillierter Datenanalysen beider Räte, des französischen (INSEE) als auch des deutschen (Destatis) statistischen Amtes sowie umfangreicher Beratungen mit öffentli-chen Institutionen, Wissenschaftlern und Vertretern vieler Initiativen, die sich derzeit mit dem statistischen Berichtswesen und Fragen der Wohlfahrtsmessung befassen. Sie ist nicht aus-schließlich als eine wissenschaftlich fundierte Studie gedacht, die sich in die philosophi-schen Tiefen einer Beurteilung des Zustands der Menschheit wagt. Trotz dieses unablässigen intellektuellen Bemühens möchte sie vielmehr auch ganz bewusst einen pragmatischen Weg zu einem Berichtswesen über die aktuelle Lage weisen. Als Ausgangspunkt wählt sie den Report der „Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“ (Stiglitz-Sen-Fitoussi Commission, SSFC) und untersucht, wie die Anforderungen einer um-fassenden und präzisen Darstellung optimal gegenüber dem Erfordernis der Beschränkung auf eine begrenzte Anzahl von Indikatoren und den entstehenden Kosten abgewogen werden kön-nen, um eine zuverlässige Basis für ein regelmäßiges, zeitnahes und verständliches Berichts-wesen der drei Kernfragen der menschlichen Wohlfahrt zu formen. 2. Die erste und wohl bedeutendste Schlussfolgerung unserer Expertise ist die Ablehnung jedes Ansatzes, der die Messung des menschlichen Fortschritts mit nur einem einzigen Indi-kator vornehmen will. Das Leben ist zu komplex und die Anforderungen an statistische Nachweise sind zu verschieden, um die Zusammenfassung des erreichten Zustands in einem einzigen umfassenden Indikator sinnvoll zu ermöglichen. Obwohl ein solcher Indikator das Prinzip der Wirtschaftlichkeit betonen würde und leicht zu kommunizieren wäre, würde er kaum den Informationserfordernissen moderner demokratischer Gesellschaften gerecht. Statt-

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2 Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

CAE / SVR - Expertise 2010

dessen empfehlen wir, dass das Berichtswesen aus einem Indikatorensystem („dashboard“) bestehen sollte. Das System, das wir vorschlagen, steht für weitere Diskussionen offen. Es ist umfassend genug, um eine sinnvolle Diskussion der einzelnen Facetten der menschlichen Wohlfahrt zu ermöglichen, zugleich ist es aber nicht zu detailliert. Es repräsentiert die drei Kernfragen zum materiellen Wohlstand, zur Lebensqualität und Nachhaltigkeit recht ausge-wogen. Der Ansatz erkennt an, dass ein Monitoring des materiellen Wohlstands unabdingbare Voraussetzung für sinnvolle Wirtschaftspolitik ist, dass das Leben aber zugleich mehr als ma-teriellen Wohlstand zu bieten hat. Unser Ansatz berücksichtigt zudem, dass der menschliche Fortschritt im Hinblick auf nicht-materielle Aspekte nur schwer zu fassen ist, und dass es rat-sam ist, in einer langfristigen Sicht die Konsequenzen eines unveränderten menschlichen Le-bensstils aufzuzeigen.

1. Die Herausforderung

3. Ende des Jahres 2010, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Expertise, erholt sich die Welt langsam von der schwersten wirtschaftlichen Krise der vergangenen sechs Jahrzehn-te. Die Krise hat die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert, ohne kaum eine Re-gion zu verschonen, und hat vielerorts bedeutende Teile des hart erkämpften wirtschaftlichen Fortschritts vernichtet. Sie hat dadurch viele vermeintliche Gewissheiten über die Funktions-weise moderner Volkswirtschaften und die Globalisierung infrage gestellt. Insbesondere sind Sozialwissenschaftler, die Politik und die breite Öffentlichkeit zu einigen ernüchternden Einsichten gekommen: Erstens, obgleich die Menschheit insgesamt heutzutage reicher ist als jemals zuvor in der Geschichte, sind viele Menschen immer noch von diesem Wohlstand aus-geschlossen. Und wenn eine ökonomische Katastrophe zuschlägt, wäre man gerne frühzeiti-ger und genauer über drohende Probleme informiert und nicht – wie es jetzt der Fall war – erst dann, wenn die Rezession die Wirtschaft schon fest im Griff hat. Zweitens mag es in Boomphasen verführerisch sein zu vergessen, dass es in Marktwirtschaf-ten Auf- und Abschwünge gibt. Die jüngste Krise hat aber allzu deutlich gezeigt, dass Rezes-sionen oder gar Depressionen ein Teil des Lebens sind – historisch ebenso wie in modernen Zeiten. Diese Unsicherheit kommt zu den vielen möglichen Quellen von Instabilität hinzu, die einen Schatten auf das individuelle Leben werfen, wie Ungleichheit, Krankheit oder poli-tisch und religiös motivierte Verfolgung. Haushalte und Unternehmen würden sicherlich ger-ne einen Teil des durchschnittlichen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gegen ge-ringere Schwankungen um den Wachstumspfad opfern; unbestimmt ist aber, wie viel, so dass es darauf keine einfachen Antworten gibt. Dieser Punkt hat eine allgemeinere Implikation: Im Kielwasser der Krise setzt sich die Er-kenntnis durch, dass das Leben aus mehr besteht als nur materiellem Wohlstand. Auch eine Zeit, die vordergründig günstige Perspektiven eröffnet, kann sich schnell außerstande sehen, ihre Versprechen einzuhalten. Schließlich kann es durchaus so sein, dass schnelles materielles Wachstum auf Kosten der Umwelt oder der langfristigen wirtschaftlichen Stabilität erkauft wurde. Und wenn sich wirtschaftlicher Erfolg als nicht-nachhaltig herausstellt, werden – wie die jüngste Krise demonstriert – tendenziell andere die Rechnung zahlen als die ursprünglich Verantwortlichen.

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Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken 3

CAE / SVR - Expertise 2010

4. Diese Einsichten könnten schwerwiegende normative Implikationen haben. Unter ihrem Eindruck glauben einige Kommentatoren sogar, dass ein geringeres BIP-Wachstum erforderlich ist, um die Natur nicht zu zerstören. In der Tat, wenn unaufhörliches Streben nach Wachstum tatsächlich unsere Rohstoffbasis zerstörte, könnte dies nicht immer so wei-tergehen. Andererseits gilt, dass immer dann, wenn Regierungen hohe Schulden aufnehmen, um diskretionäre Maßnahmen zur Überwindung eines wirtschaftlichen Abschwungs zu finan-zieren, sie diese Mittel von zukünftigen Generationen leihen. Wenn wir also diesen Generati-onen die Chance nähmen, ein substanzielles wirtschaftliches Wachstum zu erzielen, dann würden sie darunter leiden. In diesem Sinne ist Wachstum unzweifelhaft erforderlich, um Arbeitslosigkeit abzubauen, die Wohlfahrt zu erhöhen, den Aufholprozess der Entwicklungs-länder zu erleichtern und den möglicherweise entstehenden Streit um die Verteilung des Wohlstands zu schlichten. Dann sollte es aber ein intelligentes Wachstum sein, mit nur gerin-gen CO2-Emissionen und ohne negative Nebeneffekte für die Wohlfahrt. Die normative Fra-ge, ob wir mehr Wert auf wirtschaftliches Wachstum oder auf andere Ergebnisse legen soll-ten, kann aber nie allein auf der Basis eines statistischen Berichtswesens beantwortet werden. Bevor man aber in die Diskussion derart grundsätzlicher normativer Fragen eintreten kann, wird ein zeitnahes, regelmäßiges und präzises statistisches Berichtswesen benötigt, um sich ein Bild von der aktuellen Lage zu verschaffen. Allein aus den Indikatoren zur Wirtschafts-leistung kann nicht abgeleitet werden, ob sich die Wirtschaft auf dem erwünschten Pfad be-findet. Deshalb sind die positiven Fragen „Wo stehen wir?“ und „Wohin führt uns der einge-schlagene Weg?“ die ersten, die man im Hinblick auf eine große Bandbreite von Indikatoren beantworten können sollte. Ohne ein umfassendes statistisches Informationssystem könnte man Fragen wie diese nicht angehen und erst recht keine informierte normative Diskussion führen. Der Wunsch, eine feste Basis für diese wichtige Debatte zu finden, erklärt den wach-senden Bedarf nach detaillierten und dennoch verständlichen Informationen und damit nach umfassenden Statistiken, die eine ausgewogene Balance zwischen der Verdichtung der we-sentlichen Fakten aus den Wohlfahrtsdaten und der Erhaltung eines ausreichenden Detail-grads liefern, der der Komplexität der Sache gerecht wird. Hinzu kommt, dass die Empfänger der statistischen Informationen selbst heterogen in Bezug auf ihre Präferenzen, Fähigkeiten und gesellschaftliche Rolle sind. Obwohl das Ziel jeder sta-tistischen Arbeit in einer Reduktion der Komplexität besteht, muss sie doch die Erfahrungen einer modernen demokratischen Gesellschaft widerspiegeln, wie etwa schnellen strukturellen Wandel, technischen Fortschritt oder die Kräfte der Globalisierung. In einer so komplexen Welt wie der unseren benötigen die Bürger genauso wie die Politik detaillierte Informationen, um besser verstehen zu können, was für ein gutes individuelles oder kollektives Leben wich-tig ist. Gut informierte Bürger nehmen nicht nur aktiver an demokratischen Prozessen teil, sondern entdecken auch früher unerwünschte Entwicklungen. Ein wesentlicher Grund, wes-halb die Öffentlichkeit zunehmend mit dem derzeitigen Schwerpunkt auf Maße der Wirt-schaftsleistung unzufrieden ist, liegt in der wachsenden Kluft zwischen den Ergebnissen des statistischen Berichtswesens und der individuellen Wahrnehmung von Wohlfahrt. Konkret: In den vergangenen Jahren ist das Realeinkommen in vielen Ländern gewachsen, aber die sub-

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4 Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

CAE / SVR - Expertise 2010

jektive Einschätzung der Wohlfahrt der Bevölkerung hat damit nicht Schritt gehalten (Easter-lin, 1974; Frey und Stutzer, 2002). 5. Dementsprechend hat die Messung der Wirtschaftsleistung und der Wohlfahrt sowohl in der öffentlichen als auch in der wissenschaftlichen Diskussion wieder eine zentrale Stellung eingenommen. Dieser Diskurs kann sich dabei auf eine lange Tradition in den Wirtschaftswis-senschaften und der Statistik berufen. Die Bedeutung des Themas zeigt sich zum Beispiel an der geplanten Europa 2020-Strategie der Europäischen Kommission, die ein intelligentes, nachhaltiges und „inklusives“ Wachstum in den Vordergrund stellt. Daran knüpft die vorlie-gende Expertise an, die die Grundlagen für ein zeitnahes, regelmäßiges und präzises statisti-sches Berichtswesen legen will, das eine ausgewogene Balance zwischen Detailtreue und Wirtschaftlichkeit findet. In diesem Bemühen ruhen unsere Argumente auf den sprichwörtli-chen „Schultern von Riesen“. Insbesondere hat der Französische Präsident im Februar 2008 den SSFC-Report initiiert, der im September 2009 in seiner Endfassung veröffentlicht wurde und sich als Meilenstein in dieser Debatte erwiesen hat. Kaum ein anderer Beitrag auf diesem Forschungsgebiet hat eine so intensive Diskussion in Politik und Öffentlichkeit angeregt. Zu-dem wurden seit der Veröffentlichung zahlreiche Initiativen, insbesondere durch die statisti-schen Ämter in Europa, mit dem Ziel gebildet oder verstärkt, das statistische Berichtswesen in verschiedenen Bereichen zu verbessern, auch in denjenigen, die hier zur Diskussion stehen. Trotz bereits jahrelanger Arbeit sind viele dieser Initiativen direkt oder indirekt durch den SSFC-Report beflügelt worden. Für viele kritische Beobachter der Sozialwissenschaften hat der SSFC-Report eigentlich nichts verändert. Immerhin spricht er ein Thema an, das seit Jahrzehnten intensiv in den Wirtschaftswissenschaften und der Statistik diskutiert wird. Insbesondere wird schon lange von Volkswirten anerkannt, dass das BIP nicht dazu dienen soll, die menschliche Wohlfahrt zu messen, und dass es die Informationswünsche in einer modernen Demokratie allein nicht erfüllen kann. Trotzdem sind das BIP und seine Komponenten ein unverzichtbarer Wegweiser für Politiker und die Öffentlichkeit geblieben. Ohne diese Angaben wären die Gesellschaften auf verlorenem Posten, wenn es um die Beurteilung kurzfristiger Wirtschaftsentwicklungen oder der Notwendigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen ginge. Es ist kein Zufall, dass die Grundlagen für das BIP und das moderne System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-gen (VGR) in den 1920er- und 1930er-Jahren entstanden ist. Vor dem Hintergrund schwerer ökonomischer Störungen, die denjenigen sehr ähneln, die wir derzeit beobachten, war die Notwendigkeit einer genauen Messung der Wirtschaftsleistung offensichtlich. Die ersten for-malen VGR waren weitgehend darauf ausgerichtet, diese Anforderung zu erfüllen. Seither wurden sie ständig verbessert, um sicherzustellen, dass sie für die Wirtschaftspolitik nützliche Wegweiser bleiben. Deshalb gibt es gute Gründe dafür, dass das BIP an vorderster Stelle ei-nes regelmäßigen statistischen Berichtswesens und in der Wirtschaftspolitik steht – und diese Gründe gelten auch heute noch. Für andere Beobachter hat der SSFC-Report jedoch alles verändert. Obwohl das BIP als Konzept unverzichtbar bleibt, gibt es noch wichtige Bereiche, in denen Verbesserungen der Messung notwendig erscheinen. Genauso wie sich unsere Gesellschaften und Volkswirtschaf-

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ten entwickeln, so ändert sich auch der Schwerpunkt der quantitativen Erfassung des Gesche-hens. Zum Beispiel erforderte der Strukturwandel einen Blickwechsel weg von der Landwirt-schaft hin zur industriellen Produktion und zu Dienstleistungen. Auch machen neue Methoden der Generierung von Wissen neue Messmethoden für Investitionen in diesem Bereich not-wendig. Obwohl eine kontinuierliche Verbesserung der Messung des BIP schon immer im Blickpunkt der statistischen Ämter weltweit lag, so hat der SSFC-Report vor allem erfolg-reich der Öffentlichkeit die Bedeutung und die Feinheiten der Messung des gesellschaftlichen Fortschritts vor Augen geführt und nicht-materielle Aspekte der Wohlfahrt sowie die Nach-haltigkeit an die vorderste Stelle der Agenda gerückt. 6. Diese positive Sichtweise bildet unseren Ausgangspunkt: Der SSFC-Report und die intensive gesellschaftliche Debatte in seinem Gefolge bieten eine enorme Chance, bei der Wohlfahrtsmessung entscheidend voranzukommen. Mehr noch: Ein Blick hinter das BIP be-friedigt nicht nur intellektuelle Neugier, sondern ist aller Mühe wert, trotz der vielen prakti-schen Hürden, mit denen das regelmäßige statistische Berichtswesen in der harten Realität konfrontiert ist. Wir werden aber nie in der Lage sein, den gesellschaftlichen Fortschritt per-fekt zu „messen“. Wir können allenfalls darauf hoffen, Indikatoren zu finden, die für einen regelmäßigen statistischen Nachweis taugen und eine Annäherung an den wahren Zustand erlauben. Dabei wird es immer einen statistischen Unschärfebereich geben, selbst wenn alle systematischen Messfehler ausgeschlossen werden könnten. Deshalb wären alle weiteren Be-mühungen um eine Verbesserung des statistischen Berichtswesens über das BIP hinaus über-flüssig, wenn die Korrelation zwischen diesem Standardmaß der Wirtschaftsleistung und al-ternativen Maßen des gesellschaftlichen Fortschritts (fast) perfekt wäre. Zum Glück weisen viele auf Umfragen basierende Maße der Lebenszufriedenheit im Quer-schnitt der Länder und Regionen eine zwar enge, aber keineswegs perfekte Korrelation zum BIP auf (Schaubild 1). Im Zeitablauf ist dieses Muster innerhalb von Ländern weniger eindeu-tig (Schaubild 2), aber es liegen hier ebenfalls Belege für eine hohe, wenngleich nicht perfek-te Korrelation vor (Schmidt und Kassenböhmer, 2010). Fortschritte dürften sich jedoch nicht leicht erzielen lassen. Denn diese hohen Korrelationen haben insbesondere zur Folge, dass nur dann Hoffnung besteht, das Berichtswesen vernünftig voranzubringen, wenn das Signal, das die statistische Analyse aus den Rohdaten extrahieren kann, sehr viel an „echter“ Infor-mation enthält. Anders ausgedrückt: Ein Indikator, der hoch mit dem BIP korreliert ist, kann nur dann weitere nützliche Informationen beisteuern, wenn die statistische Unsicherheit, die mit ihm verbunden ist, gering ist. Unglücklicherweise erfüllen die intellektuell interessantes-ten und originellsten Indikatoren der individuellen Wohlfahrt diese Anforderung zumeist eher nicht. Und da es unser Ziel ist, Verbesserungen des regelmäßigen und zeitnahes Berichtswe-sens vorzuschlagen, wirkt diese Anforderung umso restriktiver. 7. Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Kapitel sind wie folgt aufgebaut: In Ab-schnitt 2 schildern wir kurz die Ausgangslage nach der Veröffentlichung des SSFC-Reports. Abschnitt 3 stellt unsere eigene Strategie zur Verbesserung des statistischen Berichtswesens vor. In Abschnitt 4 werden die Ergebnisse zusammengefasst und das Indikatorensystem für die drei Schlüsselbereiche Wirtschaftsleistung, Lebensstandard und Nachhaltigkeit vorge-

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stellt. Zur Illustration werden Ergebnisse für Frankreich und Deutschland ausgewiesen. Ab-schnitt 5 befasst sich mit den Perspektiven der zukünftigen Arbeit zu dieser Fragestellung.

0,3

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02,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,00

log (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (KKP US-Dollar))

1 2 Durchschnitt aller Antworten letzter Wert zwischen u .) Human Development Report 2009.– ) ; 2004 nd 2008

Quellen: UN, The World Bank, World Values Survey

Schaubild 1

3

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Korrelation von Bruttoinlandsprodukt und Wohlstand

Human Development Index (linke Skala)1) Lebenszufriedenheit (rechte Skala)2)

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1) Durchschnitt aller Antworten.– 2) Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in konstanten Preisen.– 3) Bis 1990: Früheres Bundesgebiet.– a) Fehlender Wert.

Quellen: IWF, World Values Survey

Korrelation von Lebenszufriedenheit und Bruttoinlandsprodukt

6,6

6,8

7,0

7,2

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vH

4,0

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4,3

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01981 1990 1997 1999 2006

FrankreichDeutschland3)

1997a)

Lebenszufriedenheit1) (linke Skala) Bruttoinlandsprodukt2) (rechte Skala)

log(Franc/Euro)log(DM/Euro)

0

Schaubild 2

2. Die Ausgangslage

8. Die Geschichte des statistischen Berichtswesens im Hinblick auf die menschliche Wohlfahrt belegt, dass schon seit Jahrzehnten für Politik und Öffentlichkeit umfassende Bündel von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Indikatoren für kurz- und mittelfristige

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Analysen zur Verfügung stehen. Bereits im Jahr 1963 schrieb das „Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ ein mehrdimensionales Zielsystem mit Preisniveaustabilität, einem hohen Beschäftigungsstand und einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum fest. Zudem betonte das Gesetz die Notwendigkeit von Analysen zur Bildung und Verteilung der Einkommen und Vermögen. Seit seiner Gründung im Jahr 1997 wurde auch der französi-sche CAE mit dem Monitoring und der Analyse vielfältiger Themen beauftragt, angefangen bei Verteilungsfragen, bis hin zum Klimawandel. Ungeachtet dieser Traditionen ist mittler-weile die Einsicht gereift, dass Öffentlichkeit und Politik immer noch zu sehr auf das BIP schauen und andere Aspekte der Wohlfahrt nicht ausreichend beachten. Deshalb ist es nicht überraschend, dass in den vergangenen Jahren ein Wiederaufleben der Forschungsarbeiten zur Frage zu beobachten ist, wie unser Verständnis des Fortschritts von Gesellschaften im Zeitablauf und im Ländervergleich verbessert werden kann. Dazu sind zahlreiche Untersuchungen und Initiativen bei der OECD, den Vereinten Nationen, der Weltbank, den statistischen Ämtern und anderen Organisationen durchgeführt und angeregt worden. Im akademischen Bereich können die Zweifel, ob das BIP ein angemessenes Maß aller Aspekte der Wirtschaftsleistung und erst recht der Wohlfahrt ist, bis in die 1930er-Jahre zu Kuznets zurückverfolgt werden (Kuznets, 1934), einen der bedeutendsten Architekten der VGR. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Debatte häufig wiederbelebt, etwa durch Nordhaus und Tobin in den 1970er-Jahren (Nordhaus und Tobin, 1972). Mittlerweile gibt es eine breite, umfassend diskutierte Literatur zur Messung der Wohlfahrt (Fleurbaey, 2009). Jüngst hat der SSFC-Report zu einer intensiven Debatte über die Sinnhaftigkeit verschiedener Indikatoren zur Messung der Wirtschaftsleistung und des gesellschaftlichen Fortschritts ge-führt. Er hat dabei drei Gebiete herausgearbeitet, die ein umfassendes statistisches Berichts-wesen abdecken sollte: Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Dieser intel-lektuelle Rahmen betont, dass der Entwurf einer rechtzeitigen und angemessenen Wirt-schaftspolitik immer ein Monitoring der Wirtschaftsleistung voraussetzt. Er erkennt zudem an, dass ein weites Spektrum von Facetten der materiellen und nicht-materiellen Wohlfahrt zusammengenommen die Lebensqualität von Individuen, Familien und Haushalten beein-flusst. Schließlich erinnert er uns daran, dass ernste Störungen drohen, wenn wir nicht in einer langfristigen Perspektive die Konsequenzen eines unveränderten menschlichen Lebensstils beachten. Elemente der Wirtschaftsleistung und des gesellschaftlichen Fortschritts

9. Eine Voraussetzung für die Prüfung alternativer Messansätze der Wirtschaftsleistung, der Lebensqualität und der Nachhaltigkeit ist die Einigung darüber, was eigentlich gemessen werden soll. Die Antwort darauf hängt natürlich eng mit den Zielen zusammen, die Gesell-schaft und damit die Politik verfolgen wollen. Eine Befragung von Öffentlichkeit und Politi-kern könnte etwas Licht in diese Angelegenheit bringen. Gemäß der „Euro-Barometer“-Umfrage von 2008 waren zum Beispiel zwei Drittel der EU-Bürger der Meinung, dass Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftsindikatoren gleichwertig genutzt werden sollten, um den Fortschritt zu bewerten (Europäische Kommission, 2009). Die derzeit laufende Strate-

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gie 2020 der EU bezieht sich ebenfalls auf drei Hauptziele: intelligentes Wachstum (Entwick-lung einer Wirtschaft, die auf Wissen und Innovation basiert), nachhaltiges Wachstum (Förde-rung einer ressourceneffizienteren, grüneren und mehr wettbewerblichen Wirtschaft) und „in-klusives“ Wachstum (eine Wirtschaft mit hoher Beschäftigung, die wirtschaftlichen, gesell-schaftlichen und territorialen Zusammenhalt gewährleistet). 10. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Wirtschaftspolitik zeitnahe, regelmäßige und präzise Indikatoren der Wirtschaftsleistung benötigt. Obwohl der SSFC-Report ausgewogen eine Bandbreite von Messproblemen beim BIP diskutiert, beanspruchen diese für die Ausge-staltung einer kurz- und mittelfristigen Wirtschaftspolitik wohl keine besondere Aufmerk-samkeit. Für die kurzfristige Perspektive der makroökonomischen Politik, die einen Zeitho-rizont von ein bis zwei Jahren umfasst, erscheint das BIP als Indikator der laufenden Wert-schöpfung als der aussagekräftigste Ausweis der Wirtschaftsleistung. Und natürlich wird in der Wirtschaftspolitik ohnehin mehr als nur das BIP betrachtet, indem Arbeitslosigkeit, Infla-tion, kurzfristige Produktion sowie Konsumenten- und Unternehmensstimmungen mit in den Blick genommen werden. In der mittelfristigen Perspektive ist die Aussagekraft des BIP hingegen etwas eingeschränkter. Aber auch hier hängt dies wieder davon ab, welche Proble-me die Politik angehen will. Obwohl die im SSFC-Report aufgeführten Mängel für eine Ana-lyse des materiellen Wohlstands von Bedeutung sind, erscheinen sie im Zusammenhang mit der mittelfristigen Wirtschaftsleistung von wesentlich geringerer Relevanz: − Das BIP trägt den Abschreibungen nicht genügend Rechnung, allerdings sind die Differen-

zen in den Veränderungsraten und den Niveaus zwischen Bruttonationaleinkommen (BNE) und Nettonationaleinkommen (NNE) im Normalfall recht gering.

− Auch ist es richtig, dass es bei den Niveaus und den Veränderungsraten zwischen BIP und BNE wegen der Zahlungen von Einkommen an das und aus dem Ausland größere Diffe-renzen gibt. Dies ist für eine Beurteilung des materiellen Wohlstands durchaus von Bedeu-tung, aber nicht so sehr für die Analyse der Wirtschaftsleistung.

− Internationale Differenzen zwischen BIP und BIP pro Kopf spiegeln unterschiedliche Prä-ferenzen für Güter und Freizeit wider. Für eine Einschätzung der Wirtschaftsleistung kann man allerdings ebenso das BIP je Erwerbstätigen oder je Arbeitsstunde heranziehen.

− Der SSFC-Report stellt zu Recht fest, dass sich das Niveau der nicht-marktmäßigen Akti-vitäten von Haushalten zwischen den Ländern unterscheidet. Gleichwohl liefern BIP-basierte Maße ein wichtiges Bild über die Leistung im Marktbereich einer Volkswirtschaft.

11. Die klare Unterscheidung zwischen Wirtschaftsleistung und laufendem materiellen Wohlstand ist ein sehr verdienstvoller Ansatz im SSFC-Report. Die Messung des materiellen Wohlstands bezieht sich hauptsächlich auf das Niveau, die Veränderung und die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Konsum zwischen privaten Haushalten. In jüngerer Zeit hat sich das öffentliche Interesse eher Verteilungs- und Ungleichheitsfragen zugewandt, wie sich an der breiten Diskussion über Armutsquoten und relative Benachteiligungen zeigt. Auch muss die wachsende Bedeutung des öffentlichen Sektors bei der Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen mit in den Blick genommen werden. Dies betrifft nicht nur verschiedene

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Arten von Dienstleistungen, die einzelnen privaten Haushalten angeboten werden, etwa in den Bereichen Gesundheit und Ausbildung, sondern auch ganz allgemein das Angebot an öffentli-chen Gütern. Für Europa erscheinen diese Aspekte von höherer Bedeutung als etwa für die Vereinigten Staaten, da Europäer wohl eher dazu neigen, weniger zufrieden zu sein, wenn die Ungleichheit in einer Gesellschaft zunimmt (Alesina et al., 2004). Kurz gesagt: Es ist allge-mein bekannt, dass das BIP für ein Produktionsmaß viele Schwachpunkte als Indikator des materiellen Wohlstands hat. Dafür gibt es insbesondere drei Gründe: − Eine gegebene Höhe des BIP kann auf verschiedene Art verteilt werden, über die Grenzen

hinweg, zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor, zwischen Arbeit und Kapital und zwischen Einkommensgruppen.

− Eine gegebene Höhe des BIP kann auf verschiedene Weise genutzt werden, für Konsum- oder für Investitionszwecke.

− Neben den Markttransaktionen, die in der VGR ausgewiesen werden, gibt es bedeutende nicht-marktmäßige Aktivitäten der privaten Haushalte, die materiellen Wohlstand schaf-fen.

12. Man muss nicht lange nachdenken, um festzustellen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, und dass man sich mit allem materiellen Wohlstand in der Welt kein Glück kaufen kann. Allerdings hat es der SSFC-Report dennoch geschafft, dieses Thema auf eine höhere Ebene zu rücken, indem er der sorgfältigen Diskussion darüber ein ganzes Kapitel gewidmet hat, dass nicht-materielle Aspekte der Wohlfahrt („Lebensqualität“) gleichermaßen wichtig für die Schaffung menschlichen Wohlergehens sind wie materielle. Diese nicht-materiellen Facetten beinhalten unter anderem Gesundheitsbedingungen, Bildungserfolge, Aktivitäten auf dem Arbeitsmarkt, Umweltaspekte, soziale Beziehungen, politische Teilhabe und Sicherheit. Mehr als für andere Bereiche der gesellschaftlichen Wohlfahrt ist man bei der Darstellung dieser Facetten auf implizite Beurteilungen individueller und gesellschaftlicher Präferenzen angewiesen. Da Präferenzen aber eher substanziell zwischen Individuen und Gesellschaften variieren können, erscheint es fraglich, ob es sinnvoll sein kann, Indikatoren zu den individu-ellen Elementen der Lebensqualität zu synthetischen umfassenden Indikatoren zusammenzu-fassen. Diese Mahnung ist umso beunruhigender, wenn man nach Wegen sucht, Maße des subjekti-ven Wohlbefindens („happiness“) in einen Standardsatz von Indikatoren einzugliedern – ein Problem, das im dritten Kapitel dieser Arbeit detailliert untersucht wird. Insbesondere ist das Versprechen, „happiness“ und Wohlbefinden direkt und intersubjektiv messen und damit di-rekte Vergleiche zwischen einzelnen Personen vornehmen zu können, mit Vorsicht zu be-trachten. Sollte dies ernsthaft in Erwägung gezogen werden, muss man deutlich die Heraus-forderungen betonen. Was genau die „happiness“-Forschung zum Verständnis des gesell-schaftlichen Fortschritts beitragen kann, muss sich erst noch zeigen. 13. Die derzeitige Wirtschaftskrise hat auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass kurzfristige Gewinne längerfristig aufgezehrt werden können und deshalb als nicht-nachhaltig bezeichnet

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10 Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

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werden sollten, wenn sie auf Handlungen beruhen, die gewaltige Ungleichgewichte erzeugen. Dies gilt für wirtschaftliche Tatbestände, wie eine dauerhafte und überbordende Verschuldung des privaten oder des öffentlichen Sektors, ebenso wie für solche außerhalb der traditionell ökonomischen Gedankenwelt, insbesondere im ökologischen Bereich. Genau zur richtigen Zeit und sehr einsichtig hat der SSFC-Report die öffentliche Debatte über Fragen der Nach-haltigkeit belebt, die nunmehr bereits fast vier Jahrzehnte andauert. Heute gibt es sicherlich eine breite Übereinstimmung unter Politikern und der Öffentlichkeit, dass es gut wäre, so früh wie möglich etwas über Entwicklungen zu wissen, die in Zukunft zu störenden Korrekturen führen könnten. Die Lebenserfahrung lehrt zwar, dass es oftmals zwei Pfade gibt, die eine Gesellschaft einschlagen kann; aber dass es in der langen Frist immer möglich ist, den ge-wählten Weg noch zu verändern. Mit Bezug auf Betrachtungen der intergenerationalen Fairness hat die Diskussion von Nach-haltigkeitsfragen im ökonomischen Denken eine lange Tradition. Sie geht dabei auf Aspekte wie Nachhaltigkeit des Wachstums und der Umwelt sowie fiskalische und finanzielle Nach-haltigkeit ein. So hat die gegenwärtige Krise Ökonomen und Politiker an die empirische Ge-setzmäßigkeiten erinnert, dass eine hohe öffentliche Verschuldung in Relation zum BIP das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen kann (Reinhart und Rogoff, 2010). Aber auch die Angemessenheit des Wirtschaftswachstums wird seit Jahrzehnten in Wissenschaft und Poli-tik diskutiert. Um ein frühes Beispiel in Erinnerung zu rufen: Das erwähnte Gesetz zur Bil-dung des deutschen Sachverständigenrates im Jahr 1963 bezog sich auf ein „stetiges und an-gemessenes Wachstum“ als eines der Hauptziele, obwohl Umweltaspekte vor nahezu 50 Jahren noch nicht als so bedeutend angesehen wurden. Ungelöste Probleme

14. Obwohl der SSFC-Report sehr gründlich die relevanten Fragestellungen untersucht und die Diskussion über die Möglichkeit, menschliche Wohlfahrt und gesellschaftlichen Fort-schritt zu messen, belebt hat, ließ er doch eine beachtliche Anzahl ungelöster Fragen zurück: − Welches Bündel von Indikatoren sollte konkret für einzelne Länder oder Gruppen von

Ländern, wie die Europäische Union, den Kern des öffentlichen Diskurses über den Fort-schritt – in anderen Worten den neuen Kompass für die Bevölkerung und ihre Vertreter – bilden?

− Wie kann das Ziel einer Neuausrichtung, für das sich der SSFC-Report ausspricht, vor dem Hintergrund der verständlichen Neigung von Politik und Öffentlichkeit, sich auf hoch ag-gregierte, leicht verständliche Maße zu konzentrieren, in der Realität erreicht werden?

− Welche Initiativen müssen im Einzelnen ergriffen und vom Staat unterstützt werden, um verbliebene konzeptionelle Fragen zu lösen und fehlende Daten regelmäßig bereitzustellen, ohne dabei die begrenzten oder sogar sinkenden finanziellen Ressourcen der statistischen Ämter aus dem Auge zu verlieren?

15. Seit der Veröffentlichung des SSFC-Reports haben viele Institutionen die Aufgabe übernommen, die gestellten Fragen zu beantworten. Die Vorschläge haben zu intensiven For-

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schungsanstrengungen geführt, insbesondere in den statistischen Ämtern, aber auch in inter-nationalen und nationalen Forschungseinrichtungen. Da viele der Vorschläge Fragen betref-fen, wie man die Messung der Wirtschaftsleistung und des Wohlstands verbessern kann, ver-wundert es nicht, dass sich insbesondere Statistiker damit befasst haben, die Ergebnisse des SSFC-Reports zu verfeinern und umzusetzen. Obwohl die Nachfolgearbeiten zum SSFC-Report ein weltweites Projekt darstellen, zu dem die unterschiedlichsten Gruppen beitragen, haben europäische Institutionen dabei eine sehr prominente Rolle eingenommen. So wurde im Rahmen der Initiative „GDP and beyond“ diesbezüglich ein konkreter Arbeitsplan aufge-stellt (Europäische Kommission, 2009), und die Ergebnisse dieser Arbeiten werden sicherlich in die Strategie 2020 der EU aufgenommen werden. Da so viele kompetente internationale und nationale statistische Institutionen in die Debatte einbezogen sind, liegt der Schwerpunkt unseres Beitrags auf dem, was wir als komparativen Vorteil des gemeinsamen Forscherteams der beiden Sachverständigenräte ansehen. Das na-türliche Feld der Wirtschaftswissenschaften ist der Marktprozess, der Waren und Dienstleis-tungen Preise zuteilt. Dies und die Annahme, dass Marktpreise in hohem Maße durch die Wünsche, die Konsumenten mit einem bestimmten Gut verbinden, gestaltet werden, erlauben es Ökonomen und Statistikern, Einheiten vollkommen unterschiedlicher Güter und aller Arten von Dienstleistungen zum BIP zu aggregieren und dieses Konstrukt dann als Indikator der Wirtschaftsleistung und möglicherweise – unter einigen qualifizierenden Annahmen – sogar der Wohlfahrt zu nutzen. Die überzeugende Forderung, die Welt hinter dem BIP zu sehen, führt aber in Gebiete außerhalb dieses Standards der ökonomischen Schlussfolgerungen. Dies gilt insbesondere für die Messung der nicht-materiellen Wohlfahrt. 16. Es gibt durchaus verschiedene Gründe, weshalb Ökonomen dennoch mit zur Verbesse-rung des statistischen Berichtswesens über Wirtschaftsleistung und Wohlfahrt beitragen kön-nen. Was, erstens, die bessere Messung der Wirtschaftsleistung betrifft, liegt die Notwendig-keit ökonomischen Sachverstands auf der Hand. Obwohl sich, zweitens, die Wirtschaftswis-senschaft insbesondere auf materielle Fragen konzentriert, beruht ihr intellektueller Diskurs auf einem Bündel von Werkzeugen, welches das Überschreiten dieses engen Rahmens er-leichtert. Insbesondere lässt sich das Konzept des Nutzens so breit anwenden, dass es weit über denjenigen Nutzen hinausreicht, der aus dem Konsum von Gütern gezogen werden kann. Dies berücksichtigend haben die moderne Wohlfahrtsökonomik und darauf aufbauende An-sätze unseren Horizont entscheidend erweitert. Die „Happiness“-Forschung ist ein relativ jun-ges Gebiet, auf dem sich Ökonomen stark engagiert haben. Drittens, und dies ist vielleicht das Entscheidende, kommt es darauf an, die eigenen Grenzen zu erkennen. Da Ökonomen tradi-tionell sehr vorsichtig bei interpersonellen Wohlfahrtsvergleichen sind, bringen sie eine Skep-sis in die Debatte ein, die bei der Interpretation statistischer Indikatoren unbedingt erforder-lich ist. Die genauen Bedingungen zu nennen, die erfüllt sein müssen, um individuelle Indika-toren zu einem Gesamtindikator zu aggregieren oder einen internationalen Vergleich numeri-scher Werte durchführen zu dürfen, ist eine wichtige Voraussetzung einer sinnvollen Diskus-sion dieser Probleme.

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Viertens werden in den Wirtschaftswissenschaften Fragen der Nachhaltigkeit in einer umfas-senden Art und Weise aufgegriffen, die die ökologische Nachhaltigkeit zwar einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Tatsächlich haben Ökonomen der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen schon seit längerem große Aufmerksamkeit geschenkt, und nach der jüngsten Fi-nanzkrise ist auch die Nachhaltigkeit der finanziellen Lage des privaten Sektors in den Vor-dergrund ökonomischer Forschung gerückt. Da sich ökonomisches Denken immer um das Konzept der Knappheiten dreht, sind, fünftens, Ökonomen darin geschult, Zielkonflikte zu erkennen und zu untersuchen. Im Zusammenhang mit einem regelmäßigen statistischen Be-richtswesen zur Wohlfahrt steht dabei die Anforderung unmittelbar im Zentrum, eine ausge-wogene Balance zwischen Umfang und Wirtschaftlichkeit zu finden.

3. Prinzipien und praktische Hürden

17. Diese Expertise baut auf einem breiten Spektrum bereits existierender und ausgereifter Elemente des statistischen Berichtswesens und auf jüngeren Initiativen auf, die zusammen ein umfangreiches Reservoir von Argumenten, Prozeduren und Indikatoren zur Wirtschaftsleis-tung und zur Wohlfahrt hervorgebracht haben. Unser Ziel ist es zu untersuchen, wie Umfang und Genauigkeit optimal gegenüber Wirtschaftlichkeit und Kosten abgewogen werden kön-nen, um eine zuverlässige Basis für ein regelmäßiges, rechtzeitiges und verständliches Be-richtswesen der drei Kernfragen der menschlichen Wohlfahrtsmessung zu formen. Angeregt durch den SSFC-Report und die sich daran anschließende intensive Debatte folgen unsere Ausführungen drei Anwendungsbereichen: materiellem Wohlstand, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Obwohl wir eine pragmatische Anleitung für ein Berichtswesen zum mensch-lichen Wohlstand geben wollen und deshalb auch immer die Kosten und die mit der Nutzung bereits vorliegender statistischer Arbeiten entstehenden Vorteile mit im Blick haben, stellen wir dort, wo es erforderlich erscheint, die Erhebung neuer Informationen zur Diskussion, um eine zufriedenstellende Erfassung des Themengebiets zu gewährleisten. 18. Unser Hauptbeitrag zur Debatte besteht aus drei Punkten: Erstens schlagen wir ein konkretes Bündel an Indikatoren vor, die für kurz- und mittelfristige Entscheidungen der Poli-tik von Bedeutung sind; dabei behalten wir die Abwägung zwischen einer breiten Behandlung des Themenkreises und der Relevanz für die Entscheidungsträger im Auge. Letztendlich muss konkrete Politik auf einer detaillierten Untersuchung aller relevanten Informationen und auf einer breiten Schar von Indikatoren beruhen, die alle möglichen Facetten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens widerspiegeln. Für den politischen Prozess ist es jedoch eben-falls unverzichtbar, sich auf eine begrenzte Zahl von Indikatoren zu konzentrieren, selbst wenn dadurch einzelne Aspekte verlorengehen. Zweitens schlagen wir einen konkreten Weg zur Kommunikation dieser Indikatoren vor: Ein Indikatorensystem („dashboard“), das auf drei Säulen beruht, die der Logik der Hauptthe-men des SSCF-Reports folgen: − Die erste Säule umfasst Indikatoren zur Beurteilung der Wirtschaftsleistung und des lau-

fenden materiellen Wohlstands. Es basiert im Wesentlichen auf Stromgrößen, wie sie in den VGR und den Daten zur Einkommensverteilung ausgewiesen werden.

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Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken 13

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− Die zweite Säule konzentriert sich auf nicht-materielle Aspekte der Wohlfahrt und schlägt Indikatoren für eine Reihe wohldurchdachter Dimensionen der Lebensqualität vor.

− Die dritte Säule widmet sich Fragen der Nachhaltigkeit, also der Frage, ob wir darauf ver-trauen können, dass das derzeitige Niveau der Wohlfahrt in zukünftigen Perioden oder von zukünftigen Generationen zumindest gehalten werden kann (Stiglitz et al., 2009).

Dieser Drei-Säulen-Ansatz erlaubt eine umfassende Beurteilung der Wirtschafsleistung und der Wohlfahrt eines Landes im Zeitablauf ebenso wie im Vergleich zu anderen Ländern. Es ist von Bedeutung, dass die Information einer jeden Säule nicht isoliert betrachtet wird, son-dern dass alle drei Säulen gleichzeitig mit Bezug auf alle drei Dimensionen genutzt werden. Dies würde den Diskurs über eine Politik erleichtern, die Zielkonflikte zwischen den ver-schiedenen Bereichen der Wohlfahrt ebenso berücksichtigt wie die kurz-, mittel- und langfris-tigen Anforderungen. Drittens behandeln wir unter Nachhaltigkeit nicht nur Umweltfragen, sondern beziehen auch die wirtschaftliche Nachhaltigkeit ein. Dieser umfassende Blick auf die Nachhaltigkeit be-deutet natürlich nicht, dass ihren übrigen Dimensionen – der Bewahrung des ökologischen Kapitals und der Existenz eines ausreichenden gesellschaftlichen und politischen Kapitals – nicht auch höchste Bedeutung beigemessen wird. Im Gegenteil: Öffentliche Investitionen in eine ökologische Modernisierung unserer Volkswirtschaften und in den gesellschaftlichen Zusammenhalt können nur bei soliden Staatsfinanzen und einem privaten Finanzsektor auf-rechterhalten werden, der von Erschütterungen verschont bleibt. 19. Der intellektuelle Hintergrund des vorgeschlagenen Indikatorensystems und die syste-matische Aufbereitung der Ideen und Argumente zu jeder der drei Dimensionen sind aber nur der erste Schritt der Arbeit. Die meiste Mühe muss für die gründliche Auswahl der Indikato-ren aus einer in manchen Fällen überbordenden, in anderen Fällen frustrierend niedrigen Zahl von möglichen Kandidaten aufgewendet werden. Diese Auswahl erfordert eine detaillierte Beurteilung der Qualität der statistischen Indikatoren. Die Indikatorenqualität wird oftmals als abhängig von drei entscheidenden Kriterien angesehen: Relevanz, Konsistenz mit der Theorie und Messbarkeit. − Die Anforderung von „Relevanz“ ist ganz offensichtlich. Sie bedeutet, dass Indikatoren so

ausgewählt werden sollten, dass sie Änderungen im derzeitigen oder zukünftigen Niveau des entsprechenden Aspekts der Wohlfahrt adäquat erfassen.

− „Konsistenz“ bedeutet, dass Indikatoren in Übereinstimmung mit theoretischen Überle-gungen entwickelt werden. Dies erfordert insbesondere die Deckungsgleichheit einer Mes-sung mit der entsprechenden Dimension der Wohlfahrt. Außerdem legt sie fest, wie weit man bei der Aggregation heterogener Informationen gehen kann. Schließlich zwingt sie den Wissenschaftler, in Betracht zu ziehen, dass einige Aspekte der Wohlfahrt unbeob-achtbar bleiben und dass man bestenfalls hoffen kann, latente oder Proxy-Variablen zu fin-den.

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14 Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

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− „Messbarkeit“ bedeutet, dass Indikatoren derzeit beobachtbar sind und Rohdaten zu be-grenzten öffentlichen und privaten Kosten ohne Verletzung von Datenschutzrechten oder der Rechte zur Privatsphäre erhoben werden können. Jede Datenerhebung verursacht di-rekte und indirekte Kosten. Direkte Kosten einer Erhebung ergeben sich zum Beispiel aus den Löhnen der Interviewer und den Computer-Kosten, indirekte Kosten aus den Opportu-nitätskosten der befragten Unternehmen und Bürger, die keinen Ausgleich für die Zeit er-halten, die sie zum Ausfüllen des Fragebogens aufwenden.

20. Obwohl das Hauptziel unserer Expertise darin besteht, ein begrenztes Bündel von Indi-katoren zu benennen, die sowohl von politischer Bedeutung sind als auch die wesentlichen Dimensionen der aktuellen und zukünftigen Wohlfahrt abdecken, sind methodische Konsis-tenz und Messbarkeit ernst zu nehmende Nebenbedingungen. In diesem Zusammenhang sind Kostenüberlegungen von besonderer Bedeutung. Bei unbegrenzten Ressourcen ließen sich die meisten methodischen Probleme oder Datenbeschränkungen lösen, zumindest prinzipiell. Ökonomen müssen jedoch die Knappheit von Ressourcen berücksichtigen; statistische Ämter sehen sich mit immer engeren Budgets konfrontiert, und unsere Gesellschaften müssen die dringend erforderliche Konsolidierung der Staatsfinanzen angehen. Eine genaue Kostenschätzung für jede der drei Säulen des Indikatorenbündels ist schwierig. Am unteren Ende der Skala gibt es keine zusätzlichen Kosten, wenn man auf bereits vorlie-gende Daten zurückgreift. In unseren Ausführungen wollen wir pragmatisch vorgehen und soweit möglich der Nutzung vorliegender Indikatoren Vorrang gegenüber neuen Datenerhe-bungen und der Entwicklung neuer Indikatoren geben. Am oberen Ende der Skala machen es die strengen Anforderungen, die die vorgeschlagenen Indikatoren erfüllen müssen, unver-meidbar, zusätzliche Informationen neu oder vorhandene Informationen häufiger zu erheben. Dazwischen liegt ein weites Spektrum für zusätzliche Arbeiten und damit zusätzliche Kosten. In den Fällen, in denen die Qualität bereits vorliegender Indikatoren weiter verbessert oder Konzepte international harmonisiert werden sollen, werden die Kosten oftmals unterschätzt. Derzeit arbeiten alle nationalen statistischen Ämter in der EU und Eurostat an einer weiteren Verbesserung der amtlichen Statistiken. Aus deren Kostenaufstellungen lassen sich mögli-cherweise verlässliche Kostenschätzungen ableiten. 21. Gleichwohl lassen sich am Beispiel der zweiten Säule unseres Indikatorensystems, der Lebensqualität, die möglichen Kosten sehr grob aufzeigen. Die Erhebung zusätzlicher Infor-mationen mit Hilfe neuer Umfragen, durch das Hinzufügen weiterer Fragen in bestehende Umfragen oder durch eine Verbesserung ihrer Qualität durch eine Ausweitung des Kreises der Befragten sind Wünsche, die bei der Diskussion verschiedener nicht-materieller Aspekte der Wohlfahrt quasi von allein entstehen. Diese Anforderungen kann man möglicherweise nur schwer zurückweisen, obwohl wir so pragmatisch wie nur möglich sind und zunächst sorgfäl-tig prüfen, wie man die bestehenden Arbeiten für einen sinnvollen Indikator nutzen kann. Bei einer tiefgehenden Diskussion von Fragen der Lebensqualität, bei der die bestehenden Indika-toren den strengen Anforderungen für eine Aufnahme in das Indikatorensystem gegenüberge-stellt werden, wird man aber nicht immer einen passenden Kandidaten finden können. Dann muss eine Entscheidung gefällt werden: Verzichtet man auf die an sich wünschenswerte Auf-

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nahme in das Indikatorensystem – denn dies wäre besser als die Auswahl eines irreführenden Indikators –, oder trägt man die zusätzlichen Kosten und finanziert eine neue Datenerhebung? Die Kosten variieren mit dem Umfang der Erhebung, der Zahl der zu Befragenden und der Häufigkeit der Interviews. Daraus ergibt sich ein dreidimensionales Optimierungsproblem, das von Fall zu Fall und nicht durch eine generelle Entscheidung gelöst werden muss. Zum Beispiel kostet die Vorbereitung und Umsetzung einer vollkommen neuen Umfrage wie des „Programme for International Assessment of Adult Competencies“ (PIACC) für die erste Welle in Deutschland etwa 10 Mio Euro. Würde PIACC jährlich wiederholt, würden sich die Kosten pro Welle erheblich reduzieren. Die Kosten zur Durchführung der „EU-Statistics on Income and Living Conditions“ (EU-SILC) belaufen sich für Deutschland bei etwa 75 Fragen nach den letzten verfügbaren Kalkulationen für das Jahr 2006 auf etwa 3 Mio Euro. Aus den Durchschnittskosten für eine Frage lassen sich grob die Kosten einer zusätzlichen Frage bei EU-SILC annähern, die sich auf etwa 40 000 Euro belaufen würden. Will man schließlich zur Verbesserung der Qualität die Zahl der Befragten in einer Umfrage erhöhen, so ist dies auch recht teuer. Zum Beispiel wären für 20 000 bis 30 000 zusätzlich zu Befragende etwa 3 Mio Euro erforderlich. Je nachdem, was wir erreichen wollen, kann es das aber durchaus wert sein.

4. Wesentliche Ergebnisse

22. Das Ziel dieser Expertise ist es, Informationen für eine breitere Diskussion von Fragen zur Messung der menschlichen Wohlfahrt zu liefern. Sie skizziert ihre Argumente anhand von drei Anwendungsbereichen: materiellem Wohlstand, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Jeder dieser Bereiche wird in jeweils einem eigenen Kapitel im Detail untersucht. Der folgen-de Abschnitt enthält eine kurze Zusammenfassung der Argumente und der daraus resultieren-den konkreten Vorschläge. Um diese zu verdeutlichen, stellen wir zusätzlich eine Anwen-dung des vorgeschlagenen Indikatorensystems auf Frankreich und Deutschland vor, getrennt nach den drei Anwendungsbereichen. Da viele der ausgewählten Indikatoren aufgrund ihrer Konstruktion nicht ohne Weiteres für internationale Vergleiche geeignet erscheinen, darf diese Illustration nicht als ernsthafte Ab-schätzung der relativen Wirtschaftsleistung der beiden Länder missverstanden werden und erst recht nicht als eine Möglichkeit, die Lebensqualität ihrer Bürger direkt miteinander zu kontrastieren. Wie im Einzelnen noch gezeigt wird, liefern die meisten in das System aufge-nommenen Indikatoren Informationen über die Entwicklung innerhalb einer Volkswirtschaft im Zeitablauf. Sie sagen damit aber nichts über Ländervergleiche zu einem gegebenen Zeit-punkt aus. Das vorgestellte Indikatorensystem sollte deshalb als Beleg dafür genommen wer-den, dass unsere Arbeit einen weiteren Schritt zur Diskussion über ein statistisches Berichts-wesen zur menschlichen Wohlfahrt und zum gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt. Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

23. Im ersten Anwendungsbereich unterscheiden wir den Nachweis der Wirtschaftsleistung von einer Beurteilung des materiellen Wohlstands. Unser Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass das BIP die Wertschöpfung aller Marktaktivitäten und input-basierter Maße der öffent-lichen Dienstleistungen aggregiert – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Obwohl dieser An-

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satz für diesen Zweck gut geeignet ist, hat er doch einige Mängel. Insbesondere untersuchen wir Messprobleme, wie sie bei der Erfassung der wirtschaftlichen Aktivität im Bereich der Dienstleistungen – allen voran bei den öffentlichen Dienstleistungen – entstehen. Ein weite-res Problem, das ausführlich angesprochen wird, ist die derzeitige Konzentration auf die Marktproduktion, was dazu führt, dass wirtschaftliche Aktivitäten außerhalb des Marktes, wie die Haushaltsproduktion, vernachlässigt werden. Wie sehr wir uns dabei auf vorliegende Arbeiten verlassen können, zeigt die Tatsache, dass das Statistische Bundesamt bereits in den Umfragen zur Zeitverwendung in den Jahren 1991/92 und 2001/02 Informationen zur Haus-haltsproduktion veröffentlich hat (Statistisches Bundesamt, 2003; Schäfer, 2004). Darüber hinaus machen wir uns Gedanken dazu, ob und wie wirtschaftliche Aktivitäten der Schatten-wirtschaft in das regelmäßige Berichtswesen einbezogen werden können. Unsere Analyse erkennt zudem an, dass das BIP zwar mit vielen Variablen korreliert ist, die für die Wohlfahrt von Bedeutung sind, aber kein perfektes Maß für sie ist (Costanza et al., 2009). Grundsätzlich gilt, dass Fortschrittsmaße, die auf Marktpreisen beruhen, nur bei Abwesenheit von Externalitäten als verlässliche Schätzungen der Wohlfahrt dienen können. Da das BIP je nach den Präferenzen einer Gesellschaft für Arbeit und Freizeit variieren kann, ist auch zu fragen, wie man diese in einem statistischen Berichtswesen angemessen berück-sichtigen kann. Schließlich sagt das BIP als aggregiertes Maß wenig über Verteilungsaspek-te. Wie die EU-Kommission betont, sind der gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusam-menhalt das umfassende Ziel der EU. Ziel sei es deshalb, Ungleichheiten zwischen Regionen und sozialen Gruppen abzubauen (Europäische Kommission, 2009). Maße im Zusammenhang mit dem BIP lassen Einkommensungleichheiten jedoch unberücksichtigt. Das Vermögen und seine Verteilung werden überhaupt nicht erfasst. 24. Dementsprechend untersucht das zweite Kapitel die ersten fünf Empfehlungen des SSFC-Reports. Die erste Empfehlung beinhaltet das Anliegen, den materiellen Wohlstand anhand des Pro-Kopf-Einkommens oder Pro-Kopf-Konsums zu beurteilen und nicht anhand des BIP, das aber wie gezeigt gleichwohl ein aussagekräftiger Indikator für die Wirtschafts-leistung bleibt. Zweitens betont der SSFC-Report bei Fragen des materiellen Wohlstands die Haushaltsperspektive. Die dritte Empfehlung weist auf das Vermögen als bedeutende Facette des Wohlstands hin. Die vierte Empfehlung zielt auf die Betonung der Verteilung von Ein-kommen, Konsum und Vermögen, die fünfte schließlich auf eine Ausweitung des Blickwin-kels hin zu nicht-marktmäßigen Aktivitäten. Unsere Ausführungen orientieren sich an der Einsicht, dass es zwar immer einen Rahmen zu einer weiteren Erhöhung des materiellen Lebensstandards gibt, dass es aber für die wohlha-benderen Länder wie Frankreich und Deutschland schon eine Leistung ist, den erreichten hohen Standard wirtschaftlicher Aktivität zu halten. Deshalb bleibt die Beobachtung der Wirt-schaftsleistung eine bedeutende Aufgabe, und Verbesserungen bei der Messung des BIP sind deshalb ein wichtiges Ziel der ökonomischen und statistischen Forschung. Gleichwohl erin-nert uns der SSFC-Report daran, die Begrenztheit des BIP als Maß für den Wohlstand im Au-ge zu behalten – ein Thema, das von den Ökonomen seit Jahrzehnten diskutiert wird. Daher untersucht die vorliegende Expertise erfolgversprechende Wege, um auf dem Weg von der

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Messung der Wirtschaftsleistung zur Beurteilung des materiellen Wohlstands voranzukom-men. 25. Die meisten Entscheidungsträger sähen es gerne, wenn die Ökonomen ihnen „den“ ul-timativen Indikator des materiellen Wohlstands zur Verfügung stellen würden. Wir stimmen voll und ganz mit der grundlegenden Schlussfolgerung aus dem SSFC-Report überein, dass dies vollkommen unrealistisch ist. Um auf dem Weg von dieser grundsätzlichen Einsicht zur praktischen Umsetzung realistischer Alternativen zu den bisherigen statistischen Maßen vo-ranzukommen, schlagen wir sechs Indikatoren vor, die eine ausgewogene Balance zwischen der umfassenden Darstellung der Wirtschaftsleistung und des erreichten materiellen Wohl-stands auf der einen Seite und der Erfordernis zur Wirtschaftlichkeit auf der anderen Seite anstreben. Dies sind die Indikatoren: − BIP pro Kopf, − BIP je Arbeitsstunde als Maß für die Produktivität der Wirtschaft, − Beschäftigungsquote der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren, − Nettonationaleinkommen pro Kopf, − private und staatliche Konsumausgaben pro Kopf, − ein international harmonisiertes Verteilungsmaß des Nettoeinkommens je Konsumeinheit

(Quotient aus dem obersten und untersten Quintil der Einkommensanteile, S80/S20).

26. Zusätzlich sollten konkrete Schritte vorgesehen werden, die schnell umzusetzen sind – insbesondere die Harmonisierung von Paneldaten zum Haushaltseinkommen –, um eine konsistente Messung von Änderungen in der Einkommensverteilung zu erleichtern. Dies be-trifft zum Beispiel das EU-SILC-Panel. Konkret sollte der Stichprobenumfang erhöht und ausgeweitet werden, wenn man umfassendere Erkenntnisse nicht nur zu Unterschieden in der Einkommensverteilung, sondern auch zu anderen Bestimmungsgrößen des materiellen Wohl-stands erlangen will. Auch sollten regelmäßige Untersuchungen zu Unterschieden zwischen den Ländern in der Zeitverwendung unternommen werden. Schließlich wird auf die Notwen-digkeit hingewiesen, das weitere statistische Fortschritte bei der Abbildung der Sachleistun-gen und der Produktion immaterieller Leistungen erforderlich sind – und, ganz allgemein, bei der statistischen Erfassung verschiedener wirtschaftlicher Bereiche. Eine Reform des Indikatorensystems zur Wirtschaftsleistung und zum erreichten materiellen Wohlstand ist wichtig. Um aber einen neuen Kompass für die Politik zu entwickeln, besteht der entscheidende Schritt darin, die Kommunikation über Fortschritte in einem System von Indikatoren zu verankern, das zum einen nicht-materielle Aspekte des Wohlstands und zum anderen die Nachhaltigkeit der derzeitigen Verhaltensmuster und des Wohlstandsniveaus bes-ser berücksichtigt. Diese Fragen werden im dritten und vierten Kapitel dieser Expertise ange-sprochen. 27. Der Teil des Indikatorensystems, der das Indikatorenbündel zum materiellen Wohl-stand abbildet, liefert für Frankreich und Deutschland folgende Beobachtungen (Tabelle 1):

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Das BIP pro Kopf liegt in beiden Ländern deutlich über dem Durchschnitt in der EU-27 und ist im Zeitraum von 1999 bis 2009 gestiegen, allerdings langsamer als im Durchschnitt der EU-27. Vergleichbares gilt für die beiden Indikatoren BIP je Arbeitsstunde und Pro-Kopf-Konsumausgaben. In Frankreich war der Anstieg allerdings höher als im Durchschnitt der EU-27. Die Beschäftigungsquote hat sich in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt beson-ders stark erhöht. Das Nettonationaleinkommen pro Kopf ist mit dem BIP pro Kopf korreliert; es ist für Vergleiche Frankreichs und Deutschlands mit den Ländern sinnvoll, die hohe Ein-kommens- und Investitionsströme über die Grenzen hinweg aufweisen. Der Quotient aus dem obersten und untersten Quintil der Einkommensanteile, S80/S20, erreicht für Deutschland im Jahr 2008 einen Wert von 4,8 und hat sich gegenüber dem Jahr 2000 erhöht; für Frankreich ist er mit 4,2 ebenso hoch wie im Jahr 2000.

Indikatorenset zum materiellen Wohlstand

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf .................... € 29 278 29 571 23 588 + 1,8 + 2,7 + 2,8 Bruttoinlandsprodukt je Arbeitsstunde2) ...... € 43,2 48,3 32,8 + 2,4 + 3,3 + 3,2 Beschäftigungsquote3) ................................ vH 70,9 64,2 64,6 + 5,7 + 3,3 + 2,1

Nettonationaleinkommen pro Kopf ............. € 25 220 25 586 . + 2,0 + 2,4 . Konsumausgaben pro Kopf4) ...................... € 23 001 24 538 19 017 + 1,9 + 3,3 + 3,1 Einkommensquintilverhältnis (S80/S20)1)5) . . 4,8 4,2 5,0 + 1,3 + 0,0 + 0,1

1) Durchschnittliche jährliche Veränderung nicht bei Erwerbstätigenquote und Einkommensquintilverhältnis.– 2) Zwischen2000 und 2008.– 3) Erwerbstätige in Relation zur Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren.– 4) Private und staatlicheKonsumausgaben.– 5) Verhältnis zwischen dem höchsten Einkommen (oberstes Quintil) und dem niedrigsten Einkommen(unterstes Quintil). EU-27 zwischen den Jahren 2005 und 2008.

Quellen: EU, OECD

Frank-reich EU-27

Ein-heitIndikator

Deutsch-land EU-27 Deutsch-

landFrank-reich

Stand: 2009Entwicklung im Zeitraum

1999 bis 20091)

Tabelle 1

Lebensqualität

28. Es gibt eine Vielzahl sozialer Indikatoren, und für sich allein betrachtet haben die meisten davon ihre Berechtigung. In Frankreich und Deutschland veröffentlichen die statisti-schen Ämter regelmäßig eine beachtliche Zahl von Daten zu Gesundheit, Bildung, Sicherheit und zu anderen nicht-materiellen Aspekten der Wohlfahrt. Zudem bieten verschiedene For-schungsprogramme aus den Sozialwissenschaften eine große Anzahl von Indikatoren über das subjektive Wohlbefinden an. In Deutschland haben Untersuchungen zur Messung der gesell-schaftlichen Wohlfahrt durch – objektive wie subjektive – Sozialindikatoren eine lange Tradi-tion, wie sich in den Veröffentlichungen des GESIS-ZUMA und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zeigt (Statistisches Bundesamt et al., 2008; gesis-zuma, 2007). In Frankreich wird seit den 1970er-Jahren regelmäßig der Bericht „Données sociales: La société française“ publiziert. Deshalb ist es etwas verwunderlich, dass der SSFC-Report diese Errungenschaften nicht erwähnt. Aus diesen Gründen können mögliche Vorbehalte gegen die Nützlichkeit von Sozialindikato-ren nicht aus mangelnder Information stammen. Die Schwierigkeit besteht vielmehr eher dar-

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zur Tabelle
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in, wie man dieses Übermaß an Information angemessen nutzen und wie man die internati-onale Vergleichbarkeit von Indikatoren zur Lebensqualität verbessern kann. Diese methodi-schen Fragen werden ausführlich in Fleurbaey (2009) diskutiert. Dabei zeigen sich zwei we-sentliche Probleme: Erstens unterscheiden sich die Präferenzen zwischen den Menschen sogar schon innerhalb eines Landes. Deshalb ist unklar, was Vergleiche zwischen der subjektiven Einschätzung der Wohlfahrt, geschweige denn der „happiness“, zwischen einzelnen Men-schen wirklich aussagen. Noch problembeladener werden solche Vergleiche, wenn sich die Menschen um das Wohlergehen anderer oder über ihre eigene Stellung in der Gesellschaft sorgen. Diese Mahnung betrifft insbesondere die „happiness“-Forschung – trotz der beachtlichen me-thodischen Fortschritte auf diesem Forschungsgebiet, die in den vergangenen Jahren zu beo-bachten waren (Frey, 2008; Layard, 2005). Diese Ansätze haben ihre Stärke insbesondere, wenn es darum geht, ob sich die gleichen Personen nun besser fühlen, wenn also das Vorzei-chen der Veränderung der Wohlfahrt im Vordergrund steht. Diese Mahnung bezieht sich auch auf synthetische Sozialindikatoren wie den Human Development Index (HDI) der Ver-einten Nationen. Zusätzlich stehen die Gewichte verschiedener zusammengefasster Indikato-ren zur Diskussion: Wie können einzelne Indikatoren gegeneinander abgewogen werden, wie zum Beispiel die Selbstmordrate gegenüber den Lesefähigkeiten (Fleurbaey, 2009). Aus die-sem Grund erscheint es vernünftig, die Komplexität des Lebens so darzustellen, wie sie nun einmal ist, anstatt der Wirtschaftlichkeit bei der Auswahl der Indikatoren unbedingte Priorität einzuräumen. 29. Vor dem Hintergrund dieser komplizierten Diskussion legt das dritte Kapitel dieser Ex-pertise den Grundstein für ein erweitertes Berichtswesen zum Stand der Wohlfahrt, das ein weites Spektrum von Facetten der menschlichen Existenz umfassend berücksichtigt. Bezüg-lich der Lebensqualität ist neben einer Zusammenfassung der aktuellen Entwicklungen insbe-sondere zu beachten, dass die Kompliziertheit der Materie eine sehr vorsichtige Beurteilung und Interpretation erfordert. Wegen der spezifischen Eigenheiten der unterschiedlichen Di-mensionen der Lebensqualität können sogar die besten Indikatoren immer nur als ungefähre Annäherungen angesehen werden. Deshalb sollten sie mit klarem Verständnis für ihre Aus-sagemöglichkeiten und ihre Grenzen diskutiert werden, bevor irgendwelche Empfehlungen für politische Maßnahmen formuliert werden. Außerdem empfehlen wir, die Ergebnisse in Form von Radar-Charts darzustellen, wodurch die Entwicklung aller sieben Dimensionen im Zeitablauf ebenso verdeutlicht wird wie die Vielgestaltigkeit des Untersuchungsgegenstandes (Schaubild 3). In keinem Fall sollte man aber der Versuchung nachgeben, einen umfassen-den Indikator für Lebensqualität oder etwas Vergleichbares zu entwickeln, so einfach das rechentechnisch auch sein mag. 30. Im SSFC-Report werden zum Thema Lebensqualität fünf Empfehlungen ausgespro-chen, wobei es zukünftigen Forschungen überlassen bleibt, Prioritäten zu setzen. Erstens sollte bei allen Dimensionen die Messung verbessert werden, insbesondere bei den Dimensio-nen soziale Verbindungen und Verflechtungen, politische Teilhabe und Kontrolle sowie Unsi-cherheit. Zweitens sollten Ungleichheiten abgeschätzt und, drittens, die Beziehungen zwi-

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schen den Dimensionen untersucht werden. Viertens sollten verschiedene Arten der Aggrega-tion durch die Bereitstellung entsprechender Informationen ermöglicht werden. Fünftens soll-ten die subjektiven Maße des Wohlbefindens durch die statistischen Ämter untersucht wer-den. Diese Empfehlungen sind sehr generell gehalten und unstrittig, und daher auch seitens des CAE und des SVR selbstverständlich. In unserer Expertise haben wir uns entschlossen, darüber hinauszugehen und zu zwei Gebieten weitergehende Vorschläge zu machen, um so eine solide Basis für ihre Umsetzung zu schaffen. Unser erster Vorschlag betrifft die Aggregation. Die Entwicklung zusammengesetzter Indika-toren ist mehr als eine technische Aufgabe, da sie immer eine große Anzahl strenger Identifi-kationsannahmen erfordert. Die detaillierte Diskussion hat schließlich zur Empfehlung eines pragmatischen, aber zumindest unserer Ansicht nach konzeptionell schlüssigen Vorgehens geführt: Während wir darauf bestehen, dass Aggregationen über verschiedene Dimensionen der Lebensqualität hinweg übermäßig strenge Identifikationsannahmen erfordern würden, könnten Aggregationen innerhalb einer Dimension weniger kontrovers sein. Für derartige Aggregationen stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, von denen wir zwei näher be-trachten, mit dem Ziel, Informationen zu verdichten. Schließlich legen wir großen Wert auf die Kommunikation der Ergebnisse. Der zweite Vorschlag bezieht sich direkt auf die Verbesserung der Indikatoren. Auf den ers-ten Blick gibt es Indikatoren zur Lebensqualität in Hülle und Fülle. Einige ihrer Elemente – zum Beispiel Sterbetafeln oder Kriminalitätsstatistiken – gehören sogar zu den ältesten re-gelmäßig erhobenen Statistiken überhaupt. Ein näherer Blick offenbart jedoch die Schwächen, wie die detaillierte Diskussion zeigt. Vor dem Hintergrund der Anstrengungen der Regierun-gen und der statistischen Ämter gibt es aber große Hoffnungen, dass sich die Lage rasch bes-sern wird. Zur Verbesserung der derzeitigen Situation muss man die bestehenden Indikatoren innerhalb jeder Dimension näher betrachten und die wesentlichen Unzulänglichkeiten her-ausarbeiten. Insbesondere sind in diesem Zusammenhang die internationale Verfügbarkeit und Vergleichbarkeit, sowohl zwischen Frankreich und Deutschland als auch innerhalb Euro-pas, zu nennen. Zudem ist die Häufigkeit unzureichend, mit der die Indikatoren derzeit be-rechnet werden. 31. Unsere Diskussion dieser Fragen deutet an, dass man den Themenbereich der Wirt-schaftswissenschaften nicht verlassen muss, um zu erkennen, dass im Leben nicht nur mate-rielle Aspekte zählen. Nicht-materielle Elemente der Wohlfahrt spielen für die individuelle Erfüllung und Zufriedenheit sowie für den gesellschaftlichen Fortschritt eine bedeutende Rol-le. Das dritte Kapitel setzt sich mit der schwierigen Aufgabe auseinander, nicht-materielle Wohlfahrt auf der individuellen Ebene und durch Aggregation dieser Informationen auch auf der gesellschaftlichen Ebene zu messen. Außerdem leistet es eine erste Umsetzung der daraus abgeleiteten empirischen Strategie am Beispiel Frankreichs und Deutschlands, geleitet von dem Verständnis, dass dies nur ein erster Schritt sein kann. Vor diesem Hintergrund treffen wir sowohl auf der konzeptionellen als auch auf der angewandten Ebene eine Reihe von Ent-scheidungen, um das Wünschenswerte mit dem Erreichbaren in Einklang zu bringen.

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Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken 21

CAE / SVR - Expertise 2010

Nichtmaterielle Indikatoren für Lebensqualität1)

Schaubild 3

Belastung der städtische Bevölkerung durchLuftverschmutzung mit Feinstaub7)

Deutschland

Frankreich

Letzter verfügbarer Wert3)2000Erster verfügbarer Wert2)

Nicht-Armutsrisikoquote5)

Mitspracherecht und VerantwortlichkeitHäufigkeit von mit anderen Personen verbrachte Zeitfür Sport, Kultur und gemeinschaftlichen Organisationen9)

-2

-1

0

1

2

1) = 0;Eigene Berechnungen; Daten sind nicht untereinander vergleichbar. Durchschnitt ein Wert über 0 bedeutet bessere Konditionenund umgekehrt Gesundheit: Persönliche Aktivitäten Politische Einflussnahme und Kontrolle Bildung: Deutsch-.– 2) 1991, : 1992, : 1996,land: kreich Umweltbedingungen Deutschland: kreich Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit1992, Fran : 1993, : 1999, Fran : 2001, :Deutschland: kreich 3) Gesundheit: 2006, Bildung und Persönliche Aktivitäten: 2009, Politische Einflussnahme und1992, Fran : 1995 .–Kontrolle sowie Umweltbedingungen: 2008; Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit: Deutschland: 2009, Frankreich: 2008.–4) PYLL ist eine Messmethode über vorzeitige Sterblichkeit, die eine eindeutige Bewertung von vermeidbaren Todesfällen in jüngerenJahren ermöglicht. In Relation zu 100 000 Einwohnern, berechnet von der OECD basierend auf der altersspezifischen Statistik überTodesfälle der World Health Organization.– 5) Eins minus dem Anteil der Personen mit einem verfügbaren Einkommensäquivalentunterhalb der Armutsrisikogrenze, die sich bei 60 vH des nationalen Medians des verfügbaren Einkommensäquivalents nach Abzug derSozialtransfers festgelegt ist.– 6) Anteil an der Bevölkerung im selben Alter.– 7) Der Indikator zeigt das Jahresmittel der bevölkerungs-gewichteten Feinstaubkonzentrationen an städtischen Hintergrundstationen in Ballungsräumen.– 8) In vH aller Erwerbstätigen.– 9) Ein-ziger verfügbarer Wert: 1999.– 10) Für 2000: Werte aus 2001.

Quellen für Grundzahlen: EU, OECD, SOEP, Weltbank, World Values Survey

-2

-1

0

1

2

Gesundheit

Bildung

Persönliche Aktivitäten

Politische Einflussnahme und KontrolleSoziale Kontakte und Beziehungen

Umweltbedingungen

Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit Schüler und Studenten (ISCED 1-6)im Alter zwischen 15 und 24 Jahren6)

Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL)4)

Anteil der Arbeitnehmerin Schichtarbeit8)

Belastung der städtische Bevölkerung durchLuftverschmutzung mit Feinstaub10)

Nicht-Armutsrisikoquote5)

Mitspracherecht und VerantwortlichkeitHäufigkeit von mit anderen Personen verbrachte Zeitfür Sport, Kultur und gemeinschaftlichen Organisationen9)

Gesundheit

Bildung

Persönliche Aktivitäten

Politische Einflussnahme und KontrolleSoziale Kontakte und Beziehungen

Umweltbedingungen

Persönliche und wirtschaftlich Unsicherheit Schüler und Studenten (ISCED 1-6)im Alter zwischen 15 und 24 Jahren6)

Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL)4)

Anteil der Arbeitnhemerin Schichtarbeit8)

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Daten zum Schaubild
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Auf der Basis unserer konzeptionellen Diskussion sprechen wir uns ganz klar für einen „bottom-up“-Ansatz aus. Zwar könnten wir unsere Suche nach einem besseren Abgreifen der nicht-materiellen Wohlfahrt mit Umfrageergebnissen über individuelles Glück („happi-ness“) beginnen, aber grundlegende Fragen der Messbarkeit halten uns davon ebenso ab wie das Risiko, dass derart von ihrer Natur her unklar definierte Indikatoren zur menschlichen Zufriedenheit sehr leicht im Sinne politisch erwünschter Ergebnisse manipuliert werden könn-ten. Stattdessen schlagen wir vor, die reichlich vorhandenen Informationen zu verschiedenen Elementen der nicht-materiellen Wohlfahrt so weit wie möglich zu verdichten, um die Infor-mationen für ihre Adressaten verdaulich zu machen, dabei aber so viel an Komplexität zu erhalten, wie es erforderlich ist, um die Vielgestaltigkeit dahinter zu berücksichtigen. Die von uns vorgeschlagene empirische Umsetzung basiert auf der Definition einer Reihe von Dimensionen, die nicht weiter aggregiert werden sollten, um die Komplexität des Lebens ausreichend abzubilden. In unserer Anwendung haben wir uns vom SSFC-Report leiten lassen und sieben Dimensionen ausgewählt, die sich teilweise auf die Individuen beziehen – wie Gesundheit und Ausbildung – teilweise auf deren gesellschaftlichen und physischen Hinter-grund – wie soziale Beziehungen oder Umweltbedingungen. Bei der empirischen Umsetzung wird dann eine Dimension nach der anderen abgearbeitet, wobei für jede eine Reihe von indi-viduellen Indikatoren identifiziert wird, die deren jeweilige Facetten so umfassend wie mög-lich abbilden. Schließlich wird daraus für jede der Dimensionen ein Leitindikator ausge-wählt, der die Dimension möglichst genau repräsentiert. Soweit machbar wird die Wahl des Hauptindikators mit Hilfe einer statistischen Methode der Komplexitätsreduktion überprüft. Insbesondere haben wir unsere Umsetzung aber unter der Nebenbedingung durchgeführt, dass die ausgewählten Indikatoren regelmäßig verfügbar sind. Nur so kann das hier vorge-schlagene Berichtswesen in den kommenden Jahren verwirklicht werden. 32. Die konkrete Umsetzung der Strategie auf die beiden Länder Frankreich und Deutsch-land hat eine Reihe von interessanten Ergebnissen erbracht, die insofern plausibel erscheinen, als sie ein gemischtes Bild des gesellschaftlichen Fortschritts in den vergangenen Jahrzehn-ten zeigen. Insbesondere erscheinen die Fortschritte in den Dimensionen Gesundheit, Bildung (mit einigen Einschränkungen) und Umweltbedingungen sehr kongruent mit dem beständigen Wachstum des materiellen Wohlstands. Gleichzeitig sprechen die Entwicklungen in einigen anderen Dimensionen der nicht-materiellen Wohlfahrt, wie persönliche Aktivitäten oder per-sönliche Sicherheit – auch wenn sie zugegebenermaßen nur schwer zu fassen sind – dafür, dass ein gesellschaftlicher Fortschritt nicht gleichmäßig über alle berücksichtigten Dimensio-nen hinweg erreicht wurde. Nachhaltigkeit

33. Das vierte Kapitel basiert auf der Einsicht, dass sich der derzeitige Pfad wirtschaftlicher Aktivität als nicht-nachhaltig herausstellen könnte, wenn er weiter verfolgt wird, selbst wenn die heutige Wirtschaftsleistung und der Wohlstand recht zufriedenstellend sind. In diesem Fall wären harte und schmerzhafte Anpassungen erforderlich, und es wären sogar kostspielige gesellschaftliche Krisen möglich, die sehr hohe soziale und ökonomische Kosten verursachen. In einem weiteren Abschnitt widmen wir uns zwei Facetten ökonomischer Nachhaltigkeit, der

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Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums einerseits und der externen und fiskalischen Nach-haltigkeit andererseits. Ein weiterer Abschnitt betrifft eine dritte Facette, die finanzielle Nachhaltigkeit des privaten Sektors. In diesen Abschnitten konzentriert sich die Diskussion auf die mittel- und langfristige Perspektive. Der erste Aspekt der ökonomischen Nachhaltigkeit, der angesprochen wird, bezieht sich auf die Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums. Insbesondere sehen wir das Wachstum dann als nachhaltig an, wenn ein ausreichender Teil des laufenden Einkommens der Ökonomie in Investitionen fließt, unabhängig davon, ob in materielle oder immaterielle Verwendung. Um die Bedeutung der Kapitalbildung für das Wirtschaftswachstum zu betonen, nehmen wir den Quotienten aus Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors und dem BIP in unser Indi-katorensystem auf (Schaubild 4). Während dieser Quotient im Fall Frankreichs etwa dem Ver-lauf für den Durchschnitt der EU-27 folgt, liegt er in Deutschland seit 2001 unter dem Wert Frankreichs und der EU-27. Da wir zudem einen zuverlässigen Indikator für die zukünftige Gesamtproduktivität und die zu erwartenden Trends in Wissenschaft, Technologie und Inno-vation benötigen, nehmen wir als zweiten Indikator der Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachs-tums die F&E-Ausgaben in Relation zum BIP in unser Indikatorensystem auf. Hierbei liegen die Werte sowohl für Deutschland als auch für Frankreich durchgängig über dem Durch-schnitt der EU-27. Der zweite Aspekt, die externe und fiskalische Nachhaltigkeit, ist auf das Engste mit der intertemporalen Budgetbeschränkung, die langfristig immer bindend ist, verknüpft. Wegen dieser langfristigen Perspektive sind die hier behandelten Themen eng mit der intergeneratio-nalen Gerechtigkeit verbunden. Wenn sich am Ende solche nicht-nachhaltigen fiskalischen oder externen Situationen entladen, kann dies tiefgreifende Folgen haben. Als Indikator für fiskalische Nachhaltigkeit haben wir erstens den konjunkturbereinigten Finanzierungssal-do des Staates gewählt, der gemäß der „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ die staatlichen Nettoinvestitionen nicht übersteigen sollte. Im Zeitraum von 2001 bis 2009 lag das konjunk-turbereinigte Budgetdefizit sowohl in Deutschland als auch in Frankreich über den öffentli-chen Nettoinvestitionen. Als zweiter Indikator dient die fiskalische Nachhaltigkeitslücke gemäß „S2“ im Nachhaltigkeitsbericht der EU-Kommission. Fiskalische Nachhaltigkeit liegt demnach vor, wenn dieser Indikator negativ oder null ist. Für Frankreich weist S2 einen An-passungsbedarf von 5,6 Prozentpunkten im Jahr 2009 aus, für Deutschland von 4,2 Prozent-punkten (Schaubild 4). Bei einer positiven Nachhaltigkeitslücke sollte der Indikator im Zeit-ablauf zumindest zurückgehen und schließlich gegen Null konvergieren, um sicherzustellen, dass die Finanzpolitik nachhaltig ist. 34. Das vierte Kapitel untersucht im dritten Abschnitt, wie das regelmäßige Berichtswesen der statistischen Ämter über die aktuelle Wirtschaftsleistung und den Wohlstand um einen Ausweis der finanziellen Nachhaltigkeit erweitert werden kann. Dazu werden Indikatoren vorgeschlagen, die vor nicht-nachhaltigen Entwicklungen im privaten und im Finanzsektor warnen. Ziel ist es ausschließlich, grundlegende exzessive Fehlentwicklungen zu untersuchen, die möglicherweise zu schweren Wirtschaftskrisen führen. Dieses Ziel ist sehr ehrgeizig; die

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2

3

4

5

6

7

8

0

vH

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Deutschland

Schaubild 4

Indikatoren zur Nachhaltigkeit

Frankreich

Europäische (EU-27)Union

Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors zum BIP

1,5

2,0

2,5

3,0

0

vH

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Frankreich

Europäische (EU-27)Union

Forschungs- und Entwicklungsausgaben (FuE)zum BIP1)

1) Der vorliegende Indikator ist GERD (Gross domestic expenditure on R&D) in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH.– 2) Quelle: EU. Bezogen aufdas Produktionspotenzial.– 3) Quelle: Europäische Kommission „Sustainability Report 2009" und „Long-term sustainability of public finances in theEuropean Union” (2006).– 4) Erforderliche Anpassung des strukturellen Primärsaldos um die Nachhaltigkeitslücke zu schließen.– 5) Einzelheiten zurMethodik siehe Borio and Drehmann (2009a).– 6) Der Schwellenwert beträgt 4 Prozentpunkte für die Kredit/BIP-Lücke, 15 vH für die reale Immobilien-preislücke und 40 vH für die reale Aktienkurslücke.– 7) Jährliche Treibhausgasemissionen vereinbart im Rahmenübereinkommen über Klimaverän-derung der Vereinten Nationen (UNFCCC), im Kyoto-Protokoll und der Entscheidung 280/2004/EC der Europäischen Kommission.– 8) Quellen: IEAund OECD. CO2-Emissionen durch die Verbrennung von Kraftstoffen.– 9) Quelle: EU. Index –weit verbreiteter Vogelarten. 10) Bruttoinlandsprodukt inRelation zum DMI; DMI: Direkter Materialinput (Rohstoffentnahme und Importe von abiotischen Material, dass direkt von der Wirtschaft verwendetwird).– 11) DMC: Inlandsmaterialverbrauch (im Inland verbrauchte abiotische Rohstoffe; DMC = DMI – Exporte).– 12) DMC in Rohstoffäquivalenten(RÄ).

-8

-6

-4

-2

2

0

vH

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Deutschland

Frankreich

Europäische Union(EU-27)

Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo2) Fiskalische Nachhaltigkeitslücke3)

2005 2009

Deutschland ........ 4,4 4,2Frankreich ........... 4,0 5,6EU-27 (EU-25) .... 3,4 6,5

In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH

S2 Indikator4)

-15-10

-5

51015

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05

Kredit/BIP-Lücke Reale Immobilienpreislücke Reale Aktienkurslücke

08-20

-10

10

20

30

0

vH

1990 95 2000 05 08-60-40-20

20406080

0

vH

1990 95 2000 05 08

Schwellenwert6)

Geschätzte kumulierte Lücken5)

Frankreich Deutschland

95

105

110

115

120

100

Log. Maßstab2000 = 100

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Frankreich

Deutschland

80

85

90

95

105

100

Log. Maßstab2000 = 100

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Frankreich

Deutschland

Deutschland(RÄ pro Kopf12))

Rohstoffverbrauch (DMC) pro Kopf11)Rohstoffproduktivität (DMI)10)

90

110120130

100

Log. Maßstab2000 = 100

51015

0

t

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Treibhausgasemissionen7)

Frankreich

DeutschlandTonne pro Kopf

60

70

80

90

100

Log. Maßstab1990 = 100

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Vogelindex9)

Frankreich

DeutschlandWelt8)

Deutschland

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zum Schaubild
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Diskussion hat gezeigt, dass es nie möglich sein wird, Finanzkrisen mit Sicherheit vorherzu-sagen. Was wir aber anbieten können, ist eine kleine Zahl von Frühwarnindikatoren, die Politik und Öffentlichkeit im Fall von grundlegenden Fehlentwicklungen im Finanzsektor warnen könnten. Diese Indikatoren sollen für Politik und Öffentlichkeit einfach und leicht handhabbar sein, da diese vielfach nicht über die Zeit oder die speziellen Kenntnisse verfü-gen, eine Vielzahl von detaillierten Indikatoren zu beobachten oder Stresstests oder umfas-sende Frühwarnmodelle selbst umzusetzen. Trotz dieser Vorbehalte sind die drei von uns vorgeschlagenen Indikatoren unserer Einschät-zung nach die sinnvollste Auswahl aus der empirischen Literatur, die sich mit vorlaufenden Indikatoren befasst. Wir schlagen vor, die gesamte private Kreditaufnahme in Relation zum BIP sowie die jeweils mit dem Verbraucherpreisindex deflationierten Immobilienpreise und Aktienkurse zu beobachten. Konkret empfehlen wir, dabei die kumulierten Abweichungen vom Trend (kumulierte Lücken) zu beobachten. Dieser Vorschlag lässt sich leicht umsetzen, da die Daten zur privaten Kreditaufnahme und zu den Aktienkursen von den nationalen Zent-ralbanken bereitgestellt werden, während die Daten zu Immobilienpreisen von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zusammengestellt werden. Von diesen drei Indikato-ren signalisiert derzeit nur einer mögliche Fehlentwicklungen: die Kreditlücke in Frankreich (Schaubild 4). Die Daten enden allerdings im Jahr 2008, und die Kreditlücke geht langsam zurück. Diese begrenzte Menge von Indikatoren ist keinesfalls als Ersatz für eine detaillierte makroökonomische Überwachung oder bestehende Frühwarnsysteme von Experten und nati-onalen oder internationalen Aufsichtsgremien gedacht. Vielmehr soll es frühzeitig wirtschaft-liche Entwicklungen identifizieren, die zu Problemsituationen führen könnten, wenn sie nicht korrigiert werden. Wenn diese Indikatoren ein Warnsignal geben, sollte die Politik Experten und Behörden zu Rate ziehen und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen ergreifen. Für die zukünftigen Arbeiten auf diesem Gebiet, insbesondere auf der supra-nationalen Ebe-ne, kommt es darauf an, die Qualität der Daten sicherzustellen. Hier steht die Notwendigkeit zur internationalen Harmonisierung und Standardisierung der Erhebungen an erster Stelle, um verlässliche und vergleichbare Informationen zu erhalten. Dies ist umso bedeutender, als die Globalisierung im Allgemeinen und die finanzielle Integration im Besonderen dazu zwin-gen, auf EU-Ebene tätig zu werden – womit 27 Nationalstaaten betroffen sind. Da Harmoni-sierung hauptsächlich darin besteht, Standards für Definitionen, Datenerhebung und -qualität zu erarbeiten, dürfte dies ein zugleich kosteneffizienter wie inhaltlich wertvoller Beitrag sein. 35. Schließlich – und nicht weniger bedeutend – befasst sich das vierte Kapitel detailliert mit dem statistischen Berichtswesen zur ökologischen Nachhaltigkeit. Nach derzeitigem Erkenntnisstand haben steigende Konzentrationen von Kohlendioxid und anderen Treibhaus-gasen in der Atmosphäre bereits eine globale Erwärmung verursacht und werden noch einen weitergehenden Klimawandel bewirken. Der Klimawandel hat das Potenzial, größere gesell-schaftliche und wirtschaftliche Krisen auszulösen. Deshalb sollten die Treibhausgasemissio-nen in unser Indikatorensystem aufgenommen werden. Die Kennziffer mit der größten Bedeu-tung für den Klimawandel ist das Niveau der Treibhausgasemissionen. Allerdings ist der Klimawandel ein globales Phänomen, und deshalb könnte das nationale Niveau dieser Emis-

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sionen, das wir als Indikator für unser System vorschlagen, leicht in die Irre führen, wenn es allein betrachtet wird. Aus diesem Grund sollte es immer um einige zusammenfassende An-gaben zu den gesamten Treibhausgasemissionen beziehungsweise, wenn keine umfassenden Daten verfügbar sind, den CO2-Emissionen ergänzt werden. Das Indikatorenbündel weist für Frankreich und Deutschland zwischen den Jahren 2000 und 2008 einen Rückgang des Ni-veaus der Treibhausgasemissionen aus, während weltweit im gleichen Zeitraum ein beachtli-cher Anstieg zu verzeichnen ist (Schaubild 4). Offensichtlich benötigt eine angemessene Strategie zur Begrenzung der globalen anthropoge-nen Treibhausgasemissionen ein verbindliches internationales Klimaschutzabkommen. Kern-elemente eines solchen Abkommens sollten ein rechtlich verbindliches Emissionsziel, ein internationales Emissionshandelssystem und ein Allokationsmechanismus sein, der die Emis-sionsrechte unter den teilnehmenden Ländern aufteilt. Obwohl recht unterschiedliche Alloka-tionsmechanismen denkbar sind, scheint doch das Gleichheitspostulat ein guter Ausgangs-punkt für eine faire Verteilung der weltweiten Menge zu sein. Das Recht auf weltweit gleich hohe Emissionen pro Kopf wäre deshalb eine sinnvolle Basis für die Zuteilung der nationalen Rechte. Aber auch unabhängig von ihrer Rolle in einem Allokationsmechanismus für welt-weit gehandelte Emissionsrechte wäre es sinnvoll, die Politik und die breite Öffentlichkeit über die nationalen Treibhausgasemissionen pro Kopf zu unterrichten. Deshalb schlagen wir diesen Wert als zweiten Treibhausgasindikator für das Indikatorensystem vor. In Deutsch-land gingen die Treibhausgasemissionen pro Kopf zwischen den Jahren 2000 und 2008 von 12,5 auf 11,7 Tonnen zurück, in Frankreich um etwa 10 vH auf 8,2 Tonnen im Jahr 2008 (Schaubild 4). 36. Die Nachhaltigkeit (nicht-erneuerbarer) Ressourcen war über Jahrzehnte ein heiß disku-tiertes Thema sowohl unter Politikern, unter Wissenschaftlern als auch in der breiteren Öf-fentlichkeit. Aus Sicht der ökonomischen Theorie spiegelt sich eine zunehmende Knappheit von nicht-erneuerbaren Ressourcen in der Entwicklung ihrer Preise wider, und deshalb er-scheint ein zusätzlicher Ausweis physikalischer Maße zunächst nicht erforderlich. Die Theo-rie geht aber über diesen hypothetischen Idealzustand hinaus, indem sie die Möglichkeit einer Über-Nutzung nicht-erneuerbarer natürlicher Ressourcen betont, die als Folge von Externali-täten oder mangelnder intergenerationaler Gerechtigkeit entstehen kann. Deshalb sollte man neben den Preisen auch physische Ströme ausweisen. Dazu können Indikatoren zum Ein-satz nicht-erneuerbarer Ressourcen in der Produktion und zum Rohstoffkonsum veröffentlicht werden. Als ersten Indikator schlagen wir daher als Maß der Rohstoffproduktivität den Quotienten aus dem BIP und dem direkten Materialeinsatz (Direct Material Input – DMI) vor, der die in der inländischen Produktion insgesamt eingesetzte Menge an nicht-erneuerbaren Ressourcen umfasst. Als zweiten Indikator wählen wir den inländischen Materialverbrauch (Domestic Material Consumption – DMC), ausgedrückt pro Kopf der Bevölkerung, als Maß des Rohstoffkonsums. DMC misst den gesamten inländischen Verbrauch von nicht-erneuerbaren Ressourcen, indem vom DMI die Exporte abgezogen werden. Zukünftig sollte der DMC erweitert werden, um den Rohstoffgehalt der Importe und Exporte adäquat zu mes-sen.

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Für Frankreich und Deutschland ergeben sich bei diesen Maßen gemischte Ergebnisse (Schaubild 4). Die Rohstoffproduktivität erhöhte sich in beiden Ländern zwischen den Jah-ren 2000 und 2007 beständig. Der Materialverbrauch pro Kopf ging in Deutschland zurück, während er in Frankreich nahezu konstant blieb. Betrachtet man zusätzlich die Rohstoffe, die in Importen und Exporten enthalten sind, verringerte sich der Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland noch stärker. 37. Schließlich ist im weiten Sinne auch die Biodiversität eine Art von Kapital, das zur Pro-duktion von Ökosystemdienstleistungen benötigt wird, um die Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen. Ihre Bewahrung ist wohl für viele wünschenswerte Facetten der derzeitigen und zukünftigen menschlichen Existenz von Bedeutung, wie die Sicherstellung der Nahrung, den medizinischen Fortschritt oder für industrielle Rohstoffe. Die Erhaltung der Biodiversität ist allerdings nicht nur eine globale Aufgabe, sondern betrifft auch die Stabilität lokaler Ökosys-teme. Dementsprechend sollte ein Indikator der Biodiversität in unser Indikatorsystem auf-genommen werden. Unglücklicherweise wurden alle vorliegenden Indikatoren dazu außerhalb des Bereichs der Wirtschaftswissenschaften entwickelt. Deshalb ist es schwierig zu beurtei-len, ob sie mögliche Zielkonflikte in der Wohlfahrt sowohl innerhalb einer Generation als auch zwischen den Generationen vollständig und angemessen berücksichtigen. Da wir derzeit keinen Indikator benennen können, der explizit die ökonomische Dimension der Biodiversität umfassend abbildet, haben wir uns entschlossen, den Vogelindex als vorläufigen fünften Indi-kator zur ökologischen Nachhaltigkeit aufzunehmen. Dieser Indikator ging sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zwischen den Jahren 2000 und 2007 zurück, was auf eine Verringerung der Artenvielfalt hindeutet.

5. Wie geht es weiter?

38. Diese gemeinsame Expertise des CAE und des SVR befasst sich mit einem breiten Spektrum von ökonomischen und statistischen Fragen, die sowohl drängender als auch grund-sätzlicher Art sind. Erstens: Wie können wir unser Berichtswesen über die Wirtschaftsleis-tung verbessern? Zweitens: Wie können wir unseren Blickwinkel von der derzeitigen Kon-zentration auf die Wirtschaftsleistung zu einer generellen Beurteilung der Lebensqualität erweitern? Drittens: Wie können wir Warnsignale einrichten, die uns immer dann alarmieren, wenn unser derzeitiger Lebensstil die Nachhaltigkeit gefährdet? Diese Expertise ist nicht ausschließlich als eine wissenschaftlich fundierte Studie gedacht, die sich in die philosophi-schen Tiefen einer Beurteilung des Zustands der Menschheit wagt. Vielmehr möchte sie auch ganz bewusst auf einen pragmatischen Weg zu einem verbesserten Berichtswesen über die aktuelle Lage hinweisen. Ausgehend vom SSFC-Report untersucht diese Expertise, wie eine allumfassende und genaue Darstellung der im Kontext der Wohlfahrtsmessung interessierenden Tatbestände optimal gegenüber der gebotenen Wirtschaftlichkeit bei der Fülle der Indikatoren und den mit ihnen verbundenen Kosten abgewogen werden sollte, um so eine verlässliche Basis für ein regel-mäßiges, zeitnahes und handhabbares statistisches Berichtswesen zur Wohlfahrt zu liefern. Immer wieder wird dabei betont, dass zusätzliche Informationswünsche nicht nur höhere Kosten nach sich ziehen, sondern dass ein Abweichen von den traditionellen Maßen der ag-

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gregierten Wirtschaftsleistung Investitionen in das Verständnis der methodischen Feinheiten des statistischen Berichtswesens erfordert. Tiefergehende Einsichten kann man typischerweise nur unter Inkaufnahme einer höheren Komplexität erzielen, und elegantere oder theoretisch überzeugendere Konzepte können in aller Regel nicht so direkt eingesetzt werden wie einfa-chere Indikatoren. Wir können sicherlich erwägen, neue und aussagekräftigere Indikatoren für einzelne Länder zu entwickeln; diese lassen sich dann aber oft nicht für internationale Ver-gleiche verwenden, sondern allenfalls für Vergleiche des jeweiligen Landes im Zeitablauf. In diesem Sinne erfordert ein komplexeres statistisches Berichtswesen auch immer umfangrei-chere Kenntnisse der Empfänger von Informationen. 39. Die erste und wohl bedeutendste Schlussfolgerung unserer Expertise ist die Ablehnung jedes Ansatzes, der die Messung des menschlichen Fortschritts mit nur einem einzigen Indi-kator vornehmen will. Wir betonen immer wieder, dass das Leben zu komplex ist und dass die Anforderungen an statistische Berichterstattungen zu verschieden sind, um die Zusam-menfassung des erreichten Zustands in einem einzigen umfassenden Indikator sinnvoll zu erlauben. Obwohl ein solcher Indikator die Wirtschaftlichkeit betonen würde und leicht zu kommunizieren wäre, würde er kaum den Informationserfordernissen moderner demokrati-scher Gesellschaften gerecht. Stattdessen empfehlen wir, dass das umfassende Berichtswesen aus einem kompakten Indikatorensystem („dashboard“) bestehen sollte (zur Zusammenfas-sung siehe Schaubild 5 im Anhang, Seite 30). Grundidee ist dabei die Bereitstellung eines begrenzten Bündels von Indikatoren, die alle Dimensionen der Wohlfahrt umfassen, die für kurz-, mittel- und langfristige politische Entscheidungen von Bedeutung sind, und das über-sichtlich genug ist, um zur Information der breiten Öffentlichkeit und der Politik dienen zu können. Dementsprechend ist das Indikatorensystem, das wir vorschlagen, umfassend genug, um eine sinnvolle Diskussion der einzelnen Facetten der menschlichen Wohlfahrt zu ermöglichen, aber zugleich nicht überwältigend detailliert. Zudem repräsentiert es die drei Bereiche, auf die sich unsere Kernfragen beziehen – Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit – recht ausgewogen. Der Ansatz erkennt an, dass ein Monitoring des materiellen Wohlstands unabdingbare Voraussetzung für sinnvolle Wirtschaftspolitik ist, dass Lebensqualität aber mehr als materiellen Wohlstand bedeutet, aber auch, dass der menschliche Fortschritt im Hin-blick auf nicht-materielle Aspekte nur schwer zu fassen ist, und dass es ratsam ist, in einer langfristigen Sicht die Konsequenzen eines unveränderten menschlichen Lebensstils aufzu-zeigen. Die meisten der ausgewählten Indikatoren versuchen, sowohl aktuelle als auch zukünftige Entwicklungen zu erfassen, die die derzeitige und zukünftige Wohlfahrt beeinflussen. Insbe-sondere sind Nachhaltigkeitsindikatoren von Bedeutung, die grundsätzlich eine vorausschau-ende Perspektive einnehmen und in der Lage sein sollten, mögliche Notwendigkeiten für kor-rigierende Maßnahmen anzuzeigen. Im Bereich der Nachhaltigkeit der Umwelt ist ein inter-disziplinärer Diskurs unbedingt erforderlich, da die rein ökonomische Sicht hier nicht umfas-send genug ist. Ein Problem, dem wir besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben, ist die finanzielle Nachhaltigkeit. Der Ausbruch der derzeitigen Finanzkrise erinnert uns wieder

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einmal daran, dass man bestimmte Aspekte der finanziellen und der ökonomischen Entwick-lung stärker im Auge behalten muss. 40. Wir sehen unseren Beitrag als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen und einen in-terdisziplinären Diskurs. Dies ist umso wichtiger, als sich bestimmte Dimensionen nicht auf das Gebiet der Sozial- oder der Wirtschaftswissenschaften begrenzen lassen, sondern einen multidisziplinären Ansatz erfordern. Deshalb hoffen wir, dass unsere Expertise die breite und engagierte Diskussion über ein statistisches Berichtswesen zum Zustand der Gesellschaft gewinnbringend erweitert – eine Debatte, die weit über Fragen des materiellen Wohlstands hinausreicht. Wir schlagen dringend vor, in diesen Diskurs die Sichtweise der Sozialwissen-schaften und anderer betroffener Disziplinen, der Politik und der Zivilgesellschaft einzubrin-gen. Teil des vorgeschlagenen öffentlichen Diskurses sollte eine regelmäßige Überprüfung sein, ob das ausgewählte Indikatorenbündel tatsächlich angemessen ist. Dabei sollte vermieden werden, dass die Liste der Indikatoren Gegenstand häufiger und politisch motivierter Ände-rungen wird. Allerdings würden eine offene Debatte über neue Herausforderungen unserer Gesellschaft und verbesserte Möglichkeiten, den Fortschritt zu erfassen, wichtige Prüfgrößen dafür sein, ob die aktuell verfolgte Politik mit heraufziehenden Risiken und Chancen verein-bar ist. Schließlich schlagen wir vor, dass die Regierungen regelmäßige Berichte abgeben, in denen sie zu den von unserem Indikatorensystem ausgewiesenen Entwicklungen Stellung beziehen. Die Gegenüberstellung von Indikatoren zu Wirtschaftsleistung und materiellem Wohlstand auf der einen Seite und Indikatoren zur Lebensqualität und zur Nachhaltigkeit auf der anderen Seite würde die Zielkonflikte, denen sich Politik und Gesellschaft gegenüberse-hen, in den Vordergrund der Diskussion rücken. Insbesondere würde dies helfen, das Problem zu überwinden, dass politische Entscheidungen oft unter einer recht kurzfristigen Perspektive getroffen werden.

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30 Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken

CAE / SVR - Expertise 2010

Anhang

Indikatorensystem für Wirtschaftsleistung sowie Lebensqualität und Nachhaltigkeit

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf

Wirtschaftsleistung (A) Lebensqualität (B) Nachhaltigkeit (C)

Bruttoinlandsprodukt je Arbeits-stunde

Beschäftigungsquote der Bevöl-kerung im von Alter 15 bis 64 Jahren

Nettonationaleinkommen pro Kopf

Private und staatliche Konsumaus-gaben pro Kopf

Harmonisiertes Verteilungsmaß fürdas Nettoeinkommen je Konsum-einheit, Einkommensquintilver-hältnis S80/S20

Gesundheit: Potenziell verloreneLebensjahre

Bildung: Schüler und Studentenim Alter zwischen 15 und 24 Jahren

Persönliche Aktivitäten: Anteil derArbeitnehmer in Schichtarbeit

Politische Einflußnahme undKontrolle: Mitspracherecht undVeranwortlichkeit

Umweltbedingungen: Belastung derstädtischen Bevölkerung durchLuftverschmutzung mit Feinstaub

Persönliche und wirtschaftlicheUnsicherheit: Nicht-Armutsrisiko-quote

Nettoanlageinvestitionen desprivaten Sektors in Relation zumBruttoinlandsprodukt

Forschungs- und Entwicklungs-ausgaben in Relation zum Brutto-inlandsprodukt

Konjunkturbereinigter Finanzierungs-saldo in Relation zum Bruttoinlands-produkt

Kredit/BIP-Lücke

Reale Aktienkurslücke

Reale Immobilienpreislücke

Niveau der Treibhausgasemis-sionen

Treibhausgasemissionen pro Kopf

Rohstoffproduktivität (BIP im Ver-hältnis zum direkten abiotischenMaterialinput, DMI)

Schaubild 5

Fiskalische Nachhaltigkeitslücke S2

Rohstoffverbrauch (abiotische in-ländischer Ressourcenverbrauch -DMC) pro Kopf

Indikator zur Biodiversität:(Vogelindex, vorläufig)

Soziale Kontakte und Beziehungen:Häufigkeit von mit anderen Per-sonen verbrachte Zeit für Sport,Kultur und in gemeinschaftlichenOrganisationen

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Konzeptionelle Grundlagen und Leitgedanken 31

CAE / SVR - Expertise 2010

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ZWEITES KAPITEL

Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

Wirtschaftsleistung und laufender materieller Wohlstand1.

2. Wie BIP ein besseres Maß für die Wirtschaftsleistung wird

MessproblemeVon der Produktion zum materiellen Wohlstand

DienstleistungenQualitätsänderungen und AußenhandelsaspekteSchwerer behebbare SchwächenEin Zwischenfazit

Literatur

3. Arbeitsmarktaspekte

5. Schlussbemerkungen

Einkommen und KonsumEinkommensverteilungVermögen und ZeitverwendungEin Zwischenfazit

Anhang

4. Ein breiteres Indikatorenset des materiellen Wohlstands

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Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand 33

CAE / SVR - Expertise 2010

Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

41. Die Beurteilung der Wohlfahrt ist eine herausfordernde und vielschichtige Aufgabe. Neben der Statistik sind dazu mehrere Bereiche der Sozialwissenschaften einzubeziehen. So-wohl die Intensität der öffentlichen Debatte über derartige Fragen als auch die Erkenntnisse der Forschung der dabei angesprochenen Disziplinen haben in den vergangenen Jahrzehnten ständig zugenommen, was sich auch in den amtlichen Statistiken widerspiegelt. Das vorlie-gende Kapitel konzentriert sich auf Aspekte des materiellen Wohlstands, entsprechend den Empfehlungen 1 bis 5 des SSFC-Reports. Dabei werden zwei wichtige Themen streng unter-schieden, die Wirtschaftsleistung und der materielle Wohlstand. Beide Konzepte sind eng mit-einander verbunden: Wirtschaftliche Leistung trägt wesentlich zum materiellen Wohlstand bei, ist aber nicht der einzige Bestimmungsfaktor. Bei der Diskussion dieser Themen wird versucht, eine ausgewogene Balance zwischen Kom-plexität und Übersichtlichkeit zu wahren. Mit den durch den wissenschaftlichen Fortschritt immer besser werdenden Instrumenten für Statistiker und Politiker geht das Risiko einher, dass die Öffentlichkeit durch immer undurchschaubarere und zahlreichere Statistiken zuneh-mend überfordert wird. Um die Brücke zwischen Produzenten und Empfängern zu schlagen, wollen wir daher versuchen, ein kompaktes Indikatorenset jeweils zur Wirtschaftsleistung und zum materiellen Wohlstand zu entwickeln. Dieses könnte der Ausgangspunkt für weitere Diskussionen zwischen Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft sein. 42. Das Berichtswesen über Wirtschaftsleistung und Fortschritte beim materiellen Wohlstand im Zeitablauf und im Ländervergleich ermöglicht es den Empfängern dieser In-formationen grundsätzlich, eine Reihe wichtiger Fragen zu betrachten. Je ambitionierter die-se Fragen sind, umso strenger sind die Identifikationsannahmen, die zur jeweiligen Beantwor-tung erforderlich sind. Die Herausforderungen sind: − die Beurteilung der Wirtschaftsleistung eines Landes,

− die Beurteilung der Veränderung des materiellen Wohlstands eines Landes im Zeitablauf und

− die Beurteilung des materiellen Wohlstandsniveaus eines Landes oder im Ländervergleich. Eine regelmäßige Berichterstattung über die Wirtschaftsleistung zu erstellen, ist konzeptio-nell recht unkompliziert. Dabei treten in der Regel Probleme der Messung und der Bewertung auf; die ökonomische Interpretation der Ergebnisse ist aber weitgehend unstrittig. Wenn es aber um die Abschätzung des Fortschritts beim materiellen Wohlstand geht – definiert als der Wohlstand, der aufgrund der Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen entsteht –, wird die Sache komplizierter, da sich der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsleistung und materiellem Wohlstand alles andere als einfach darstellt. Dennoch haben Wirtschaftswissen-schaften und Statistik mittlerweile einen Stand erreicht, der auf der verfügbaren Datenbasis sinnvolle Aussagen zu Veränderungen des materiellen Wohlstands möglich macht. Gleich-wohl ist es sehr schwierig, die Niveaus des materiellen Wohlstands abzuschätzen und diese international zu vergleichen, denn die entsprechenden Messprobleme und die Bewertungs-probleme bei nicht am Markt gehandelten Gütern erscheinen unüberwindbar.

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43. Unsere Vorschläge zur Verbesserung dieses Zustands sind ausgewogen. Um einen kon-tinuierlichen Fortschritt sowohl bei den konzeptionellen Herausforderungen (Theorie) als auch bei der Ausgestaltung der Politik (Anwendung) zu sichern, sollten mehr Ressourcen für die Erhebung von Daten über den materiellen Wohlstand und deren Analyse bereitgestellt werden. Allerdings ist eine Verbesserung von Statistiken teuer, und die amtlichen Statistiken arbeiten grundsätzlich unter engen Budgetrestriktionen. Deshalb schlagen wir vor, dass solche Gebiete und Probleme mit Priorität angegangen werden, die in enger Beziehung zum mate-riellen Wohlstand stehen (hohe Grenzerträge) und die keine größeren Investitionen erfor-dern (geringe Grenzkosten). Auf den übrigen Gebieten sollten Forschungseinrichtungen und öffentlicher Institutionen zu vertiefter Forschung angehalten werden, wobei ein Erfolg aber wohl nur langfristig zu erwarten sein dürfte. 44. Das zweite Kapitel ist wie folgt aufgebaut: Abschnitt 1 gibt einen Überblick über die Herausforderungen bei der Entwicklung besserer Indikatoren der Wirtschaftsleistung und des Wohlstands. Abschnitt 2 belegt, dass die Wirtschaftsleistung durch Bruttoinlandsprodukt-Statistiken gut erfasst ist, und zeigt Verbesserungsmöglichkeiten. Abschnitt 3 diskutiert Ar-beitsmarktfragen, die sowohl die Wirtschaftsleistung als auch den materiellen Wohlstand be-treffen. Abschnitt 4 legt dar, dass ein Berichtswesen über die Verbesserung des materiellen Wohlstands die Konzentration auf eine begrenzte Anzahl von Variablen erfordert, die vor allem auch Verteilungsfragen mit einbeziehen. Abschnitt 5 fasst die Ergebnisse zusammen.

1. Wirtschaftsleistung und laufender materieller Wohlstand

45. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß der Gesamtproduktion eines Landes in ei-nem gegebenen Jahr ist es ein zuverlässiges, wenn auch nicht perfektes Maß für die Wirt-schaftsleistung dieses Landes. Dies ist auch der Grund für die große Aufmerksamkeit, die sowohl die Öffentlichkeit als auch die Politik in allen entwickelten Volkswirtschaften den regelmäßig veröffentlichten BIP-Zahlen entgegenbringen. Allerdings sind das BIP im Spe-ziellen und die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) im Allgemeinen mit einigen wohl bekannten Mängeln bei der Messung ökonomischer Aktivitäten behaftet. Wie im ersten Kapitel schon ausführlich dargestellt, bezieht die Messung des BIP nicht alle Aspekte ein, die für den materiellen Wohlstand einer Volkswirtschaft von Bedeutung sind. Obwohl die breite Öffentlichkeit und viele Politiker das BIP fälschlicherweise für ein mate-rielles Wohlstandsmaß halten, vernachlässigt diese Sichtweise, dass Produktion alleine eben nicht das höchste Ziel einer Gesellschaft ist. Deshalb müssen Produktionskennziffern durch eine Reihe weiterer Indikatoren ergänzt werden, wenn man das Wohlstandsniveau abschätzen will. Messprobleme

46. Einige Probleme bei der Messung des BIP sind wohl bekannt. Verschiedene nicht- marktbestimmte Aktivitäten wie Hausarbeit oder unentgeltlich erbrachte Leistungen werden systematisch ausgeklammert. Die Schattenwirtschaft ist nur schwer zu erfassen, insbesonde-re kriminelle Aktivitäten wie der Drogenhandel, obwohl schon einige Versuche auf EU-Ebene

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unternommen wurden, deren Abgrenzung zu harmonisieren, um so zu vergleichbaren BIP-Ergebnissen für EU-Budget- und Defizit-Fragen zu kommen. Auch beruhen einige BIP-Aggregate auf sehr unsicheren Schätzungen, insbesondere die Daten zu den staatlich er-brachten Dienstleistungen und zur Qualitätsverbesserung von Gütern. Schließlich werden bestimmte Ausgaben als positive Beiträge zur Wirtschaftsleistung gezählt, obwohl sie negati-ve externe Effekte aufweisen – zum Beispiel Umweltschäden –, die vernachlässigt werden. Diese Probleme müssen gelöst werden, wenn man die Ermittlung der aktuellen Wirtschafts-leistung verbessern will. 47. Das BIP enthält keine nicht-marktbestimmten Aktivitäten, zum Beispiel die privat er-brachte Haushaltsproduktion (Kinderbetreuung, Hausarbeit, Kochen, Pflege älterer Famili-enmitglieder) sowie freiwillige und unbezahlte Tätigkeiten. Deshalb unterschätzt das BIP den gesamtwirtschaftlichen Produktionswert. Zieht man Informationen zur verwendeten Zeit für derartige Tätigkeiten heran und bewertet diese mit Standardlöhnen für bezahlte Haushalts-arbeiten, müsste man zum Beispiel das französische und das deutsche BIP jeweils um etwa ein Drittel nach oben korrigieren. Diese unzureichende Erfassung ist umso problematischer, als sich die Grenzen der Marktaktivität in den vergangenen Jahren deutlich verschoben haben. Viele Dienstleistungen, die früher in der Familie erbracht wurden, werden heute am Markt angeboten. Im Ergebnis steigen die in der Statistik erfassten Werte für die Produktion und das Einkommen, was den Eindruck eines steigenden Lebensstandards vermittelt, obwohl sich an der grundsätzlichen Lage möglicherweise nichts geändert hat. Stattdessen hat lediglich eine Verschiebung von der Haushalts- zur Marktproduktion stattgefunden. 48. Auch die Schätzungen zum Wert von Dienstleistungen sind nicht zufriedenstellend. Das gilt insbesondere für staatlich erbrachte Dienstleistungen wie die des Gesundheits- und Bildungswesens. Angemessene Marktpreise für den Produktionswert etwa einer gesünde-ren oder besser ausgebildeten Bevölkerung sind kaum verfügbar. Vergleichbare Probleme gibt es für den Bereich der Finanzintermediation (FISIM). Deshalb greifen Statistiker im Normal-fall auf Inputpreise zurück, wie etwa auf die Einkommen von Medizinern, Krankenschwes-tern oder Lehrern. Unter anderem bleiben dadurch aber Qualitätsverbesserungen im staatli-chen Sektor unberücksichtigt. Diese Schwäche wiegt angesichts der hohen Bedeutung der öffentlichen Dienste – etwa 18 vH in Frankreich, 19,6 vH in Deutschland im Jahr 2009 – und des steigenden Trends dieses Anteils in modernen Volkswirtschaften besonders schwerwie-gend. Hinzu kommt, dass diese Probleme sinnvolle internationale Vergleiche erschweren. Hat sich ein Land zum Beispiel dafür entschieden, die meisten Leistungen des Gesundheits-wesens staatlich bereitzustellen, und werden diese aufgrund des beschriebenen Bewertungs-verfahrens unterbewertet, so erscheint dieses Land als weniger reich als eines, in dem die gleichen Leistungen vom Markt bereitgestellt und mit Marktpreisen bewertet werden. 49. Amtliche BIP-Ergebnisse vernachlässigen wichtige Teile der Schattenwirtschaft. So werden Transaktionen wie etwa der Drogenhandel überhaupt nicht erfasst, wodurch das BIP zu niedrig ausgewiesen wird. Alle Versuche, die Schattenwirtschaft durch wie auch immer geartete indirekte Schätzungen der dort entstandenen Werte einzubeziehen, haben zu größe-ren Revisionen der amtlichen BIP-Ergebnisse geführt. Ein extremes Beispiel dazu ist Ko-

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lumbien, wo das BIP für das Jahr 1994 um 16,5 vH nach oben revidiert wurde, insbesondere weil eine Schätzung für die Produktion illegaler Feldkulturen berücksichtigt wurde. Vernach-lässigt man derartige Faktoren, sind internationale Vergleiche der Wirtschaftsleistung nicht sehr aussagekräftig. Zugleich sollten wegen der damit verbundenen enormen Messprobleme alle BIP-Angaben, die um illegale Tätigkeiten wie den Drogenhandel bereinigt wurden, eben-falls immer mit äußerster Vorsicht verwendet werden. 50. Aber auch Qualitätsverbesserungen und neue Produkte lassen sich statistisch nur schwer erfassen, was zu einer Unterbewertung des Wirtschaftswachstums führen kann: Eine Unterbewertung von Qualitätsverbesserungen bedeutet eine Überschätzung der Preise, wo-durch das Realeinkommen zu niedrig ausgewiesen wird. Eine entsprechende Anpassung des BIP ist aber äußerst schwierig. Insbesondere muss man zwischen neuen Modellen und Varian-ten bereits existierender Güter auf der einen Seite und wirklich neuen, innovativen Produkten auf der anderen Seite unterscheiden. So werden zum Beispiel in der EU-Definition des Harmonisierten Verbraucherpreis-Index (HVPI) neue Varianten von Produkten als Ersatz für andere behandelt und Preisreihen ent-sprechend angepasst. Die Erfahrung lehrt, dass solche Qualitätsanpassungen einen spürbaren Einfluss auf die Bewertung der realen Aktivitäten haben. In einigen Ländern resultierte das Wachstum der „Produktion“ im IT-Bereich insbesondere in den 1990er-Jahren eher aus Qua-litätsverbesserungen der produzierten und konsumierten Güter als aus einer Mengenauswei-tung. Qualitätsverbesserungen von Gütern, die im Verbraucherpreisindex nachgewiesen wer-den, zeigen sich immer wieder und werden in den EU-Ländern unterschiedlich behandelt. Die Differenzen dürften sich nicht über die dort berücksichtigten Waren und Dienstleistungen ausgleichen: Auf EU-Ebene könnten sie sich zu Unterschieden von über 0,1 Prozentpunkten kumulieren. Neue innovative Produkte werden in den HVPI aufgenommen, sobald sie für die Verbrau-cher von Bedeutung sind. Ihr Preis wird zusätzlich zu dem der bereits enthaltenen Güter er-fasst, und die Gewichte der jeweiligen Ausgabeart werden entsprechend angepasst. 51. Stellt man sich schließlich auf den Standpunkt, dass das BIP nicht nur als Maß der Wirtschaftsleistung, sondern auch des materiellen Wohlstands dienen soll, dürfte es natürlich keine Ausgaben enthalten, die im Normalfall mit einem Rückgang statt mit einem Anstieg des materiellen Wohlstands in Verbindung gebracht werden. Ein Beispiel für solche „defensiven Kosten“, wie Nordhaus und Tobin (1973) sie nennen, sind Ausgaben für die Sicherheit. Das gleiche gilt für medizinische Leistungen und Reparaturausgaben als Folge von Verkehrsunfäl-len, Pendlerkosten oder Haushaltsausgaben für Geräte zur Vermeidung von Umweltbelastun-gen wie zum Beispiel durch Wasserfilter. Im SSFC-Report wurde vorgeschlagen, diese Aus-gabearten als Investitionen oder Vorleistungen zu behandeln und nicht als Konsumausgaben. Noch bedeutender ist, dass das BIP nicht-kompensierte externe Effekte, wie die Zerstörung der Umwelt infolge der Erschöpfung natürlicher Rohstoffvorkommen oder infolge von Pro-duktionsprozessen, nicht berücksichtigt. Indem negative Effekte einer höheren Produktion – etwa Umweltverschmutzung – nicht im BIP erfasst sind, vernachlässigt es nicht nur Fragen

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der Nachhaltigkeit, sondern überschätzt sogar eher den gegenwärtigen materiellen Wohl-stand. 52. Eine weitere Herausforderung zur adäquaten Messung des BIP resultiert aus der zu-nehmenden Europäschen Integration. Das BIP erfasst explizit die wirtschaftliche Tätigkeit innerhalb eines einzelnen Landes, das früher durch Zollgrenzen und durch eine eigene Wäh-rung abgegrenzt war. Im heutigen EU-Binnenhandel werden Importe und Exporte wegen der Abschaffung der Zollgrenzen und der Einführung des Euro nicht mehr physisch registriert. Sie werden nur noch statistisch ausgewiesen und mit den nationalen Umsatzstatistiken abge-glichen. Deshalb können im Intrastat-System beachtliche Differenzen auftreten, wenn zum Beispiel die erfassen Importe eines EU-Landes nicht mit den erfassten Exporten aller anderen Länder in dieses Land übereinstimmen. Dies kann zumindest kurzfristig die BIP-Ergebnisse beeinflussen, was die Anforderungen zur Überwachung und Koordination der Fiskalpolitik der Mitgliedsländer verschärft. Von der Produktion zum materiellen Wohlstand

53. Neben diesen bekannten Schwächen bei der Ermittlung der Wirtschaftsleistung können produktionsbezogene Indikatoren wie das BIP wesentliche Aspekte des materiellen Wohlstands nicht erfassen. Dazu wären statistische Größen mit Bezug zum Einkommen oder zum Konsum besser geeignet. Außerdem könnten Aggregate, die eine größere Nähe zu den privaten Haushalten aufweisen als das BIP, wertvolle zusätzliche Informationen zu den Wachstumsmustern und zur Entwicklung des materiellen Wohlstands liefern. Betrachtet man zum Beispiel Frankreich, Deutschland und die EU-27, so ermöglichen alternative Indikatoren für den Zeitraum von 2000 bis 2009 unterschiedliche Aussagen zum Wachstum (Tabelle 2).

Wachstum in Frankreich und Deutschland gemessen mit alternativen Indikatoren

Frankreich Deutschland EU-27

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ........................................................... 2,7 1,8 2,8 Bruttoinlandsprodukt je Arbeitsstunde1) .......................................... 3,3 2,4 3,2 Bruttonationaleinkommen pro Kopf .................................................... 2,6 2,0 2,8 Nettonationaleinkommen pro Kopf ..................................................... 2,4 2,0 .Konsumausgaben der privaten Haushalte pro Kopf2) .......................... 3,2 1,9 2,8 Verfügbares Nettoeinkommen der privaten Haushalte pro Kopf2) ...... 3,3 2,0 2,9

1) Zwischen 2000 und 2008.– 2) Einschließlich private Organisationen ohne Erwerbszweck.Quelle: EU

Indikatoren

Durchschnittliche jährliche Zuwachsrate zwischen 1999 und 2009 (vH)

Tablelle 2

Zwar zeigen alle hier ausgewiesenen Indikatoren eine höhere Wachstumsrate für Frankreich und die EU-27, der wesentliche Unterschied besteht aber darin, dass in Frankreich eine stärke-re Zunahme des verfügbaren Haushaltseinkommens und des Konsums besteht. 54. Da der Wert der Freizeit ebenfalls nicht im BIP abgebildet wird, könnten Unterschiede zwischen den Ländern bei den Indikatoren BIP absolut, BIP pro Kopf oder pro Arbeitsstunde

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zur Tabelle
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zumindest zum Teil unterschiedliche Präferenzen für Güter und Freizeit widerspiegeln. Des-halb ist ein internationaler Vergleich von Niveaus grundsätzlich problematisch. Anders sieht es aber aus, wenn man die Wirtschaftsleistung eines Landes oder Veränderungen des mate-riellen Wohlstands vergleichen möchte. In diesem Fall ist ein direkter Vergleich der Fort-schritte im materiellen Wohlstand durchaus sinnvoll, zumal man davon ausgehen kann, dass sich die Präferenzen nur langsam ändern. Da die größten konzeptionellen Schwierigkeiten beim Vergleich materieller Wohlstandsniveaus auftreten, wären auf diesem Forschungsgebiet Fortschritte höchst erstrebenswert. Wegen der spezifischen Probleme der Vergleichbarkeit muss dieser Fortschritt außerhalb der VGR erreicht werden, zum Beispiel durch Zeitbudget-erhebungen und unterstützende Satellitensysteme. Ein weiterer bedeutender Mangel hoch aggregierter Daten ist, dass sie keine Einkommensun-terschiede zwischen Haushalten, zwischen inländischen und ausländischen Besitzern von Produktionsfaktoren und zwischen Arbeitnehmern und inländischen Kapitaleigentümern be-trachten. Es besteht kein Zweifel, dass eine unterschiedliche Einkommensverteilung aufgrund des Produktionsprozesses zu unterschiedlichen Wohlstandsniveaus führen können. Insbeson-dere wenn ein Zielkonflikt zwischen Gleichverteilung und Wirtschaftsleistung besteht, muss man abschätzen, wie eine Gesellschaft diese sich widersprechenden Zielen bewertet. Dies spricht für eine getrennte Behandlung von Wirtschaftsleistung und materiellem Wohlstand. 55. Materielles Vermögen spielt bei der Bestimmung des materiellen Wohlstands eine doppelte Rolle: Erstens können Änderungen des Nettovermögens eine Abnahme beziehungs-weise Zunahme der künftigen Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen anzeigen. Eine wichtige Lehre aus der derzeitigen Finanzkrise ist die, dass Standardmaße der Wirtschaftsleis-tung und des materiellen Wohlstands ein hohes Wachstum ausweisen, hinter dem sich aber zum großen Teil ein nicht nachhaltiger Anstieg in der Verschuldung in Relation zum Ein-kommen beziehungsweise zum Vermögen verbirgt. Betrachtet man Vermögen aus dieser Per-spektive, stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit, die im vierten Kapitel behandelt wird. Zweitens bestimmen die derzeitige Höhe und die Verteilung von Einkommen und Vermögen auch das derzeitige Niveau des materiellen Wohlstands mit, wie später gezeigt wird. 56. Aus alledem folgt, dass zur Verbesserung des zur Verfügung stehenden Indikatorensets zwei Strategien gleichzeitig verfolgt werden müssen. Es ist eindeutig, dass die Schwächen des BIP als Messgröße für die Wirtschaftsleistung nicht so gravierend sind, um das BIP und die daraus abgeleiteten Maße insgesamt als ungeeignet zu qualifizieren. Deshalb sollte die erste Strategie darin bestehen, diese Maße beizubehalten und durch entsprechende Anpas-sungen zu verbessern. Dabei muss man entscheiden, in welcher Reihenfolge die Schwächen behoben werden sollten. Bei der Prioritätensetzung sind Informationen über die Bedeutung der Probleme und die Kosten für merkliche Verbesserungen sorgfältig abzuwägen. Zweitens dürfte deutlich geworden sein, dass die Messung von Veränderungen im materiellen Wohlstand ein breiteres Indikatorenset erfordert als nur das BIP allein, nämlich Indikatoren, die Diskrepanzen zwischen Konsum-, Einkommens- und Produktionsmaßen ebenso umfassen wie Verteilungsfragen (Kasten 1).

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Kasten 1

Zur Abbildung von Verteilungsfragen in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen: Untergliederung des Sektors private Haushalte nach Haushaltsgruppen

Weder das BIP noch andere Aggregate der VGR können Veränderungen in der Verteilung von Ressourcen erfassen, und sie erlauben keine Aufgliederung dieser Veränderungen auf Haus-haltsgruppen. Um die makroökonomischen Analyse auf der Basis der VGR entsprechend zu er-gänzen, benötigt man mikroökonomische Daten aus Haushaltsbefragungen. Insbesondere kön-nen diese ausreichend gute Informationen zur Entwicklung von Ungleichheitsindikatoren für jede Haushaltskategorie liefern. Allerdings können Unterschiede in den Definitionen und Methoden Divergenzen zwischen den makro- und den mikroökonomischen Daten bedingen und sich des-halb die Botschaften der unterschiedlichen Indikatoren störend überlagern. Eine Verbesserung der Konsistenz zwischen beiden Quellen sollte deshalb in jedem der beiden statistischen Sys-teme Priorität erhalten. Dies ist allerdings ein ambitioniertes Unterfangen, und merkliche Fort-schritte sollte man nur als mittelfristiges Ziel betrachten. Auf dieser Ebene versuchen die Statistischen Ämter in der EU, ihre offiziellen nationalen VGR um Daten zu ergänzen, die die Verteilung des nationalen Einkommens widerspiegeln. Sowohl das INSEE in Frankreich als auch das Statistische Bundesamt (Destatis) in Deutschland verfol-gen Projekte, mit denen zusätzliche Daten zur Verteilung der privaten Einkommen bereit gestellt werden sollen, um so detaillierte Einblicke in die Einkommenssituation unterschiedlicher Haus-haltstypen zu ermöglichen. Zum Beispiel hat INSEE bereits Studien zur Untergliederung der Haushaltsrechnungen (Einkommen, Konsumausgaben und Sparen) aus dem Jahr 2003 auf Haushaltskategorien durchgeführt (INSEE, 2009). Als Ergebnis sind das verfügbare Einkommen, Konsumausgaben und die Sparquote für verschiedene Haushaltskategorien für das Jahr 2003 verfügbar. Auch liegt eine Aufteilung nach Quintilen für das verfügbare Einkommen je Konsum-einheit, nach Haushaltszusammensetzung sowie nach dem Alter und der sozio-ökonomischen Stellung des Haushaltsvorstands vor. Des Weiteren plant INSEE die Veröffentlichung von Trends für den Zeitraum 1997 bis 2007, wobei nicht nur Haushaltseinkommen, Konsumausga-ben und Sparen untergliedert werden sollen, sondern auch die Haushaltsrechnung (Anhang 1).

2. Wie das BIP ein besseres Maß für die Wirtschaftsleistung wird

57. Zweifellos benötigen Wirtschaftspolitiker für ihre kurzfristigen Entscheidungsprozes-se einen Indikator der Wirtschaftsleistung. Gesamtwirtschaftliche Politik arbeitet oft mit ei-nem Zeithorizont von ein bis zwei Jahren, und aus dieser Perspektive dürfte das BIP als Indi-kator der aktuellen Wertschöpfung eine sehr informative Schätzung der Wirtschaftsleistung sein. In diesem Zusammenhang sind alle im SSFC-Report genannten Messprobleme von recht untergeordneter Bedeutung. Zudem betrachtet man auf dieser Ebene der Wirtschaftspolitik ohnehin mehr Indikatoren als das BIP, wie etwa die Arbeitslosenquote, die Inflationsrate, und weitere kurzfristige Wirtschaftsindikatoren oder Konsumenten- und Produzentenstim-mungen. Und obwohl die Nützlichkeit des BIP in der mittelfristigen Perspektive begrenzt ist, bleibt es doch ein funktionsfähiger Indikator der mittelfristigen Wirtschaftsleistung. Aus konzeptioneller Sicht ist und bleibt das BIP deshalb der Eckpfeiler zur Beurteilung der Wirt-schaftsleistung. Gleichwohl sollte dieser Indikator in verschiedene Richtungen verbessert werden.

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Allerdings können nicht alle im vorherigen Abschnitt angesprochenen Aufgaben mit der glei-chen Intensität und zur gleichen Zeit verfolgt werden. Aus unserer Sicht sind die vielverspre-chendsten Ausgangspunkte dazu (i) Verbesserungen bei der Messung des Produktionswerts bei Dienstleistungen im Allgemeinen und bei staatlichen Dienstleistungen im Besonderen sowie (ii) Fortschritte bei der Erfassung von Qualitätsverbesserungen. Diese werden in den folgenden Abschnitten behandelt. Insbesondere sollte ein Arbeitsprogramm für die Bewertung des Produktionswerts staatlicher Dienstleistungen erstellt werden. Wir sind der Meinung, dass die übrigen Probleme sekundärer Natur sind und dass jeglicher Einsatz zu ihrer Lösung die Gefahr in sich birgt, einen nicht zufriedenstellenden Mehrwert oder sogar einen Verlust an Vertrauenswürdigkeit mit sich zu bringen. Dienstleistungen

58. In modernen Volkswirtschaften tragen Dienstleistungen zu etwa zwei Dritteln zur ge-samten Produktion und Beschäftigung bei. Angesichts dieser wirtschaftlichen Bedeutung ist es bedauerlich, dass sowohl Mengen als auch Preise hier noch unvollkommen erfasst werden, da beide Komponenten eine wichtige Rolle bei der Berechnung des BIP spielen. Obwohl Preise und Mengen bei Dienstleistungen oft schwerer zu messen sind als bei Waren, sind die Ressourcen dafür – gemessen an der Anzahl der Statistiker – relativ gering. Zu den Bereichen, in denen zutreffende Outputpreisindizes am meisten benötigt werden, zählen unternehmens-nahe Dienstleistungen, wie diejenigen der Finanzintermediation, Gesundheitsleistungen sowie für Forschung und Entwicklung. Möglicherweise ist dabei die Verbesserung bei der Messung von Sachleistungen der erfolg-versprechendste Weg dorthin. In Frankreich und Deutschland erreichten diese im Jahr 2009 eine Wertschöpfung von 391 Mrd Euro beziehungsweise 516 Mrd Euro, wobei Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen in beiden Ländern etwa 30 vH der gesamten Beschäftigung aus-machten (Tabelle 3). Traditionell wird der Output der nicht-marktmäßigen Dienstleistungs-produktion des Staates nominell bewertet, wobei die entsprechenden Ausgaben für die Erbringung aufsummiert werden. Diese enthalten die Arbeitskosten, Vorleistungen, Abschrei-bungen und bei ihrer Produktion anfallende Steuern. Aus der Sicht des Lebensstandards müsste man nun annehmen, dass diese Kosten der Wertschätzung entsprechen, die diese Dienstleistungen für ihre Empfänger haben. Aber wie können wir uns dessen sicher sein, wenn keine Markttransaktionen stattfinden? Dieser intellektuellen Herausforderung hat sich die jüngere Forschung im Bereich Statistik recht erfolgreich gewidmet. 59. Bis zur Umstellung auf das ESVG 1995 wurde der Wert der Dienstleistungen durch die Kosten der zu ihrer Erstellung notwendigen Produktionsfaktoren angenähert: Dies wird als Inputmethode bezeichnet. Preisänderungen für Dienstleistungen wurden deshalb mit Preis-änderungen bei den Faktoren gleichgesetzt, wodurch Produktivitätsänderungen explizit ausge-schlossen waren. Eine EU-Regelung vom Dezember 2002, die im Jahr 2006 umgesetzt wurde, empfahl den EU-Ländern eine Outputmethode für die nicht-marktmäßigen Dienstleistungs-bereiche Bildung und Gesundheit, basierend auf direkten Mengenindikatoren. Dazu müssen Indikatoren des Produktionsvolumens auf möglichst disaggregierter Ebene gesammelt und die

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daraus errechneten Indizes mit den geschätzten Produktionskosten der jeweiligen Ebene ge-wichtet werden.

in Frankreich und Deutschland im Jahr 2009

Wertschöpfung Erwerbstätigkeit Wertschöpfung Erwerbstätigkeit

Mrd Euro Anteil in vH

1 000Personen

Anteil in vH Mrd Euro Anteil

in vH1 000

PersonenAnteil in vH

Land- und Forstwirtschaft, Fischerei .......................... 30,0 1,7 793 3,1 17,3 0,8 866 2,2

Verarbeitendes Gewerbe ..... 213,4 12,4 3 254 12,7 474,4 22,2 7 814 19,4 Baugewerbe ........................ 111,0 6,4 1 787 7,0 92,1 4,3 2 200 5,5 Dienstleistungen .................. 1 367,4 79,4 19 726 77,2 1 556,8 72,7 29 385 73,0

Davon:Marktproduzenten ............ 976,1 56,7 12 140 47,5 1 040,3 48,6 17 004 42,2 Nichtmarktproduzenten .... 391,3 22,7 7 587 29,7 516,4 24,1 12 381 30,7

Davon:Bildung .......................... 93,8 5,4 ... ... 100,3 4,7 ... ...Gesundheit .................... 101,3 5,9 ... ... 171,8 8,0 ... ...Soziale Fürsorge ........... 56,3 3,3 ... ... 113,4 5,3 ... ...Verwaltung .................... 139,9 8,1 ... ... 130,9 6,1 ... ...

Insgesamt ........................... 1 721,7 100 25 561 100 2 140,6 100 40 265 100

Quellen: Destatis, INSEE

Wertschöpfung und Erwerbstätigkeit nach Wirtschaftsbereichen

Wirtschaftsbereich

Frankreich Deutschland

Tabelle 3

Die Anwendbarkeit dieser Methode und die jeweilige Auswahl bei der Umsetzung, insbeson-dere die Abschätzung der Qualitätseffekte, werden derzeit noch auf internationaler Ebene diskutiert. Es reicht nicht aus, den Output der nicht-marktmäßigen Dienstleistungsproduktion auf einer detaillierten Ebene quasi nur zu beschreiben, um deren Qualität zu erfassen. Ein Produktionsergebnis für den Bereich Bildung zeigt sich letztlich in einer Verbesserung des Bildungsniveaus von Schülern und Studenten. Im Gesundheitswesen ist es die bessere Ge-sundheit aufgrund von medizinischer Versorgung. Diese Größen lassen sich aber nur schwer beobachten, da die Ergebnisse auch von anderen Faktoren wie dem kulturellen Umfeld von Schülern und Studenten (Cutler et al., 2006) oder dem Lebensstil der Patienten abhängen. Die Qualitätsveränderung bei der Bereitstellung dieser Dienstleistungen sollte deshalb am Grenzbeitrag von Ausbildung und Gesundheit zum Bildungs- beziehungsweise Gesundheits-stand der Bevölkerung gemessen werden, wobei alle übrigen Einflüsse unverändert gelassen werden. Diese Methoden lassen sich in der Praxis nur schwer umsetzen. Sie erfordern zusätz-liche Informationen über die Individuen und ihre Umwelt, die durch Umfragen zu ermitteln sind, sowie ökonometrische Schätzungen der relevanten Effekte. Dies fällt eher unter die Aufgaben originärer Forschungsarbeit als unter die Routinearbeit der VGR. Die statistischen Ämter des Vereinigten Königreichs und Italiens haben nichtsdestoweniger mit Untersuchun-gen auf diesem Gebiet begonnen, die aber noch nicht abgeschlossen sind. 60. Die Verwendung von Outputmaßen, die die Anzahl der behandelten Patienten oder der in Ausbildung befindlichen Studenten erfassen, hat substanzielle Auswirkungen auf das

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Daten zur Tabelle
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ausgewiesene BIP. Nach Angaben von INSEE wuchs die französische Wirtschaft zwi-schen 2000 und 2006 im Jahresdurchschnitt um 2 vH, wenn die Menge der nicht-marktmäßigen Gesundheits- und Bildungsdienste gemäß der Outputmethode gemessen wird, aber um 2,15 vH bei Anwendung der Inputmethode. Für die britische Wirtschaft lauten die entsprechenden Werte 2,75 vH beziehungsweise 3 vH für den Zeitraum 1995 bis 2003 (At-kinson, 2005). Der Übergang von der Input- zur Outputmethode bedeutet also für Frankreich und das Vereinigte Königreich leichte Anpassungen nach unten, für Dänemark hingegen nach oben. 61. Dies zeigt die Herausforderungen bei der Suche nach besseren Maßen für die nicht-marktmäßigen staatlichen Dienstleistungen. Um zu vergleichbaren Ergebnissen zu gelan-gen, sollte die Praxis auf internationaler Ebene vereinheitlicht werden. Nach unserer Ansicht ist zur Messung des Wertes der Bildungs- und Gesundheitsleistungen die Outputmethode oh-ne Berücksichtigung von Qualitätseffekten – also die detaillierte Beschreibung der Dienstleis-tungserstellung – besser geeignet als die Inputmethode (Kasten 2). Ihre Wahl würde die Mes-sung des BIP deutlich verbessern. Die Kontrolle der Gesundheitsausgaben durch die Regie-rungen könnte als Nebenprodukt die administrativen Angaben liefern, die für deren verlässli-che Bewertung erforderlich sind. Bezüglich der Qualitätseffekte bei Bildung und Gesundheit meinen wir hingegen, dass diese eher ein Forschungsthema sind und nur in Satellitensystemen zur VGR behandelt werden sollten. Diese sollten parallel dazu eine Schätzung des Outputs bei Bildung und Gesundheit auf der Basis der Inputmethode liefern, um so Informationen zum dortigen Produktivitätsfortschritt zu erhalten. Die Outputmethode unter Berücksichtigung von Qualitätseffekten ist theoretisch auch für andere öffentliche Dienstleistungen von Bedeutung, etwa für soziale Dienste, Erholungsein-richtungen und -tätigkeiten oder Sicherheitsdienste. Mangels näherer Informationen zu diesen Bereichen dürfte deren Umsetzung hier aber noch schwieriger sein. Deshalb sollte man mit den Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen beginnen. 62. Die Abschreibungen auf den Kapitalstock spielen wegen des additiven Kostenansatzes eine große Rolle. Zumeist müssen diese anhand von Modellen geschätzt werden, da sie nicht auf der Mikroebene ausgewiesen werden (öffentliche beziehungsweise. kameralistische Buch-führung) oder weil die privat-wirtschaftlichen Bewertungsverfahren von denen der VGR ab-weichen. Bei der praktischen Handhabung in diesem Bereich sehen wir einen großen Harmo-nisierungsbedarf bei der Berechnung der Abschreibungen. Grundsätzlich ist eine einheitliche Bewertung der aus Investitionen resultierenden Dienstleistungen erforderlich. So enthält zum Beispiel das BIP der Vereinigten Staaten bereits Abschreibungen auf militärische Ausrüs-tungsgüter. Ein noch größeres Problem ist die Tatsache, dass konzeptionelle Unterschiede internationale Vergleiche verzerren. Militärischer Konsum wird in der VGR Frankreichs, Deutschlands und der EU gemäß ESA 1995 als Konsum gebucht, in den Vereinigten Staaten als Investition. Diese Investitionen stellen nach dem neuen SNA Verteidigungsleistungen dar.

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Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand 43

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Kasten 2

Evaluation der individuellen nicht-marktmäßigen Bildungs- und Gesundheitsdienste in Frankreich

Frankreich wendet in den VGR die Outputmethode für nicht-marktmäßige Bildungs- und Ge-sundheitsdienstleistungen seit dem Basisjahr 2000 an. Dazu erhebt INSEE direkte Indikatoren zur Produktionsmenge auf möglichst disaggregierter Ebene. Daraus kann INSEE primäre Indi-zes errechnen und sie mit den Kosten auf der entsprechenden Ebene gewichten. Konkret schätzt INSEE die Menge der nicht-marktmäßigen Bildungsleistung als Anzahl der Unterrichts-stunden nach Jahrgangsstufe und Fach multipliziert mit der Anzahl der Schüler und. Studenten. Die Kosten ergeben sich aus den staatlichen Ausbildungsausgaben, die nach Niveau und Pro-gramm aufgeschlüsselt im Satellitensystem für Ausbildung ausgewiesen werden. Für den Bereich der Gesundheit berechnet INSEE einen Output-Volumenindex, indem unter-schiedliche Indizes aus Indikatoren für zahlreiche Krankenhausdienstleistungen – bereitgestellt aus den jährlichen Statistiken der Gesundheitseinrichtungen (Statistique Annuelle des Établis-sements: SAE) sowie aus Indikatoren für Aktivitäten, die in einem medizinischen Informations-system (Programme de Médicalisation des Systèmes d’Information: PMSI) enthalten sind, die mit ihren relativen Kosten gewichtet werden. Konkret werden die nicht-marktmäßigen Gesund-heitsdienstleistungen der Krankenhäuser in verschiedene Behandlungsarten untergliedert, aus denen INSEE drei breitere Kategorien aggregiert: Kurzzeitbehandlung oder Geburtshilfe (MCO), Behandlungen mit einer mittleren Aufenthaltsdauer und Psychiatrie. Für die Kurzzeitbehandlung (MCO) werden tief disaggregierte PMSI-Daten genutzt, die die Zahl der Fälle (für die Mengenindizes berechnet werden) und die Stückkosten je Fall (als Gewichte) für 600 „Diagnosis-related groups“ [DRGs; auf Französisch: Groupes Homogènes de Malades [GHM]) abbilden Dies erleichtert die Konstruktion eines echten Volumenindex. Für Folgeaufent-halte und Rehabilitation (mittlere Aufenthaltsdauer) sowie für Psychiatrie verwendet INSEE mangels näherer Informationen Mengenindikatoren aus dem SAE (Zahl der Fälle in stationärer oder ambulanter Behandlung). Für den Bereich Bildung setzt Destatis ein ähnliches Verfahren ein wie INSEE. Für die Gesundheitsdienstleistungen bestimmt Destatis mit Hilfe der DRGs einen Preisindex zur Deflationierung der nominalen Werte. Dieses Vorgehen liefert zwar ein Maß für implizite Qualitätsänderungen bei der Erbringung von Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen, aber keine Evaluation der Qualität der erbrachten Leistungen. Aber auch dieser Ansatz hat Nachteile. Für die öffentlich bereitgestellten Bildungs-leistungen wurden die Ergebnisse deshalb mit Hilfe eines Qualitätsindikators angepasst, der die jährliche Zahl der Schüler und Studenten mit erfolgreichem Abschluss der jeweiligen Kurse wi-derspiegelt. Die Schätzungen aufgrund der Outputmethode führten für die vergangenen Jahre zu einer Revi-sion des Volumens der erbrachten nicht-marktmäßigen Bildungsleistungen nach unten. Der rea-le Zuwachs gemäß VGR mit Basisjahr 1995 war auf einen Anstieg der eingesetzten Faktoren zurückzuführen, insbesondere die Verbesserung der Lehrerausbildung und die steigende Anzahl an Lehrern. In der VGR mit Basisjahr 2000 wird die seit 1996 zu beobachtende Stagnation des Volumens durch demografische Einflüsse hervorgerufen (Rückgang der Zahl der Schüler und Studenten in bestimmten Programmen), die nicht durch eine Zunahme des Anteils der bestan-denen Examen oder einen Trend zu höheren Abschlüssen ausgeglichen werden (Schaubild 6).

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44 Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

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01990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004

1) , 2000.Produktionswerte; Methode zur Mengen- und Preisbestimmung BasisjahrQuelle: Braibant (2006)

Inputmethode

Schaubild 6

Ausbildungsleistungen nach verschiedenen statistischen Methoden für Frankreich1)

Mrd Euro

Outputmethode

63. Eine weitere Schwäche des BIP ist darin zu sehen, dass Bid-ask spreads, dass heißt die Zinsspannen bei Bankgeschäften, werden bei der Messung der Leistungen der Finanzinter-mediäre nicht berücksichtigt (Financial Intermediation Services indirectly Measured, FISIM), was eine weitere Schwäche darstellt. Aus Sicht der VGR ist die Messung der Bankdienstleis-tungen schwieriger als in jedem anderen Bereich, da viele der für Kunden erbrachten Leistun-gen diesen nicht explizit in Rechnung gestellt werden. Die Bankerlöse werden durch den Wert der explizit erhobenen Gebühren, aber auch durch den Wert der unterstellten Leistungen gemessen, die von den Banken erbracht und effektiv von den Kunden bezahlt werden. Dies gilt insbesondere für Finanzdienstleistungen im Zusammenhang mit der Verwaltung von Ein-lagen und Krediten der Kunden. Diese Dienstleistungen werden hauptsächlich aus der Zins-spanne finanziert, die dadurch entsteht, dass Banken für Kredite einen höheren Zinssatz ver-langen, als sie selbst für Einlagen zahlen. Diese Spanne wird nach den Richtlinien der EU berechnet, die das Verfahren zur Berechnung der FISIM festlegt. Jedoch sind die traditionellen Bankgeschäfte, wie etwa die Entgegennahme von Einlagen und Vergabe von Krediten, durch Interbankengeschäfte und Wertpapiergeschäfte ausgeweitet worden. Die Bid-ask spreads sollten deshalb als implizit in Rechnung gestellte Dienstleistun-gen angesehen werden und sind damit Teil der FISIM. Durch sie werden aufgrund der gehan-delten Volumina möglicherweise substanzielle Gewinne erwirtschaftet, obwohl sie für die Marktteilnehmer relativ gering sind (10,0 Mrd Euro im Jahr 2008). In der Praxis sind sie bis-her als Kapitalverluste oder Kapitalgewinne aufgrund von Änderungen des Marktwerts von Wertpapieren behandelt worden. Um die Schätzung der Wertschöpfung im Finanzsektor und damit die des BIP zu verbessern, könnte man Bid-ask spreads trotz großer Messprobleme in die FISIM aufnehmen.

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Daten zum Schaubild
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Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand 45

CAE / SVR - Expertise 2010

Qualitätsänderungen und Außenhandelsaspekte

64. Der zunehmende Anteil der Dienstleistungen macht es in Kombination mit der Herstel-lung immer komplexerer Güter zunehmend schwierig, Produktionsmengen und damit die Wirtschaftsleistung hinreichend zu messen. Heutzutage ist die Qualität vieler Produkte kom-plex, multidimensional und einem schnellen Wandel unterworfen. Dies ist für Güter wie Kraftfahrzeuge, Computer, Waschmaschinen oder Finanzdienstleistungen offensichtlich. Die Beurteilung von Qualitätsänderungen ist deshalb eine enorme Herausforderung, aber für die Messung des realen BIP, der realen Einkommen und des realen Konsums, die die Wirtschafts-leistung und den materiellen Wohlstand wesentlich beeinflussen, unerlässlich. Die entspre-chenden Anpassungen sind angesichts ihrer bedeutenden Konsequenzen schwierig und erfor-dern tiefgehende Arbeit. So wird zum Beispiel auf EU-Ebene für den HVPI immer dann eine Qualitätsänderung ange-nommen, wenn die Veränderung eines Guts für den Verbraucher zu einem deutlichen Unter-schied im Nutzen führt. Qualitätsanpassung bedeutet damit eine Erhöhung oder Reduzierung der beobachteten Preisdifferenz um einen Faktor oder den Betrag, der dem Wert der Quali-tätsänderung entspricht. Diese Anpassungen sollten beim HVPI auf expliziten Schätzungen des Werts der Qualitätsänderung beruhen. Sind keine Schätzwerte verfügbar, sollte die ge-samte Differenz zwischen dem Preis des zu ersetzenden und des ersetzten Guts als Preisände-rung angenommen werden. Den EU-Mitgliedsländern wird durch rechtliche Standards aus-drücklich die sogenannte automatische Verknüpfung untersagt, die gleichbedeutend mit der Annahme wäre, dass Preisdifferenzen bei zwei aufeinander folgende Varianten eines Produk-tes in Gänze Qualitätsänderungen zuzuschreiben sind. Trotz rechtlicher Standards können Unterschiede beim HVPI für verschiedene Länder daraus erwachsen, dass gleiche Änderungen in den physikalischen Eigenschaften eines Guts unter-schiedlich wahrgenommen und behandelt werden. Eurostat und die EU-Mitgliedsländer sind derzeit dabei, Methoden zur Qualitätsanpassung zu entwickeln und zu evaluieren. Bisher hat man sich auf Standards bei Bekleidung, Schuhe, Bücher, bespielte Medien, Computerspiele sowie für Autos und andere Fahrzeuge geeinigt. 65. Um eine genaue Schätzung des BIP zu erhalten, ist sicherzustellen, dass Qualitätseffek-te korrekt gemessen werden. Aber man muss auch pragmatisch sein. Was zählt, sind nicht ausgeklügelte, sondern robuste Methoden, die zwischen den Ländern einheitlich angewendet werden, um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Fallweise Studien zu problematischen Produkten, zudem überwacht durch internationale Stellen, um Best Practices zu erkennen, erscheinen deshalb angemessen. Auch sollte man sich nicht in den Feinheiten ausgeklügelter Methoden verlieren, die zwar für die Forschung relevant, aber in der statisti-schen Praxis oder in Ländern mit einem weniger ausgebauten statistischen System nur schwer umzusetzen sind. Diese Methoden sollten auf die Messung der Preise von solchen Waren und Dienstleistungen eingeschränkt bleiben, die einen bedeutenden Teil des Konsumbudgets, wie zum Beispiel Kraftfahrzeuge, oder der Investitionsausgaben ausmachen. Die Berechnung der gesamten

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CAE / SVR - Expertise 2010

Produktivität ist stark von der Untersuchung der Veränderungen aufgrund von Preisbewegun-gen und aufgrund von Mengenbewegungen abhängig, wobei Letztere auch Qualitätseffekte enthalten. Da viele der entsprechenden Güter weltweit gehandelt werden, könnte eine intensi-vere Kooperation zwischen den statistischen Ämtern die Umsetzung der Methoden kosten-günstiger gestalten. 66. Ein weiterer Mangel bei der Ermittlung des BIP liegt darin, dass der Intra-EU-Handel – Importe und Exporte – erst ab einem bestimmten Wert nachgewiesen wird (Kasten 3). Dies ist auf die Abschaffung der Zollgrenzen innerhalb der EU zurückzuführen. Für die VGR müs-sen deshalb die entsprechenden Werte geschätzt werden.

Kasten 3

Messung des Handels in der Europäischen Union

Im Januar 1993 führte die EU im Zusammenhang mit der Einrichtung des Europäischen Bin-nenmarktes ein neues, harmonisiertes System zur statistischen Erfassung des Handels zwi-schen den Mitgliedstaaten ein – Intrastat. Es basiert auf Meldungen der Unternehmen zu Trans-aktionen ab einem festgelegten Schwellenwert und hat vielfältige Auswirkungen auf die EU-Handelsstatistik: − Die Vergleichbarkeit zu Angaben vor 1993 ist verloren gegangen.

− Der Erfassungsgrad des neuen Systems ist geringer als der des alten Systems basierend auf Zöllen.

− Im Gegensatz zum vorherigen System liegen beim EU-Binnenhandel die Importe nun um et-wa 5 vH unter denen der Exporte. Mögliche Ursachen dieser Asymmetrie sind in der unter-schiedlichen Anwendung der Methoden durch einzelne Länder beispielsweise bei unterlas-senen Meldungen, bei Vertraulichkeit, beim Dreiecks-Handel und bei Schwellenwerten zu sehen.

− Die Variation der Schwellenwerte verdeutlicht das Problem. Getrieben von dem Wunsch, die administrative Belastung der Unternehmen zu reduzieren, reichen die Schwellenwerte im Intra-EU-Handel von etwa 30 000 Euro bis über 600 000 Euro. Im Extra-EU-Handel liegt der Schwellenwert bei nur 800 Euro.

Derzeit gibt es Bemühungen, die Schwellenwerte noch höher zu setzen, um die Belastung der Unternehmen für die Meldung von Daten zur Statistik zu reduzieren.

Schwer behebbare Schwächen

67. Die bisherigen Diskussionen haben Problemfelder beleuchtet, in denen viel verspre-chende statistische Forschungen und mögliche Fortschritte das BIP zu einem genaueren und zuverlässigeren Maß für die Wirtschaftsleistung eines Landes machen könnten. Verbesserun-gen können dort in der kurzen bis mittleren Frist mit vertretbarem Aufwand erreicht werden. Im Gegensatz dazu würde die Beseitigung anderer Schwächen prohibitive Kosten verursa-chen, was uns zu der Empfehlung veranlasst, diese nicht mit hoher Priorität zu verfolgen. Zum Beispiel sind wir skeptisch, ob die Erstellung nicht-marktmäßigen Dienstleistungen der Haushalte richtig erfasst werden kann. Da grundsätzlich ein konzeptionell sauberes Vor-

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gehen zu fordern ist, würde die Einbeziehung dieser Dienstleistungen ernsthafte Messproble-me mit sich bringen. Noch wichtiger erscheint, dass angesichts ihrer enormen Bedeutung – für Frankreich zum Beispiel werden sie für den Zeitraum 1995 bis 2006 auf etwa ein Drittel des BIP geschätzt – das bereinigte BIP stark verzerrt sein könnte, wenn eine genaue Messung scheitern würde. In der Praxis unterscheiden sich die errechneten Angaben tatsächlich erheblich je nachdem, ob man die unbezahlte Hausarbeit (i) mit den Löhnen von Hausangestellten (spezialisiert oder nicht) oder (ii) mit den Löhnen, die der Betreffende am Arbeitsmarkt erzielt oder erzielen könnte (Opportunitätskosten), bewertet. Die reale Veränderung bei diesen Dienstleistungen scheint auch sehr stark davon abzuhängen, ob man mögliche Produktivitätsänderungen be-trachtet oder nicht. Zudem sollten die Berechnungen auf international vergleichbaren Zeitrei-hen über die Zeitverwendung in verschiedenen Ländern beruhen. Derartige Arbeiten sind in den Vereinigten Staaten und in einigen europäischen Ländern im Gange, in vielen anderen Ländern aber noch nicht. Entsprechende Anpassungen liefern aber keine zusätzlichen Informationen über kurzfristige Entwicklungen, da sich Änderungen in der Produktion dieser Dienstleistungen nicht umfas-send von Jahr zu Jahr nachzeichnen lassen. In einem Satellitensystem wäre die Beobachtung dieser Dienstleistungen gerechtfertigt. In Deutschland sind solche Satellitensysteme zur Haushaltsproduktion für die Jahre 1991 und 2001 aufgestellt worden. Diese zusätzliche In-formation wäre für die Analyse langfristiger Veränderungen innerhalb eines Landes oder für internationale Vergleiche im Zusammenhang mit Beurteilungen des Lebensstandards wert-voll. 68. Aus vergleichbaren Gründen erscheint letztlich auch der Versuch nicht sinnvoll, das BIP um einen geschätzten Wert für defensive Ausgaben zu bereinigen, wie es Tobin und Nordhaus in den 1970er-Jahren vorgeschlagen haben. Erstens ist das Konzept selbst nur schwer einzuordnen. Im Prinzip müssten diese Kosten alle Waren und Dienstleistungen ent-halten, die nicht zum persönlichen Wohlstand beitragen und deshalb vom BIP abzuziehen sind. Beispiele sind Ausgaben im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen, Gefängnissen oder Ölkatastrophen. Aber könnte man nicht genauso gut argumentieren, dass Ausgaben für die Gesundheit oder für Fahrzeugreparaturen zum Wohlstand einer Gesellschaft beitragen, solan-ge man akzeptiert, dass Unfälle unvermeidbar sind, wenn es Fahrzeuge gibt? Oder: Wenn wir akzeptieren, dass es in einer Gesellschaft – leider – immer Kriminalität und Verbrechen gibt, tragen dann nicht Gefängnisse zu einer friedlichen Existenz der Bürger und zum Wohlstand bei? Eine Nichtberücksichtigung dieser Ausgaben könnte sogar die Prinzipien der VGR verletzten, die ja nicht auf ethischen Werturteilungen beruhen. Wenn man also zum Beispiel die Produk-tion in der Schattenwirtschaft – theoretisch – im BIP erfassen möchte, wäre das Herausrech-nen der defensiven Kosten umso bedauerlicher, zumal man den materiellen Wohlstand mit anderen VGR-Aggregaten wie Einkommen oder Konsum annähern kann. Solche haushaltsbe-zogenen Indikatoren enthalten keine defensiven Kosten, da diese zumeist aus Kollektivausga-ben des Staates bestehen und sich nicht direkt den Haushalten zuordnen lassen.

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CAE / SVR - Expertise 2010

Die Problematik verschärft sich noch, wenn die defensiven Ausgaben insbesondere dazu die-nen, die frühere oder derzeitige Verschlechterung wirtschaftlicher oder natürlicher Vermö-genswerte, zum Beispiel Zerstörungen durch Luftverschmutzung, zu kompensieren. Keines-falls sollte dies zu einer Verringerung des BIP führen. Wenn zum Beispiel ein Erdbeben Ge-bäude zerstört, sollte der geschätzte Schaden vom Wert des Gebäudebestands abgezogen wer-den. Später wird der Wiederaufbau den Bestand wieder erhöhen. So werden weder BIP noch BNP berührt, da nicht Stromgrößen im Zusammenhang mit der Produktion oder dem Konsum betroffen sind, sondern die Bestandsgröße der Gebäude angepasst wird. Zum Zeitpunkt des (Wieder-)Aufbaus folgt aus der Produktion des Baugewerbes eine Gegenbuchung als Bauin-vestition und eine Zunahme des BIP. Dieses Beispiel ist also kein Argument gegen die Me-thoden zur Bestimmung des BIP, sondern eher für den Übergang zu erweiterten Bilanzen. 69. Die Verschlechterung natürlicher Vermögenswerte (Atmosphäre, Ozeane) muss etwas anders behandelt werden, da diese Werte nicht in den Bilanzen der VGR enthalten sind. Die Abnutzung natürlicher Vorkommen durch wirtschaftliche Tätigkeit ist ein Verbrauch von natürlichen Ressourcen. In diesem Bereich der statistischen Rechnungslegung setzen extreme Bewertungsprobleme kaum zu überwindende Hindernisse. Ein Zwischenfazit

70. Unsere Analyse der Lücken und Schwächen bei der Messung des BIP führt uns zu fol-genden Schlussfolgerungen. Zunächst gibt es keinen offensichtlichen Grund, das BIP von einem aussagekräftigen Indikator der Wirtschaftsleistung in einen Indikator des materiellen Wohlstands oder der Nachhaltigkeit zu transformieren. Zu diesen Aspekten gibt es im Rah-men der VGR oder anderswo besser geeignete Maße. Indikatoren des materiellen Wohlstands werden im nächsten Abschnitt behandelt, Indikatoren zur Nachhaltigkeit im vierten Kapitel. Aber auch der Versuch, die Produktion zu messen, ohne den Rahmen der VGR zu verlassen, bereitet spezifische Probleme. Zwei herausragende Beispiele sind die nicht zufriedenstellen-de Schätzung der Größe der Dienstleistungsproduktion des Staates und die Notwendigkeit, Qualitätsverbesserungen bei Waren und Dienstleistungen adäquat zu erfassen. Andere Fragen in diesem Zusammenhang betreffen die unzureichende Ermittlung bestimmter Produktionser-gebnisse, die theoretisch in den VGR erscheinen sollten, wie die der privat erbrachten Haus-haltsproduktion oder die der Schattenwirtschaft. Grundsätzlich sollten alle diese Schwächen behoben werden. 71. Dies sind Defizite, die die Statistiker in den kommenden Jahren beseitigen sollten. Durch Prioritätensetzung könnten sie sich zunächst auf die am leichtesten zu erreichenden Ziele konzentrieren, also auf die mit den wohl höchsten Grenzerträgen der Information. Weniger erfolgversprechend erscheint es zum Beispiel, viele Anstrengungen zur detaillierten Erfassung der Schattenwirtschaft zu unternehmen, denn hier können Ergebnisse nur durch statistische Annahmen erzielt werden, und die Ergebnisse dürften nur wenig robust sein. We-sentlich größere Erfolge sind hingegen bei einer umfassenderen Messung der öffentlichen Dienstleistungen zu erwarten. Das Gleiche gilt für eine bessere Erfassung der Preise, die Qua-litätseffekte berücksichtigt. Als übergeordnetes Prinzip gilt, dass die Suche nach einer voll-

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CAE / SVR - Expertise 2010

ständigen Bewertung aller Outputkomponenten Gefahr läuft, den Teil des BIP zu erhöhen, der durch Annahmen bewertet wird. Dies würde die Ergebnisse insgesamt weniger robust ma-chen. Deshalb könnte die Messung der Dienstleistungen besser in einem Satellitensystem an-gesiedelt sein. Eine Verbesserung bei der Messung des BIP gemäß dieser Leitlinien wäre ein äußerst wert-voller – wenn nicht sogar essenzieller – Bestandteil eines Indikatorensystems zu verschiede-nen Aspekten der Wirtschaftsleistung. Wenn der demographische Wandel von Bedeutung ist oder wenn internationale Vergleiche der Wirtschaftsleistung das Ziel sind, müssen die ausge-wiesenen BIP-Ergebnisse um die Größe der betrachteten Volkswirtschaften angepasst wer-den. Deshalb schlagen wir vor, immer die Wachstumsrate des BIP pro Kopf in unserem In-dikatorsystem auszuweisen. Um auch die Produktivität als wesentliche Determinante der Wirtschaftsleistung zu berücksichtigen, sollte man überlegen, außerdem das BIP je Arbeits-stunde auszuweisen. Diese beiden Indikatoren werden dem Zielkonflikt zwischen einem zu-treffenden Ausweis der Wirtschaftsleistung eines Landes und der methodischen Robustheit der Ergebnisse wohl am ehesten gerecht. Diese Schlussfolgerung gilt bereits für Darstellun-gen nach den derzeitigen Standards der Messung. Die beiden Indikatoren können aber noch bessere Informationen liefern, wenn sie die wesentlichen der genannten Mängel berücksich-tigen.

3. Arbeitsmarktaspekte

72. Wie im vorherigen Abschnitt dargelegt, sind wir der Meinung, dass das BIP ein aussa-gekräftiger Indikator für die Wirtschaftsleistung eines Landes ist. Als Maß der gesamten Pro-duktion umfasst es die gesamte Menge der in einer Periode produzierten Waren und Dienst-leistungen, wobei Arbeit und Kapital die wesentlichen Produktionsfaktoren sind. Allerdings ist Arbeit mehr als nur ein Produktionsfaktor. Man kann mit Recht behaupten, dass in allen Ländern fast alle Personen im Arbeitsalter einen Arbeitplatz haben wollen, und zwar nicht nur um Zugang zu Konsum, Wohnen und Sozialleistungen zu erhalten, sondern auch um einen entsprechenden sozialen Status zu erlangen. Insbesondere erscheint eine höhere Chance auf einen Arbeitsplatz als eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung des materiellen Wohlstands. Damit sind Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sowohl Elemente der Wirt-schaftsleistung als auch Facetten des materiellen Wohlstands. Dies ist für uns Grund genug, diese Themen in einem eigenen Abschnitt dieses Kapitels abzuhandeln. 73. Zur Erfassung der Lage auf dem Arbeitsmarkt sind viele Indikatoren denkbar. Als erster drängt sich die Arbeitslosenquote auf. Diese ist allerdings für unsere Belange kaum der ge-eignete Indikator, da er häufig durch die landesspezifische Gesetzgebung oder Programme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beeinflusst wird. Zudem könnten sich bei zu hoher oder lange andauernder Arbeitslosigkeit Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, was internationale Vergleiche erschwert. Deshalb schlagen wir für das Indikatorensystem einen direkteren Indikator vor, nämlich die Wahrscheinlichkeit im arbeitsfähigen Alter beschäftigt zu sein.

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50 Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

CAE / SVR - Expertise 2010

Konkret wählen wir die Beschäftigungsquote der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jah-ren. Dieser Basisindikator hat in der Arbeitsökonomik und in der Statistik breite Anerken-nung gefunden. Zwar lässt sich über die gewählten Altersgrenzen diskutieren. So befindet sich in hoch entwickelten Volkswirtschaften ein hoher Anteil der über 20-Jährigen noch in der Ausbildung. Am anderen Ende der Spanne ist das Renteneintrittsalter unter 65 Jahre gesun-ken. Es erhöht sich derzeit aber wieder, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer steigenden Lebenserwartung. Bis auf weiteres scheint jedoch die Beschäftigungsquote der 15- bis 64-Jährigen der beste Indikator zu sein. In der Zukunft sollte er gemäß der Europa 2020-Strategie auf die Altergruppe der 20- bis 64-Jährigen eingeschränkt werden. Obwohl dieser Indikator nichts über die Qualität der Arbeit aussagt oder darüber, ob eine Be-schäftigung den jeweiligen Erwartungen der Arbeitnehmer entspricht, vermittelt er gleich-wohl Informationen zum Beispiel über die Arbeitssuche. Natürlich sind auch andere Interpre-tationen des Indikators möglich, da er die Lebensqualität deutlich beeinflusst: Er spiegelt zu einem großen Teil die Wahl zwischen Freizeit und Arbeitszeit wider. Zudem ist er als ein wichtiger Parameter für die langfristige Zukunft der Rentensysteme und der öffentlichen Fi-nanzen auch ein Nachhaltigkeitsindikator.

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1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Quelle: EU

Deutschland

Schaubild 7

Beschäftigtenquote in Europa

Beschäftigte in Relation zur Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren

Euro-Raum

Frankreich

Europäische Union

74. Die Beschäftigungsquote der 15- bis 64-Jährigen ist in Frankreich und in der EU von 2004 bis 2008 leicht, in Deutschland stark angestiegen (Schaubild 7). Im Jahr 2009 fiel sie im Zuge der weltweiten Krise in Frankreich leicht und in der EU insgesamt deutlicher, während sie in Deutschland noch etwas anstieg; in Deutschland erreichte sie 71 vH, in Frankreich 64 vH. Die Schere zwischen beiden Ländern hat sich in den vergangenen Jahren deutlich ge-öffnet.

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Daten zum Schaubild
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Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand 51

CAE / SVR - Expertise 2010

4. Ein breiteres Indikatorenset des materiellen Wohlstands

75. Wir wenden uns jetzt der Aufgabe zu, Veränderungen des materiellen Wohlstands zu messen. Dabei werden die drei Dimensionen Einkommen, Konsum und Vermögen betrach-tet. Bei der Analyse ist immer im Blick zu behalten, dass zwischen verschiedenen Ländern deutliche Unterschiede in den Präferenzen bestehen. Diese sind aber struktureller Natur und ändern sich deshalb nur sehr langfristig. Deshalb erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Probleme der Vergleichbarkeit die Messung von Änderungen des materiellen Wohlstands deutlich erschweren, obwohl die Messung von Niveaus eine sehr komplizierte Angelegenheit ist. Einkommen und Konsum

76. Die erste Empfehlung des SSFC-Reports lautet, sich bei der Beobachtung des materiel-len Wohlstands eher auf das Einkommen pro Kopf und den privaten Verbrauch pro Kopf zu beziehen als auf das BIP. Auch wenn wir der festen Überzeugung sind, dass ein Ausweis der Produktion wichtige Informationen sowohl für die Öffentlichkeit als auch für die Politik lie-fert, so stimmen wir doch zu, dass man zur Erfassung von Veränderungen im materiellen Wohlstand auch Veränderungen des Einkommens und des Konsums ausweisen sollte. Will man das Einkommen eines Landes, also das Einkommen aller inländischen wirtschaft-lich Tätigen, messen, ist das Nettonationaleinkommen (NNE) pro Kopf der beste Indikator. Für Länder wie Frankreich und Deutschland weist es einen hohen Gleichlauf mit dem BIP auf. Bei Ländern mit hohen Einkommens- und Investitionsströmen über die Grenzen hinweg (zum Beispiel Irland) ist das Muster hingegen unterschiedlich. Wegen dieser in vielen Län-dern engen Korrelation zwischen NNE pro Kopf und dem BIP kann das NNE pro Kopf wohl als der beste Indikator des materiellen Wohlstands der inländischen Wirtschaftssubjekte ange-sehen werden und sollte deshalb in unser Indikatorensystem aufgenommen werden. 77. Alternativ könnte man gemäß der zweiten Empfehlung des SSFC-Reports auch das ver-fügbare Haushaltseinkommen pro Kopf, den Haushaltskonsum pro Kopf oder die gesam-ten Konsumausgaben pro Kopf betrachten,. Da wir letztlich aber nur eine begrenzte Anzahl von Indikatoren in unser Indikatorensystem aufnehmen wollen, sollten wir nur einen von die-sen auswählen. Der Haushaltskonsum ist derjenige Indikator, der enger mit der Nutzenfunkti-on verbunden ist, die die Bedürfnisse und Vorlieben der Individuen abbilden sollte. Die Diffe-renz zwischen dem verfügbaren Haushaltseinkommen und dem Haushaltskonsum ist die Er-sparnis. Die Sparquote ist zwar ein bedeutender Parameter der Volkswirtschaft, aber sie ist eher für die Nachhaltigkeit des Wachstums von Bedeutung. Deshalb wird sie im vierten Kapi-tel betrachtet. Die Ausgaben der Haushalte für den Erwerb von Immobilien werden als Investition gebucht und sind deshalb nicht direkt im Konsum enthalten. In den VGR wird für Wohneigentümer aber eine fiktive Ausgabe berechnet und zu den Mietzahlungen addiert, sodass der Konsum einschließlich aller benötigten Leistungen betrachtet werden kann. Ein möglicher Nachteil für den Konsum als Maß des materiellen Wohlstands liegt in der Buchung von öffentlich bereit-

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52 Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

CAE / SVR - Expertise 2010

gestellten Dienstleistungen und Sachleistungen. Es gibt Bemühungen, diese öffentlichen Leis-tungen wie etwa für Gesundheitsdienste und die Bildung herauszufiltern. Allerdings dienen auch viele andere öffentliche Ausgaben, etwa für Sicherheit oder der Justiz, dazu, den Wohl-stand der Haushalte zu sichern. Deshalb schlagen wir vor, die Summe der privaten und der staatlichen Konsumausgaben als Indikator zu verwenden (Schaubild 8). Wiederum ist dabei eine Pro-Kopf-Betrachtung angemessen.

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1) Konsumausgaben der privaten Haushalte, der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck und des Staates.Quelle: EU

Deutschland

Schaubild 8

Konsumausgaben pro Kopf1)

1 000 Euro

Frankreich

Europäische Union(EU-27)

78. Ein internationaler Vergleich der privaten und staatlichen Konsumsausgaben zeigt große Differenzen, die zumindest zum Teil auf Unterschiede in der jeweiligen nationalen Ausgestaltung der Sozialpolitik zurückzuführen sind. Die Summe beider Aggregate liegt zwi-schen 70 vH und 90 vH des BIP. Von den Ländern, die mehr konsumieren (und weniger spa-ren), haben einige einen höheren Staatskonsum (nordeuropäische Länder und Frankreich), andere einen höheren privaten Konsum (Vereinigte Staaten, Japan). Dies belegt, dass die Sparquote nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Höhe des Staatsanteils steht (Schaubild 9). Wir schlagen deshalb die Veränderungsrate der privaten und staatlichen Konsumausgaben pro Kopf für das Indikatorensystem vor, da diese den Staatsverbrauch einschließt, der weitgehend den Haushalten zugute kommt. Dabei sind wir uns der Tatsache bewusst, dass Regierungen nicht immer effizient handeln, was einen internationalen Ver-gleich des Wohlstands beeinträchtigen kann.

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0

vH

GR UK PT US FR IT FI JP DK DE ES BE SE NL AT IE

74,8

19,5

65,3

23,5

66,6

21,3

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17,1

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21,6

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25,1

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19,7

49,2

29,9

58,9

19,7

56,6

21,1

52,4

24,7

48,8

27,8

45,9

28,4

54,3

19,9

50,7

19,5

1) GR-Griechenland, UK-Vereinigtes Königreich, PT-Portugal, FR-Frankreich, IT-Italien, FI-Finnland, JP-Japan, DK-Däne-US-Vereinigte Staaten,mark, DE-Deutschland, ES-Spanien, BE-Belgien, SE-Schweden, NL-Niederlande, AT-Österreich, IE-Irland.– 2) Private Haushalte und private Orga-nisationen ohne Erwerbszweck.

Quelle: EU

Schaubild 9

Private Konsumausgaben2) Konsumausgaben des Staates

Bedeutung der privaten und staatlichen Konsumausgaben inausgewählten Ländern im Jahr 20091)

Anteil am Bruttoinlandsprodukt in vH

DEFR

Einkommensverteilung

79. Eine aussagekräftige Abschätzung des Fortschritts im materiellen Wohlstand kann sich nicht allein auf das Durchschnitts- oder das Median-Einkommen stützen, sondern muss auch Verteilungsfragen berücksichtigen. Entsprechendes steht in der vierten Empfehlung des SSFC-Reports. Dieser Wunsch gewinnt in einer Welt umso mehr an Bedeutung, in der Un-gleichheiten immer stärker betont werden. So haben einige Studien für die Vereinigte Staaten gezeigt, dass der Hauptteil des dortigen Einkommenszuwachses in den vergangenen Jahren nur einer Handvoll von Haushalten der obersten Einkommensgruppe zugute kam. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland scheint die Lage etwas komplexer zu sein, da die Be-zieher der untersten Einkommen auch von der deutlichen Umverteilung durch das Steuer- und Transfersystem profitiert haben. Durch diese gleichzeitigen Veränderungen an beiden Enden der Einkommensverteilung hat die Bedeutung der Mittelschicht abgenommen. 80. In den vergangenen Jahren sind sowohl für Frankreich als auch für Deutschland Einzel-daten verfügbar, die detaillierte Informationen zu Steuern und Sozialtransfers enthalten. Dies vereinfacht eine tiefergehende Analyse der Einkommensverteilung. Insbesondere ist es so möglich geworden, die Einkommensverteilung vor und nach Steuern und Transfers zu ver-gleichen. Eine jüngere Studie für Frankreich bezieht sogar die Sachleistungen nach Quintilen mit in die Betrachtung ein. Daraus ergibt sich ein sehr informatives Bild: Beim Übergang von der primären Einkommensverteilung zu den um Sachleistungen angepassten verfügbaren Einkommen werden etwa 10 vH der primären Einkommen von den beiden oberen Quintilen

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zu den beiden unteren umverteilt. Ein großer Teil dieser Umverteilung geschieht durch die Bereitstellung von Sachleistungen (Tabelle 4).

Verteilung der Haushaltseinkommen in Frankreich im Jahr 20031)

1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil Insgesamt

vH Mrd Euro

Primäreinkommen (1) ................................ 5 12 17 24 42 1 140,2 Verfügbares Einkommen (2) ...................... 8 13 17 22 40 993,4 Transfers von Sachleistungen (3) .............. 25 21 19 18 18 229,5

Darunter:Gesundheit ............................................. 21 22 21 18 19 97,8 Bildung ................................................... 28 20 19 18 15 75,1 Unterkunft ............................................... 70 23 5 1 1 10,2

Bereinigtes verfügbares Einkommen (= (2) + (3)) ......................... 11 15 17 21 36 1 222,9

1) Einzelhaushalte wohnhaft in Stadtregionen, ohne unterstellte Bankdienstleistungen (FISIM).Quelle: INSEE

Tabelle 4

Es wäre äußerst interessant, diese Untersuchungen international vergleichbar fortzuführen. Allerdings ist es sehr schwierig, harmonisierte statistische Indikatoren für einzelne Länder zu finden. Auf EU-Ebene gibt es eine allgemeine Befragung im Rahmen eines Haushaltspa-nels, das vergleichbare Informationen liefern kann (EU-SILC). Wegen seiner Größe – groß, aber nicht groß genug – können die Ergebnisse aber allenfalls für Quintile der Bevölkerung aufbereitet werden. Deshalb sollten die Ergebnisse dieser Analysen mit großer Vorsicht be-wertet werden, insbesondere wenn es um internationale Vergleiche geht. 81. Die Einkommensverteilung umfassend zu messen, ist eine bedeutende Herausforderung, eine einfache Darstellung zu finden, die alle wesentlichen Punkte berücksichtigt, eine andere. Es gibt viele Arten, sie zu einem einzigen Indikator zusammenzufassen: − Das allgemeinste Verteilungsmaß ist der Gini-Koeffizient, der sich auf die gesamte Ver-

teilung bezieht. Allerdings ist seine Berechnung nicht ohne Weiteres zu verstehen, und sie erfordert detaillierte und tiefgehende Informationen über die gesamte Verteilung, ein-schließlich der höchsten Einkommen. Die Methode besteht darin, die beobachtete Ein-kommensverteilung mit einer hypothetischen zu vergleichen, bei der alle Haushalte das gleiche Einkommen erzielen. In dieser hypothetischen Verteilung ist der Gini-Koeffizient gleich Null, im anderen Extrem, in dem lediglich eine Person das gesamte Einkommen ei-ner Volkswirtschaft bezieht, gleich Eins.

− Die Rate der Personen mit Armutsrisiko wird häufig benutzt, um die Ungleichverteilung

abzubilden. Sie liefert aber nur Informationen zu Personen mit einem sehr niedrigen Ein-kommen. Sie ist definiert als der Anteil der Personen mit einem verfügbaren Äquivalenz-einkommen unterhalb der Schwelle zum Armutsrisiko, die oftmals mit 60 vH des Medians des nationalen verfügbaren Äquivalenzeinkommens angesetzt wird (nach Sozialtransfers). Dieser Indikator ist besonders geeignet, das Armutsrisiko zu quantifizieren, er enthält aber keine Informationen zum oberen Teil der Einkommensverteilung.

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CAE / SVR - Expertise 2010

− Der Indikator, der am leichtesten zu berechnen und zu interpretieren ist, ist der Quotient der Einkommensanteile zwischen x vH der niedrigsten und x vH der höchsten Einkommen. Bei x gleich 20 vH wird er S80/S20 genannt. Dieser Quotient aus den Einkommensanteilen im obersten und im untersten Quintil wird regelmäßig von Eurostat berechnet. Auch hier muss das „Einkommen“ wiederum als verfügbares Äquivalenzeinkommen angegeben wer-den (Schaubild 10). Wir schlagen vor, S80/S20 in das Indikatorensystem zu übernehmen, da dieser Indikator am leichtesten zu berechnen und der Öffentlichkeit zu vermitteln ist.

82. Die Definition eines Referenzeinkommens ist in allen diesen Untersuchungen von Be-deutung. Viele Analysen nehmen nur die Löhne in den Blick, da sie am leichtesten verfügbar sind. Für unsere Zwecke ist es jedoch notwendig, neben dem Arbeitseinkommen alle anderen Einkommensquellen mit einzubeziehen, am besten auf einer umfassenden Datenbasis wie der Einkommensteuerstatistik. Beim Übergang von der Haushalts- zur Individualebene sollten die Pro-Kopf-Einkommen mit Hilfe einer entsprechenden Äquivalenzskala berechnet werden, um Skaleneffekte im Zusammenhang mit der Familiengröße zu berücksichtigen. Dabei erhal-ten der erste Erwachsene zum Beispiel die Äquivalenzziffer 1, andere Erwachsene und Kinder über 14 Jahren 0,5, andere Kinder 0,3. Die statistischen Ämter in der EU haben gemeinsam eine Erhebung entwickelt, nämlich die EU-SILC, die auch Informationen zur Einkommensverteilung enthält. Wegen Unterschieden in der Stichprobengröße der jeweiligen Länder können aber nur Quintile mit hinreichender Verlässlichkeit ausgewiesen werden. Aus diesen Daten lässt sich S80/S20 berechnen. Deshalb schlagen wir vor, den Quotienten der Einkommensquintile in das Indikatorensystem aufzu-nehmen (Schaubild 10). In jedem Fall sind aber breiter angelegte Umfragen und detailliertere Auswertungen der Einkommensteuerstatistik erforderlich, um die Datenbasis zu verbessern und die Verteilung der Einkommen je Konsumeinheit EU-weit genauer zu messen. Vermögen und Zeitverwendung

83. Der SSFC-Report hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass das Einkommen nicht der alleinige Bestimmungsgrund des materiellen Wohlstands ist. Ebenso sollte das Vermögen betrachtet werden, da es die Möglichkeit zur Schaffung von zukünftigem materiellem Wohl-stand umfasst. Unter diesem Gesichtspunkt ist es als ein wesentlicher Faktor der Nachhaltig-keit des Wohlstands anzusehen, die im vierten Kapitel vertieft behandelt wird. Die Messung des Vermögens ist jedoch schwierig, insbesondere auf der Individualebene. Dementsprechend hat die Bedeutung des Vermögens und der Vermögensverteilung für den materiellen Wohlstand bisher nur unzureichende Beachtung gefunden. Obwohl wir uns des möglichen Einflusses des Vermögens auf das Konsum- und Investitionsverhalten bewusst sind, schlagen wir wegen dieses Mangels an Informationen vor, keinen Vermögensindikator für das Indi-katorensystem auszuwählen. Ein erstes Hindernis bei der Aufnahme des Vermögens in die Analyse des materiellen Wohl-stands besteht in der Schwierigkeit, Vermögenspreise zu ermitteln. Insbesondere unterliegen die Preise von Wertpapieren starken Schwankungen und die Höhe der Preise hängen sehr wohl davon ab, ob sie vor oder nach dem Platzen einer Blase gemessen werden. Wie die

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jüngste Krise gezeigt hat, können auch die Immobilienpreise ähnlich volatil sein. Kurz gesagt: Die Messung und die Bewertung des Vermögens auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene sind zumindest eine große Herausforderung. Zudem betrachten die Individuen ihr Vermögen als eine vertrauliche Information, was die Erhebung von Daten auf der Individualebene behin-dert.

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6

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0

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0PT GR UK ES IT EU 27 EA 16 DE IE FR BE NL FI AT NO DK SE

Ungleichheit der Einkommensverteilung

Einkommensquintilverhältnis (S80/S20)

1) PT-Portugal, GR-Griechenland, UK-Vereinigtes Königreich, ES-Spanien, IT-Italien, EU-27-Europäische Union, EU-16-Euro-Raum, DE-Deutsch-land, IE-Irland, FR-Frankreich, BE-Belgien, NL-Niederlande, FI-Finnland, AT-Österreich, NO-Norwegen, DK-Dänemark und SE-Schweden.

Quelle: EU

Schaubild 10

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0

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4,5

5,0

5,5

6,0

6,5

01997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

20081)

Zeitraum von 1997 bis 2008

Frankreich

Deutschland

Vereinigtes Königreich

Italien

EU-27 EU-16

84. Da das Vermögen eher hoch konzentriert ist, müssten Befragungen gut geschichtet und recht umfangreich sein, um die hohe Varianz der unterschiedlichen Kapitalarten zu erfas-sen. In Frankreich wird alle fünf Jahre eine spezielle Umfrage dazu vorgenommen (Enquête Patrimoine). Die letzte Umfrage im Jahr 2009, deren Ergebnisse aber noch nicht verfügbar sind, konzentrierte sich auf die vermögenden Schichten (Schaubild 11). Ebenso wird die Ver-mögensverteilung in Deutschland alle fünf Jahre auf der Basis des Sozio-ökonomisches Panel

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(SOEP) analysiert. Ein weiterer erfolgversprechender Ansatz dazu ist die Vermögenserhe-bung des Systems der Europäischen Zentralbanken.

10

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010 20 30 40 50 60 70 80 90 1000

Bevölkerung (vH)

1) Werte sind nicht länderübergreifend vergleichbar.– 2) Nach Umverteilung.– 3) Gesamtes Haushaltsvermögen. Deutsche Werte beinhalten Rentenan-sprüche.

Lesehilfe: In Frankreich haben etwa Umv -beispielsweise 80 vH der Bevölkerung 64 vH des gesamten Einkommens nach erteilung und 36 vH des gesamten Haushaltsvermögens.

Quellen: INSEE, SOEP

Schaubild 11

Kumulierte Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland und Frankreich1)

Einkommen2) Vermögen3)Bevölkerung

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10 20 30 40 50 60 70 80 90 1000Bevölkerung (vH)

Deutschland: 2007 Frankreich: 2003

Folgt man den vorliegenden empirischen Studien, ist das Vermögen noch stärker konzentriert als das Einkommen. In Frankreich besaßen die oberen 10 vH (10. Dezil) der Kapitaleigner im Jahr 2003 etwa 46 vH des gesamten Vermögens (Schaubild 12). Im Vergleich dazu erzielte das obere Dezil der Einkommensbezieher nur etwa 22 vH des gesamten Einkommens. Wegen verschiedener konzeptioneller und empirischer Schwierigkeiten bei der Analyse des Vermö-gens sind die Daten für Deutschland nicht direkt mit den französischen Angaben vergleichbar.

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01. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Dezil

Vermögen der Haushalte nach Dezilen in Deutschland und Frankreich1)

1 000 Euro

1) Werte sind nicht länderübergreifend vergleichbar.– 2) Beinhalten Rentenansprüche.– 3) Zu den Einzelheiten siehe Household Wealth Survey(2003).

Quellen: INSEE, SOEP

Schaubild 12

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700

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01. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Dezil

Deutschland: 20072) Frankreich: 20033)

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CAE / SVR - Expertise 2010

Insbesondere enthalten letztere einen unterstellten Netto-Gegenwartswert der zu erwartenden Rentenzahlungen, was das geschätzte Vermögen am unteren Ende der Verteilung überpropor-tional beeinflusst. Gleichwohl bestärken die Vermögensangaben für Deutschland die grund-sätzliche Aussage, dass die Verteilung stark verzerrt ist. Für das Jahr 2007 zum Beispiel betragen die vergleichbaren Werte für das obere Dezil etwa 42 vH für das gesamte Vermögen und 24 vH für das Einkommen. Noch ausgeprägter zeigt sich der Unterschied zwischen der Vermögenskonzentration im Quotienten des Dezils der Bevölkerung mit dem höchsten Ver-mögen zum Dezil mit dem niedrigsten. Dieses Verhältnis ist beim Einkommen nach Umver-teilung in Frankreich etwa 1 zu 5 und in Deutschland 1 zu 6, und dieser Wert erhöht sich für das Vermögen um bis zu zweistellige Größenordnungen (INSEE, 2010; Sozio-ökonomisches Panel 2007). 85. Ähnliche Probleme wie bei den Berechnungen zum Vermögen – Unregelmäßigkeit der Information, Schwierigkeiten beim internationalen Vergleich – zeigen sich auch bei der Bere-chung zur Zeitverwendung. Trotz ihrer unzweifelhaften Bedeutung für eine umfassende Schätzung des materiellen Wohlstands – und trotz der Tatsache, dass die fünfte Empfehlung des SSFC-Reports für häufigere Zeitbudgeterhebungen enthält – kann dieser Punkt hier nicht weiter verfolgt werden. Zeitbudgeterhebungen werden leider zu unregelmäßig durchgeführt, um daraus einen brauchbaren Indikator für unser System abzuleiten. Allerdings wäre die Ent-wicklung von Satellitensystemen zum Vermögen und zur Zeitverwendung eine sinnvolle Aufgabe, und die Forschung auf diesem Gebiet sollte intensiv vorangetrieben werden. Ein Zwischenfazit

86. Zusammenfassend haben wir in diesem Abschnitt Indikatoren für das Einkommen, den Konsum und das Vermögen vorgestellt, wobei die Betonung sowohl auf der Haushalts- als auch auf der Pro-Kopf-Ebene liegt. Dies führt uns zu der Schlussfolgerung, dass die folgen-den drei Indikatoren für das Indikatorensystem ausgewählt werden sollten:

− Nettonationaleinkommen pro Kopf,

− private und staatliche Konsumausgaben pro Kopf und

− ein harmonisiertes Verteilungsmaß für das Nettoeinkommen pro Konsumeinheit, S80/S20.

5. Schlussbemerkungen

87. Im vorliegenden Kapitel wurden die ersten fünf Empfehlungen des SSFC-Reports ab-gehandelt. Dessen erste Empfehlung lautet, den aktuellen materiellen Wohlstand anhand des Pro-Kopf-Einkommens und -Konsums statt des BIP zu messen, das gleichwohl ein aussage-kräftiger Indikator für die Wirtschaftsleistung bleibt. Als Zweites empfiehlt der SSFC-Report bei Fragen des materiellen Wohlstands eine Betonung der Haushaltsperspektive, die dritte Empfehlung bezieht sich auf eine Betrachtung des Vermögens als eine wichtige Facette des Wohlstands. Die vierte Empfehlung betont die Bedeutung von Verteilungsaspekten bei Ein-kommen, Konsum und Vermögen und die Fünfte schlägt vor, die Perspektive durch die Ein-beziehung von nicht-marktmäßigen Aktivitäten zu erweitern.

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Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand 59

CAE / SVR - Expertise 2010

Unsere Ausführungen haben sich an der Einsicht orientiert, dass es zwar immer einen Spiel-raum zu einer weiteren Erhöhung des materiellen Lebensstandards gibt, dass es aber für die wohlhabenderen Länder wie Frankreich und Deutschland eine Herausforderung ist, den erreichten hohen Standard wirtschaftlicher Aktivität zu halten. Deshalb bleibt die Erfassung der Wirtschaftsleistung eine wichtige Aufgabe, und Verbesserungen bei der Messung des BIP sind deshalb ein wichtiges Ziel der ökonomischen und statistischen Forschung. Gleichwohl erinnert uns der SSFC-Report daran, die Begrenztheit des BIP als Maß für den Wohlstand im Auge zu behalten – ein Thema, das von den Ökonomen seit Jahrzehnten diskutiert wird. Des-halb hat die vorliegende Expertise erfolgversprechende Wege untersucht, um auf dem Weg von der Messung der Wirtschaftsleistung zur Beurteilung des materiellen Wohlstands voran-zukommen. 88. Die meisten Entscheidungsträger sähen es gern, wenn die Ökonomen ihnen „den“ ulti-mativen Indikator des materiellen Wohlstands zur Verfügung stellen würden. Wir stimmen voll und ganz mit der grundlegenden Schlussfolgerung aus dem SSFC-Report überein, dass dies vollkommen unrealistisch ist. Um auf dem Weg von dieser grundsätzlichen Einsicht zur praktischen Umsetzung realistischer Alternativen gegenüber den bisherigen statistischen Ma-ßen voranzukommen, schlagen wir sechs Indikatoren vor, die eine ausgewogene Balance zwischen der umfassenden Darstellung der Wirtschaftsleistung und des erreichten materiellen Wohlstands auf der einen Seite und der Erfordernis zur Einfachheit auf der anderen Seite an-streben. Dies sind die Indikatoren: − BIP pro Kopf, − BIP je Arbeitsstunde als Maß für die Produktivität der Wirtschaft, − Beschäftigungsquote der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren, − Nettonationaleinkommen pro Kopf, − private und staatliche Konsumausgaben pro Kopf, − ein international harmonisiertes Verteilungsmaß des Nettoeinkommens je Konsumeinheit

(Quotient aus dem obersten und untersten Quintil der Einkommensanteile, S80/S20). 89. Zusätzlich haben wir konkrete Schritte vorgeschlagen, die schnell getan werden müssen – insbesondere die Harmonisierung von Paneldaten zum Haushaltseinkommen – um eine kon-sistente Messung von Änderungen in der Einkommensverteilung zu erleichtern, zum Beispiel im Hinblick auf EU-SILC. Konkret sollte der Stichprobenumfang erhöht und ausgeweitet werden, wenn man umfassendere Erkenntnisse nicht nur zu Unterschieden in der Einkom-mensverteilung, sondern auch zu anderen Bestimmungsgrößen des materiellen Wohlstands erhalten will. Auch sollten regelmäßige Untersuchungen zu Unterschieden zwischen den Län-dern in der Zeitverwendung unternommen werden. Schließlich haben wir die Notwendigkeit zu weiteren statistischen Fortschritten bei der Messung der Sachleistungen und der immate-riellen Produktion herausgestellt – und, ganz allgemein, bei der statistischen Erfassung ver-schiedener wirtschaftlicher Bereiche.

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60 Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

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Eine Reform des Indikatorensystems zur Wirtschaftsleistung und zum erreichten materiellen Wohlstand ist wichtig. Um aber einen neuen Kompass für die Politik zu entwickeln, besteht der entscheidende Schritt darin, die öffentliche Kommunikation über Fortschritte in einem System von Indikatoren zu verankern, das zum einen nicht-materielle Aspekte des Wohl-stands und zum anderen die Nachhaltigkeit der derzeitigen Verhaltensmuster und des Wohl-standsniveaus besser berücksichtigt. Diese Fragen werden in den folgenden Kapiteln ange-sprochen.

Anhang: Die Untergliederung makroökonomischer Daten zur Berücksichtigung von Disparitäten zwischen den Haushalten

Für Frankreich sind zwei Informationsquellen zum Einkommen und zum Konsum verfügbar: Haushaltsrechnungen und Umfragen. Die Methode des INSEE baut eine Brücke zwischen beiden Ansätzen, um so die Haushaltsrechnungen auf Haushaltskategorien herunterzubrechen. Konkret werden die Haushaltsrechnungen mit Hilfe von Daten der VGR für 2003 und von fünf INSEE-Umfragen zum Einkommen und zum Konsum heruntergebrochen: Statistics on Household Income and Living Conditions (SILC, 2004), Taxable Income, Household Budget, Housing sowie Health. Hit Hilfe dieser Individualdaten werden die makrokönomischen Ag-gregate zum Einkommen und zum Konsum auf die verschiedenen Haushaltskategorien aufge-teilt. Jede Komponente des verfügbaren Einkommens und der Konsumausgaben (Löhne und Ge-hälter, Sozialleistungen, Mieten etc.) werden nach folgenden Schritten errechnet: − Auswahl der konkreten Umfrage, deren Definition derjenigen, die in der VGR für die un-

tersuchte Komponente verwendet wird, am nächsten kommt (zum Beispiel für Gesund-heitsausgaben Health Survey, und nicht Household Budget Survey).

− Berechnung des Durchschnittsbetrags für jede Haushaltskategorie (zum Beispiel durch-schnittliches Gehalt für jedes Lebensstandard-Quintil).

− Berechnung der entsprechenden Gesamtsumme durch Multiplikation des Durchschnittsbe-trags mit der Anzahl der Personen in jeder Kategorie.

− Anpassung der errechneten Summen an die Werte der VGR, deren Abdeckung auf die Haushalte Frankreichs (Mutterland) begrenzt ist.

Jede Komponente des verfügbaren Einkommens und der Konsumausgaben gemäß den VGR-Summen wird so auf Haushaltskategorien heruntergebrochen. Dies vereinfacht die Ableitung der gesamten verfügbaren Einkommen durch Aggregation aller Einkommenskomponenten einer bestimmten Haushaltskategorie. Das Gleiche gilt für die Konsumausgaben. Schließlich werden die Ersparnisse und die Sparquote auf dieser Basis abgeleitet.

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Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand 61

CAE / SVR - Expertise 2010

Zum Vergleich der verfügbaren Einkommen und der Konsumausgaben werden die Summen zuerst durch die Anzahl der Haushalte in der entsprechenden Kategorie dividiert, danach durch die durchschnittliche Anzahl der Konsumeinheiten in der Kategorie. Transfers zwischen Haushaltsmitgliedern werden einbezogen. Wenn die Haushaltsrechnungen zusammengefasst werden, sind Finanztransfers (wie Pflegegeldzahlungen oder finanzieller Beistand) und der Austausch von Waren und Dienstleistungen (Fahrzeuge, Kleidung, Elekt-rogeräte) zwischen Haushalten neutral in Bezug auf die VGR und werden deshalb nicht ge-trennt bewertet. Diese Transfers sind aber nicht gleichmäßig zwischen den Haushalten ver-teilt, da sie hauptsächlich an junge Menschen gerichtet sind. Deshalb müssen sie geschätzt und beim Herunterbrechen auf Haushaltskategorien berücksichtigt werden. Die Gesamtbeträ-ge werden aus dem Household Budget Survey übernommen, ebenso wie die Durchschnittsbe-träge, die jede Kategorie zahlt oder erhält. Diese Studien sind die Grundlage für die Messung der Kaufkraft jeder Haushaltskategorie und zeigen die Veränderung der Ungleichheit zwischen den Haushalten. Die Daten für das Jahr 2003 weisen für Frankreich (Schaubild 13) auf, dass das verfügbare Einkommen der wohlha-bendsten 20 vH (5. Quintil) der Haushalte fünfmal so hoch war wie das der 20 vH der Haus-halte am unteren Ende der Skala (1. Quintil). Mehr als die Hälfte der Einkommen im unters-ten Quintil bestand aus Sozialleistungen, und ein Drittel ihrer Ausgaben wurde für Verpflich-tungen, die kurzfristig kaum zur Disposition stehen – zum Beispiel Miete und Nebenkosten, Telefon, Versicherung verwendet.

1) Einzelhaushalte wohnhaft in Stadtregionen, ohne unterstellte Bankdienstleistungen (FISIM).– 2) Zu den Erklärungen der Definitionen siehe FamilyBudget Survey (2006).

Quelle: INSEE

Mit privaten GeldleistungenMit privaten Geldleistungen

Schaubild 13

Sparquoten nach der Einkommenshöhe in Frankreich im Jahr 20031)

Ohne private GeldleistungenOhne private Geldleistungen

Schätzung 22)Schätzung 12)

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10

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vH

1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil

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62 Wirtschaftsleistung und materieller Wohlstand

CAE / SVR - Expertise 2010

Die bedeutendste Ausgabe jedes Haushalts ist, unabhängig vom Lebensstandard, die Miete. Sie nimmt im Durchschnitt fast ein Viertel der privaten Konsumausgaben in Anspruch, wobei der Anteil mit dem Alter zunimmt. Haushalte von Arbeitern und solche von Rentnern haben in der gleichen Kategorie nahezu den gleichen Lebensstandard. Die Älteren konsumieren je-doch weniger, wobei sie aber weitgehend die Konsumgewohnheiten früherer Jahre beibehal-ten. Die Sparquote – der Anteil des verfügbaren Einkommens, der nicht für Konsum ausgegeben wird – erhöht sich mit dem Lebensstandard und dem Alter. Bei Selbstständigen ist sie beson-ders hoch, weil sie möglicherweise dadurch die Grundlagen für ihre geschäftliche Tätigkeit aufrechterhalten oder verbessern wollen. Die einkommensstärksten Haushalte sparen mehr als ein Drittel ihres Einkommens, die mit den geringsten Einkommen überhaupt nichts. Deren Sparquote ist sogar negativ – schätzungsweise zwischen –11 vH und 1 vH im Jahr 2003. Die im Wesentlichen Begünstigten privater Geldtransfers sind junge Menschen, Alleinerziehende und Menschen, denen es am schlechtesten geht. Unter Berücksichtigung der Transfers ist ihre Sparquote höher.

Literatur Atkinson, T. (2005) Atkinson Review: Measurement of Government Output and Productivity

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Cutler, David, Angus Deaton und Adriana Lleras-Muney (2006) "The Determinants Of Mor-tality," Journal of Economic Perspectives, Vol. 20, No 3, 97 - 120.

Fleurbaey, M. und Gaulier, G. (2007) “International Comparisons of Living Standards by Equivalent Incomes,” CEPII working paper, 2007-03.

INSEE (2005) Économie française, 2005-2006 edition: http://www.insee.fr/fr/themes/ document.asp?reg_id=0&ref_id=ECOFRA05d, Les revenues et le patrimoine des mé-nages, “Insee Références” series, 2010 ed.

INSEE (2009) L’économie française – Comptes et dossiers, edition 2009.

http://www.insee.fr/fr/themes/document.asp?ref_id=ECOFRA09d.

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Nordhaus, W. D. und James Tobin (1973) Is Growth Obsolete?", NBER Chapters, in: The Measurement of Economic and Social Performance, National Bureau of Economic Re-search, Inc., 509 - 564.

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DRITTES KAPITEL

Lebensqualität

Konzeptionelle Fragen: Die blaue oder die rote Kapsel?1.

2. Empirische Umsetzung: Kein Kinderspiel

Top-down-Ansätze: Verlockend, aber nicht überzeugend„Bottom-up“-Ansätze: Sinnvoll, aber nicht einfach

Berücksichtigung heterogener PräferenzenRein statistische Ansätze

LIteratur

3. Praktische Umsetzung: Frankreich und Deutschland

4. Elemente unseres Indikatorensystems: Eine detaillierte Diskussion

Die Auswahl der DimensionenLebensqualität in Frankreich und Deutschland

GesundheitBildungPersönliche AktivitätenPolitische Einflussnahme und KontrolleSoziale Kontakte und BeziehungenUmweltbedingungenPersönliche und wirtschaftliche Unsicherheit

5. Vorschläge zur zukünftigen ArbeitEin Résumé

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Lebensqualität 65

CAE / SVR - Expertise 2010

Lebensqualität

90. Das Leben besteht nicht nur aus materiellem Wohlstand. Die Menschheit wäre tatsächlich arm, wenn alles, nach dem wir strebten, nur materieller Natur wäre. Aus diesem Grund erkennt die vorliegende Expertise die Vielfalt der menschlichen Existenz an und geht bei der Be-schreibung der derzeitigen Gegebenheiten und der jüngeren Entwicklungen ganz bewusst über die Dokumentation und Diskussion von materiellen Wohlfahrtsmaßen hinaus. Gleichwohl müs-sen wir beim weiteren Vorgehen eine grundlegende Entscheidung treffen: Sollen wir die bisher üblichen Indikatoren des materiellen Wohlstands mit zusätzlichen, nicht-materiellen Informati-onen zu einem umfassenden Maß für „Happiness“ zusammenfassen? Wir sind ganz eindeutig der Meinung, dass dies der falsche Weg ist. Grund dafür sind die mangelnde interpersonelle und intertemporale Vergleichbarkeit, mögliche unüberwindbare Mess- und Interpretationsprob-leme sowie schließlich – und dies ist von besonderer Bedeutung – die Möglichkeit, ein derarti-ges Maß zu beeinflussen. Stattdessen besteht unsere grundlegende Sichtweise darin, ein Indikatorensystem zusammenzu-stellen, das eine verlässliche Orientierung erlaubt. Eine mündige Gesellschaft sollte die Vielfalt der Lebensumstände anhand eines Bündels von Indikatoren beurteilen können, die in einer ausgewogenen Balance hinreichend aussagekräftige Informationen enthalten, ohne deren Ad-ressaten aufgrund ihrer Komplexität zu überfordern. Nach unserer Auffassung gibt es überhaupt keine sinnvolle Alternative dazu, die Indikatoren des materiellen Wohlstands, die im vorherigen Kapitel abgeleitet wurden, durch ein wohldosiertes Bündel von Indikatoren zu ergänzen, die die aktuelle Lage der wesentlichen nicht-materiellen Aspekte des Lebens widerspiegeln. Grund-sätzlich erscheint jede wie auch immer geartete Gewichtung dieser Aspekte als vollkommen willkürlich. In diesem Sinne ist alles, was wir anbieten, die Wahrheit – nicht mehr.

1. Konzeptionelle Fragen: Die blaue oder die rote Kapsel?

91. Um sich dem abstrakten Begriff der Lebensqualität zu nähern, kann man zwei grundsätz-liche Blickwinkel einnehmen: „top-down“ – von einem umfassenden Maß der individuellen Wohlfahrt hin zu seinen konstituierenden Elementen – oder „bottom-up“ – von den individuel-len Aspekten der menschlichen Existenz hin zu einer umfassenden Aussage über das Wohlbe-finden. Nach tiefgehenden konzeptionellen Erwägungen haben wir uns eindeutig für die „bot-tom-up“-Perspektive entschieden, da die empirische Umsetzung des „top-down“-Ansatzes auf sehr restriktiven, nach unserer Einschätzung nicht zu rechtfertigenden Identifikationsannah-men beruhen würde. „Top-down“-Ansätze: Verlockend, aber nicht überzeugend

92. Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, dass wir unser wesentliches Ziel, über die derzeitige Lebensqualität zu berichten, aus der „top-down“-Perspektive ohne Weiteres errei-chen können. Diese Perspektive würde anerkennen, dass jegliche Beschäftigung mit der Le-bensqualität letztlich das subjektive Wohlbefinden (SWB) von Individuen betrifft und nicht einzelne objektive Teilsaspekte wie Einkommen oder Konsum. In diesem Sinne wären mate-rielle Indikatoren nur schlechte Annäherungen an das, was man eigentlich messen will. Wenn es tatsächlich möglich wäre, „Zufriedenheit“, „Lebensglück“ oder „Happiness“ empirisch sau-

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ber direkt zu messen, bestünde nach dieser Sichtweise die berechtigte Hoffnung, diese Infor-mation zur Konstruktion eines aggregierten Indikators für die Lebensqualität nutzen zu kön-nen. Er wäre geeignet, die objektiven Maße wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) allesamt zu ersetzen. Ein derartiger Indikator könnte das SWB jedes Mitglieds der Gesellschaft aufsummieren und zu einem einzelnen Wert aggregieren. Wesentliches Element wäre die umfassende Einschätzung jedes Individuums bezüglich seines erreichten Standes an Wohlfahrt („top“). Um über das er-reichte Niveau und jüngere Entwicklungen zu berichten, würde man keine zusätzlichen Infor-mationen über irgendeinen Teilaspekt des SWB des Einzelnen benötigen. Ein Beispiel für den Versuch, einen derartigen Indikator umzusetzen, ist die „Lebenszufriedenheit („satisfaction with life“), wie sie in den unterschiedlichen Veröffentlichungen des World Values Survey dar-gestellt wird. Die Korrelation dieses Maßes mit dem BIP pro Kopf ist zwar positiv, aber alles andere als sehr ausgeprägt (erstes Kapitel, Abbildung 1). Aus diesem Grund fühlen sich die Befürworter dieses Maßes in ihren Zweifeln bestärkt, dass das BIP als ein umfassender Wohl-fahrtsindikator herangezogen werden kann. 93. Als Folge der sehr einschränkenden Identifikationsannahme, dass das wirkliche SWB durch direkte Beobachtung ermittelt werden kann, besteht die wesentliche Herausforderung der „top-down“-Perspektive darin, dieses auf der Individualebene richtig zu messen. Dabei müssten sich die Wissenschaftler Problemen stellen, die sich aus Fehleinschätzungen oder strategi-schem Verhalten der Antwortenden ergeben. Es müssten Routinen entwickelt werden, um die Informationen regelmäßig, zu festgesetzten Zeitpunkten und zu vertretbaren Kosten zu erhalten. Ferner wäre Vergleichbarkeit über verschiedene Gesellschaften und im Zeitablauf zu gewähr-leisten. Diese Einwände wären aber nur technischer Natur und deshalb noch verhältnismäßig leicht zu überwinden. Aber auch dann beruhte der Ansatz immer noch auf der zentralen An-nahme, die wir für nicht sehr überzeugend halten, nämlich dass sich das wirkliche SWB direkt beobachten lässt. 94. Wäre man von diesem Maß völlig überzeugt, so hätte dies eine zweifache politische Be-deutung: Erstens könnte die Leistung einer Regierung direkt durch einen Vergleich des umfas-senden SWB zu verschiedenen Zeitpunkten bestimmt werden. Zweitens könnte das Wissen, wie einzelne politisch beeinflussbare Aspekte das umfassende SWB beeinflussen, für die Ausges-taltung der Politik wichtig werden. Als Konsequenz würde der „top-down“-Ansatz neben der Beurteilung des erreichten SWB erfordern, dass in weiteren analytischen Schritten dessen Ein-flussfaktoren identifiziert und deren Effekte quantifiziert werden. Die möglichen Bestimmungsgrößen der Lebenszufriedenheit sind vielfältig. So zählt Layard (2005) „die großen sieben“ Faktoren auf, die „Happiness“ beeinflussen, darunter familiäre Be-ziehungen, die finanzielle Situation, Gesundheit und persönliche Freiheit. Ähnlich unterschei-den Frey und Stutzer (2001) persönliche, sozio-demographische, wirtschaftliche, Umfeld- und institutionelle Faktoren als wesentlich für das SWB. Die Literatur befasst sich ausführlich mit der Korrelation zwischen diesen Faktoren und umfassenden Indizes des SWB. Errechnet wur-

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den die Korrelationen anhand zahlreicher empirischer Ansätze, insbesondere auch mit Umfra-gedaten. Wie auch immer vorgegangen wurde, die zentrale Annahme ist dabei, dass sich das SWB di-rekt messen und empirisch erklären lässt. Danach kann zum Beispiel der Effekt, seinen Ar-beitsplatz zu verlieren, direkt mit den Auswirkungen einer Scheidung verglichen werden (Ta-belle 5). Für diejenigen Determinanten des Wohlbefindens, die von der Regierung beeinflusst werden können, zum Beispiel „Qualität der Regierung“, könnte man mit Hilfe entsprechender Analysen politische Empfehlungen ableiten und den Einfluss politischer Maßnahmen abschät-zen.

Rückgang der Zufriedenheit(Punkte)

Finanzielle SituationRückgang des Familieneinkommens um ein Drittel 2

Familiäre BeziehungenGeschieden (anstatt verheiratet) 5 Getrennt (anstatt verheiratet) 8 Verwitwet (anstatt verheiratet) 4 Nie verheiratet (anstatt verheiratet) 4,5 Zusammenlebend (anstatt verheiratet) 2

ArbeitArbeitslos (anstatt beschäftigt) 6 Unsichere Arbeitsstelle (anstelle von sicher) 3 Arbeitslosenquote um 10 Prozentpunkte höher 3

Gesellschaft und Freunde"Grundsätzlich kann man Menschen vertrauen"

Anteil derer, die dem zustimmen, sinkt um 50 Prozentpunkte 1,5

GesundheitSubjektive Gesundheit sinkt um 1 Punkt (auf einer 5-Punkte-Skala)2) 6

Persönliche FreiheitQualität der Regierung

Weißrussland 1995 anstelle von Ungarn 19953) 5

Persönliche Werte"Gott ist wichtig in meinem Leben"

Die Antwort lautet eher nein als ja 3,5

1) Quellen: Layard (2005) und Helliwell (2003), auf Grundlage des World Values Survey. Darin werden Antworten von87 806 Menschen aus 46 Ländern in drei Befragungswellen zu ihrer mittels einer Zehnpunkteskala von 1 bis 10 gemes-senen Lebenszufriedenheit (Mittelwert 6,8, Standardabweichung 2,4) erfasst. Für diese Tabelle wird der Effekt von je-weils einer Änderung geschätzt, während alle anderen Lebensumstände unverändert bleiben. Die Schätzung erfolgtmittels dem Verfahren der kleinsten Quadrate mit fixed effects für Ländergruppen, Befragungswellen, Alter, Bildungs-stand und sozialen Variablen. Die Zahlen sind mit 10 multipliziert, sodass die Zufriedenheitsskala von 10 bis 100 geht.

2) Lesehilfe: Alles übrige gleichbleibend führt ein Rückgang der subjektiven Gesundheit um 1 Punkt (gemessen auf einer5-Punkte-Skala) zu einem Rückgang der Zufriedenheit um 6 von 100 Punkten.

3) Lesehilfe: Alles übrige gleichbleibend führt ein Wechsel von Ungarn im Jahr 1995 nach Weißrussland im Jahr 1995 zu einem Rückgang der Zufriedenheit um 5 von 100 Punkten.

Auswirkungen auf die Zufriedenheit1)

Tabelle 5

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zur Tabelle
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95. Trotz der Euphorie, mit der diese Vorteile oftmals beschrieben werden, ist die dahinter stehende Idee einer direkten Messbarkeit des individuellen SWB bei näherer Betrachtung nur schwerlich aufrecht zu halten. Insbesondere beruht der „top-down“-Ansatz auf der Annahme, dass die subjektiven Einschätzungen des Wohlbefindens tatsächlich wahre Reflektion eines tatsächlichen Zustands des Wohlbefindens sind, dessen sich das Individuum bewusst ist, was aber wegen der Komplexität der Zusammenhänge von einem Wissenschaftler nicht in Gänze durchschaut werden kann. Nur unter dieser Bedingung können die „harten“ Indikatoren, die bis heute eine zentrale Rolle einnehmen, überzeugend durch umfassendere Maße wie die hier be-schriebenen ersetzt werden. Nach unserer Einschätzung gibt es jedoch gute Gründe dafür, der in den meisten empirischen Arbeiten im Bereich der Wirtschaftswissenschaften geäußerten Vermutung zu folgen, dass nämlich Fakten überzeugender sind als Worte und dass nichts die wahren Präferenzen mehr offen legt als aktuelle Wahlentscheidungen. Aussagen über Präferenzen sind immer nur ein unzureichender oder gar in die falsche Richtung führender Ersatz für derartige Offenlegungen. So ist die Übersetzung des wahren Wohlbefindens in eine von einem Wissenschaftler erfasste Aussage durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, zum Beispiel durch strategisches Antwortver-halten. 96. Zudem steht die „top-down“-Perspektive in Konflikt zu Erkenntnissen über Diskrepan-zen zwischen Fakten und Wahrnehmung. Viele verleugnen, dass sich ihre Lebensqualität in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erhöht hat, obwohl die Wertschöpfung und die damit ver-bundenen Konsummöglichkeiten ebenso zugenommen haben wie andere objektiv messbare Faktoren. Vor dem Hintergrund derartiger Fehleinschätzungen kann kaum dazu geraten werden, Maße des Wohlbefindens zu entwickeln und aus subjektiven Äußerungen sogar politische Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wenn man die Diskrepanzen zwischen Fakten und Wahr-nehmung als eine wesentliche Eigenart der menschlichen Existenz akzeptiert, verliert der „top-down“-Ansatz schnell seinen Charme. Ihn zu verordnen und ein Maß für das SWB auf der Ba-sis von Befragungen zu entwickeln, kann kaum der richtige Schritt sein. Nach unserer Ein-schätzung gibt es schon genügend Versuche verschiedenster Akteure, die derzeitige Lage im Eigeninteresse zu verschleiern. Stattdessen sollten die Ressourcen besser dafür eingesetzt wer-den, objektive Informationen zusammenzutragen, deren Transparenz zu erhöhen und sie noch leichter zugänglich zu machen. „Bottom-up“-Ansätze: Sinnvoll, aber nicht einfach

97. Aus diesen Gründen ist es ratsam, nicht-materielle Einflüsse auf die Lebensqualität aus einer Sichtweise abzubilden, die nicht auf den engen Identifikationsannahmen des „top-down“-Ansatzes beruht. Der „capability“-Ansatz von Sen (1999) zum Beispiel nimmt die Fähigkeiten und die Freiheit eines menschlichen Individuums in den Blick und ist sich dabei der Schwierig-keiten bewusst, diese unterschiedlichen Facetten von Lebensqualität zu einem einzigen Indika-tor zu verdichten. Wir sprechen uns klar dafür aus, einem solchen anspruchsvollen Vorgehen zu folgen und die „bottom-up“-Perspektive einzunehmen. Ihr Ausgangspunkt ist wiederum die Erkenntnis, dass eine große Bandbreite unterschiedlicher Faktoren das Leben lebenswert macht und dass sich nur ein Teil dieser Faktoren in monetären Größen bewerten lässt.

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Dieser Ansatz ist von individuellen, nicht-materiellen Aspekten der menschlichen Existenz ausgehend nach oben („up“) auf ein umfassendes Wohlergehen gerichtet und nicht von einem recht unvollkommenen Maß des Wohlergehens nach unten („down“) auf dessen Einzelelemen-te. Die Idee hinter diesem von uns favorisierten Ansatz ist die folgende: Wenn es möglich ist, (i) die Vielfältigkeit relevanter Faktoren systematisch in eine begrenzte Zahl von Dimensionen einzuordnen und (ii) diese Faktoren zumindest innerhalb der einzelnen Dimensionen zu einem operationalen Indikator zu verdichten, dann würde ein zutreffenderes Bild der gesellschaftli-chen Wohlfahrt entstehen. Dabei würden wir keinesfalls versuchen, ein einziges, umfassendes Maß für gesellschaftliches Wohlergehen zu entwickeln. Die Komponenten dieses umfassenden Bildes müssten von den Nutzern der Information vielmehr selbst gewichtet werden, nicht von Wissenschaftlern als deren Produzenten. Letztlich ist dies die eigentliche Idee hinter unserem Indikatorensystem und das Leitmotiv dieser Expertise. 98. Bei der Umsetzung dieses Ansatzes sieht man sich drei Herausforderungen gegenüber: Erstens ist es erforderlich, die Fülle der unterschiedlichen Faktoren systematisch „Dimensio-nen“ zuzuordnen. Dabei sollen der Wunsch, die Komplexität des Phänomens abzubilden, und die Notwendigkeit zur Sparsamkeit in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Dementsprechend definieren wir „Dimensionen“ als Gruppen von Indikatoren, die sich so auf vergleichbare Aspekte der menschlichen Existenz beziehen, dass sich die daraus resultierenden Dimensionen nicht ohne einen deutlichen Verlust an Information weiter verdichten lassen. Wo man in der empirischen Umsetzung dabei die Grenzlinien zieht, kann nicht eindeutig be-stimmt werden. Die Ausführungen im SSFC-Report zu diesen Abgrenzungsproblemen sind unseres Erachtens ein angemessener Ausgangspunkt. Um den „capabilities“-Ansatz anzuweden, hat zum Beispiel auch Nussbaum (2000) zehn Dimensionen betrachtet, darunter körperliche Gesundheit, Emotionen und Bindungen – eine Liste, die, wie unsere Ausführungen im nächsten Abschnitt zeigen werden, sehr ähnlich zu der im SSFC-Report verwendeten ist. 99. Zweitens müssen individuelle Indikatoren, die geeignet sind, jede dieser Dimensionen umfassend zu beschreiben, aus einer sehr großen Zahl möglicher Maße ausgewählt werden. Dabei müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: Einerseits sind die ausgewählten individuellen Indikatoren so vollständig wie möglich die gesamte Bandbreite der Erfahrungen innerhalb einer Dimension abzubilden. So sollten zum Beispiel im Bereich Gesundheit nicht nur die Sterblichkeitsraten von Kindern einbezogen werden, sondern die für alle betroffenen Unter-gruppen der Bevölkerung. Daraus folgt, dass die Korrelation zwischen den Indikatoren nicht zu eng sein darf. Andererseits sollte die Zahl der Indikatoren ausreichend klein bleiben, damit man sie noch handhaben kann. Konkret sollte der zusätzliche Erkenntnisgewinn durch Hinzufügen eines weiteren Indikators oberhalb einer zuvor festgelegten Schwelle liegen. Es ist sinnvoll, soweit wie möglich „harte“ individuelle Indikatoren heranzuziehen, die (i) re-gelmäßig zu einem festgelegten Zeitpunkt und (ii) zu vertretbaren Kosten erhoben werden und die darüber hinaus (iii) im Zeitablauf und zwischen unterschiedlichen Gesellschaften vergleich-bar sind. Gleichwohl werden „harte“ Indikatoren nicht ausreichen, um alle Facetten in ihrer Gesamtheit abzubilden. Deshalb müssen sie durch weitere Indikatoren ergänzt werden. Ein ers-ter Einstieg dazu sind soziale Indikatoren, deren Erhebung in den siebziger Jahren deutlich

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ausgeweitet worden war. Das Europäische System Sozialer Indikatoren enthält mehrere hundert Indikatoren für verschiedene Lebensbereiche. Allerdings messen sie aus Sicht des „capabili-ties“-Ansatzes meist erreichte Fähigkeiten oder Zustände und nicht Chancen. Um Daten zu Fä-higkeiten im zuletzt genannten Sinne zu erhalten, sind zusätzliche Informationen erforderlich. 100. Die dritte Herausforderung ist die angemessene Aggregation der individuellen Indikato-ren zu einem umfassenden Indikator für jede der Dimensionen. Dazu müssen Gewichtungs-schemata festgelegt werden, die abbilden sollen, welchen Wert Individuen den einzelnen As-pekten einer jeden Dimension beimessen. Sie müssen entweder aus empirischen Untersuchun-gen (mit Hilfe von Kontrasten, „up“) abgeleitet oder von einem Wissenschaftler auf der Basis von a priori-Setzungen oder statistischer Analysen vorgegeben werden. In jedem Fall muss man eine Reihe mehr oder weniger strenger Identifikationsannahmen treffen, um die vorliegenden Informationen zu einem umfassenden Indikator zu verdichten. Es besteht keine Hoffnung, eine eindeutige Lösung für dieses Aggregationsproblem zu finden. Grundsätzlich wissen Ökonomen eine Menge über Präferenzordnungen. Ein viel beachteter empirischer Ansatz mit Wurzeln in der Wohlfahrtökonomik ist das Konzept der Zahlungsbe-reitschaft. Zum Beispiel könnte eine Gesellschaft indifferent zwischen einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 30 000 Euro und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 75 Jahren und entsprechenden Werten von 55 000 Euro und 65 Jahren sein. In diesem Fall kann dem Wohlfahrtsgewinn einer Verlängerung der Lebenserwartung ein monetärer Wert zugeord-net werden. Allerdings hängt die Zahlungsbereitschaft stark vom erzielten Einkommen der Handelnden ab und dürfte zu Gunsten der Besserverdienenden verzerrt sein. Um die Nachteile dieses Konzepts zu vermeiden, versucht die Theorie der fairen Verteilung, Referenzzustände für individuelle Situationen zu finden, die einen Vergleich der Wohlfahrt zwischen Individuen erlauben. Allerdings könnte das Auffinden der zutreffenden Referenz genauso problematisch sein wie die Messung individueller Präferenzen. Folglich ist die Zuordnung von monetären Ä-quivalenten in der praktischen Arbeit entmutigend. 101. Wesentliche Prämisse unseres Ansatzes ist es, dass die zusammenfassenden Indikatoren, die für jede Dimension entwickelt werden, nicht weiter zu einem allumfassenden Indikator für die Lebensqualität aggregiert werden. Die einzelnen Dimensionen werden schließlich dadurch definiert, dass eine weitere Aggregation nur unter Inkaufnahme eines erheblichen Verlusts an Information möglich wäre. So könnte man nach einer sorgfältigen Abwägung möglicherweise rechtfertigen, die Sterblichkeit in verschiedenen Altersgruppen, die Inanspruchnahme von Prä-ventionsmaßnahmen und typische Wartezeiten für eine medizinische Behandlung zu einem „Gesundheitsindikator“ zusammenzufassen. Aus unserer Sicht ist es aber konzeptionell nicht zu rechtfertigen, Gesundheitsbelange etwa gegenüber sozialer Teilhabe abzuwägen. Da die indivi-duellen Indikatoren nicht-kardinal und die Präferenzen der Individuen heterogen sind, kann dem Sozialwissenschaftler kein sinnvolles Aggregationsschema an die Hand gegeben werden. 102. Die Verdichtung von Informationen aus der Individualebene zu umfassenden Indikatoren sieht sich notwendigerweise drei weiteren schwerwiegenden Problemen gegenüber: Erstens muss geklärt werden, wie Ungleichheit berücksichtigt werden kann. Die Bildung eines Durch-

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schnitts über die Mitglieder einer Gesellschaft ist immer mit einem Verlust an Information über die Verteilung des betrachteten Phänomens verbunden. Bei beachtlicher Ungleichheit kann die Konzentration auf den Mittelwert der Bevölkerung ein gravierendes soziales Problem verber-gen. Mit Blick auf den materiellen Wohlstand sind diese Bedenken im vorherigen Kapitel be-handelt worden. Da diese Expertise einen ersten Versuch darstellt, die regelmäßige Berichter-stattung über das Wohlbefinden einer Gesellschaft um nicht-materielle Aspekte anzureichern, scheint es gleichwohl ratsam, sich auf die ersten Momente der Verteilungen zu konzentrieren. Unserer Einschätzung nach sollte man erst dann tiefer eindringen und höhere Momente der Verteilungen analysieren, wenn die vorgeschlagene Strategie die ersten Tests erfolgreich be-standen hat. Zweitens können Merkmale wie Einkommen, Ausbildung und Gesundheit hoch korreliert über die verschiedenen Dimensionen der Lebensqualität sein. Deshalb würde deren interaktiver Cha-rakter vernachlässigt, wenn man eine jede Dimension nur für sich betrachtet analysiert. Statt-dessen wäre es erforderlich, gemeinsame Verteilungen zu untersuchen. Aus den gleichen Gründen, die uns überzeugt haben, nur die ersten Momente zu betrachten, zögern wir auch hier, gegenwärtig über die marginalen Verteilungen hinauszugehen. Drittens können Ungleichhei-ten sich im Zeitablauf verfestigen, was Chancengleichheit ausschließt. Schnappschüsse können derartige Probleme nicht enthüllen. Dies ist für alle sozialwissenschaftliche Forschung ein ernsthaftes Problem. Allerdings legt es die jährliche Betrachtung im Berichtswesen nahe, sich auf laufende Informationen zu beschränken.

2. Empirische Umsetzung: Kein Kinderspiel

103. Innerhalb jeder Dimension der Lebensqualität tragen viele unterschiedliche Facetten, die durch individuelle Indikatoren als deren operationale Äquivalente abgebildet werden, zum jeweils erreichten Zustand bei. Unserem „bottom-up“-Ansatz folgend müssen wir die vielfälti-gen Informationen, die im komplexen Zusammenspiel aller verfügbaren Indikatoren bereitge-stellt werden, zu einem handhabbaren umfassenden Indikator verdichten, wobei wir bewusst einen Verlust an Information hinnehmen. In der jüngeren ökonometrischen Forschung werden interessante Wege zur empirischen Erreichung dieses Ziels unter besonderer Berücksichtigung der individuellen Heterogenität aufgezeigt (beispielsweise Ferrer-i-Carbonell und Frijters, 2004; Frijters et al., 2004). Allerdings schlagen wir vor, sich derzeit stattdessen noch auf a priori-Überlegungen oder statistische Ansätze zur Komplexitätsreduktion zu verlassen. Berücksichtigung heterogener Präferenzen

104. In ökonomischen Überlegungen nehmen individuelle Präferenzen eine zentrale Rolle ein. Da diese nicht direkt beobachtbar sind, ist eine empirische Umsetzung leider nicht ohne Weiteres möglich. Dies berührt auch die Untersuchung individueller Indikatoren zur Lebens-qualität, denn die Einstellung der Individuen zu den unterschiedlichen Facetten des Lebens ist alles andere als offensichtlich. Um zu einer zufriedenstellenden Beschreibung der Einschätzun-gen zu gelangen, die mit unterschiedlichen Begleitumständen verbunden sind, stehen Wissen-schaftlern grundsätzlich zwei Vorgehensweisen zu Verfügung: Sie können den Antworten aus Umfragen oder der impliziten Offenlegung der Präferenzen durch Handlungen vertrauen. Die

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traditionelle empirische Wirtschaftsforschung bevorzugt eher Ansätze mit offenbarten Präfe-renzen und folgt damit der Erkenntnis, dass es vergleichsweise realistisch ist zu hoffen, Präfe-renzordnungen aus der erfolgten Auswahl zwischen unterschiedlichen Güterbündeln ableiten zu können. Allerdings ist die Hoffnung gering, das Nutzenniveau, das aus einem bestimmten Güterbündel resultiert, ohne strenge Identifikationsannahmen bestimmen zu können. Will man diesen Nutzen oder die Wertschätzung von nicht auf Märkten gehandelten Aspekten des Lebens bestimmen, muss man sich weitgehend auf die Auswertung von Umfragen verlassen. 105. Leider weisen Umfragedaten oft einige signifikante Defizite auf. (Noch vermehrt gilt dies, wenn man direkte Maße des umfassenden SWB unter Anwendung des „top-down“-Ansatzes ableiten will) Missverständnisse oder eine falsche Wahrnehmung seitens der Befrag-ten oder auch einfach nur Fahrlässigkeit können zu ernsthaften Messfehlern führen. Auch kön-nen die Befragten strategisch antworten. Zudem gibt es kurzfristige positive oder negative Einflüsse auf das subjektive Wohlbefinden und damit auf die Lebenszufriedenheit, und diese kurzfristigen Emotionen könnten die Umfragedaten verfälschen. Schließlich können die Ant-worten durch eine partielle Anpassung an eine neue Situation verzerrt sein, zum Beispiel an eine plötzlich aufgetretene Behinderung oder an die Erfüllung individueller Wünsche („hedonic treadmill“). Selbst wenn man diese Probleme vernachlässigen könnte, so träten doch größere Probleme bei der Vergleichbarkeit der Antworten im Zeitablauf oder für verschiedene Gesellschaften auf. Es ist zu erwarten, dass Antworten schon allein wegen des sozialen Umfelds differieren, auch wenn die tatsächlichen Umstände gleich sind. Ob man bestimmte Ereignisse mit drastischen und dauerhaften Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit verbindet, hängt nicht zuletzt von der gesellschaftlichen Einschätzung ihrer Unvermeidbarkeit ab. Wichtig für das Verständnis des geäußerten subjektiven Wohlbefindens sind letztlich die Referenzpunkte (Helliwell und Barrington-Leigh, 2010). 106. In der jüngeren ökonometrischen Literatur wurden ernsthafte Versuche unternommen, Umfragedaten um derartige subjektive Einflüsse zu bereinigen, zum Beispiel durch Einbezie-hung von Erkenntnissen im Umgang mit Panel-Daten. Derartige Untersuchungen ziehen meh-rere Informationen über die gleiche Beobachtungseinheit heran und setzen die Identifikations-annahmen entsprechend den Gegebenheiten der Daten: Unter der Annahme, dass der unbeo-bachtete kulturelle Einfluss auf das Antwortverhalten – eine Spielform der „unbeobachteten Heterogenität“ – im Zeitablauf konstant ist, lassen sich die marginalen Effekte von Variationen in den erklärenden Variablen erfolgreich identifizieren. Während dies die Analyse von Kontras-ten erlauben würde, bleibt es doch schwierig, das Niveau des Wohlbefindens zu messen. Diese Einschränkung gilt auch beim Einsatz alternativer Messkonzepte, zum Beispiel beim „brain imaging“. Auch hier ist man weit davon entfernt, das Niveau des Wohlbefindens zu messen. Und dies ist letztlich unser Ziel. Rein statistische Ansätze

107. Anstelle eines überzeugenden empirischen Vorgehens zur Gewinnung zufriedenstellender Aggregationsgewichte auf der Basis von Präferenzen könnte man sich für jede der Dimensionen

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auf a priori-Überlegungen verlassen und einen bestimmten Leitindikator aus den zur Verfü-gung stehenden Indikatoren als repräsentativ auswählen. Dieses Vorgehen zur Überwindung der komplizierten Messprobleme im Zusammenhang mit der beabsichtigten Offenlegung von Präferenzordnungen ist sowohl robust als auch transparent. Da dieses Verfahren zudem leicht zu verstehen und zu interpretieren ist und auch in Fällen angewendet werden kann, in denen nur sehr wenige Indikatoren vorliegen, ist es in der Praxis sehr verbreitet. Gleichwohl dürfte es im-mer sehr schwierig sein, eine so vorgenommene Auswahl zu begründen. Demzufolge wird jeder noch so sorgfältig ausgewählte Leitindikator immer im Verdacht stehen, in besonderem Maße subjektiv oder sogar willkürlich zu sein. Trotz allem macht ihre Robustheit den Einsatz von Leitindikatoren zu einem vielversprechen-den Ansatz. Deshalb setzen wir ihn in unseren Anwendungen häufig ein. Insbesondere ziehen wir Leitindikatoren heran, wenn passende Indikatoren selten und wenn sie hoch korreliert sind. In vielen Dimensionen der Lebensqualität werden überhaupt nur wenige geeignete Indika-toren erfasst. Zudem werden einige Indikatoren nur in großen oder sogar unregelmäßigen zeit-lichen Abständen erfasst. Schließlich sind viele der individuellen Indikatoren international nicht vergleichbar. 108. Eng verwandt mit der Wahl eines einzelnen Leitindikators ist der Rückgriff auf einen zusammengesetzten Indikator, der bereits von einem statistischen Amt oder einem For-schungsinstitut bereitgestellt wird. Dieser wird im Normalfall als Linearkombination individu-eller Indikatoren konstruiert. Auch wenn dieser Ansatz wegen des verwendeten Gewichtungs-schemas ebenfalls als subjektiv gewertet werden kann, so trennt er doch die Konstruktion des Indikators von dessen Anwendung bei der Erforschung der Lebenszufriedenheit. Noch wichti-ger: Vertraut man auf die Erfahrung und die Kompetenz der Institutionen, die derartige zusam-mengesetzte Indikatoren entwickelt haben, kann dies sogar als ein Schritt zu mehr Objektivität verstanden werden. 109. Eine weitere Alternative ist die Anwendung eines statistischen Verfahrens zur Komple-xitätsreduktion. In der Fachliteratur findet sich eine große Zahl von entsprechenden Verfahren (OECD, 2008). Alle verfolgen sie das Ziel, so viel wie möglich an Information, die in einem großen Set von Variablen enthalten ist, unter der Nebenbedingung zu bewahren, dass sie von einem reduzierten Set von Variablen dargestellt werden kann. Gemäß unserem „bottom-up“-Ansatz möchten wir innerhalb jeder unserer Dimensionen genau einen umfassenden Indikator ermitteln, der die Situation so genau wie möglich wiedergibt. Ein derartiger statistischer Algo-rithmus hat den Vorteil einer größeren Objektivität als die Auswahl eines Leitindikators. Der offensichtliche Nachteil dabei ist das mechanistische Vorgehen, weil ein Algorithmus natur-gemäß auf den Inhalt der Variablen, die er verdichtet, keine Rücksicht nimmt. Deshalb sollte man statistische Ansätze nur mit der erforderlichen Sorgfalt einsetzen. 110. Als statistischen Ansatz zur Komplexitätsreduktion wählen wir eine einfache nicht-parametrische Methode, die Hauptkomponentenanalyse („Principal Components Analysis“; PCA). Die PCA hat eine Reduktion der Dimensionalität eines Datensatzes, der aus einer großen Anzahl untereinander verbundener Variablen besteht, zum Ziel, wobei soviel wie möglich an

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Variation in den Originaldaten erhalten werden soll (Jolliffe, 2002). Grundsätzlich könnte man immer mehrere Hauptkomponenten bestimmen; uns geht es aber darum, genau eine – die ers-te – zu errechnen, die dann als umfassender Indikator für die jeweils betrachtete Dimension genutzt wird. Diese Komponente ist ein gewichteter Durchschnitt der dahinter verborgenen individuellen Indikatoren und beinhaltet soviel wie möglich von deren Varianz. Für einen Ni-veauvergleich über Länder ist die erste Hauptkomponente allerdings problematisch, da sich die Gewichte ebenso unterscheiden wie der Anteil der Varianz, der durch die erste Hauptkom-ponente erklärt wird. Deshalb vermeiden wir internationale Niveauvergleiche mittels einer PCA. Aber wir nutzen die Methode, um getrennt für Frankreich und Deutschland die zeitliche Entwicklung zu vergleichen. Ausgangspunkt einer PCA ist die Definition eines Sets von einzelnen Variablen. Dadurch ist auch bei diesem Verfahren ein gewisses Maß an Subjektivität enthalten. Allerdings wird es wohl nie einen vollkommen objektiven Ansatz geben. Die Ergebnisse eines statistischen Ver-fahrens zur Komplexitätsreduktion werden immer von der Datenverfügbarkeit und der Kompe-tenz des Wissenschaftlers abhängen, der es anwendet. Insbesondere könnten erhebliche Prob-leme entstehen, wenn wichtige individuelle Indikatoren aus dem ursprünglichen Set der Variab-len nicht mehr einbezogen werden, weil sie gar nicht oder nur unregelmäßig erhoben werden. Genauso problematisch ist es, überflüssige Information in das ursprüngliche Set von Variablen aufzunehmen. Aus diesem Grund testen wir mit Hilfe des Kaiser-Meyer-Olkin- (KMO-)Maßes formal, ob die ausgewählten Variablen genügend Gemeinsamkeiten haben, um eine PCA über-haupt durchführen zu können (Kaiser, 1970 und 1974). Dieses Maß nimmt Werte zwischen 0 und 1 an, wobei niedrige Werte eine unzureichende Gemeinsamkeit anzeigen. Konkret hängt unsere Entscheidung über die weitere Verwendung von einem KMO-Wert von mindestens 0,5 ab. 111. In der deskriptiven Statistik wird eine PCA immer dann verwendet, wenn die Anzahl der individuellen Indikatoren sehr groß ist. Bei unserer Anwendung auf Fragen der Lebensqualität ist deshalb die Zusammenstellung eines großen und umfassenden Sets individueller Indikato-ren der kritische erste Schritt. Die PCA verliert jedoch ihren Charme, wenn diese vorbereiten-den Arbeiten nicht erfolgreich sind oder wenn a priori-Überlegungen oder der Wunsch, dass die Ergebnisse leicht zu kommunizieren sind, die Auswahl eines Leitindikators stark beeinflussen. Zudem liefert die PCA nicht immer robuste und plausible Ergebnisse. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, beide Ansätze gleichzeitig zu verfolgen, wobei die PCA dazu dienen soll, die Relevanz der ausgewählten Leitindikatoren zu testen. Letztendlich werden auch die Leitin-dikatoren als gewichtete Durchschnitte der individuellen Indikatoren errechnet. Aber während die PCA die entsprechenden Gewichte gemäß einem vorher festgelegten Algorithmus ableitet, wählt der Wissenschaftler dabei einen individuellen Indikator aus und gibt ihm das volle Ge-wicht, und alle anderen erhalten das Gewicht 0. Im Idealfall haben der Leitindikator und die erste Hauptkomponente so viel gemeinsam, dass es irrelevant ist, welcher der beiden Ansätze gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert wird. Anderenfalls muss der Wissenschaftler eine vernünftige Wahl treffen.

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3. Praktische Umsetzung: Frankreich und Deutschland

112. Grau ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum. Deshalb haben wir den vorge-schlagenen „bottom-up“-Ansatz exemplarisch auf zwei Länder, Frankreich und Deutschland, für drei Jahre, mit dem Jahr 2000 als zeitlichem Anker, angewendet. In einem ersten Schritt wurden acht Dimensionen der Lebensqualität ausgewählt, wovon nur eine den materiellen Wohlstand betrifft. Bei unserem Vorschlag haben wir uns die umfassende Arbeit der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission zu Nutzen gemacht. Im zweiten und dritten Schritt haben wir weit-reichende Informationen über individuelle Indikatoren aus den unterschiedlichsten Quellen gesammelt und einen umfassenden Indikator für jede der Dimensionen gebildet. Dieser Ab-schnitt enthält einen Überblick über die Ergebnisse, der Vierte eine detaillierte Analyse. Die Auswahl der Dimensionen

113. Die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission (SSFC) hat die Dimensionen der Lebensqualität vor dem Hintergrund sowohl des subjektiven Wohlergehens als auch des „capabilities“-Ansatzes differenziert diskutiert, in unserer Terminologie also aus der „top-down“- und aus der „bottom-up“-Perspektive. Nach unserer Einschätzung ist es ratsam, ihre Vorschläge aus der „bottom-up“-Perspektive zu beurteilen. Die Kommission hat acht Dimensionen herausgear-beitet, einschließlich des materiellen Wohlstands, die in der Mehrzahl objektiv sind und sich an den genannten Ansätzen von Sen orientieren. Diese Dimensionen finden sich in der ersten Spal-te der Tabelle 6. Während sich die erste Dimension, der materielle Wohlstand, mehr oder weni-ger gut in den VGR wiederfindet und Gegenstand des vorherigen Kapitels ist, bilden die übri-gen sieben den zentralen Gegenstand dieses Kapitels. Die vorletzte Dimension, die Umweltbe-dingungen, stellen schließlich die Verbindung zum vierten Kapitel über Nachhaltigkeit her. 114. Da nur ein umfassender Indikator für jede der Dimensionen der Lebensqualität betrachtet wird, ist es umso wichtiger, dass die ausgewählten Dimensionen deren wichtige Aspekte kom-plett abdecken. Zudem müssen die Messbarkeit und die politische Relevanz beachtet werden. Vor dem Hintergrund dieser ergänzenden Kriterien erscheinen die Kategorisierungen von Nuss-baum (2000) sowie von Frey und Stutzer (2001) nicht sehr ansprechend. Angesichts unserer Präferenz für objektive Maße der Lebensqualität gilt dies auch für den Vorschlag von Layard (2005). Aus der empirischen Perspektive gibt es notwendigerweise eine große Überlappung zwischen den Dimensionen, wie sie von der SSFC und von der OECD vorgeschlagen wurden: Statt des materiellen Wohlstands wählen andere die „finanzielle Situation“ oder „wirtschaftli-che Faktoren“, statt Gesundheit werden „körperliche Gesundheit“ oder „physische und geistige Gesundheit“ angeführt (Giovannini et al., 2009). Würde man davon ausgehen, dass Umweltbedingungen unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit ausreichend berücksichtigt werden und dass persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit einen Querschnitt aus vorherigen Dimensionen darstellen, könnte man sich mit den sechs Dimensio-nen gemäß der OECD-Studie zufrieden geben. Da aber „Unsicherheit“ ebenso wie „Umwelt“ die Lebensqualität direkt beeinflussen, gehen wir diesen Weg nicht. Dieser würde unserer Ein-schätzung nach einen zu hohen Verlust an Information bedeuten. Insgesamt glauben wir, dass

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die Dimensionen, wie sie die SSFC ausgewählt hat, eine ideale Balance zwischen Breite und Fokus darstellen. 115. Die zweite Spalte in Tabelle 6 zeigt einige Beispiele für die Facetten dar, die zu jeder der acht Dimensionen der Lebensqualität beitragen. Diese dienen als Ausgangspunkt bei der Su-che nach individuellen Indikatoren, dem zweiten Schritt der empirischen Umsetzung. Eine aus-führliche Diskussion jeder Dimension findet sich im dritten Kapitel des SSFC-Reports; sie soll an dieser Stelle nicht in allen Einzelheiten wiederholt werden.

Lebensqualität – Dimensionen und Facetten

Dimension von Lebensqualität Beispiele für die Facetten

Materieller Wohlstand Einkommen, Konsum, Änderungen des Vermögens, Einkommens- und Vermögensverteilung

Gesundheit Lebenserwartung, Krankheiten, Behinderungen, Kindersterblichkeit,physische und psychische Krankheiten, Gesundheits-Verteilung

Bildung Grundlegende Lese- und Schreibfähigkeiten, Rechenkenntnisse, Problem-Lösungskompetenz, Informations-und Kommunikationstechnologie, Leis-tungen von Schülern und Studenten, lebenslanges Lernen, Bildungs-Verteilung

Persönliche Aktivitäten Arbeiten, Pendeln, verschiedene Arten der Freizeitgestaltung, Verteilungder persönlichen Aktivitäten

Politische Einflussnahme und Kontrolle Stimmrechte, gesetzliche Garantien, Rechtsstaatlichkeit; Möglichkeit,am politischen Prozess teilzuhaben, Wahlbeteiligung, Mitgliedschafts-quoten bei Parteien, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen;Teilnahme an Protesten, Grad der Demokratie, Unabhängigkeit derMedien, Korruption, Verteilung von politischer Einflussnahme

Soziale Kontakte und Beziehungen Familiäre Bindungen, Freunde, Intensität der Freundschaften, sozialeKontakte, Verteilung der sozialen Kontakte und Beziehungen

Umweltbedingungen Verfügbarkeit von sauberer Luft, sauberem Wasser und unbelastetemBoden, Erreichbarkeit von Naherholungsgebieten, Klima,Verteilung der Umweltbedingungen

Persönliche und wirtschaftliche Gefahr von Krankheiten, Verletzungen, Beschädigungen, Diebstahl, Raub, Unsicherheit Mord, Tod, Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung, arm zu werden, Ver-

teilung der persönlichen und wirtschaftlichen Unsicherheit

Tabelle 6

Die aufgezeigte Auswahl bietet ein reiches Reservoir entsprechender Facetten und dürfte das Spektrum menschlicher Erfahrung umfassend abdecken. Der materielle Wohlstand – eines der Themen des vorherigen Kapitels – zeigt sich im Einkommen, Vermögen und Konsum. Ge-sundheit umfasst Angaben zur Lebenserwartung sowie zur Häufigkeit von Krankheiten. Bil-dung ist sowohl direkte Quelle des Wohlergehens als auch indirekte: Fähigkeiten und Wissen helfen dabei, positive Erfahrungen zu verstärken. Was Menschen jeden Tag tun, beeinflusst ganz eindeutig ihre Lebensqualität. Außer Schlafen tragen alle Arbeits- und Freizeitaktivitäten zu der Dimension persönliche Aktivitäten bei.

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Daten zur Tabelle
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Lebensqualität 77

CAE / SVR - Expertise 2010

Die Dimension politische Einflussnahme und Kontrolle dient dazu, den Einfluss einer gut funktionierenden demokratischen Gesellschaft auf die Lebensqualität abzubilden. Ein damit verwandtes Thema, das Individuen wie Familien direkter betrifft, sind gut funktionierende so-ziale Verbindungen und Verflechtungen. Daneben wird die Qualität der vier Elemente, die uns umgeben, unter Umweltbedingungen zusammengefasst. Unsicherheit über die Zukunft und entsprechende Ängste beeinträchtigen oftmals die Lebensqualität. Die Größe dieses Effekts hängt vom Grad der persönlichen und wirtschaftlichen Unsicherheit ab, die als letzte Di-mension behandelt wird. Lebensqualität in Frankreich und in Deutschland

116. Auf der Grundlage dieser sorgfältig ausgewählten Dimensionen haben wir systematisch den zweiten Schritt (Suche nach entsprechenden individuellen Indikatoren) und den dritten Schritt (Konstruktion eines umfassenden Indikators für jede der Dimensionen) unserer Umset-zung auf Frankreich und Deutschland ausgeführt. Sinn dieses Vorgehens ist es, den Weg für ein zukünftiges regelmäßiges Berichtssystem zu ebnen. Dementsprechend müssen bei der Auswahl der individuellen Indikatoren für jede Dimension verschiedene Aspekte wie die regelmäßige und rechtzeitige Verfügbarkeit, den Abdeckungsgrad, die Vergleichbarkeit und Verlässlichkeit mit einbezogen werden. Insgesamt haben wir zumindest einen individuellen oder sogar zusam-mengesetzten Indikator gefunden, der wesentliche Facetten der jeweiligen Dimension abbildet und diese Nebenbedingungen erfüllt. Allerdings hat diese Suche nicht immer zu einem umfas-senden Set von Indikatoren geführt, die das gesamte Spektrum der Facetten einer Dimension abdecken. Eine ausführlichere Darstellung der Umsetzung des zweiten Schritts und die Anwen-dung auf Frankreich und Deutschland finden sich im folgenden Abschnitt. Der nächste Schritt, die Bestimmung eines umfassenden Indikators für jede Dimension, wur-de soweit möglich auf zwei Wegen vorgenommen. In allen Fällen wurde ein individueller (oder zusammengesetzter) Indikator identifiziert, der die Gegebenheiten in dieser Dimension als Leit-indikator widerspiegeln könnte. Um diese Auswahl zu überprüfen, wurde, soweit die Datenla-ge bei den individuellen Indikatoren dies zuließ, ein umfassender Indikator mit Hilfe einer PCA jeweils für Frankreich und Deutschland konstruiert. Allerdings kann dies nur dann zu über-zeugenden Ergebnissen führen, wenn die verschiedenen Facetten der jeweiligen Dimension durch ein großes Set von Variablen, die konsistent über einen längeren Zeitraum erhoben wur-den, umfassend abgebildet werden. Für einen Ländervergleich ist PCA wie gezeigt nicht die angemessenen Methode. 117. Die sieben für diesen konkreten Fall ausgewählten umfassenden Indikatoren zu den nicht-materiellen Dimensionen der Lebensqualität sind in Tabelle 7 aufgeführt. Der materielle Wohlstand ist im vorherigen Kapitel detailliert dargestellt und wird deshalb hier nicht weiter betrachtet. Müsste man dafür einen einzigen Indikator einbeziehen, wäre dies wohl das Netto-nationaleinkommen pro Kopf. Einige der nicht-materiellen Indikatoren müssen noch ausgear-beitet werden, etwa der zusammengesetzte Indikator für Bildung, und andere werden (noch) nicht jährlich oder nicht ausreichend zeitnah veröffentlicht. Aber diese Indikatoren wären unse-re Favoriten für ein zukünftig regelmäßiges Berichtswesen über die Wohlfahrt, und ihre Be-reitstellung könnte leicht durch politische Entscheidungen gesichert werden.

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118. Unsere Untersuchungen sind natürlich offen für Verbesserungen. Wir wünschen uns sachdienliche, konstruktive Kommentare aus der Wissenschaft und aus der Praxis. Insbesondere sind die Ergebnisse der PCA wegen der unzureichenden Länge der Zeitreihen und wegen nicht mit einbezogener Variablen noch lange nicht ausreichend für die angestrebten Tests. Für ein jährliches Berichtswesen müsste man die PCA zudem jedes Jahr wiederholen, mit neuen Ge-wichten für die zugrunde liegenden Variablen. Jeder neue Datenpunkt müsste einbezogen wer-den, um durch Verlängerung des Stützbereichs die Zuverlässigkeit zu erhöhen. Auch sollten weitere Variablen aufgenommen werden, um mögliche Probleme mit nicht einbezogenen Vari-ablen zu mildern.

Dimension der Lebensqualität Vorgeschlagener Indikator

Materieller Wohlstand Siehe Kapitel 2

Gesundheit Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL; OECD),wird ersetzt durch gesunde Lebensjahre (HLY, Eurostat)

Bildung Zahl der Schüler und Studenten im Alter zwischen 15 und 24 Jahren (Eurostat),möglicherweise zu ersetzen durch Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC; OECD)

Persönliche Aktivitäten Anteil der Arbeitnehmer in Schichtarbeit (Arbeitskräfterehebung)

Politische Einflussnahme und Kontrolle Weltweiter Indikator zur Regierungsarbeit, „Mitspracherecht und Verantwortlichkeit" (Weltbank)

Soziale Kontakte und Beziehungen Häufigkeit von mit anderen Personen verbrachter Zeit für Sport, Kul-tur und in gemeinschaftlichen Organisationen

Umweltbedingungen Belastung der städtischen Bevölkerung durch Luftverschmutzung mit Feinstaub (Eurostat)

Persönliche und wirtschaftliche Unsi-cherheit

Bevölkerungsanteil der Menschen ohne Armutsrisiko (SOEP, Eurostat), möglicherweise zu ersetzen durch Personal Security Index (zu erstellen im Einklang mit dem des Canadian Council on Social Development)

Vorgeschlagene Indikatoren zur Lebensqualität

Tabelle 7

119. Schließlich sollten die gesamten empirischen Ergebnisse zur Wirtschaftsleistung, zum materiellen Wohlstand, zur Lebensqualität und zur Nachhaltigkeit zusammen veröffentlicht werden, wie im ersten Kapitel ausgeführt. In Zukunft könnten Varianten dieser Tabelle als In-dikatorensystem routinemäßig die absoluten Werte aller ausgewählten Indikatoren und ihre Veränderung gegenüber der Vorperiode ausweisen. In diesem Kapitel gehen wir über diese nüchterne Darstellungsweise hinaus und stellen die Ergebnisse zu den sieben nicht-materiellen Dimensionen der Lebensqualität in Radar-Charts für Frankreich und Deutschland dar. Darin bedeutet eine Zunahme eines Indikators eine Verbesserung bei der entsprechenden Dimension (Schaubild 14). Für jedes der vorgegebenen Jahre zeigen diese länderspezifischen Radar-Charts die Entwick-lung der beiden Gesellschaften anhand jeder der Dimensionen. Aus Gründen der Konsistenz würde man im Normalfall feste Jahre miteinander vergleichen. In der vorliegenden Umsetzung

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Daten zur Tabelle
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Lebensqualität 79

CAE / SVR - Expertise 2010

Nichtmaterielle Indikatoren für Lebensqualität1)

Schaubild 14

Belastung der städtische Bevölkerung durchLuftverschmutzung mit Feinstaub7)

Deutschland

Frankreich

Letzter verfügbarer Wert3)2000Erster verfügbarer Wert2)

Nicht-Armutsrisikoquote5)

Mitspracherecht und VerantwortlichkeitHäufigkeit von mit anderen Personen verbrachte Zeitfür Sport, Kultur und gemeinschaftlichen Organisationen9)

-2

-1

0

1

2

1) = 0;Eigene Berechnungen; Daten sind nicht untereinander vergleichbar. Durchschnitt ein Wert über 0 bedeutet bessere Konditionenund umgekehrt Gesundheit: Persönliche Aktivitäten Politische Einflussnahme und Kontrolle Bildung: Deutsch-.– 2) 1991, : 1992, : 1996,land: kreich Umweltbedingungen Deutschland: kreich Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit1992, Fran : 1993, : 1999, Fran : 2001, :Deutschland: kreich 3) Gesundheit: 2006, Bildung und Persönliche Aktivitäten: 2009, Politische Einflussnahme und1992, Fran : 1995 .–Kontrolle sowie Umweltbedingungen: 2008; Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit: Deutschland: 2009, Frankreich: 2008.–4) PYLL ist eine Messmethode über vorzeitige Sterblichkeit, die eine eindeutige Bewertung von vermeidbaren Todesfällen in jüngerenJahren ermöglicht. In Relation zu 100 000 Einwohnern, berechnet von der OECD basierend auf der altersspezifischen Statistik überTodesfälle der World Health Organization.– 5) Eins minus dem Anteil der Personen mit einem verfügbaren Einkommensäquivalentunterhalb der Armutsrisikogrenze, die sich bei 60 vH des nationalen Medians des verfügbaren Einkommensäquivalents nach Abzug derSozialtransfers festgelegt ist.– 6) Anteil an der Bevölkerung im selben Alter.– 7) Der Indikator zeigt das Jahresmittel der bevölkerungs-gewichteten Feinstaubkonzentrationen an städtischen Hintergrundstationen in Ballungsräumen.– 8) In vH aller Erwerbstätigen.– 9) Ein-ziger verfügbarer Wert: 1999.– 10) Für 2000: Werte aus 2001.

Quellen für Grundzahlen: EU, OECD, SOEP, Weltbank, World Values Survey

-2

-1

0

1

2

Gesundheit

Bildung

Persönliche Aktivitäten

Politische Einflussnahme und KontrolleSoziale Kontakte und Beziehungen

Umweltbedingungen

Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit Schüler und Studenten (ISCED 1-6)im Alter zwischen 15 und 24 Jahren6)

Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL)4)

Anteil der Arbeitnehmerin Schichtarbeit8)

Belastung der städtische Bevölkerung durchLuftverschmutzung mit Feinstaub10)

Nicht-Armutsrisikoquote5)

Mitspracherecht und VerantwortlichkeitHäufigkeit von mit anderen Personen verbrachte Zeitfür Sport, Kultur und gemeinschaftlichen Organisationen9)

Gesundheit

Bildung

Persönliche Aktivitäten

Politische Einflussnahme und KontrolleSoziale Kontakte und Beziehungen

Umweltbedingungen

Persönliche und wirtschaftlich Unsicherheit Schüler und Studenten (ISCED 1-6)im Alter zwischen 15 und 24 Jahren6)

Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL)4)

Anteil der Arbeitnhemerin Schichtarbeit8)

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Daten zum Schaubild
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80 Lebensqualität

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ist der Zeitraum aber so gewählt, dass die Entwicklung im längsten möglichen Zeitraum für jeden der umfassenden Indikatoren dargestellt wird. Das Jahr 2000 dient als Anker für alle In-dikatoren, zusätzlich werden die Ergebnisse für das früheste und das jeweils letzte verfügbare Jahr ausgewiesen. Aus Darstellungsgründen werden die umfassenden Indikatoren jeder Dimension typischerweise normiert, so dass sich ihre absoluten Werte nicht ohne Weiteres interpretieren lassen. Hierzu wurde von den Indikatorwerten der Mittelwert subtrahiert und dann durch die Standardabwei-chung dividiert. Diese Normierung wurde für jedes Land einzeln vorgenommen. Dadurch sind Ländervergleiche – die im Fall der PCA ohnehin nicht gerechtfertigt sind – nicht möglich. Hinzu kommt, dass – so verlockend die graphische Darstellung auch sein mag – die Fläche der Radar-Charts kein aussagekräftiges Maß für die umfassende Lebensqualität sein kann, da dies eine vollkommen unberechtigte Gleichgewichtung ihrer Dimensionen implizieren würde. 120. Die erste nicht-materielle Dimension der Lebensqualität, Gesundheit, wird durch poten-ziell verlorene Lebensjahre („potential years of life lost“; PYLL) abgebildet. Dieser Indikator enthält Angaben zu frühzeitigen Todesfällen, summiert die Differenz zwischen Sterbealter und 70 Jahren und bezieht die Ergebnisse auf 100 000 Personen. Die Datenbasis ist sehr zuverlässig, und die Zeitreihen sind ausreichend lang. Hierbei zeigt sich sowohl für Frankreich als auch für Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine durchgängige Verbesserung. Allerdings ent-hält dieser Indikator keine Angaben zur Häufigkeit von Krankheiten. Nach unserer Einschät-zung wäre der optimale Hauptindikator, der sowohl Sterblichkeit als auch Krankheit umfasst, die Zahl der in Gesundheit verbrachten Lebensjahre („healthy life years“; HLY), wie er von Eurostat erfasst wird. Sobald konsistente und zuverlässige Angaben für ausreichende Verglei-che im Zeitablauf vorliegen, sollte man zu diesem Indikator wechseln. 121. Als Indikator für Bildung greifen wir derzeit auf die Anzahl der Schüler und Studenten im Alter zwischen 15 und 24 Jahren als Anteil an der entsprechenden Bevölkerungsgruppe zu-rück, wie sie von Eurostat veröffentlicht wird. Während dieser Anteil in Deutschland ständig steigt, nimmt er in Frankreich ab. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass dieser Indikator nichts über den Output (Fähigkeiten) aussagt, sondern allenfalls etwas über den Output des Schulsystems (Abschlüsse), was nicht unbedingt gleichbedeutend ist. Wir plädieren deshalb dafür, regelmäßig zu festgelegten Zeitpunkten die Kompetenzen von Erwachsenen zu erfassen. Die OECD-Initiative „Programme for International Assessment of Adult Competencies“ (PI-AAC) kann als rundum geeignete Quelle dafür dienen. 122. Einen Indikator sowohl für Arbeit als auch für Freizeit als die beiden wesentlichen Teile der persönlichen Aktivitäten gibt es nicht, und der Zusammenhang der entsprechenden Zeit-reihen ist sehr schwach. Ein guter Zugang zu dieser Dimension wären Angaben zur Arbeitszeit und zur Ausgewogenheit zwischen dem Arbeitsleben und dem übrigem Leben, womit auch die Qualität einer Beschäftigung und die Arbeitsbelastung berücksichtigt würden. Als Leitindikator schlagen wir hier den Anteil der Arbeitnehmer in Schichtarbeit vor. Nach diesem Maß lässt sich für Deutschland eine Verschlechterung der Lebensqualität vermuten, für Frankreich eine Ver-besserung.

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Lebensqualität 81

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123. Es gibt keine regelmäßig veröffentlichten Umfrageergebnisse zur politischen Einfluss-nahme und Kontrolle. Solange dieser Mangel besteht, schlagen wir als (unvollkommenen) Ersatz den „Worldwide Governance Indicator“ Mitspracherecht und Verantwortlichkeit (Voice and Accountability) der Weltbank vor, der überwiegend auf Experten-Einschätzungen beruht. Im weltweiten Vergleich zählen Frankreich und Deutschland hier in allen betrachteten Perioden zu den führenden Ländern. 124. Die möglicherweise am schwierigsten zu erfassende Dimension sind soziale Verbindun-gen und Verflechtungen. Der einzige erfolgversprechende Weg sind wohl Umfragen, und zu-mindest eine sollte regelmäßig erfolgen. Erfragt werden sollte – analog zum „World Values Survey“ von 1999/2000 –, wie häufig zusammen mit anderen Personen Zeit für Sport, Kultur und in gemeinschaftlichen Organisationen verbracht wird. Da vergleichbare jährliche Ergebnis-se nicht vorliegen, ist ein Vergleich im Zeitablauf derzeit nicht möglich. 125. Allgemeine Indikatoren zu den Umweltbedingungen mit Bezug auf die Lebensqualität sind selten; eine bedeutende Ausnahme betrifft die Erfassung der Luftqualität. Mit Blick auf Output-Größen und mangels eines zusammengesetzten Indikators wählen wir als Leitindikator die Information darüber, inwieweit die städtische Bevölkerung einer Luftverschmutzung mit Schadstoffen von weniger als 10 Mikrometer Durchmesser (PM10) ausgesetzt ist. PM10 kön-nen tief in die Lunge eindringen und dort Entzündungen verursachen oder den Zustand von Menschen mit Herz- und Lungenkrankheiten verschlechtern. Nach den empirischen Ergebnis-sen verbessern sich in beiden Ländern die Umweltbedingungen kontinuierlich. 126. Daten zur Dimension persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit zu aggregieren, ist wegen der Vielzahl der Facetten entmutigend. Deshalb schlagen wir als Leitindikator den An-teil derjenigen Menschen vor, die nicht dem Armutsrisiko ausgesetzt sind. Eurostat definiert als Bevölkerungsanteil mit Armutsrisiko den Anteil der Menschen mit einem verfügbaren Äquiva-lenzeinkommen unterhalb der Armutsgrenze, die mit 60 vH des nationalen verfügbaren Medi-an-Äquivalenzeinkommens (nach Transfers) angesetzt ist. Wir definieren unseren Leitindikator als Eins minus den Anteil der Bevölkerung mit Armutsrisiko, da ein Anstieg dieser Quote eine Verbesserung der Lebensqualität anzeigt. Dass dieser Indikator nicht alle Facetten dieser Di-mension abgreifen kann, ist uns wohl bewusst. Deshalb schlagen wir weitere Forschungsarbeit dazu vor, wie er durch einen PCA-Indikator (vorausgesetzt, dass es Zeitreihen mit den erforder-lichen Eigenschaften gibt) oder einen Index ähnlich dem „Personal Security Index“ des Canadi-an Council on Social Development ersetzt werden kann. Gemäß dieser Dimension der Lebens-qualität hat sich Frankreich recht stabil entwickelt, während sich in Deutschland die Lage bis zum Jahr 2000 leicht verbessert und danach verschlechtert hat. 127. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die gesundheitlichen und die Umweltbedingun-gen im Zeitablauf und in beiden Ländern zweifellos verbessert haben, während die Entwicklung bei der Ausbildung, den persönlichen Aktivitäten, der politischen Anteilnahme sowie der per-sönlichen und wirtschaftlichen Unsicherheit in den beiden vergangenen Jahrzehnten recht un-terschiedlich war.

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82 Lebensqualität

CAE / SVR - Expertise 2010

4. Elemente unseres Indikatorensystems: Eine detaillierte Diskussion

128. Der Kürze wegen haben wir in dem bisherigen Beispiel empirische Ergebnisse für jede der Dimensionen der Lebensqualität für höchstens drei Jahre vorgestellt. In diesem Abschnitt wollen wir die Auswahl der Indikatoren für Leser, die an detaillierten Ergebnissen interessiert sind, vertieft darlegen. Insbesondere überprüfen wir kritisch die Auswahl der Leitindikatoren. Soweit möglich präsentieren wir auch detaillierte Ergebnisse der PCA und vergleichen diese mit den Leitindikatoren, um so deren Stärken und Schwächen aufzuzeigen. Gesundheit

129. Gesundheit ist wohl die bedeutendste Dimension der Lebensqualität, da mangelnde Ge-sundheit alle anderen Dimensionen negativ berührt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass nationale und internationale Organisationen eine große Anzahl von Indikatoren dazu zur Verfü-gung stellen, wobei diese aber oft Unterschiedliches abdecken. Zur Sterblichkeit liegen zahl-reiche individuelle Indikatoren vor, etwa die durchschnittliche Lebenserwartung oder die Le-benserwartung bei der Geburt. Viele weitere Indikatoren erfassen Aspekte von Krankheit. Ins-besondere enthalten sie Informationen zur Häufigkeit von verschiedenen Krankheiten, Selbst-auskünfte zur Gesundheit und Angaben zu Größe und Gewicht. Spezielle Indikatoren wie die Kindersterblichkeit, die Lebenserwartung verschiedener Altergruppen, Todesraten aufgrund bestimmter chronischer Krankheiten, die Häufigkeit von Fettleibigkeit und Rauchen oder die Häufigkeit von schweren Arbeitsunfällen enthalten unschätzbare Informationen für Experten und die Politik. Für unsere Zwecke sind sie jedoch viel zu sehr auf einzelne Aspekte oder Gruppen der Bevölkerung fokussiert. 130. Unter den umfassenderen Indikatoren werden Maße zur Lebenserwartung typischerweise als erste betrachtet. Allerdings vernachlässigen sie die negativen Effekte, die Krankheit oder Behinderung auf die Lebensqualität haben. Um diesem Problem zu begegnen, fassen kombi-nierte Indikatoren Informationen über Sterblichkeit und über Krankheit zusammen. Dazu sind in den vergangenen Jahren verschiedene Indikatoren vorgeschlagen worden. Viele Aspekte können zum Beispiel gemäß dem Konzept einer Lebenserwartung ohne gesundheitliche Beein-trächtigung abgebildet werden. Der Indikator Lebensjahre in Gesundheit („healthy life-years”; HLY) erfasst die Anzahl der verbleibenden Jahre ohne gesundheitliche Beeinträchti-gung, die eine Person in einem bestimmten Alter erwarten kann. Auf diese Weise werden In-formationen zur Kindersterblichkeit, zur Häufigkeit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zur Lebenserwartung von Erwachsenen zu einem Indikator, den Lebensjahren in Gesund-heit, die ein Neugeborener unter den gegebenen Bedingungen erwarten kann, zusammengefasst. Bei Alternativen dazu wie etwa die um gesundheitliche Beeinträchtigungen korrigierten Lebensjahre („disability-adjusted life years”; DALYs) oder die um den Gesundheitszustand korrigierte Lebenserwartung („health-adjusted life expectancy“; HALE) gibt es oft die Her-ausforderung, die Bewertung einzelner Gesundheitszustände gewichten zu müssen. Um zum Beispiel HALE – ein Maß für die Anzahl der Jahre in vollkommener Gesundheit – zu berech-nen, muss jedes Lebensjahr mit einem Gewicht multipliziert werden, das bei kleineren Krank-heiten gegen 1 geht und niedrig ist, wenn physische oder mentale Funktionen stärker in Mitlei-

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Lebensqualität 83

CAE / SVR - Expertise 2010

denschaft gezogen sind. Im Todesfall erhält das Jahr das Gewicht 0, bei voller Gesundheit 1. Ähnlich ist es bei DALYs: Frühzeitige Sterblichkeit, längere Krankheiten und Behinderungen werden von den potenziellen Lebensjahren abgezogen, wobei einem Lebensjahr mit einer be-stimmten Krankheit oder Behinderung ein festgelegter Anteil an einem Jahr in voller Gesund-heit entspricht. Angesichts der Komplexität der Gewichtung und der Schwierigkeiten, über ver-schiedene Kulturen hinweg zu gewichten, sind wir der Ansicht, dass eine einfache binäre Wahl – wie im HLY – in diesem Fall vorgezogen werden sollte. 131. Seit 1995 erhebt Eurostat Informationen zu HLY und folgt damit der „European Union Sustainable Development Strategy“ (EU SDS), die gesunde Lebensumstände als Abwesenheit von Beeinträchtigungen in der Funktionstüchtigkeit definiert. Dadurch werden Krankheitszeiten ohne Beeinträchtigung in der Funktionstüchtigkeit Zeiten bei voller Gesundheit gleichgesetzt. Während die hier einbezogenen Daten zur Sterblichkeit typischerweise eine hohe Qualität aufweisen und vergleichbar sind, waren die Ergebnisse zum Anteil der Bevölkerung mit ge-sundheitlicher Beeinträchtigung bis vor kurzem nur schwer über die Zeit und zwischen Län-dern vergleichbar, da sich die Umfragen und die Methoden unterschieden. Zusätzlich können kulturelle Unterschiede die Antworten zu bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen beeinflussen. Für die Jahre von 1995 bis 2001 stammen die Daten aus dem „European Commu-nity Household Panel“, für 2002 und 2003 wurden die Angaben extrapoliert. Danach wurde der Übergang zur Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) vollzogen. Seit 2004/05 werden die Daten in diesem Rahmen mit standardisierten Fragen erho-ben, was die zeitliche und internationale Vergleichbarkeit erhöht. Solange dieses Vorgehen nicht geändert wird, kann HLY als verlässlicher und für Vergleiche nutzbarer Leitindikator die-nen. 132. Übergangsweise benötigen wir aber einen anderen Leitindikator für Gesundheit. Solan-ge für HLY insbesondere für Deutschland nur wenige Datenpunkte vorliegen, kann man seine Zuverlässigkeit über einen längeren Zeitraum nicht beurteilen. Für unsere Umsetzung schlagen wir die potenziell verlorenen Lebensjahre („potential years of life lost“; PYLL) vor, einen gewichteten Sterblichkeitsindikator, der von der OECD bereits seit mehreren Jahrzehnten ver-öffentlicht wird. Er sammelt Informationen zu frühzeitigen Todesfällen: Für jede Person, die vor dem Alter von 70 Jahren stirbt, wird die Differenz zu 70 Jahren errechnet und die gesamte Anzahl der so in einem Kalenderjahr verlorenen Lebensjahre auf 100 000 Personen bezogen. Dieser Indikator verbessert sich sowohl für Frankreich als auch für Deutschland nahezu konti-nuierlich (Schaubild 15). 133. Zusätzlich zu diesem übergangsweise verwendeten Indikator PYLL zeigen wir die Er-gebnisse einer PCA mit OECD-Gesundheitsdaten für den Zeiträume von 1996 bis 2006 für Deutschland und von 1993 bis 2004 für Frankreich. Da wir nur Daten heranziehen wollen, de-ren Beziehung zum Gesundheitsstatus eindeutig ist, werden Gesundheitsausgaben oder die An-zahl der Beschäftigten oder Graduierten im Gesundheitswesen nicht verwendet, obwohl dies durchaus gebräuchliche individuelle Gesundheitsindikatoren sind. Auch ziehen wir wegen schwerwiegender Zuordnungsprobleme nicht die Angaben zur Häufigkeit einzelner Krankhei-ten heran.

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CAE / SVR - Expertise 2010

Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL)1)

Bezogen auf 100 000 Einwohner

1) PYLL ist eine Messmethode zur Ermittlung von vorzeitiger Sterblichkeit, die eine eindeutige Bewertung von vermeidbaren Todesfällen in jünge-ren Jahren ermöglicht. Berechnet von der OECD basierend auf der altersspezifischen Statistik über Todesfälle der World Health Organization.

Quelle: OECD

Schaubild 15

Deutschland

3 000

3 500

4 000

4 500

5 000

5 500

090 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06

Frankreich

3 000

3 500

4 000

4 500

5 000

5 500

090 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06

Als erstes Set von Variablen nutzen wir Informationen zu den Unterthemen Prävention (Impfraten bei Masern und DTP (Diphterie, Tetanus, Keuchhusten)), Sterblichkeit (Lebenser-wartung bei der Geburt und im Alter von 65 Jahren, Kindersterblichkeit und potenziell verlore-ne Lebensjahre) und psychische Probleme (Selbstmorde). Ein höherer Grad an Prävention und eine höhere Lebenserwartung sowohl bei der Geburt als auch im Alter von 65 Jahren bedeuten zweifellos eine Verbesserung des Gesundheitsstands der Bevölkerung. Deshalb sollte das Vor-zeichen des Gewichts dieser Variablen positiv sein. Eine Zunahme bei der Anzahl der poten-ziell verlorenen Lebensjahre und der Selbstmorde deutet eine Verschlechterung an, und deshalb sollten die entsprechenden Vorzeichen negativ sein. Gemäß unserer deskriptiven Analyse hat sich jede Variable, die vermutlich eine Verbesserung des Gesundheitsstands der Bevölkerung anzeigt, im Zeitablauf für beide Länder erhöht – und umgekehrt. Deshalb ist klar zu erwarten, dass der gewichtete Durchschnitt als Ergebnis der PCA ansteigt (Tabelle 8).

Gesundheit – Variablen für die Hauptkomponentenanalyse (PCA)1)

1996 2006 1993 2004

Masernimpfquote bei Kindern im Alter von 2 Jahren ....... vH 86,6 94,5 78,0 87,1

Kombinationsimpfquote DTP bei Kindern im Alter von 2 Jahren ................................................................. vH 94,1 97,4 95,0 98,0

Lebenserwartung, neugeborene Mädchen ....................... Jahre 80,1 82,4 81,4 83,8 Lebenserwartung, neugeborene Jungen ......................... Jahre 73,6 77,2 73,3 76,7 Lebenserwartung, 65-jährige Männer .............................. Jahre 14,9 17,2 15,9 17,7 Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL), alle Ursachen2)

Frauen ........................................................................... Jahre 2 945 2 212 3 079 2 361 Männer .......................................................................... Jahre 5 741 4 044 6 861 4 879

Todesfälle durch Suizid je 100 000 Einwohner ................ Anzahl 12,4 9,1 18,6 15,0

1) Quelle: OECD.– 2) PYLL (Potential years of life lost) ist eine Messmethode über vorzeitige Sterblichkeit, die eine ein-deutige Bewertung von vermeidbaren Todesfällen in jüngeren Jahren ermöglicht. PYLL bezogen auf 100 000 Einwohnern,berechnet von der OECD basierend auf der altersspezifischen Statistik über Todesfälle der World Health Organization.

Deutschland FrankreichEin-heit

Tabelle 8

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zum Schaubild
Hesse-C
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Daten zur Tabelle
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Vorläufige Tests (niedrige KMO-Werte) sprechen dafür, die Variablen Lebenserwartung von Frauen im Alter von 65 Jahren und Kindersterblichkeit von der PCA auszuschließen, da sie mit den übrigen Variablen hoch korreliert sind, was ihren Informationsbeitrag entscheidend schmä-lert. Nach den Ergebnissen entsprechen die Vorzeichen aller Gewichte, die in die erste Haupt-komponente eingehen, sowohl für Frankreich als auch für Deutschland den Erwartungen (Ta-belle 9). Zum Test der Robustheit wurde die PCA zusätzlich für verschiedene Unterperioden und alternative Variablensätze durchgeführt. Die Ergebnisse erwiesen sich gegenüber diesen Änderungen als robust. Im Fall von Deutschland erklärt die erste Hauptkomponente 93 vH der Varianz in den Daten, für Frankreich 88 vH. Der gesamte KMO-Wert liegt für Deutschland über 0,6 und für Frankreich über 0,7 und damit hoch genug, um eine PCA durchführen zu kön-nen.

Gesundheit – Gewichtung der ersten Hauptkomponente1)

Variable Deutschland Frankreich

Masernimpfquote bei Kindern im Alter von 2 Jahren ....................... 0,417 0,398

Kombinationsimpfquote DTP bei Kindern im Alter von 2 Jahren ................................................................................. 0,410 0,378

Lebenserwartung, neugeborene Mädchen ...................................... 0,302 0,292 Lebenserwartung, neugeborene Jungen ......................................... 0,332 0,308 Lebenserwartung, 65-jährige Männer .............................................. 0,343 0,314

Potenziell verlorene Lebensjahre (PYLL), alle Ursachen Frauen .......................................................................................... – 0,325 – 0,361 Männer ......................................................................................... – 0,332 – 0,373 Todesfälle durch Suizid je 100 000 Einwohner ................................ – 0,351 – 0,388

Kaiser-Meyer-Olkin Maß ................................................................. 0,613 0,743 Eigenwert der ersten Hauptkomponente ......................................... 4,910 5,288 Anteil der erklärten Varianz durch die erste Hauptkomponente ....... 0,930 0,880

1) Quelle für Grundzahlen: OECD; siehe auch Tabelle 8.

Tabelle 9

134. Gemäß unseres „bottom-up“-Ansatzes dient die erste Hauptkomponente aus der PCA als umfassender Indikator für die Dimension Gesundheit. In beiden Ländern nimmt dieser Indika-tor von Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre zu, was auf eine Verbesserung des Ge-sundheitszustands der Bevölkerung im vergangenen Jahrzehnt hindeutet. Das gleiche Muster zeigt sich in einer der zugrunde liegenden Zeitreihen, dem übergangsweise genutzten Indikator PYLL (Schaubild 15). Deshalb können wir die Ergebnisse zu PYLL ohne große Bedenken in unser Indikatorensystem übernehmen. Bildung

135. Neben einem direkten Einfluss auf die Lebensqualität zeichnet sich Bildung durch einen indirekten Effekt aus, da so Erfahrungen in anderen Dimensionen intensiver wahrgenommen werden. Zum Beispiel eröffnet eine höhere Bildung einen größeren Bereich an möglichen Frei-zeitaktivitäten und ist im Normalfall mit einer höheren Gesundheit sowie wegen der größeren Arbeitsplatzstabilität mit geringerer wirtschaftlicher Unsicherheit verbunden. Deshalb ist es wichtig, die Fertigkeiten und das Wissen der Mitglieder einer Gesellschaft mit entsprechenden

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Daten zur Tabelle
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individuellen Indikatoren zu erfassen. Wie Giovannini et al. (2009) betonen, sollte der Blick dabei auf Output- statt auf Input-Maße wie Ausgaben gerichtet sein. Unter den Outputgrößen sind allerdings die Zahl der Schuljahre oder der Anteil der Bevölkerung in Ausbildung proble-matisch, da deren Qualität nicht bekannt ist und die Maße deshalb nicht ohne Weiteres interna-tional vergleichbar sind. 136. Die besten Indikatoren lassen sich in diesem Bereich vermutlich durch einen Test der Lese- und Rechenfähigkeit gewinnen. Diese Outputmaße liegen zwar für jüngere Altergrup-pen im Detail vor, weniger aber für die gesamte Bevölkerung. Da wir jedoch an einem Indika-tor für Bildung als Quelle der aktuellen Lebensqualität interessiert sind, ist die Bildung aller Bevölkerungsgruppen von Bedeutung. Unter den vorliegenden (zusammengesetzten) Indikato-ren, die eine breitere Bevölkerungsschicht umfassen, erscheinen die auf Basis des Internatio-nal Adult Literacy Survey (IALS) und deren Nachfolger als vielversprechende Ausgangs-punkte. Zentral für diese Bemühungen ist das Verständnis, dass Lesefähigkeiten keine Null-Eins-Situation darstellen, mit denen, die lesen und schreiben können, und denen, die es nicht können. Es handelt sich vielmehr um ein kontinuierliches Phänomen. Konkret ist die Lesefähigkeit defi-niert als die Fähigkeit, gedruckte und geschriebene Informationen so zu nutzen, dass man in einer Gesellschaft zurechtkommt, dass man seine eigenen Ziele erreicht und dass man sein Wis-sen und seine Fähigkeiten weiter entwickelt (Kirsch, 2001). Für IALS soll eine repräsentative Stichprobe von Personen zwischen 16 und 65 Jahren verschiedene Texte lesen, verstehen und interpretieren. Dazu gehören Prosa (fortlaufende Texte wie Beipackzettel, Beschreibungen, Bedienungsanleitungen), Dokumente (Nichtzusammenhängende Texte in Abbildungen und Tabellen) und quantitative Fertigkeiten (Berechnungen auf der Basis zusammenhängender oder nicht zusammenhängender Texte). Die Ergebnisse werden auf einer Skala von 0 bis 500 beurteilt und daraus fünf Kenntnisstufen abgeleitet. IALS wurde in 20 Ländern in den Jahren 1994, 1996 und 1998 durchgeführt. IALS wurde inzwischen durch die Adult Literacy and Life Skills (ALL)-Erhebung ersetzt, die in den Jahren 2003 und 2006 in einer Untergruppe der 20 Länder durchgeführt wurde. Der Un-terschied zwischen beiden besteht im dritten Bereich: Anstelle von quantitativen wurden nu-merische Fertigkeiten wie zum Beispiel Kenntnisse im Schätzen erhoben. Zudem wurde als vierter Bereich die Problemlösungskompetenz eingeführt. Darauf aufbauend hat die OECD eine Erhebung im Rahmen des Programme for International Assessment of Adult Compe-tencies (PIAAC) entwickelt. Die ersten Ergebnisse dazu werden wohl nicht vor Ende 2013 ver-fügbar sein; sie werden die Bereiche Lesen und Schreiben, Rechnen, Problemlösung sowie In-formations- und Kommunikationstechnologien enthalten. 137. Untersuchungen mit Panel-Daten, die Beurteilungen zu Fertigkeiten ähnlich denen in I-ALS und deren Nachfolgern nutzen, belegen, dass ein Mangel an Fertigkeiten in den entspre-chenden Gebieten tatsächlich einen negativen Effekt auf Merkmale hat, die in Zusammenhang mit hoher Lebensqualität stehen (siehe Bynner und Parsons, 1997). Insbesondere scheint die positive Korrelation zwischen geringen Lese- und Rechenfertigkeiten auf der einen Seite und

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dem Risiko der Arbeitslosigkeit, getrennt oder geschieden sowie körperlich krank zu sein und weniger am öffentlichen Leben teilzunehmen auf der anderen Seite robust und recht hoch zu sein. Wenn die OECD ihre Daten methodisch eindeutig erhebt, so dass die Informationen ver-lässlich sind, schlagen wir die durchschnittlichen Ergebnisse in der PIAAC-Erhebung als zu-sammengesetzter Indikator für die Dimension Bildung vor. Deshalb sollte man sie mindes-tens alle zwei Jahre nach einem einheitlichen Vorgehen durchführen, das eine Vergleichbarkeit gewährleistet. Ausführungen zu den Kosten finden sich im ersten Kapitel. 138. Bis ausreichend lange Zeitreihen vorliegen, müssen wir uns übergangsweise auf einen Indikator verlassen, der unseren Vorstellungen am nächsten kommt. Wegen der Erfordernis einer regelmäßigen Berichterstattung sowie einer breiteren Abdeckung der Bevölkerung schla-gen wir als übergangsweisen Indikator die Anzahl der Schüler und Studenten im Alter zwischen 15 und 24 Jahren als Anteil an der entsprechenden Bevölkerungsgruppe vor. Für Deutschland verbessern sich die Werte im Zeitablauf kontinuierlich, während sie in Frankreich leicht zu-rückgehen (Schaubild 16).

Schüler und Studenten (ISCED 1-6) im Alter von 15 bis 24 Jahren

Anteil an der Bevölkerung in derselben Altersgruppe

Quelle: EU

Schaubild 16

Deutschland

58

60

62

64

66

0

vH

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Frankreich

58

60

62

64

66

0

vH

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

139. Wiederum führen wir nach der Diskussion des von uns präferierten Indikators eine PCA durch. Im Idealfall sollte man mit Hilfe von Output-Daten direkt die Zunahme der Fertigkeiten messen, die im Ausbildungssystem erworben wurden. Derartige Daten sind aber schwer zu er-heben, da die Fertigkeiten des Einzelnen nicht direkt zu beobachten und die vorliegenden Erhe-bungen zu selten sind, um sie für eine PCA nutzen zu können. Deshalb müssen wir andere Da-ten heranziehen. Konkret verwenden wir Daten von Eurostat für Deutschland im Zeitraum 1999 bis 2007 und für Frankreich von 1998 bis 2007. Enthalten sind Variablen zu Teilnahmeraten, Abschlussraten und dem Anteil frühzeitiger Schulabgänger (Anteil der Personen im Alter von 18 bis 24 Jahren mit einem Sekundar- oder niedrigeren Abschluss). Als Partizipationsraten be-trachten wir Schüler und Studenten im Alter von 15 bis 24 Jahren und Studenten über 30 Jahre, jeweils als Anteil an der Altersgruppe der Gesamtbevölkerung gemessen. Als zwei Abschluss-raten dienen die Anzahl der Graduierten im Alter zwischen 20 und 29 Jahren, die die erste oder zweite Stufe der tertiären Ausbildung (ISCED 5-6) abgeschlossen haben, je 1 000 Personen der

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Daten zum Schaubild
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Bevölkerung, sowie der Anteil der Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren mit min-destens einem Abschluss der höheren Sekundarstufe. Sobald es verlässliche Erhebungsmethoden gibt und die Qualität der Daten als hoch einzustufen ist, sollten Output-Daten zur Beurteilung des Ausbildungssystems herangezogen werden. Erst in ferner Zukunft können Ergebnisse der PIAAC-Erhebung mit in die PCA aufgenommen wer-den. Die erste Welle des PIAAC wird wie erwähnt nicht vor Ende 2013 vorliegen, und für PCA werden lange Zeitreihen benötigt. Von den hier verwendeten Variablen deuten der Anstieg des Anteils der Schüler und Studenten im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, die Anzahl der Abschlüsse der 20- bis 29-Jährigen und der Anteil der Bevölkerung mit mindestens einem höheren Sekundarabschluss auf einen Anstieg des Bildungsniveaus in einer Gesellschaft hin. Deshalb sollten die Vorzeichen der Gewichte für diese Variablen positiv sein. Für den Indikator Studenten im Alter über 30 Jahre ist die Rich-tung unklar, da diese Gruppe wohl sehr heterogen ist. Das entsprechende Vorzeichen sollte po-sitiv sein, wenn hier hauptsächlich reifere Erwachsenen erfasst werden, die in zusätzliche Aus-bildung investieren, negativ im Fall einer hohen Anzahl von Langzeitstudenten. Schließlich ist eine Zunahme des Anteils der frühzeitigen Schulabgänger ein Anzeichen für einen Rückgang der Ausbildungsleistung, und deshalb sollte das Vorzeichen des Gewichts negativ sein. Gemäß den deskriptiven Ergebnissen – mit Ausnahme des Anteils der älteren Studenten – deuten die hier verwendeten Variablen für Deutschland eine Verbesserung des Ausbildungsstands an. Für Frankreich sind die Tendenzen insgesamt nicht klar, weil der Anteil der Schüler und Studenten im Alter von 15 bis 24 Jahren zurückgeht (Tabelle 10).

Ausbildung – Variablen für die Hauptkomponentenanalyse (PCA)1)

1999 2007 1998 2007

Schüler und Studenten zwischen 15 und 24 Jahren2)3) .......... vH 62,4 65,4 61,8 58,6

Schüler und Studenten 30 Jahre und älter2)3) ......................... vH 3,3 2,4 1,4 1,8

Gesamtzahl der Absolventen (ISCED 5-6) zwischen Per-20 und 29 Jahren bezogen auf 1 000 Einwohner ............... sonen 31,3 38,6 61,7 77,4

Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren mit mindestenseinem höheren Sekundarabschluß3) ................................... vH 79,9 84,4 59,9 68,5

Frühzeitige Schulabgänger4) .................................................. vH 14,9 12,5 14,9 12,6

1) Quelle: EU.– 2) Bezogen auf alle Bildungsebenen (ISCED 1-6).– 3) In Relation zur Bevölkerung der gleichen Alters-gruppe.– 4) Anteil der 18 bis 24 Jährigen, die nur einen unteren Sekundarabschluß erreicht haben und die keine weitereAusbildung absolvieren.

Deutschland FrankreichEin-heit

Tabelle 10

140. Wie zuvor wird auch für diesen Indikator die PCA getrennt für Frankreich und Deutsch-land und für verschiedene Teilstichproben durchgeführt. Die Ergebnisse sind teilweise sensibel, teilweise robust (Tabelle 11). Da für Frankreich die Anzahl der Abschlüsse von 20- bis 29-Jährigen (ISCED 5-6) je 1 000 Einwohner der Bevölkerung unregelmäßig erhoben werden, sind die Ergebnisse weniger verlässlich als für Deutschland. Außer für den Anteil der älteren Studenten, bei dem die Richtung des Einflusses ohnehin unklar ist, entsprechen alle Vorzeichen

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den Erwartungen. Die erste Hauptkomponente erklärt für Deutschland 70 vH der Varianz in den Variablen, für Frankreich 93 vH. Bei KMO-Werten über 0,65 für Deutschland und 0,67 für Frankreich erlaubt die Datenbasis eine PCA.

Ausbildung – Gewichtung der ersten Hauptkomponente1)

Deutschland Frankreich

Schüler und Studenten zwischen 15 und 24 Jahren2)3) ................ 0,497 0,552 Schüler und Studenten 30 Jahre und älter2)3) ............................. – 0,534 0,459

Gesamtzahl der Absolventen (ISCED 5-6) zwischen20 und 29 Jahren bezogen auf 1 000 Einwohner ..................... 0,542 0,505

Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren mit mindestenseinem höheren Sekundarabschluß3) ......................................... 0,321 0,391

Frühzeitige Schulabgänger4) ........................................................ – 0,266 – 0,277

Kaiser-Meyer-Olkin Maß ............................................................. 0,653 0,673 Eigenwert der ersten Hauptkomponente ..................................... 3,313 3,834 Anteil der erklärten Varianz durch die erste Hauptkomponente ... 0,701 0,930

1) Berechnungen basieren auf EU-Daten.– 2) Bezogen auf alle Bildungsebenen (ISCED 1-6).– 3) In Relation zu der Bevölkerung der gleichen Altersgruppe.– 4) Anteil der 18 bis 24 Jährigen, die nur einen unteren Sekundarabschlußerreicht haben und die keine weitere Ausbildung absolvieren.

Tabelle 11

141. Die erste Hauptkomponente nimmt wie erwartet für Deutschland zwischen 1999 und 2007 zu, entsprechend den individuellen Indikatoren. Für Frankreich waren die Ergebnisse bei der Betrachtung der einzelnen Zeitreihen weniger eindeutig. Der umfassende Indikator aus der PCA deutet aber auch für Frankreich eine Verbesserung des Ausbildungsstands zwischen 1998 und 2007 an. Insgesamt gleichen die Ergebnisse denen für den übergangsweise genutzten Leit-indikator überwiegend, weshalb das Vertrauen in die Auswahl steigt. Persönliche Aktivitäten

142. Persönliche Aktivitäten sind eine äußerst heterogene Dimension. Erhebungen zur Ver-wendung von Zeit zeigen, dass vollkommen unterschiedliche Aktivitäten im Laufe eines Tages oder einer Woche unternommen werden, angefangen von Pendeln und Arbeiten bis zur Freizeit. Diese Aktivitäten haben vermutlich sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Lebensqualität, aber da die Aufteilung der Zeit zumindest teilweise bewusste Entscheidungen darstellt, dürfte es schwierig sein, Informationen darüber zu erhalten, wie erwünscht ein bestimmtes Set an Tä-tigkeiten ist. Ein guter Ausgangspunkt dürfte deshalb der Indikator für das sein, was die Men-schen in der meisten Zeit des Tages beschäftigt – Arbeit. Arbeit ist in diesem Sinne kein Mittel zur Erzielung von Einkommen und somit materiellem Wohlstand, sondern eine Aktivität, deren unterschiedliche Facetten direkt die Lebensqualität beeinflussen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit ihrem „Measurement of decent work“, die Europäische Kommission mit „Quality of living and working conditions“ und die European Foundation mit dem „European working conditions survey“ haben entsprechende statistische Indikatoren entwickelt. Der Rahmenplan für angemessene Arbeit (decent work framework)

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stellt ein Konzept dar, das die Arbeitsgelegenheiten nach folgenden Merkmalen bewertet: Sie sind (i) produktiv und schaffen (ii) ein angemessenes Einkommen, während sie (iii) Sicherheit am Arbeitsplatz und (iv) soziale Sicherheit für die Familie bereitstellen. Zudem bieten sie (v) bessere Perspektiven für die persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Integration so-wie (vi) Freiheit, die eigenen Sorgen auszudrücken, sie erlauben den Menschen, (vii) sich zu organisieren und an Entscheidungen teilzunehmen, die ihr Leben beeinflussen, und sie bieten (viii) Chancengleichheit und Gleichbehandlung für alle Männer und Frauen (International La-bour Office, 2008). Jedes der drei Sets von Indikatoren hat den Nachteil, dass es bestimmte politische Interessen aufgreift. Zudem ist keines von ihnen breit genug, um alle Aspekte der Qualität von Beschäftigung zu umfassen. 143. Deshalb hat die United Nations Economic Commission for Europe eine „Task Force on the Measurement of Quality of Employment“ eingerichtet, die einen internationalen konzeptio-nellen Rahmen zur Messung qualitativer Dimensionen der Arbeit erarbeiten und Indikatoren zu verschiedenen Qualitätsaspekten von Arbeit und Beschäftigung vorschlagen sollte. Nach zahlreichen Treffen einigte sich die Arbeitsgruppe im Oktober 2009 auf Grundprinzipien der statistischen Messung der Beschäftigungsqualität. Der vorgeschlagene Rahmen misst diese Qualität primär aus Sicht der Arbeitskräfte, nicht aus der der Unternehmen. Die Arbeitsgruppe definierte sieben wesentliche Elemente (UNECE Task Force on the Measurement of Quality of Employment, 2010):

1. Sicherheit und Ethik der Beschäftigung, 2. Einkommen und Vorteile aus der Beschäftigung, 3. Arbeitsstunden und Ausgewogenheit zwischen Arbeitsleben und übrigem Leben, 4. Sicherheit der Beschäftigung und sozialer Schutz, 5. Gesellschaftlicher Dialog, 6. Entwicklung und Ausbildung von Fertigkeiten, 7. Beziehungen am Arbeitsplatz und Arbeitsmotivation.

Der von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Rahmen ist zweifach erfolgreich getestet worden: Zunächst wurden neun Länderreports – für Kanada, Finnland, Frankreich, Deutschland, Israel, Italien, Mexiko, Moldawien und die Ukraine – von nationalen Gruppen für den Schlussbericht der Arbeitsgruppe vorgelegt. Danach wurde eine Validierungsstudie von ISTAT mit Hilfe einer PCA erstellt, um die Vollständigkeit und Validität der vorgeschlagenen Indikatoren zu testen (http://www.unece.org/stats/documents/2009.10.labour.htm). Die ersten fünf Elemente des Rah-menplans zur Qualität der Beschäftigung sind auch im genannten Rahmenplan für angemessene Arbeit enthalten, die beiden übrigen finden sich nur hier. Im Gegensatz dazu betrachtet der Rahmenplan für angemessene Arbeit auch Beschäftigungsmöglichkeiten (Chernyshev, 2009). 144. Die sieben wesentlichen Elemente des Rahmenplans überlappen sich weitgehend mit an-deren Dimensionen der Lebensqualität. Um Überflüssiges in unserem Indikatorensystem zu vermeiden, werden wir einige dieser Elemente nicht weiter betrachten: Das erste und das vierte Element behandeln Unsicherheit, die eine eigene Dimension der Lebensqualität ist. Das zweite Element kann als Teil des materiellen Wohlstands angesehen werden, das sechste als Teil der

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Bildung, und das siebte hängt eng mit sozialen Kontakten und Beziehungen zusammen. Schließlich ist beim fünften Element nur schwer ein Zusammenhang zur Lebensqualität herzu-stellen. Damit beschränken wir unsere Betrachtung auf das dritte Element „Arbeitsstunden und Ausgewogenheit zwischen Arbeitsleben und übrigem Leben“. Ein großer Vorteil dieses Ele-ments ist, dass es nicht nur die Arbeitswelt abdeckt, sondern auch die Freizeit und Aktivitäten außerhalb der Arbeitswelt. Nach der Festlegung auf das dritte Element verbleiben hier elf individuelle Indikatoren, die zu einem einzigen zusammenzufassen sind. Weder die Arbeitsgruppe der UNECE noch die betei-ligten Organisationen haben Anleitungen für eine Aggregation geliefert. Nach dem Konzept der angemessenen Arbeit haben Bonnet et el. (2003) einen ersten Versuch einer Aggregation unter-nommen, allerdings mit dem Ziel, grundlegende Sicherheiten in der Gesellschaft, am Arbeits-platz und für den einzelnen Arbeitnehmer zu identifizieren. 145. Zur besseren Verständlichkeit und zur Vereinfachung betrachten wir wie zuvor nur eine Zeitreihe, die wir auch als Leitindikator für eine PCA heranziehen. Aus dem dritten Element des Rahmenplans wählen wir den Anteil der Arbeitnehmer in Schichtarbeit. Persönliche Aktivi-täten mit hoher Wertschätzung werden typischerweise mit bestimmten Stunden eines Tages in Verbindung gebracht, so dass Schichtarbeit nicht nur direkt die Lebensqualität während der Arbeit, sondern auch bei anderen persönlichen Aktivitäten außerhalb der „Spitzenzeit“ des Ta-ges die Lebensqualität negativ beeinflusst. Da der Anteil der Arbeitnehmer in Schichtarbeit in Deutschland bis 2007 kontinuierlich angestiegen ist, lässt sich daraus bis dahin auf einen Rück-gang der Lebensqualität schließen. Eine entgegengesetzte Entwicklung findet sich für Frank-reich (Schaubild 17).

Arbeitnehmer in Schichtarbeit

Anteil an allen Arbeitnehmer

Quelle: EU

Schaubild 17

Deutschland

6

9

12

15

18

0

vH

92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09

Frankreich

6

9

12

15

18

0

vH

92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09

146. Mangels einer überzeugenden alternativen Aggregationsmethode und als Test für dieses Ergebnis sehen wir eine PCA als sinnvoll an. Als Ausgangspunkt schlagen wir die Indikatoren-liste von Körner et al. (2010) für Deutschland und für Frankreich diejenige der UNECE Task

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Force (UNECE Task Force for the Measurement of Quality of Employment, 2010) vor. Die Daten stammen aus dem Labour Force Survey für Deutschland und Frankreich. 147. Wie erläutert beschränken wir uns auf das dritte Element des Rahmenplans zur Qualität der Arbeit „Arbeitsstunden und Ausgewogenheit zwischen Arbeitsleben und übrigem Leben“. Von den hier zur Verfügung stehenden Indikatoren haben die folgenden eine Beziehung zu per-sönlichen Aktivitäten: Die Lebensqualität kann für wirtschaftlich aktive Personen zurückgehen, wenn statt einer Vollzeit- nur eine Teilzeitstelle zur Verfügung steht, wenn sie ungewollt viele Arbeitsstunden leisten oder zu unüblichen Tageszeiten arbeiten müssen, was zu einer Unaus-gewogenheit der Zeitverwendung führt. Personen, die ungewollt in Teilzeit arbeiten, sind mög-licherweise auch nicht mit ihrer Arbeitsstelle zufrieden, zum einen, weil die derzeitige Tätigkeit nicht der eigentlich gewollten entspricht, zum anderen, weil sie weniger Einkommen als bei einer Beschäftigung in Vollzeit erzielen. Dementsprechend spiegelt ein Anstieg jedes dieser Indikatoren eine weniger wünschenswerte Situation. In Deutschland steigt für den Zeitraum von 1993 bis 2009 bei jeder der Variablen der Anteil der betroffenen Personen an, was für eine Ver-schlechterung der Lage spricht (Tabelle 12).

Persönliche Aktivitäten – Variablen für die Hauptkomponentenanalyse (PCA): Deutschland1)

1993 2009

Anteil der

Teilzeitbeschäftigten, die „unfreiwillig” Teilzeit arbeiten ............ 5,6 21,9

Erwerbstätigen, die gewöhnlich nachts arbeiten ....................... 7,6 8,1

Samstagsarbeit ........................................................................ 21,1 24,8

Sonntagsarbeit ......................................................................... 10,4 12,9

Arbeitnehmer in Schichtarbeit .................................................. 11,5 15,7

1) Quelle: Labour Force Survey.

Tabelle 12

148. In unserer Analyse beschränken wir uns auf beschäftigte Arbeitnehmer; somit wird für Deutschland etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung betrachtet. Nicht eingeschlossen sind damit Personen ohne wirtschaftliche Tätigkeit, zum Beispiel Rentner, Hausfrauen, Kinder, Schüler und Studenten sowie Arbeitslose. Die Lebensqualität dieser Gruppen leidet möglicher-weise durch andere Umstände. So könnten Arbeitslose deshalb unglücklich sein, weil sie keine Arbeitsstelle finden und allein schon deshalb ihre Zeit nicht gemäß ihren Vorstellungen zwi-schen Freizeit und Arbeitszeit aufteilen können. 149. In der PCA für Deutschland hat das Gewicht jeder Variablen das erwartete positive Vor-zeichen, und die Ergebnisse sind für verschiedene Teilstichproben robust. Da in unserer Analy-se der Anstieg eines umfassenden Indikators eine Verbesserung der jeweiligen Dimension Le-bensqualität anzeigen soll, muss die erste Hauptkomponente mit Minus eins multipliziert wer-den (Tabelle 13). Der gewählte Hauptindikator erklärt 94 vH der Varianz, der KMO-Wert er-reicht 0,77. Der zusammengesetzte Index der persönlichen Aktivitäten geht bis zum Jahr 2007 zurück, was für eine Verschlechterung der Lage spricht. Danach steigt er allerdings wieder an.

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Dieser Verlauf ist der gleiche wie beim übergangsweise verwendeten Leitindikator (Schau-bild 17), was für dessen Verwendung spricht. Für Frankreich kann keine PCA durchgeführt werden, da die Zeitreihe zum Indikator „Anteil der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten an allen Teilzeitbeschäftigten“ einen Strukturbruch aufweist und der KMO-Wert zu niedrig ausfällt.

Persönliche Aktivitäten – Gewichtung der ersten Hauptkomponente: Deutschland1)

Anteil derTeilzeitbeschäftigten, die „unfreiwillig” Teilzeit arbeiten ............................................. 0,524 Erwerbstätigen, die gewöhnlich nachts arbeiten ........................................................ 0,390 Samstagsarbeit ......................................................................................................... 0,421 Sonntagsarbeit .......................................................................................................... 0,423 Arbeitnehmer in Schichtarbeit ................................................................................... 0,466

Kaiser-Meyer-Olkin Maß .............................................................................................. 0,770

Eigenwert der ersten Hauptkomponente ...................................................................... 5,495

Anteil der erklärten Varianz durch die erste Hauptkomponente .................................... 0,939

1) Berechnungen basieren aus den Labour Force Survey-Daten.

Tabelle 13

Politische Einflussnahme und Kontrolle

150. Die Möglichkeit, in politischen Angelegenheiten ohne politische Unterdrückung mitzure-den, ist eine weitere Quelle für Lebensqualität. Dies als eigene Dimension zu betrachten, wird durch den „capabilities“-Ansatz gestützt: Es ist ein wesentliches Element der persönlichen Freiheit und der Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren. Politische Einflussnahme und Kontrolle lässt sich nicht nur über die Wahlbeteiligung oder über die Mitgliedschaft in einer Partei erfassen. Enthalten sind auch eine funktionierende parlamentarische Demokratie, Ele-mente von direkter Demokratie, universelles Wahlrecht, Organisationen der Zivilgesellschaft, unabhängige Medien, legislative Rechte, Gültigkeit von Gesetzen, Durchsetzung von Recht. Viele dieser Elemente lassen sich nur schwer objektiv messen, und sie umfassen jeweils eine Vielzahl von Facetten. 151. Indikatoren, die mehrere Informationsquellen und verschiedene Aspekte der politischen Einflussnahme und Kontrolle bündeln, können möglicherweise eine breite Abdeckung gewähr-leisten, die angesichts dieser Vielzahl relevanter Aspekte erforderlich ist. Allerdings haben ent-sprechende zusammengesetzte Indikatoren eine Reihe von Nachteilen, die bei der Beurtei-lung sowohl von Niveaus als auch von Veränderungen beachtet werden müssen. Die meisten Wissenschaftler haben sich bei der empirischen Untersuchung dieser Themen auf Experten-meinungen verlassen. Dies hat deutliche Nachteile, wenn man die tatsächliche oder vermeintli-che Angemessenheit und Fairness einer gegebenen internationalen Konstellation beurteilen will. Allerdings sind Ergebnisse aus Befragungen der Bevölkerung, die dies erlauben würden, nur selten regelmäßig verfügbar, und die Befragungen werden im Normalfall nicht so durchge-führt, dass internationale Vergleiche möglich sind. Wenn überhaupt, dann können Befragungen über politische Teilhabe, legislative Rechte und die Rechtsstaatlichkeit erst in Zukunft als Al-ternative zu den vorliegenden zusammengesetzten Indikatoren angesehen werden.

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152. Drei der vorliegenden zusammengesetzten Indikatoren haben besondere Beachtung ge-funden: Freedom House veröffentlicht „Freedom in the World“, in dem Indikatoren für politi-sche Rechte und zivile Freiheiten enthalten sind, beide auf einer ordinalen Skala mit sieben Punkten. Mit Hilfe des Durchschnitts der beiden Ergebnisse wird ein Land als frei, teilweise frei oder nicht frei eingestuft (Freedom House, 2010). Zudem führt das Centre for Systemic Peace an der George Mason University (Virginia, Vereinigte Staaten) das Projekt Polity IV durch, in dem ein Index zur Messung der Demokratie bestimmt wird. Dieser wird auf einer Skala von –10 (völlige Autokratie) bis +10 (reine Demokratie) gemessen. Dabei werden Ele-mente wie institutionalisierte Prozesse für offene, wettbewerbliche und freie politische Teilha-be, Wahl und Abwahl von leitenden Personen der Exekutive, Wahlsysteme sowie Kontrolle und Machtverteilung der Exekutive berücksichtigt (Marshall und Jaggers, 2007). Als drittes veröf-fentlicht die Weltbank jährlich sechs „Worldwide Governance Indicators“. Sowohl der Index von Freedom House als auch Polity IV betrachten schwerpunktmäßig Ent-wicklungs- und Schwellenländer. Deshalb zeigt deren Skalierung keine Unterscheidung für OECD-Ländern. So erreichten auch Frankreich und Deutschland bei beiden Indizes die maxi-male Punktzahl. Selbst wenn man Aspekte der methodologischen Konsistenz beiseite lassen würde, wäre die politische Relevanz dieser Maße für die hier betrachteten Länder eng be-grenzt. 153. Unter den „Worldwide Governance Indicators“ der Weltbank erscheint der Indikator „Mitspracherecht und Verantwortlichkeit“ („voice and accountability“) für unsere Zwecke am besten geeignet. Er umfasst die Wahrnehmung der Freiheit zur Meinungsäußerung, der Freiheit, sich zu organisieren, der Freiheit der Medien sowie des Umfangs, in dem die Bevölke-rung eines Landes an der Wahl ihrer Regierung teilhaben kann (Kaufmann et al., 2009). Dieser Indikator wird aus unterschiedlichen Datenquellen – Expertenmeinungen und Umfragen – ge-speist. Damit wird ein „Unobserved Components“-Model geschätzt, um einen Schätzwert für die interessierende Dimension von politischer Teilnahme, in unserem Fall „Mitspracherecht und Verantwortlichkeit“, zu erhalten. Das World Bank Institute weist die Ergebnisse auf zwei Arten aus: Zunächst werden alle Län-der in eine Rangfolge gebracht und Perzentile ausgewiesen, wobei das höchste Dezil dort dun-kelgrün unterlegt ist. Zudem wird eine Regierungsbewertung zwischen –2,5 und +2,5 zusam-men mit einem Standardfehler angegeben. Da die Ergebnisse seit 2002 jährlich vorliegen und das Konzept breit angelegt ist, erachten wir diesen Index des World Bank Institute als erste Wahl eines umfassenden Indikators für die Dimension „Politische Einflussnahme und Kontrol-le“. Die Regierungsbewertungen sind für Frankreich und Deutschland in Schaubild 18 ausgewiesen. Beide Länder befinden sich mit Werten über +1 unter den besten Ländern der Welt. Frank-reich und Deutschland erreichten im Jahr 2008 Werte von 90,4 bzw. 92,8 und eine Punktzahl von +1,24 bzw. +1,34, beide mit einem Standardfehler von 0,14.Während Deutschland lange im höchsten Dezil verblieb, musste es zuletzt einen leichten Rückgang sowohl bei seinem absolu-ten Wert als auch im Vergleich zu anderen Ländern hinnehmen. Frankreich hingegen ist bei

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diesem Indikator im vergangenen Jahrzehnt vom unteren Ende des höchsten Quintils zum unte-ren Ende des höchsten Dezils aufgestiegen.

Mitspracherecht und Verantwortlichkeit1)

Wertung im Bereich von -2,5 bis +2,5

1) Worldwide Governance Indicator "Voice and Accountability"; für weitere Einzelheiten siehe Weltbank.Quelle: Weltbank

Schaubild 18

Deutschland Frankreich

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

096 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

096 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08

Soziale Kontakte und Beziehungen

154. Soziale Beziehungen sind für die Lebensqualität von hoher Bedeutung, zum Beispiel weil der Arbeitsmarkt durch Netzwerke charakterisiert ist, so dass die meisten Personen einen Ar-beitsplatz eher dadurch erhalten, dass sie jemanden kennen, als über das, was sie können (Stiglitz et al., 2009). Außerdem bringen soziale Beziehungen Vorteile für die Gesundheit mit sich: Gesellschaftliche Isolation steht mit dem Rauchen als Risikofaktor für einen frühzeitigen Tod auf gleicher Stufe (Berkmann und Glass, 2000). Schließlich deutet vieles darauf hin, dass soziale Beziehungen zu den robustesten Prädiktoren für subjektive Maße der Lebenszufrieden-heit zählen. Gleichwohl steht die Forschung hier erst am Anfang, und entsprechende Statistiken sind wenig weit entwickelt. Außerdem ist diese Dimension diejenige, die am wenigsten objek-tiv messbar ist. Die bloße Anzahl der Familienmitglieder oder Personen, die man als seine Freunde betrachtet, sagt wenig über den Grad oder die Intensität sozialer Einbindung aus. Des-halb bietet es sich für diese Dimension an, Umfragen heranzuziehen. 155. Für Europa sind wohl zwei Fragen geeignet, soziale Verbindungen und Verflechtungen zu messen: Erstens ist nach der Regelmäßigkeit zu fragen, mit der mit anderen Personen Zeit für Sport, Kultur oder in gemeinschaftlichen Organisationen verbracht wird. Mögliche Ant-worten sind „wöchentlich“, „ein oder zwei Mal im Monat“, „nur einige Mal im Jahr“ und „gar nicht“. Diese Frage wurde im World Values Survey 1999/2000 gestellt und auch von der Euro-päischen Kommission als objektiver Wohlfahrtsindikator für soziale Interaktionen ausgewählt (Europäische Kommission, 2010). Angegeben wird der Anteil der Antwortenden, die wöchent-lich auf diese Weise ihre Zeit verbringen. Die Kategorien „ich weiß nicht“, „keine Antwort“, „nicht anwendbar“ und „nicht beantwortet“ sind in der Summe nicht enthalten.

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Daten zum Schaubild
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Eine zweite Frage ist die nach der Möglichkeit, Verwandte, Freunde oder Nachbarn um Hilfe zu bitten. Diese Frage ist im EU SILC-Modul 2006 als sekundäre Zielvariable enthalten. Ge-mäß der Anleitung für die Interviewer ist danach zu fragen, ob der Befragte die Möglichkeit hat, Verwandte, Freunde oder Nachbarn um Hilfe zu bitten, wobei es um die reine Möglichkeit geht, unabhängig davon, ob er die Hilfe benötigt hat oder nicht oder ob er wirklich Hilfe erhal-ten hat oder nicht. Dabei sollten nur Verwandte und Freunde (oder Nachbarn) einbezogen wer-den, die nicht mit dem Befragten im gleichen Haushalt leben (Europäische Kommission, 2006). 156. Kritischen Beobachtern könnte diese zweite Frage als ziemlich indirekt oder etwas abs-trakt erscheinen. Auch kann jemand durchaus viele Personen kennen, die ihm helfen würden, wobei zugleich aber die Beziehung sehr locker ist. Zugleich kann man aber auch davon ausge-hen, dass jemand nur Personen um Hilfe bittet, mit denen er eng befreundet ist. Nach unserer Ansicht ist wohl die erste Frage, die nach der Regelmäßigkeit, mit der mit anderen Personen beim Sport, für Kultur oder in gemeinschaftlichen Organisationen Zeit verbracht wird, eher angebracht, um die Intensität sozialer Verbindungen zu zeigen. Zum einen ist sie direkter und weniger abstrakt, zum anderen erscheint die Regelmäßigkeit gemeinsamer Aktivitäten ein bes-serer Indikator für Menge und Qualität sozialer Beziehungen zu sein als die Bitte um Hilfe. Dieser Indikator steht natürlich auch mit der Dimension persönliche Aktivitäten in Zusammen-hang, insbesondere vor dem Hintergrund, dass dort übergangsweise der Anteil der Arbeitneh-mer in Schichtarbeit als Indikator gewählt wurde. Allerdings gibt es keine vollkommene Über-lappung: Während in jener Dimension die Lebensqualität aus der Aktivität (also Schichtarbeit) resultiert, kommt sie in dieser aus der Möglichkeit zur Interaktion mit Personen. Deshalb schlagen wir vor, diese Frage in das jährliche Programm von EU SILC aufzunehmen und die Ergebnisse als Indikator für die Dimension soziale Verbindungen und Verflechtungen in das Indikatorensystem aufzunehmen. Solange keine Daten verfügbar sind, bleibt sie jedoch unberücksichtigt. Umweltbedingungen

157. Umweltbedingungen beeinflussen die Lebensqualität der Menschen auf vielfältige Art und Weise. Erstens spielen sie im Zusammenhang mit Gesundheit eine wichtige Rolle, da die Luft- und Wasserqualität sowie der Lärm nicht nur die physische, sondern auch die mentale Gesundheit direkt tangieren. Umweltbedingungen verursachen weltweit etwa ein Viertel aller Krankheiten (World Health Organisation, 2000). Somit profitieren Menschen stark von saube-rem Wasser und gesunder Natur. Zweitens sind gute Umweltbedingungen die Voraussetzung für Erholung. Deshalb kann der Zugang etwa zu Parks, Wäldern und Seen die Vielfalt der Frei-zeitmöglichkeiten erhöhen und so die Lebensqualität verbessern. Wie im Kapitel über Nachhaltigkeit noch ausführlich gezeigt wird, ist es unter langfristiger Per-spektive notwendig, die Umwelt sauber zu halten, um in Zukunft die Menschen vor Schäden zu bewahren. Heftige Klimaschwankungen bringen zum Beispiel Dürre und Überflutungen oder einen steigenden Meeresspiegel mit sich, was nicht nur ein Risiko für Besitz und Wohlstand bedeutet, sondern auch für die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern. Im Zusammenhang

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mit Lebensqualität, wie sie hier verstanden wird, steht aber die kurzfristige Perspektive im Vor-dergrund. 158. Will man die Umweltbedingungen in einem Indikator abbilden, bieten sich verschiedene Maße an. Die Wahl des angemessenen Maßes wird auf der einen Seite durch praktische Aspek-te wie Verfügbarkeit und Vergleichbarkeit bestimmt, auf der anderen Seite durch die beste An-näherung an das, was zu messen ist. Unter dem zuletzt genannten Aspekt dürfte die entspre-chende Liste den Anteil der Bevölkerung, die unter Lärm oder Luftverschmutzung leidet, die Qualität des Wassers, den Grad der Landnutzung, die Entfernung zu Naherholungsgebieten (oder umgekehrt zu Industrieanlagen) oder die Bevölkerungsdichte enthalten. Zur Bestimmung des Niveaus der Umweltdimension der Lebensqualität könnte zusätzlich die klimatische Situa-tion herangezogen werden, gemessen etwa an der Sonnenscheindauer. 159. In den vergangenen Jahrzehnten wurde mit viel Einsatz versucht, Umweltbedingungen auf vielfache Weise zu messen. Hier wird allerdings der vermutlich verlässlichste Ansatz ver-wendet, der sich auf physikalische Aspekte beruft, anstatt auf Meinungsumfragen. Zwar wäre ein zusammengesetzter Indikator erste Wahl, der alle oben genannten Facetten der Lebensquali-tät berücksichtigen würde. Dieser erforderte aber eine Gewichtung gemäß der Bedeutung der individuellen Indikatoren, was nur schwer zu leisten ist. Auch wenn man bereits verfügbare zusammengesetzte Indikatoren verwendete, wäre das Gewichtungsproblem nicht gelöst. 160. Aus pragmatischen Gründen wählen wir einen bereits vorliegenden, einfachen individuel-len Indikator als Hauptindikator. Dieser misst die Belastung der städtischen Bevölkerung durch Luftverunreinigung durch Partikel von weniger als 10 Mikrometer Durchmesser (PM10).

Belastung der städtischen Bevölkerung durch Luftverschmutzung mit Feinstaub1)

1) Der Indikator zeigt das Jahresmittel der bevölkerungsgewichteten Feinstaubkonzentration (PM 10) an städtischen Hintergrundstationen in Ballungs-räumen.

Quelle: EU

Schaubild 19

Deutschland

20

22

24

26

28

30

0

µg/m³

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Frankreich

20

22

24

26

28

30

0

µg/m³

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Dieser Indikator wird auch von der Europäischen Kommission bei der Betrachtung der nachhal-tigen Entwicklung verwendet. Er zeigt die mit der Bevölkerung gewichtete jährliche mittlere Konzentration von PM10-Partikeln in städtischen Hintergrundstationen in Ballungsräumen, wie

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Daten zum Schaubild
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sie auch Eurostat ausweist. Hintergrundstation bedeutet in diesem Fall, dass nicht direkt am Emissionsort gemessen wird. Der Vorteil dieses Indikators liegt darin, dass er nicht nur auf die Luftqualität abstellt. Zusätz-lich berücksichtigt er indirekt das Vorhandensein von Naturgebieten, und er ist ein Indikator für die Verkehrs- oder Industriedichte und damit auch für die Lärmbelastung. Allerdings muss die Korrelation zu den anderen Teilaspekten noch näher untersucht werden. Daten zu diesem Indi-kator liegen für viele entwickelte Länder, sogar auf Tagesbasis, vor und sind international gut vergleichbar. Zum Beispiel gibt es in Wiesbaden zwei Messstationen. Schaubild 19 weist für Deutschland einen rückläufigen Trend der Luftverschmutzung durch PM10 aus; in Frankreich ist die Lage etwas differenzierter. Persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit

161. Schließlich verlangt auch die Dimension persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit nach einem zusammengesetzten Indikator, um zumindest einen wesentlichen Teil ihrer Facetten zu erfassen. Diese beinhalten zum Beispiel die Angst vor dem Tod, vor Kriminalität und Ge-walt, vor Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Ein zusammengesetzter Indikator hat zwar den Vorteil, viele Facetten zu berücksichtigen, er muss dabei aber Bewertungen der in ihm enthaltenen Daten vornehmen. 162. Der Canadian Council on Social Development (2003) hat einen zusammengesetzten In-dikator für persönliche Unsicherheit entwickelt, der für unsere Zwecke geeignet erscheint. Die-se Organisation veröffentlicht zwei Indikatoren, einen zur Unsicherheit selbst und einen für die Wahrnehmung der Unsicherheit. Wir konzentrieren uns aber auf den ersten, den objektiven Indikator, der Daten zu drei Bereichen enthält: wirtschaftliche Sicherheit, also Sicherheit im Hinblick auf den Arbeitsplatz und das Vermögen, Sicherheit der Gesundheit, als Schutz vor den Bedrohungen von Krankheit und Verletzung, und physische Sicherheit, also Sicherheit vor Kriminalität und Diebstahl. Für jeden dieser drei Bereiche ist von Experten eine Reihe von In-dikatoren entwickelt worden: Für wirtschaftliche Sicherheit sind dies − das persönliche verfügbare Einkommen pro Kopf, − die Armutslücke, − die langfristige Arbeitslosenquote, − der Anteil der Arbeitslosen, die Arbeitslosengeld erhalten, − die durchschnittliche Höhe von Sozialtransfers, − der Anteil der Hypotheken- und Konsumkredite am gesamten persönlichen Einkommen. Für die Sicherheit der Gesundheit sind dies − die Zahl der potenziell verlorenen Lebensjahre, − die Häufigkeit von Arbeitsunfällen, − die Häufigkeit von Verkehrsunfällen mit Verletzen.

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Für die physische Sicherheit sind es die Indikatoren − Zahl der Gewaltverbrechen je 100 000 Einwohner, − Zahl der Eigentumsdelikte je 100 000 Einwohner. 163. Innerhalb dieser drei Bereiche werden alle Indikatoren gleich gewichtet. Das Gewicht des durchschnittlichen Indikators jedes Bereichs wird ermittelt, indem ein repräsentativer Teil der Bevölkerung nach deren relativer Bedeutung für die persönliche Sicherheit befragt wird. Dieses Ergebnis – wirtschaftliche Sicherheit trägt zu 35 vH, gesundheitliche zu 55 vH und physische Sicherheit zu 10 vH dazu bei – wird dann zur Gewichtung für den gesamten Index der persönli-chen Sicherheit herangezogen. Dieses Vorgehen halten wir für eine Anwendung in Europa für sinnvoll. Dazu sollten zunächst die einzelnen Reihen erhoben werden. Dies geschieht bereits durch Eurostat, die Europäische Zentralbank, die Direction centrale de la police judiciaire und das Bundeskriminalamt. Dann sollte eine entsprechende Frage in die regelmäßigen EU SILC-Module aufgenommen werden, um zum Gewichtungsschema zu gelangen. 164. Vor dem Hintergrund dieser differenzierten Facetten von Unsicherheit und der unzurei-chenden Länge der Zeitreihen kann die von uns präferierte PCA derzeit nicht für diese Dimen-sion durchgeführt werden. Sobald sich die Datenlage bessert, sollte dies nachgeholt werden. Deshalb muss derzeit ein einzelner Leitindikator gewählt werden. Trotz unserer schwerwiegen-den Vorbehalte gegenüber relativen Armutsmaßen schlagen wir hierzu den von der Europäi-schen Kommission verwendeten Leitindikator für soziale Eingliederung vor, den Anteil der Menschen, die dem Armutsrisiko ausgesetzt sind (Schaubild 20). Er misst den Anteil der Per-sonen mit einem verfügbaren Äquivalenzeinkommen unterhalb der Armutsgrenze, die mit 60 vH des Medians des verfügbaren Äquivalenzeinkommens nach Sozialtransfers angesetzt wird. Wir hoffen, damit den Bereich der wirtschaftlichen Unsicherheit zumindest teilweise zu erfassen. Die beiden anderen Bereiche können wir wegen der positiven Korrelation zwischen Armut einerseits und Gesundheits- beziehungsweise Kriminalitätsrisiken andererseits für eine gewisse Zeit aus der Betrachtung ausschließen.

Bevölkerungsanteil der Menschen ohne Armutsrisiko1)

1) Anteil der Einwohner mit einem verfügbaren Äquivalenzeinkommen über der Armutsgefährdungsschwelle, die auf 60 vH des nationalen verfüg-baren Median-Äquivalenzeinkommens unter Einbeziehung der Sozialtransfers festgelegt ist.– 2) : SOEP.– 3) : EU.Quelle Quelle

Schaubild 20

Deutschland2)

80

85

90

95

100

0

%

92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09

Frankreich3)

80

85

90

95

100

0

%

92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09

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Daten zum Schaubild
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Der Anteil der Menschen ohne Armutsrisiko ist in Schaubild 20 dargestellt. Für Deutschland ist dieser Anteil im gegenwärtigen Jahrzehnt zurückgegangen, in Frankreich blieb er auf einem etwas höheren Niveau nahezu stabil. Der aktuelle Verlauf in Deutschland könnte unter anderem die erst kürzlich vorgenommenen Umstellungen beim Arbeitslosengeld („Hartz IV“) wider-spiegeln.

5. Vorschläge zur zukünftigen Arbeit

165. Diese Expertise hat den Boden für ein erweitertes regelmäßiges Berichtswesen zum Stand der Wohlfahrt bereitet, das ein weites Spektrum von Facetten der menschlichen Existenz umfassend berücksichtigt. Bezüglich der Lebensqualität ist neben einer Zusammenfassung der aktuellen Entwicklungen insbesondere zu beachten, dass die Kompliziertheit der Materie eine sehr vorsichtige Beurteilung und Interpretation erfordern. Wegen der spezifischen Eigenheiten der unterschiedlichen Dimensionen der Lebensqualität können sogar die besten Indikatoren immer nur als unperfekte Annäherungen angesehen werden. Deshalb sollten sie mit klarem Verständnis für ihre Aussagemöglichkeiten und ihre Grenzen diskutiert werden, bevor irgend-welche Empfehlungen für politische Maßnahmen formuliert werden. Außerdem empfehlen wir, die Ergebnisse in Form von Radar-Charts darzustellen, wodurch die Entwicklung aller sieben Dimensionen im Zeitablauf ebenso verdeutlicht wird wie die Vielgestaltigkeit des Untersu-chungsgegenstandes. In keinem Fall sollte man aber der Versuchung nachgeben, einen umfas-senden Indikator für Lebensqualität oder etwas Vergleichbares zu entwickeln, so einfach das rechentechnisch auch sein mag. 166. Im SSFC-Report werden zum Thema Lebensqualität fünf Empfehlungen ausgesprochen, wobei es zukünftigen Forschungen überlassen bleibt, Prioritäten zu setzen. Erstens sollte bei allen Dimensionen außer bei der ersten die Messung verbessert werden, insbesondere bei den Dimensionen soziale Kontakte und Beziehungen, politische Einflussnahme und Kontrolle sowie persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit. Zweitens sollten Ungleichheiten abgeschätzt und, drittens, die Beziehungen zwischen den Dimensionen untersucht werden. Viertens sollten verschiedene Arten der Aggregation durch die Bereitstellung entsprechender Informationen ermöglicht werden. Und fünftens sollten die subjektiven Maße des Wohlbefindens durch die statistischen Ämter untersucht werden. Da diese Empfehlungen sehr generell gehalten und un-strittig sind, stimmen der Conseil d’Analyse Économique und der Sachverständigenrat zur Be-gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ihnen selbstverständlich zu. In unserer Ex-pertise haben wir uns entschlossen, darüber hinaus zu gehen und zu zwei Gebieten weiterge-hende Vorschläge zu machen, um so eine solide Basis für die Anwendung der konzeptionellen Ausführungen zu schaffen. 167. Unser erster Vorschlag betrifft die Aggregation. Die Entwicklung zusammengesetzter Indikatoren ist mehr als eine technische Aufgabe, da sie immer eine große Anzahl strenger I-dentifikationsannahmen erfordert. Die detaillierte Diskussion hat schließlich zu einem pragma-tischen, aber zumindest unserer Ansicht nach konzeptionell sauberen Vorgehen geführt: Wäh-rend wir beharrlich darauf bestehen, dass Aggregationen über verschiedene Dimensionen der Lebensqualität hinweg übermäßig strenge Identifikationsannahmen erfordern würden, könnten Aggregationen innerhalb einer Dimension weniger kontrovers sein. Für derartige Aggregatio-

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Lebensqualität 101

CAE / SVR - Expertise 2010

nen stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, von denen wir zwei näher betrachten, mit dem Ziel, Informationen zu verdichten. Schließlich legen wir großen Wert auf die Kommuni-kation der Ergebnisse. 168. Der zweite Vorschlag bezieht sich direkt auf die Verbesserung der Indikatoren. Auf den ersten Blick gibt es Indikatoren zur Lebensqualität in Hülle und Fülle. Einige ihrer Elemente – zum Beispiel Sterbetafeln oder Kriminalitätsstatistiken – gehören sogar zu den ältesten re-gelmäßig erhobenen Statistiken überhaupt. Ein näherer Blick offenbart jedoch die Schwächen, wie die Diskussion gezeigt hat. Vor dem Hintergrund der enormen Anstrengungen der Regie-rungen und der statistischen Ämter gibt es aber große Hoffnungen, dass sich die Lage rasch bessern wird. Zur Verbesserung der derzeitigen Situation muss man die bestehenden Indikatoren innerhalb jeder Dimension näher betrachten und die wesentlichen Unzulänglichkeiten herausarbeiten. Insbesondere sind in diesem Zusammenhang die internationale Verfügbarkeit und Vergleich-barkeit, sowohl zwischen Frankreich und Deutschland als auch innerhalb Europas, zu nennen. Zudem ist die Häufigkeit unzureichend, mit der die Indikatoren derzeit berechnet werden. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass mehr Indikatoren zu Möglichkeiten anstatt zu erlangten Funktionalitäten benötigt werden. Im Folgenden werden dazu unsere Vorschläge für jede Dimension der Lebensqualität skizziert. 169. Für die Dimension Gesundheit würde der Indikator im Idealfall anhand einer PCA aus-gewählt, wobei die Voraussetzungen für ihren Einsatz noch durch eine schnellere Verfügbarkeit der zugrunde liegenden Indikatoren verbessert werden könnten. Außerdem wird derzeit Krankheit nur unzureichend abgebildet. Deshalb wären repräsentative jährliche Zeitreihen über Krankheitsdaten sehr wünschenswert. Zum zukünftig vorgesehenen Leitindikator der Di-mension, Lebensjahre in Gesundheit, gibt es für Europa seit 1996 entsprechende Angaben. De-ren erstes Element – Sterbedaten – liegen schon seit geraumer Zeit in ausreichender Qaulität vor. Das zweite Element – Krankheitsdaten – ist relativ neu, und die methodischen Verände-rungen, die Eurostat in den vergangenen Jahren vorgenommen hat, belegen, dass die Lernkurve hier steiler verläuft. Seit dem Übergang vom European Community Household Panel (ECHP) zur EU-Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) zwischen den Jahren 2003 und 2005 ist die zeitliche Vergleichbarkeit relativ hoch. Seitdem wurden nur noch kleinere Ver-änderungen in der Reihenfolge und in der Formulierung der Fragen vorgenommen, etwa im Jahr 2008. Probleme gibt es aber noch bei der internationalen Vergleichbarkeit, da die Befragten subjektiv über ihre gesundheitliche Beeinträchtigungen berichten, und dies kann von Land zu Land verschieden sein. Zwei Wege erscheinen vielversprechend, um dieses Problem zu lösen: Ers-tens könnte man das selbst empfundene Kranksein mit objektiven Daten über die Häufigkeit von Krankheiten vergleichen, um so länderspezifische Korrekturfaktoren zu erhalten. Zweitens könnte eine restriktivere Definition von gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu einer höheren internationalen Vergleichbarkeit der Ergebnisse führen. Schließlich ist zu beachten, dass Perso-

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102 Lebensqualität

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nen in Einrichtungen, wie zum Beispiel in Altenheimen, derzeit von EU-SILC nicht erfasst werden. 170. Auch für die Dimension Bildung betreffen unsere Vorschläge die frühzeitige Bereitstel-lung der einer PCA zugrunde liegenden Indikatoren und – noch bedeutender – die zusätzlichen Bemühungen um die Messung des Outputs. Auch zu dem von uns favorisierten, aber noch nicht verfügbaren PIAAC-Indikator gibt es einige kleinere Hinweise mit Blick auf die Lebens-qualität. Die Lebensqualität erhöht sich, wenn Personen offen für andere Kulturen und gegen-über Einstellungen anderer sind, wenn sie gelernt haben, sich auszudrücken und zu diskutieren, und wenn sie Freude am Lernen haben. Deshalb sollte PIAAC auch auf diese Aspekte einge-hen. Zudem sollten, um repräsentative Ergebnisse für die gesamte Bevölkerung zu generieren, alle Altersgruppen einbezogen werden. 171. Da der von uns bevorzugte Indikator für persönliche Aktivitäten das Ergebnis einer PCA wäre, sollte der zugrundeliegende Satz von Zeitreihen konsequent um zusätzliche oder bessere Daten ergänzt werden. Weitere Forschungen sollten hier darauf abzielen, die idealen Indikatoren für die PCA zu sammeln und auszuwählen. Da allerdings die Zeitreihen für die PCA mindestens zehn Jahre umfassen sollten, wird sich der derzeitige Indikatorensatz wohl nicht rasch ändern lassen. Bei der Dimension politische Einflussnahme und Kontrolle existiert bereits ein zusammenge-setzter Hauptindikator, der von einer internationalen Organisation entwickelt wurde. Die Mög-lichkeit zu Änderungen ist deshalb eher gering. Wir stimmen aber mit dem SSFC-Report über-ein, dass Befragungen der Bevölkerung die Expertenmeinungen ergänzen und in einigen Fäl-len sogar ersetzen sollten. Der bisher ausgewählte Indikator für die Dimension soziale Kontakte und Beziehungen kann leider nur einen Teil von dem erfassen, was er eigentlich messen sollte. Die Häufigkeit, mit der Zeit mit anderen Personen verbracht wird, sagt überhaupt nichts über Qualität und Intensität der Beziehungen aus. Hier ist wie bei keiner der übrigen Dimensionen die Suche nach einem alles umfassenden Indikator erforderlich. In der Zwischenzeit sollte der vorgeschlagene Leitindikator jährlich im Rahmen des EU-SILC erhoben werden. 172. Die Belastung der städtischen Bevölkerung mit bestimmten Luftverschmutzungen als Indikator für die Dimension Umweltbedingungen wird seit 1999 für die EU-27 gemessen. Zwar umfasst dieser Indikator wiederum nur einen sehr kleinen Bereich der Umweltbedingun-gen, aber dieser Bereich wird gut erfasst, und er ist immerhin für viele weitere Bereiche reprä-sentativ. Die Qualität dieses Indikators ist als hoch einzustufen, so dass wir keine dringende Notwendigkeit sehen, die Messung zu verbessern. 173. Der für die Dimension persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit ausgewählte Leit-indikator existiert seit 1998 und wird von Eurostat erhoben. Wenngleich eine zeitnähere Bereit-stellung wünschenswert wäre, gibt es kein unmittelbares Erfordernis für Verbesserungen. Der dazu alternativ zusammengesetzte Indikator besteht aus elf Einzelindikatoren, die für die EU

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CAE / SVR - Expertise 2010

seit dem Jahr 2002 vollständig vorliegen. Verbesserungsmöglichkeiten gibt es hier mit Blick auf die Aggregation der drei Teilbereiche wirtschaftliche, gesundheitliche und physische Si-cherheit. Befragungen zur Quantifizierung der entsprechenden Gewichte sollten relativ regel-mäßig durchgeführt, und die Repräsentativität der Stichprobe könnte verbessert werden. Nun sollte die erste Befragung tatsächlich durchgeführt werden, und zwar durch eine zusätzliche Frage in einem EU-SILC-Modul. Ein Résumé

174. Man muss nicht den Themenbereich der Wirtschaftswissenschaften verlassen, um zu er-kennen, dass im Leben nicht nur materielle Aspekte zählen. Nicht-materielle Elemente der Wohlfahrt spielen für die individuelle Erfüllung und Zufriedenheit sowie für den gesellschaft-lichen Fortschritt eine bedeutende Rolle. Dieses Kapitel hat sich mit der schwierigen Aufgabe auseinandergesetzt, nicht-materielle Wohlfahrt auf der individuellen Ebene und durch Aggrega-tion dieser Informationen auch auf der gesellschaftlichen Ebene zu messen. Außerdem hat es eine erste Umsetzung der daraus abgeleiteten empirischen Strategie am Beispiel Frankreichs und Deutschlands geleistet, geleitet von dem Verständnis, dass dies nur ein erster Schritt sein kann. Vor diesem Hintergrund haben wir eine Reihe abgewogener Entscheidungen sowohl auf der konzeptionellen als auch auf der angewandten Ebene getroffen, um das Wünschenswer-te mit dem Erreichbaren in Einklang zu bringen. 175. Auf der Basis unserer konzeptionellen Diskussion sprechen wir uns klar für einen „bot-tom-up“-Ansatz aus. Zwar hätten wir unsere Suche nach einer besseren Erfassung der nicht-materiellen Wohlfahrt mit Umfrageergebnissen über individuelles Glück („Happiness“) begin-nen können, aber grundlegende Fragen der Messbarkeit haben uns davon ebenso abgehalten wie das Risiko, dass derart von ihrer Natur her unklar definierte Maße der menschlichen Zu-friedenheit sehr leicht im Sinne politisch erwünschter Ergebnisse manipuliert werden könnten. Stattdessen schlagen wir vor, die reichlich vorhandenen Informationen zu verschiedenen Ele-menten der nicht-materiellen Wohlfahrt so weit wie möglich zusammenzufassen, um die Infor-mationen für ihre Adressaten verwendbar zu machen, dabei aber so viel an Komplexität zu er-halten, wie es erforderlich ist, um die Vielschichtigkeit dahinter zu berücksichtigen. Die von uns vorgeschlagene empirische Umsetzung basiert auf der Definition einer Reihe von Dimensionen, die nicht weiter aggregiert werden sollten, um die Komplexität des Lebens aus-reichend abzubilden. Dabei haben wir uns vom SSFC- Report leiten lassen und sieben Dimen-sionen ausgewählt, die sich teilweise auf die Individuen beziehen – wie Gesundheit und Bil-dung –, teilweise auf deren gesellschaftlichen und physischen Hintergrund – wie soziale Bezie-hungen oder Umweltbedingungen. Bei der empirischen Umsetzung wird dann eine Dimension nach der anderen abgearbeitet. Dabei wird für jede der Dimensionen eine Reihe von individuel-len Indikatoren identifiziert, die deren jeweilige Facetten so umfassend wie möglich abbilden. Schließlich wird daraus für jede der Dimensionen ein Leitindikator ausgewählt, der die Di-mension möglich genau repräsentiert. Soweit möglich wird die Wahl des Leitindikators mit Hilfe einer statistischen Methode der Komplexitätsreduktion überprüft. Insbesondere haben wir unsere Umsetzung aber unter der

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CAE / SVR - Expertise 2010

Nebenbedingung durchgeführt, dass die ausgewählten Indikatoren regelmäßig verfügbar sind. Nur so kann das hier vorgeschlagene Berichtswesen in den kommenden Jahren verwirklicht werden. 176. Die konkrete Umsetzung der Strategie auf die beiden Länder Frankreich und Deutschland hat eine Reihe von interessanten Ergebnissen erbracht, die insofern plausibel erscheinen, als sie ein gemischtes Bild des gesellschaftlichen Fortschritts in den vergangenen Jahrzehnten zei-gen. Insbesondere erscheinen die Fortschritte in den Dimensionen Gesundheit, Bildung (mit einigen Einschränkungen) und Umweltbedingungen sehr kongruent mit dem beständigen Wachstum des materiellen Wohlstands. Die Entwicklungen in einigen anderen Dimensionen der nicht-materiellen Wohlfahrt wie persönliche Aktivitäten oder persönliche und wirtschaftli-che Sicherheit – auch wenn sie zugegebenermaßen nur schwer zu fassen sind – sprechen gleich-zeitig dafür, dass der gesellschaftliche Fortschritt nicht gleichmäßig über alle entsprechenden Dimensionen erreicht wurde.

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Lebensqualität 105

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VIERTES KAPITEL

Nachhaltigkeit

Konzeptionelle Fragen: Dimensionen der Nachhaltigkeit1.

2. Makroökonomische NachhaltigkeitNachhaltigkeit des WachstumsExterne NachhaltigkeitFiskalische Nachhaltigkeit

Literatur

3. Finanzielle Nachhaltigkeit

4. Ökologische Nachhaltigkeit

Finanzkrisen und NachhaltigkeitEntwicklung angemessener Indikatoren

Die Notwendigkeit zur Betrachtung der ökologischen NachhaltigkeitTreibhausgasemissionenRohstoffproduktivität und RohstoffverbrauchBiodiversität

5. Zusammenfassende Bemerkungen

Anhang

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Nachhaltigkeit 107

CAE / SVR - Expertise 2010

Nachhaltigkeit

177. Nachdem sich die vorherigen Kapitel mit der Messung der aktuellen Wirtschaftsleis-tung, des materiellen Wohlstands und der Lebensqualität beschäftigt haben, werden in diesem Kapitel als weitere Perspektive Fragen der Nachhaltigkeit behandelt. Insbesondere geht es darum, ob wir darauf vertrauen können, das derzeitige Wohlstandsniveau für die eigene Zu-kunft oder für zukünftige Generationen zumindest halten zu können. Diese Frage bildet auch den Kern der drei Säulen des SSFC-Reports. Dort werden Fragen der Nachhaltigkeit aller-dings hauptsächlich unter dem ökologischen Aspekt betrachtet. Im Gegensatz dazu wählen wir einen breiteren Ansatz und beziehen die Nachhaltigkeit der Fiskalpolitik und der Aktivi-täten des privaten Sektors mit ein. Die Beurteilung der Nachhaltigkeit bestimmter ökonomischer Aktivitäten und Politiken er-fordert eine nicht ganz unbedeutende Ausweitung der Perspektive: Bei Fragen der Nachhal-tigkeit verlassen wir die auf unverrückbaren Fakten beruhende Berichterstattung über den derzeitigen Zustand und begeben uns auf das Gebiet von Projektionen in die Zukunft. Dies ist nicht mit der Prognose zukünftiger Entwicklungen gleichzusetzen, da Prognosen eine An-nahme über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse beinhalten. Die Diskussion der Nachhaltigkeit hingegen befasst sich mit den Konsequenzen einer dauerhaften Fortschrei-bung gegenwärtiger Aktivitäten und Entscheidungen in die Zukunft. Demzufolge sind Aus-sagen zur Nachhaltigkeit „was wäre, wenn“-Aussagen, die mögliche Konsequenzen eines bereits eingeschlagenen Aktionspfades beschreiben. Die Darstellung der Nachhaltigkeit aktueller Politik ermöglicht es der Öffentlichkeit zu er-kennen, ob die verfolgte Politik drastische Auswirkungen auf den Wohlstand zukünftiger Generationen oder auch der derzeitigen Generation in der näheren Zukunft haben kann. So können zum Beispiel durch die Entscheidung, die öffentliche Verschuldung zu erhöhen, die Konsummöglichkeiten zukünftiger Generationen deutlich beschnitten werden. Demgegenüber nehmen Prognosen notwendigerweise mit in den Blick, dass Politiker unter dem Eindruck negativer Konsequenzen ihrer Entscheidungen ihren Kurs ändern könnten. Da Prognosen zahlreiche Verhaltensannahmen erfordern, sind sie niemals eindeutig. Deshalb sollten Prog-nosen auch nicht zum regelmäßigen statistischen Berichtswesen gehören.

1. Konzeptionelle Fragen: Dimensionen der Nachhaltigkeit

178. Bevor Fragen der Nachhaltigkeit sinnvoll diskutiert werden können, muss der Begriff der Nachhaltigkeit eindeutig definiert werden. In der Literatur gibt es dazu verschiedene Vor-schläge. Einerseits könnte eine nachhaltige Entwicklung als eine Situation beschrieben wer-den, in der der gegenwärtige Lebensstandard für zukünftige Generationen zumindest gehal-ten werden kann. Andererseits könnte man sie als eine Situation definieren, in der zukünftige Generationen über die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten verfügen, wie jede Generation zuvor. Obwohl die zweite Definition aus Sicht der ökonomischen Theorie sehr viel Charme hat, ist ihre Relevanz in der Praxis doch sehr begrenzt, da die derzeitige Generation mangels Infor-

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108 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

mationen nicht mit hinreichender Sicherheit die Möglichkeiten zukünftiger Generationen bewerten kann. Zum Beispiel ist es sehr schwierig, den Bestand einer natürlichen Ressource bei gegebenem Abbaupfad vorherzusehen, aber es ist wohl unmöglich, die Bedeutung eben dieser Ressource für die Chancen zukünftiger Generationen in Betracht zu ziehen. Dies würde restriktive Annahmen ebenso über den technologischen Wandel und Innovationen, wie auch über die Präferenzen zukünftiger Generationen erfordern. Die erste Definition ist hingegen weniger ambitioniert, da sie lediglich die derzeitige Situation unter der impliziten Annahme fortschreibt, dass die Quellen des Wohlstands jetzt und in Zu-kunft die gleichen sein werden. Diese Definition werden wir – in Übereinstimmung mit dem SSFC-Report – hauptsächlich verwenden. Obwohl dieser Ansatz in der praktischen Arbeit oftmals geeigneter ist, sollte man sich bewusst sein, dass er die Nachhaltigkeit eher unter-schätzt, da er mögliche Präferenz- und Technologieänderungen nicht einbezieht. Für unsere Zwecke ist er dennoch angemessen, da unser pragmatisches Ziel in der Bereitstellung geeig-neter Indikatoren besteht, die der Öffentlichkeit signalisieren sollen, ob die unveränderte Fortführung des derzeitigen Verhaltens den zukünftigen Wohlstand gefährdet. 179. Das Standardkonzept für Nachhaltigkeit umfasst drei wesentliche Dimensionen: ge-sellschaftliche, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit (Harris et al., 2001): − Ein gesellschaftlich nachhaltiges System muss eine gerechte Einkommens- und Ressour-

cenverteilung und Chancengleichheit ermöglichen sowie eine angemessene Bereitstellung sozialer Dienste, einschließlich Gesundheit, und Bildung gewährleisten und die Gleichstel-lung der Geschlechter sowie politische Teilhabe und Kontrolle erreichen.

− Ein ökonomisch nachhaltiges System muss in der Lage sein, laufend Waren und Dienst-

leistungen zu produzieren, einen überschaubaren Stand der öffentlichen und externen Ver-schuldung zu gewährleisten und extreme Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Sek-toren zu verhindern.

− Ein ökologisch nachhaltiges System muss eine stabile Rohstoffbasis gewährleisten, wobei

es eine Übernutzung erneuerbarer Ressourcen und natürlicher Senken verhindert und nicht-erneuerbare Ressourcen nur insoweit abbaut, wie Investitionen in entsprechende Substitute vorgenommen werden. Dies beinhaltet die Aufrechterhaltung der Biodiversität, Stabilität der Atmosphäre und die Funktionsfähigkeit anderer Ökosysteme, die für gewöhnlich nicht als ökonomische Ressourcen angesehen werden.

Diese drei Anforderungen gleichzeitig zu erfüllen, ist zur Erreichung von Nachhaltigkeit und Wohlstand wichtig. Da sie zudem stark miteinander verbunden sind, ist für die sinnvolle Dis-kussion ein interdisziplinärer Ansatz erforderlich. Schließlich erfordert die Analyse eine in-ternationale Sichtweise. Dies ist insbesondere im Hinblick auf ökologische Aspekte von Be-deutung, da Schadstoffe keine nationalen Grenzen kennen. Es gilt aber auch allgemein, weil eine in die Zukunft gerichtete Diskussion der Nachhaltigkeit auch das Zusammenspiel der

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Nachhaltigkeit 109

CAE / SVR - Expertise 2010

vielen wirtschaftlichen Akteure berücksichtigen muss und weil nationale Politikentscheidun-gen nahezu immer in einem internationalen Umfeld getroffen werden. 180. Die erste Dimension, die gesellschaftliche Nachhaltigkeit, betont verschiedene Facet-ten des Wohlstands und der Lebensqualität, die bereits im zweiten und dritten Kapitel disku-tiert wurden. Themen, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft zentral sind – etwa die Ein-kommensverteilung oder die Verfügbarkeit guter Arbeitsplätze –, wurden im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit dem materiellen Wohlstand erörtert. Dazu wurden zwei Indikatoren für das Indikatorensystem vorgeschlagen. Bei Fragen der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit müssen diese Facetten in eine intertemporale und eine intergenerative Perspektive einbezogen werden. Da sich zudem das tägliche Leben in einer regionalen Dimension abspielt, muss man den sozialen Zusammenhalt innerhalb und zwischen gesellschaftlichen Gruppen untersu-chen. Wenn zentrifugale Kräfte die Oberhand gewinnen, ist die Kooperation – eine der we-sentlichen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit und der sozialen Wohl-fahrt – gefährdet. Dies kann allerdings kein Gegenstand einer regelmäßigen Berichterstattung durch nationale statistische Ämter sein. Viele Indikatoren zur derzeitigen Lebensqualität sind außerdem gut geeignet, Faktoren zu identifizieren, die den sozialen Zusammenhalt gefährden. Dazu zählen die Teilnahme an Aus-bildung, Maße zur Einkommens- und Vermögensverteilung, Zugang zum Arbeitsmarkt, Ge-sundheit oder politische Teilhabe. Diese Indikatoren waren Gegenstand des dritten Kapitels. Da sich die Diskussion der Nachhaltigkeit grundsätzlich mit der Frage beschäftigt, ob die un-veränderte Fortführung der derzeitigen Politik dramatische negative Auswirkungen haben könnte, gibt es notwendigerweise eine hohe Kongruenz zwischen der Beurteilung aktueller sozialer Bedingungen und ihrer Extrapolation in die Zukunft. Deshalb kann eine isolierte Be-trachtung der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit kaum neue Erkenntnisse erbringen, die über die im zweiten und dritten Kapitel betrachteten Indikatoren zum materiellen Wohlstand und zur Lebensqualität hinausgehen. Über eine reine Fortschreibung der Gegenwart hinauszugehen, ist mehr als schwierig. Denn es ist zweifellos richtig, dass sich Chancengleichheit über Generationen hinweg und Erschei-nungsformen von sozialer Sklerose oder sozialer Immobilität mit diesen Indikatoren nicht vollständig erfassen lassen. Die sich ergebenden Schlussfolgerung im Bezug auf die gesell-schaftliche Nachhaltigkeit über Generationen hinweg erfordert daher extrem restrikti-ve Identifikationsannahmen. Dies übersteigt deutlich die Aufgabe jedes denkbaren statisti-schen Berichtswesens. Insbesondere würde die Messung individueller Chancen- und Entfal-tungsmöglichkeiten über Generationen hinweg wesentlich mehr Informationen erfordern als derzeit verfügbar sind. Deshalb ist es zumindest beruhigend, dass die im dritten Kapitel vor-gestellten Indikatoren die Identifikation von fehlendem Sozialkapital erleichtern. Ein deutli-ches Beispiel der Unfairness zwischen den Generationen spiegelt sich in dem Indikator zur sozialen Schichtung der Bildungsabschlüsse und der Leistung in der Ausbildung wider. Da die Persistenz zwischen Generationen und die geringe soziale Mobilität wohl eng miteinander zusammenhängen, hat die laufende Information eine hohe Aussagekraft für langfristige Kon-sequenzen.

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110 Nachhaltigkeit

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181. Aus alledem ziehen wir den Schluss, dass es ratsam ist, die Diskussion auf die ökono-mische Nachhaltigkeit (makroökonomische sowie finanzielle) und ökologische Nachhaltig-keit zu beschränken. Die makroökonomische und die finanzielle Nachhaltigkeit werden in den Abschnitten 2 und 3 dieses Kapitels behandelt, die ökologische Nachhaltigkeit in Abschnitt 4. Die im zweiten und dritten Kapitel entwickelten Indikatoren behandeln alle Bereiche der ge-sellschaftlichen Nachhaltigkeit, zu denen man etwas mit Überzeugung sagen kann. Bei unse-rer Suche nach aussagekräftigen Indikatoren bemühen wir uns, solche vorzustellen, die den Prinzipien der Sparsamkeit und der Praktikabilität folgen, ohne die ökonomische Aussage-kraft zu beeinträchtigen. Wie schon in den vorherigen Kapiteln befassen wir uns deshalb nur mit bereits verfügbaren Indikatoren. Wir diskutieren deren Stand und zeigen Verbesserungs-möglichkeiten auf. 182. Zuerst wenden wir uns den verschiedenen Facetten der ökonomischen Nachhaltigkeit zu. Zur Übersichtlichkeit werden dabei drei Bereiche unterschieden: − Makroökonomische Nachhaltigkeit kann in die Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachs-

tums auf der einen Seite und die externe und fiskalische Nachhaltigkeit auf der anderen Seite unterteilt werden. Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums ist dabei die of-fensichtlichste ökonomische Dimension. Wir betrachten das Wachstum dann als nachhal-tig, wenn ein ausreichender Teil des Bruttoinlandsprodukts für Investitionen aufgewendet wird. Diese Investitionen können materiell (Maschinen oder Infrastruktur) oder immateriell (Wissen, Fertigkeiten) sein. Da zum Beispiel Forschungs- und Entwicklungsausgaben für das zukünftige Wachstum von besonderer Bedeutung sind, war deren Erhöhung ein wich-tiges Ziel der Lissabon-Strategie und ist auch ein Hauptziel der EU 2020-Strategie.

− Externe und fiskalische Nachhaltigkeit betreffen die intertemporalen Budgetbeschrän-

kungen des öffentlichen und des privaten Sektors. Die externe Nachhaltigkeit betrifft die Summe aus öffentlichen und privaten Finanzierungssalden. Übergroße öffentliche und pri-vate Defizite, die auf eine nichtnachhaltige Auslandsverschuldung hinauslaufen, können kurz- und mittelfristige Konsequenzen haben, wenn es zu einem plötzlichen Abbau von Leistungsbilanzungleichgewichten kommt. Fiskalische Nachhaltigkeit bezieht sich auf die Tatsache, dass Regierungen die finanzielle Belastung für laufende Ausgaben über die inter-temporale Budgetbeschränkung auf spätere Generationen übertragen können. Diese Prob-lematik steht wegen ihrer langfristigen Perspektive in engem Zusammenhang mit der in-tergenerativen Gerechtigkeit.

− Finanzielle Nachhaltigkeit des privaten Sektors betrifft insbesondere die mittlere Frist, da

die Entstehung und der plötzliche Abbau finanzieller Ungleichgewichte („Blasen“) inner-halb eines Konjunkturzyklus erfolgen. Aber auch hier gibt es eine Verbindung zu langfris-tigen Fragen, da Finanzkrisen möglicherweise den staatlichen Schuldenstand und damit die Belastung zukünftiger Generationen erhöhen.

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Nachhaltigkeit 111

CAE / SVR - Expertise 2010

2. Makroökonomische Nachhaltigkeit

183. Zweifellos war die globale Finanzkrise, die im Jahr 2007 begann, Ergebnis nicht-nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklungen. Eine der wichtigsten Lehren daraus ist, dass ein starkes Wachstum des Bruttoinlandsproduktes die Entstehung von Ungleichgewichten wider-spiegeln kann, die dann sehr wahrscheinlich in scharfen Kontraktionen endet, deren Folgen sehr schmerzhaft sein können. Da die Regierungen das Finanzsystem stützen und außerdem die heimische Nachfrage durch Konjunkturprogramme anregen mussten, verschlechterten sich die öffentlichen Finanzen noch mehr. Vor diesem Hintergrund haben Fragen der ökonomi-schen Nachhaltigkeit in der öffentlichen und der politischen Debatte eine zentrale Stellung erhalten. Demzufolge müssen auch Indikatoren zur Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Entwick-lungen in das Indikatorensystem aufgenommen werden, das ein realistisches Bild über den Zustand unserer Gesellschaften liefern soll. Eine weitere Lehre aus der Krise ist, dass im Zuge der Globalisierung die meisten Volkswirt-schaften so stark miteinander verflochten sind, dass sich kein Land ganz vor Ereignissen schützen kann, die sich außerhalb seiner Landesgrenzen abspielen, auch wenn es keine Ver-antwortung für diese trägt. Deshalb scheint insbesondere in Krisenzeiten ein gewisses Maß an internationaler Kooperation im Interesse aller Länder zu liegen. Wenn sich eine nicht-nachhaltige Situation aufbaut, gilt dies in besonderem Maße, denn dann könnte es noch mög-lich sein, durch korrigierende Maßnahmen eine Krise zu verhindern. Angesichts unterschied-licher nationaler Ziele lässt sich internationale Kooperation oft aber nur schwer erreichen. Dies gilt insbesondere, solange eine Krise noch nicht ausgebrochen ist, denn ohne entspre-chende Indikatoren lässt sich nicht erkennen, ob sich tatsächlich eine nicht-nachhaltige Situ-ation aufbaut. Die Einbeziehung von Indikatoren zur ökonomischen Nachhaltigkeit in das Indikatorensystem soll deshalb Informationen für eine bessere Diskussion über internationale makroökonomische Fragen liefern. Dieses Ziel sollte sich in einer abgegrenzten Region wie Europa wohl besser realisieren las-sen als auf einer höheren regionalen Ebene. Viele stimmen sicher auch zu, dass die Notwen-digkeit für eine erneuerte Betrachtung von Fragen der Nachhaltigkeit für den Euro-Raum von besonderem Interesse ist. Hier haben die jüngsten Entwicklungen deutlich gezeigt, wie ein Anstieg der Vermögenspreise im Zusammenspiel mit einer hohen privaten und öffentlichen Verschuldung zu einer nicht-nachhaltigen Situation in einem Land führen können, die sich dann auf andere Länder überträgt. 184. Indikatoren zur ökologischen Nachhaltigkeit betonen zumeist die Kosten des derzeiti-gen Lebensstils für zukünftige Generationen. Eine Bezugnahme auf zukünftige Generationen und langfristige Entwicklungen sind in der Tat unverzichtbare Elemente einer vernünftigen Diskussion der Nachhaltigkeit. Ökonomen befassen sich allerdings auch mit Facetten der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit und benutzen den Begriff „nachhaltig“ deshalb ebenfalls für die mittlere Frist. Dies hat im Zusammenhang mit der derzeitigen Finanz- und Wirtschafts-krise besondere Bedeutung erlangt. Dementsprechend können Perioden mit hohem Wirt-schaftswachstum als nicht-nachhaltig eingeschätzt werden, wenn sie auf Verschiebungen in den Bilanzen der Haushalte, der Unternehmen und des Bankenbereichs, des Staates oder der

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112 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Wirtschaft als Ganzes zurückzuführen sind, die in der Zukunft harte und schmerzhafte Anpas-sungen erforderlich machen. Insbesondere kann die Verschuldung verschiedener Bereiche einer Volkswirtschaft (im Fall von finanziellen und fiskalischen Ungleichgewichten enger definiert) oder verschiedener Regionen der Welt (im Fall von nicht-nachhaltigen Defiziten der Leistungsbilanz) ein Niveau erreichen, bei dem der Abbau der Ungleichgewichte nahezu un-ausweichlich die Form von gesellschaftlich kostspieligen Krisen annimmt. Nach unserer Auffassung muss eine Diskussion der Nachhaltigkeit sowohl die sehr lange als auch die mittlere bis lange Frist im Auge behalten. Wir sehen einen unserer größten Beiträge darin, die Erfahrungen der Krise ernst zu nehmen, indem wir die Indikatoren der Nachhaltig-keit der Umwelt um Informationen zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit der derzeitigen Wachstumsmuster ergänzen. Dieser Ansatz wird durch ein weiteres Argument gestützt: Der Wohlstand zukünftiger Generationen steht eng mit dem in Zusammenhang, was in der mitt-leren Frist passiert. Insbesondere die hohen fiskalischen Kosten einer Finanz- oder Zahlungs-bilanzkrise haben fast immer zur Folge, dass der Spielraum der zukünftigen Finanzpolitik stark eingeschränkt wird. Damit wird auch der Umfang von Investitionen in die Wohlfahrt künftiger Generationen begrenzt, zum Beispiel zur Förderung der Entwicklung von Umwelt-technologien oder bei der Bildung von Humankapital. Nachhaltigkeit des Wachstums

185. Wohlfahrt hängt zum großen Teil mit den Konsummöglichkeiten und damit den Pro-duktionskapazitäten für Waren und Dienstleistungen zusammen. Oftmals ist es hilfreich, über die Produktionskapazitäten einer Volkswirtschaft im Rahmen eines Standard-Wachstums-Modells zu reden. In diesem Rahmen wird die Produktionskapazität (das Produktionspotenzi-al) durch drei Faktoren bestimmt: das Humankapital, den physischen Kapitalbestand und die totale Faktorproduktivität. Letztere bestimmt, wie effizient Arbeit und Kapital bei der Produk-tion kombiniert werden. Um zu untersuchen, ob sich die Produktionskapazität einer Wirt-schaft auf einem langfristigen Expansionspfad befindet, wird für jeden der drei Triebkräfte ein Indikator benötigt. Zwei wichtige Determinanten des Humankapitalbestands sind die Qualität des Ausbildungssystems – eines der wesentlichen Themen im dritten Kapitel – und die Zahl der Arbeitskräfte. Ein bedeutender Bestandteil davon, die Partizipationsrate am Arbeitsmarkt, wurde bereits im zweiten Kapitel betrachtet. Deshalb können wir uns in diesem Kapitel darauf beschränken, Indikatoren zum Kapitalstock und zur totalen Faktorproduktivität zu berücksich-tigen. 186. Die Entwicklung des physischen Kapitalbestands ist von der Höhe der Bruttoinvesti-tionen und von den Abschreibungen abhängig, wobei Bruttoinvestitionen den Bestand erwei-tern, Abschreibungen ihn verringern. Deshalb sind die Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors (Investitionen abzüglich Abschreibungen) die Größe, die in diesem Zusammenhang darzustellen ist. Schaubild 21 zeigt diese Größe für Frankreich und Deutschland. Um die Be-deutung der Kapitalbildung für das Wirtschaftswachstum hervorzuheben, schlagen wir des-halb vor, das Verhältnis der Nettoanlageinvestitionen zum BIP in das Indikatorensystem auf-zunehmen.

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Nachhaltigkeit 113

CAE / SVR - Expertise 2010

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2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

1) Bruttoanlageinvestitionen abzüglich Abschreibungen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH.Quelle: EU

Deutschland

Schaubild 21

Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors1)

Frankreich

Europäische (EU-27)Union

187. Neben Investitionen in den Kapitalstock zählen Investitionen in das Ausbildungssystem, die Akkumulation von Wissen sowie Forschungs- und Entwicklungs- (F&E-)Anstrengungen zu den wesentlichen Determinanten der langfristigen Entwicklung der totalen Faktorprodukti-vität. Diese werden in der theoretischen und der empirischen Forschung umfassend diskutiert (z.B. Romer, 1990; Griliches und Lichtenberg, 1982; Griliches, 1986; Howitt, 2000; Jones, 2002). F&E-Ausgaben spiegeln den Einsatz an Ressourcen für Grundlagenforschung sowie für angewandte und experimentelle Forschung (unabhängig von der Quelle der Mittel) wider, die in verschiedenen Organisationen durchgeführt werden (Unternehmen, Hochschulen, For-schungsinstitute). Die F&E-Ausgaben der Wirtschaftsunternehmen dienen der Erhöhung ihrer wirtschaftlichen Leistung, ihrer Produktivität und ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb könn-ten die F&E-Ausgaben einer Volkswirtschaft in Relation zum BIP als verlässlicher Indika-tor der zukünftigen Produktivität sowie erwarteter Trends in Wissenschaft, Technologie und Innovation dienen. Schaubild 22 zeigt, dass die durchschnittlichen F&E-Ausgaben der EU-27 zwischen 2000 und 2008 gemessen am nominalen BIP leicht unter 2 vH lagen. Die F&E-Anstrengungen ließen sich auch durch zahlreiche andere Indikatoren, wie die Anzahl der Patente eines Landes, die Aufteilung von F&E-Anstrengungen auf den öffentlichen und privaten Bereich oder die Ver-teilung über die Sektoren messen. Da wir aber die Entwicklung eines begrenzten Indikatoren-systems zum Ziel haben, schlagen wir nur die Aufnahme der F&E-Ausgaben in Relation zum BIP vor. Nicht zufällig wurde dieser Indikator auch für die EU 2010-Strategie ausgewählt, um Fortschritte bei der Zielerreichung zu messen (Europäische Kommission, 2010).

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zum Schaubild
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114 Nachhaltigkeit

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2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

1) Inländische Bruttoausgaben für FuE. Zur Definition: „Forschung und Entwicklung (FuE) umfassen kreative Tätigkeiten auf einer systematischenBasis, mit dem Ziel, neue Kenntnisse – einschließlich Menschen-, Landes- und Gesellschaftskunde – zu gewinnen und für neue Anwendungen zunutzen" (Frascati Manual, 2002 edition, § 63).

Quelle: EU

Deutschland

Schaubild 22

Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE)1)

In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH

Italien

Frankreich

Europäische (EU-27)Union

Vereinigtes Königreich

Japan

Vereinigte Staaten

Externe Nachhaltigkeit

188. Die Leistungsbilanz entspricht definitionsgemäß der Differenz zwischen Ersparnisbil-dung und Investitionen einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Jahr. Die Ersparnisbildung kann in die des öffentlichen und des privaten Sektors unterteilt werden. Ein Mangel an exter-ner Nachhaltigkeit – eine nicht-nachhaltige Leistungsbilanz – kann somit durch eine nicht-nachhaltige öffentliche oder private Verschuldung bedingt sein. Der Leistungsbilanzsaldo entspricht damit den Netto-Kapitalexporten oder der Netto-Neuverschuldung eines Landes. Ein Land mit einem Leistungsbilanzüberschuss exportiert finanzielle Ersparnisse, was sich ceteris paribus in einer negativen Kapitalbilanz widerspiegelt, ein Land mit einem Leistungs-bilanzdefizit importiert Ersparnisse (positive Kapitalbilanz). Ein Leistungsbilanzdefizit kann mit einem Finanzierungsdefizit im öffentlichen oder im privaten Sektor zusammenfallen – oder in beiden. In jedem Fall wird ein Leistungsbilanzdefizit durch Kapitalströme aus dem Ausland finanziert. Dies könnte problematisch werden, wenn der Kapitalzufluss zu Vermö-genspreisblasen führt oder unproduktive Staatsausgaben finanziert und sich der Kapitalstrom dann plötzlich umkehrt. 189. Im vergangenen Jahrzehnt war die Weltwirtschaft durch den Aufbau großer Leistungs-bilanzüberschüsse und -defizite gekennzeichnet. Von 2004 bis 2009 erzielten in der EU-27 einige Länder Überschüsse von mehr als 5 vH gemessen am nominalen BIP. Auf der anderen Seite hatten einige Länder Defizite in ähnlicher Höhe (Schaubild 23). Die jüngeren Erfahrun-gen lehren, dass hohe Leistungsbilanzdefizite oftmals mit nicht-nachhaltigen Ungleichge-wichten im öffentlichen oder privaten Sektor in Verbindung stehen. Eine nähere Betrachtung der Leistungsbilanz kann deshalb die Identifikation nicht-nachhaltiger Entwicklungen unter-stützen.

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Daten zum Schaubild
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Nachhaltigkeit 115

CAE / SVR - Expertise 2010

1) Betrachtete Länder: LU-Luxemburg, SE-Schweden, NL-Niederlande, DE-Deutschland, FI-Finnland, DK-Dänemark, AT-Österreich, BE-Belgien, IT-Italien, UK-Vereinigtes Königreich, FR-Frankreich, CZ-Tschechische Republik, PL-Polen, SI-Slowenien, IE-Irland, MT-Malta, HU-Ungarn, SK-Slowa-kei, LT-Litauen, ES-Spanien, PT-Portugal, RO-Rumänien, EE-Estland, CY-Zypern, LV-Lettland, GR-Griechenland und BG-Bulgarien.

Quelle: EU

Schaubild 23

Leistungsbilanzsalden in der EU-27In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH: Durchschnitt 2004 – 2009

-15

-10

-5

5

10

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-15

-10

-5

5

10

0

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LU SE NL DE FI DK AT BE IT UK FR CZ PL SI IE MT HU SK LT ES PT RO EE CY LV GR BGDE FR

190. In Entwicklungsländern kann ein Leistungsbilanzdefizit die Folge ausländischer In-vestitionen sein. Wenn diese rentabel sind, ist eine spätere Rückführung der Auslandsver-schuldung unproblematisch. Für hoch entwickelte Länder sind dauerhafte Defizite oder Überschüsse eher zu hinterfragen. Aus demographischen Gründen könnte ein Land die Stra-tegie verfolgen, zunehmende Auslandsanlagen zu akkumulieren, um sich so gegen die Kosten einer alternden Bevölkerung in der Zukunft abzusichern. Dies ist durchaus vernünftig. Ein andauerndes Leistungsbilanzdefizit kann aber auch aus mangelnder Wettbewerbsfähigkeit des privaten oder öffentlichen Sektors resultieren. Dies wäre in der Tat ein Anlass zu Besorgnis. Aus diesen Gründen ist es wichtig, mögliche Ursachen eines Leistungsbilanzdefizits aufzu-zeigen. Insbesondere ist es erforderlich zu wissen, ob der Grund ein nicht-nachhaltiges öffent-liches Defizit ist – als Folge überbordender staatlicher Ausgaben – oder ein dauerhaftes Defi-zit des privaten Sektors aufgrund unproduktiver Investitionen oder unzureichender Ersparnis. Deshalb werden Indikatoren sowohl zur Nachhaltigkeit des öffentlichen als auch des privaten Sektors in das Indikatorensystem aufgenommen. Die Analyse von Ungleichgewichten im pri-vaten Bereich findet sich in Abschnitt 3. Dort wenden wir uns zunächst dem Bereich der fis-kalischen Nachhaltigkeit zu. Fiskalische Nachhaltigkeit

191. Die fiskalische Nachhaltigkeit hat bedeutende Auswirkungen auf die Wohlfahrt nach-folgender Generationen. Verfolgt die Politik über mehrere Jahre eine nicht-nachhaltige Fis-kalpolitik, kann sie zukünftigen Generationen beachtliche Belastungen auferlegen und sie damit zwingen, Steuern zu erhöhen oder Ausgaben einzuschränken, um für den Konsum der früheren Generationen zu zahlen. Eine Bewertung der Nachhaltigkeit der Fiskalpolitik muss deshalb langfristige Entwicklungen beachten, die sich am besten durch die intertemporalen

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Daten zum Schaubild
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116 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Budgetbeschränkungen des Staates abbilden lassen. Eine nicht-nachhaltige Fiskalpolitik kann aber auch schmerzhafte kurz- und mittelfristige Folgen haben. Deshalb ist auch der der-zeitige Schuldenstand näher zu analysieren. Kurz- und mittelfristig beeinflusst der staatliche Schuldenstand die Wohlfahrt hauptsächlich auf zwei Wegen: Erstens können hohe öffentliche Schulden private Investitionen verdrängen („crowding out“) und so das Potenzialwachstum mittelfristig verringern. Reinhard und Ro-goff (2010) haben den Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und BIP-Wachstum für 20 Länder für den Zeitraum der Jahre 1946 bis 2009 untersucht. Nach ihren Ergebnissen ist die Korrelation für Schuldenstandsquoten unter einer Schwelle von 90 vH schwach. Länder oberhalb dieser Schwelle verzeichneten um etwa 1 Prozentpunkt (Median) geringere Wachs-tumsraten. Zweitens benötigt eine Regierung, wenn eine Volkswirtschaft von einem größeren negativen Schock wie einer Finanzkrise oder einem Zusammenbruch des Welthandels getrof-fen wird, fiskalischen Spielraum, um antizyklisch reagieren zu können. Dies wurde in der laufenden Krise besonders deutlich, als hohe Staatsdefizite und Schuldenstandsquoten einige Länder daran hinderten, stimulierende Maßnahmen zu ergreifen (Horton und Ivanova, 2009). 192. Im Idealfall sollten Regeln zur Sicherung der fiskalischen Nachhaltigkeit Regierungen nicht daran hindern, durch öffentliche Investitionen zum Wirtschaftswachstum beizutragen. Nach der „Goldenen Regel“ der Fiskalpolitik sollte sich der Staat nur für Investitionen ver-schulden, aber nicht für laufende Ausgaben. Saint-Etienne (2004) und ähnlich auch der Sach-verständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2007) argumen-tieren, dass dabei die Nettoinvestitionen betrachtet werden müssen, da nur sie zusätzliches Vermögen schaffen können. Saint-Etienne (2004) zeigt zum Beispiel, dass die durchschnittli-chen Nettoinvestitionen des Staates in der EU nahe bei 1 vH des BIP liegen. 193. In Europa ist die fiskalische Nachhaltigkeit zu einem Eckpfeiler der Haushaltspolitik geworden. Im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ haben sich die Mit-gliedstaaten zu nachhaltigen öffentlichen Finanzen (Artikel 119 und 120) und zur Vermei-dung exzessiver Staatsdefizite (Artikel 126) verpflichtet. Dabei wird die Nachhaltigkeit der Fiskalpolitik mit Hilfe von zwei Referenzwerten für das laufende Staatsdefizit und den Schul-denstand definiert. Ein Anhang zum Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), der die Anforde-rungen aus diesen Vereinbarungen spezifiziert und der im Jahr 1997 verabschiedet wurde, legt die Referenzwerte auf 3 vH beziehungsweise 60 vH jeweils in Relation zum nominalen BIP fest. Mit der Verabschiedung des SWP im Jahr 1997 wurde beschlossen, die Höchstwerte für die staatliche Defizitquote und Schuldenstandsquote aufrecht zu erhalten, diese Grenzen aber durch folgende Regeln mit Bezug auf die strukturellen Defizite zu ergänzen, welche die um konjunkturelle Einflüsse und temporäre Effekte bereinigte fiskalische Lage messen: − ein Land mit geringer öffentlicher Verschuldung und starkem Wachstum sollte über den

Konjunkturzyklus gesehen eine jahresdurchschnittliche strukturelle Defizitquote von 1 vH anstreben,

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Nachhaltigkeit 117

CAE / SVR - Expertise 2010

− ein Land mit hoher öffentlicher Verschuldung und geringem Wachstum sollte über den Konjunkturzyklus gesehen einen positiven strukturellen Saldo erreichen.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf konjunkturbereinigte Salden. Der einzige Unterschied zu den strukturellen Salden besteht darin, dass temporäre Effekte, wie etwa ein-malige Einnahmen, nicht berücksichtigt werden. Eine Schätzung der konjunkturbereinigten Salden wird regelmäßig von der EU-Kommission für die EU-Länder vorgelegt. Wegen seiner Bedeutung für die mittel- und langfristige Entwicklung der öffentlichen Verschuldung in Re-lation zum BIP schlagen wir vor, den konjunkturbereinigten Finanzierungssaldo als ersten Indikator für fiskalische Nachhaltigkeit in unser Indikatorensystem aufzunehmen. Gemäß der „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ sollte ein konjunkturbereinigtes Defizit in Relation zu den Nettoinvestitionen des Staates bewertet werden, welche es nicht überschreiten sollte. Wie Schaubild 24 zeigt, übertraf die Höhe des konjunkturbereinigten Defizits seit 2001 in jedem Jahr die Nettoinvestitionen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, was auf Probleme bei der fiskalischen Nachhaltigkeit in diesen Ländern hindeutet.

-8

-6

-4

-2

2

0

vH

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

1) (Nettoinvesti-In Relation zum nominalen BruttoinlandsproduktProduktionspotenzial (konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo) beziehungsweise zumtionen des Staates) in vH.

Quelle: EU

Schaubild 24

Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo und Nettoinvestitionen des Staates1)

-1,0

-0,5

0,5

1,0

1,5

0

vH

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Frankreich

Europäische Union(EU-27)

Deutschland

Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo Nettoinvestitionen des Staates

DeutschlandEuropäische Union(EU-27)

Frankreich

194. Da der konjunkturbereinigte Finanzierungssaldo keine impliziten Verbindlichkeiten des Staates enthält, die etwa aus öffentlichen Pensionsregelungen herrühren können, umfasst er nicht die kompletten Auswirkungen der derzeitigen Politik auf die nachfolgenden Genera-tionen. Deshalb sollte dem strukturellen Finanzierungssaldo ein zweiter Indikator zur Seite gestellt werden, der alle künftigen Staatseinnahmen und -ausgaben abbildet, die durch die heutige Politik verursacht werden. Dieser umfassendere Indikator der fiskalischen Nachhaltigkeit muss auf der intertemporalen Budgetbeschränkung des Staates beruhen. Deren grundlegende Elemente sind die in die

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Daten zum Schaubild
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118 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

unendliche Zukunft fortgeschriebenen Pfade der gesamten Staatseinnahmen und Staatsausga-ben. Da die zukünftigen Pfade noch nicht eingetreten sind, erfordert die umfassende Bewer-tung der fiskalischen Situation Projektionen aller zukünftigen expliziten und impliziten Ver-bindlichkeiten, die aus der heutigen Politik erwachsen. Dies ist alles andere als eine leichte Aufgabe. Um außerdem die Staatsausgaben und -einnahmen zwischen verschiedenen Perio-den vergleichen zu können, benötigt man Gegenwartswerte der projizierten Einnahmen- und Ausgabenströme. Zur Einhaltung der intertemporalen Budgetbeschränkung muss langfristig der Gegenwartswert der staatlichen Einnahmen gleich dem der Ausgaben sein. Ex post betrachtet ist der intertemporale Budgetausgleich immer gegeben. Ex ante ist dies nicht der Fall, wenn der Netto-Gegenwartswert der projizierten staatlichen Ausgaben den Ge-genwartswert der zukünftigen Einnahmen bei gegebener Politik übersteigt. In diesen Fall gibt es eine fiskalische Nachhaltigkeitslücke, die den Gegenwartswert der fiskalischen Belastung zukünftiger Generationen widerspiegelt. Eine derartige Lücke bedeutet, dass der Staat früher oder später sein Defizit abbauen muss, entweder durch eine Reduzierung der Ausgaben oder durch Steuererhöhungen. Gelingt es nicht, die Lücke in ausreichendem Maße zu schließen, könnte die Verschuldung gemessen am BIP aus dem Ruder laufen. Je größer die Nachhaltig-keitslücke, umso größer sind naturgemäß auch die zukünftigen Anpassungen, die aufgrund der derzeit verfolgten Politik erforderlich werden. Länder mit einer deutlichen Alterung der Bevölkerung stehen vor noch ernsthafteren Anpas-sungserfordernissen, um einen intertemporalen Budgetausgleich zu erreichen. Insbesondere ist dies in Europa ein Problem, wo der durchschnittliche Altenquotient (Bevölkerung über 64 Jahren in Relation zu den 15- bis 64-Jährigen) von unter 30 vH im Jahr 2010 auf fast 55 vH im Jahr 2060 steigen dürfte (Schaubild 25). 195. Es gibt verschiedene Methoden, die Schwere von fiskalischen oder sozialen Anpassun-gen zur Schließung einer Nachhaltigkeitslücke zu beurteilen. Obwohl alle Indikatoren kon-zeptionell gleichwertig sind, sind einige doch leichter zu interpretieren als andere. Erstens gibt es die Möglichkeit, eine nachhaltige Steuerquote zu berechnen (Blanchard et al., 1990). Bei gegebenen Prognosen für die Ausgaben und die Einnahmen sowie unter Berücksichtigung der Ausgangsverschuldung würde die nachhaltige Steuerquote, wenn sie jetzt eingeführt und für alle Zeit konstant gehalten würde, die intertemporale Budgetbeschränkung ausgleichen. Ein Indikator für fiskalische Nachhaltigkeit wäre demnach die Differenz zwischen derzeitiger und nachhaltiger Steuerquote. Aus rein mathematischer Sicht sind eine Erhöhung der Steuerquote und eine Reduzierung der geplanten Ausgaben gleich gut geeignet, die Nachhaltigkeitslücke zu schließen. Aus ökono-mischer Sicht dürften Ausgabenkürzungen aber andere Verhaltensänderungen induzieren als Steuererhöhungen. Deshalb sollten die Anpassungen in den meisten Fällen auch Maßnahmen bei den Ausgaben umfassen. Somit erscheint es sinnvoller, den Umfang der Nachhaltigkeits-lücke als dauerhafte Reduzierung des Staatsdefizits zu messen, die erforderlich ist, um die intertemporale Budgetbeschränkung einzuhalten. Damit wird betont, dass die Nachhaltigkeits-

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lücke durch eine Kombination von Maßnahmen sowohl auf der Einnahmenseite als auch auf der Ausgabenseite des Budgets geschlossen werden kann.

25

30

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55

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65

0

vH

25

30

35

40

45

50

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60

65

0

vH

2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060

1) Bevölkerung über 64 Jahre in Relation zu der im Alter von 15 bis 64 Jahren.Quelle: EU

Deutschland

Schaubild 25

Altenquotient für die Jahre 2010 bis 2060 in der EU1)

Italien

Frankreich

Europäische Union(EU-27)

VereinigtesKönigreich

196. Diesem Ansatz folgt auch die EU-Kommission, die in ihren „Sustainability Reports“ für alle Mitgliedstaaten die zur Schließung der Nachhaltigkeitslücke erforderlichen fiskali-schen Anpassungen beziffert. Die Projektionen der zukünftigen Einnahmen- und Ausgaben-ströme berücksichtigen dabei zukünftige Ausgaben für Pensionen und Renten, Gesundheits-versorgung, Langzeitpflege, Arbeitslosenunterstützung und Bildung. Implizite Verbindlich-keiten des Staates können zwar auch auf anderen Politikfeldern bestehen, allerdings haben die berücksichtigten Ausgabenarten wohl die größte Bedeutung für zukünftige Staatsbudgets. Obwohl sich die demografischen Entwicklung zwischen den Ländern unterscheidet, gibt es doch einige gemeinsame Trends in den zu erwartenden Ausgaben. Grundsätzlich steigen die prognostizierten Ausgaben für Pensionen, Gesundheit und Pflege an, während die für Bildung und Arbeitslosigkeit zurückgehen dürften. Letzteres gilt auch für das Potenzialwachstum: Wegen der Alterung der Gesellschaften dürfte es langfristig sinken. Tabelle 14 zeigt die Ver-änderungen der genannten Ausgabearten für Deutschland, Frankreich und die EU-27. 197. Die EU-Reports stellen zwei Varianten eines Nachhaltigkeitsindikators vor: S1 und S2. Beide messen jene dauerhafte Verbesserung des strukturellen Primärsaldos – des strukturellen Finanzierungssaldos abzüglich Zinszahlungen – die erforderlich ist, um fiskalische Nachhal-tigkeit zu sichern. Diese Definition des Budgetsaldos erlaubt eine Konzentration auf die grundsätzliche finanzielle Lage, unabhängig von Konjunktur, temporären Effekten und im Voraus festliegenden Zinszahlungen. Der erste Indikator, S1, ist als die Anpassung des struk-turellen Primärsaldos definiert, der erforderlich ist, um bis zum Jahr 2060 eine Schul-denstandsquote von 60 vH zu erreichen.

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Daten zum Schaubild
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120 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

2010 2060 2010 2060 2010 2060

Pensionen und Renten .............................................. 10,2 12,7 13,5 14,1 10,2 12,5

Gesundheit ............................................................... 7,6 9,2 8,2 9,3 6,8 8,2

Langzeitpflege ........................................................... 1,0 2,4 1,5 2,2 1,3 2,4

Arbeitslosigkeit und Bildung ...................................... 4,6 4,2 5,8 5,6 4,9 4,7

Insgesamt ................................................................. 23,3 28,4 29,0 31,2 23,2 27,8Änderung 2010 zu 2060 (in Prozentpunkten) .........

1) Quelle: „Sustainability Report 2009", Europäische Kommission.

Alterungsbedingte Ausgaben in den Jahren 2010 und 20601)

4,65,1 2,2

Deutschland Frankreich EU-27

In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH

Tabelle 14

Der zweite Indikator, S2, ist als diejenige notwendige Anpassung definiert, um über einen unendlichen Zeithorizont die intertemporale Budgetrestriktion zu erfüllen. Das Anpassungs-erfordernis ist in Prozentpunkten gemessen am BIP berechnet. Weist also der Indikator S2 ein Anpassungserfordernis von zum Beispiel 3 Prozentpunkten aus, bedeutet dies, dass die öffent-lichen Ausgaben (Einnahmen) dauerhaft um 3 Prozentpunkte des BIP gesenkt (erhöht) wer-den müssen, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Alternativ könnte die Regierung die impliziten Verbindlichkeiten verringern und den strukturellen Finanzierungssaldo unverändert lassen. Ist S2 positiv, bedeutet dies für den Fall, dass keine Anpassungsreaktionen erfolgen, dass die Summe aus explizitem und implizitem Defizit (in Relation zum BIP) langfristig explodiert und die intertemporale Budgetbeschränkung verletzt würde. Deshalb erscheint es angemessen, für unser Indikatorensystem S2 auszuwählen, nicht zuletzt auch deshalb, weil er leichter zu berechnen ist. Tabelle 15 zeigt die wesentlichen Ergebnisse für Deutschland, Frankreich und die EU-27. 198. Der Indikator S2 kann als Summe aus zwei Komponenten berechnet werden. Zunächst muss man hierfür die Anpassungen schätzen, die erforderlich sind, um die Schuldenstands-quote zu stabilisieren. Danach muss man die zusätzlichen Erfordernisse bestimmen, die aus steigenden Ausgaben aufgrund einer alternden Bevölkerung erwachsen. Dabei werden die notwendigen Anpassungen immer in Bezug zum strukturellen Primärdefizit angegeben. Für Deutschland weist S2 eine Anpassungsnotwendigkeit des strukturellen Primärsaldos von 4,2 Prozentpunkten des BIP aus (Spalte B + C in Tabelle 15). Dies würde bei Konstanz der impliziten Verbindlichkeiten bedeuten, dass Deutschland seinen strukturellen Primärüber-schuss von 0,6 vH im Jahr 2009 (wie im EU-Report zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung geschätzt) auf 4,8 vH erhöhen muss, um die Nachhaltigkeitslücke zu schließen. Ein Teil die-ser Anpassung könnte alternativ über eine Verringerung der impliziten Verbindlichkeiten er-folgen. Für Frankreich weist der Indikator ein Anpassungserfordernis von 5,6 Prozentpunkten aus. Bei einem strukturellen Primärdefizit von 2,7 Prozentpunkten in Relation zum BIP im Jahr 2009 wäre ein Überschuss von 2,9 Prozentpunkten (= –2,7 + 5,6) zur Schließung der Nach-

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Nachhaltigkeit 121

CAE / SVR - Expertise 2010

haltigkeitslücke erforderlich. Diese Angaben belegen die große Bedeutung demographischer Trends für die fiskalische Nachhaltigkeit: Da die Bevölkerung in Deutschland schneller altert als die in Frankreich, ist der zur Schließung der Nachhaltigkeitslücke erforderliche Primär-überschuss höher als in Frankreich (letzte Spalte in Tabelle 15). Gleichwohl ist der Anpas-sungsbedarf insgesamt in Frankreich wegen des höheren strukturellen Defizits zu Beginn des Anpassungszeitraums größer.

Berechnung zur fiskalischen Nachhaltigkeit1)

A B C B + C A + B + C

Deutschland ... 0,6 0,9 3,3 4,2 4,8Frankreich ...... – 2,7 3,8 1,8 5,6 2,9EU-27 ............. – 2,0 3,3 3,2 6,5 4,5

1) Quelle: „Sustainability Report 2009", Europäische Kommission.– 2) Erforderliche Anpassung des strukturellen Primär-saldos, um die Nachhaltigkeitslücke zu schließen.– 3) Die Anpassung kann auch über die Kürzung impliziter Verbindlich-keiten vorgenommen werden.

In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH

S2 Indikator2)

Erforderliche Verbesserungdes strukturellen Primärsaldos…

StrukturellerPrimärsaldo

2009

Nachhaltigerstruktureller

Primärsaldo3)…um die Schul-

denstandsquote zu stabilisieren

…zur Finanzierungzusätzlicher

alterungsbedingter Ausgaben

Tabelle 15

199. Diese Ergebnisse zeigen aber auch Folgendes: Obwohl Deutschland sich mit einer grundgesetzlich verankerten Regel einen ehrgeizigen Höchstwert für das Haushaltsdefizit des Bundes in Höhe von 0,35 vH in Relation zum BIP gesetzt hat, der die Einhaltung der explizi-ten staatlichen Verpflichtungen erleichtert, reicht dies aufgrund der impliziten Verschuldung nicht aus, um die Nachhaltigkeitslücke, wie sie hier berechnet wurde, zu schließen. Instituti-onelle Reformen, wie in Deutschland die Einführung der Schuldenregel, werden auch in an-deren Ländern diskutiert. In Frankreich hat eine Kommission unter dem Vorsitz von Michel Camdessus dem Premierminister am 25. Juni 2010 entsprechende Empfehlungen unterbreitet. Die wesentlichen Vorschläge zielen darauf ab, die Verfassung durch zwei Punkte zu ergän-zen: Erstens, dass fiskalische und soziale Ausgaben nur im Rahmen von Finanzgesetzen durch das Parlament beschlossen werden dürfen. Zweitens, dass eine Verpflichtung zu mehrjährigen Finanzgesetzen eingeführt wird, die eine verbindliche Agenda zum Abbau des Defizits und zur Rückkehr zu einem Gleichgewicht der öffentlichen Finanzen enthalten. 200. Wie bei derartigen Berechnungen üblich, war auch bei der Berechnung des S2-Indi-kators eine Reihe von Annahmen erforderlich, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen. Schät-zungen wurden unter anderem zur Lebenserwartung, zur Arbeitsproduktivität, zum Produkti-onspotenzial, zu den Zinssätzen und zu den zukünftigen Ausgaben und Einnahmen aufgrund der Alterung vorgenommen. Für einige dieser Variablen weist die EU Sensitivitätsanalysen aus. Tabelle 16 zeigt die Anpassungserfordernisse bei unterschiedlichen Potenzialwachstums-pfaden. Im Basisszenario wird von einem Potenzialwachstum von jahresdurchschnittlich 2,4 vH im Zeitraum von 2007 bis 2010 ausgegangen. Danach geht es annahmegemäß deutlich

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122 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

zurück, da die schrumpfende Erwerbsbevölkerung das Wachstum und die Pro-Kopf-Einkommen drückt. Für den Zeitraum von 2041 bis 2060 wird ein jährliches Wachstum von 1,3 vH angenommen. Das Szenario mit permanentem Schock unterstellt, dass sich das Po-tenzialwachstum nicht von der Krise erholt. In diesem Szenario ist das Anpassungserfordernis für Deutschland um 1,6 Prozentpunkte in Relation zum BIP höher als im Basisszenario, für Frankreich um 2 Prozentpunkte.

Anpassungserfordernisse bei unterschiedlichen Potenzialwachstumspfaden1)

Deutschland ......................................... 4,2 5,8Frankreich ............................................ 5,6 7,6EU-27 ................................................... 6,5 8,0

1) Quelle: „Sustainability Report 2009", Europäische Kommission.

In Prozentpunkten des Bruttoinlandsproduktes

Basisszenario Alternatives Szenario:Permanenter Schock

Tabelle 16

201. Zusammenfassend schlagen wir für unser Indikatorensystem zwei Indikatoren vor, die die fiskalische Nachhaltigkeit abbilden: − der konjunkturbereinigte Finanzierungssaldo des Staates (wie von der EU-Kommission

veröffentlicht) sollte die Nettoinvestitionen des Staates gemäß der „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ nicht übersteigen oder für Länder mit strengeren Regeln sogar darunter lie-gen, insbesondere bei positiven fiskalischen Nachhaltigkeitslücken.

− die fiskalische Nachhaltigkeitslücke (gemäß S2 in den Nachhaltigkeitsberichten der EU-

Kommission) sollte im Zeitablauf abnehmen und schließlich gegen Null konvergieren, um eine nachhaltige fiskalische Situation auszuweisen. Hier sind aber zwei Anmerkungen er-forderlich: Um, erstens, einen regelmäßigen Ausweis in unserem Indikatorensystem zu er-möglichen, müsste die EU-Kommission den Indikator jährlich aktualisieren. Zweitens ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass der Indikator sensibler auf spezielle Annahmen und Projektionen reagiert als andere, die für das Indikatorensystem ausgewählt wurden.

3. Finanzielle Nachhaltigkeit

202. Die vergangenen Jahrzehnte haben immer wieder Belege dafür geliefert, dass sich eine starke Zunahme der Kredite und Boomphasen bei den Vermögenspreisen langfristig als nicht-nachhaltig herausstellen könnten, mit schädlichen Folgen für Haushalte, Unternehmen und Finanzintermediäre. Exzessive Boomphasen bei den Krediten endeten regelmäßig in Finanz-krisen und einem hohen Verlust von Vermögen. Schon in der Boomphase oder vor der Krise kann die Fehlallokation von Ressourcen und Investitionen zu Wohlfahrtverlusten führen, da umfangreiche Ersparnisse in Projekte mit einer geringen oder gar negativen Ertragsrate gelei-tet werden. Zu solchen Zeiten ist die Messung des BIP typischerweise nach oben verzerrt und zeigt eine Wohlfahrtsteigerung an, die in Wahrheit nicht nachhaltig ist. Die Krise selbst ist

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Nachhaltigkeit 123

CAE / SVR - Expertise 2010

dann ein Korrektiv, die die Bewertung der Wohlfahrt auf das eigentliche Niveau zurückführt. Oftmals reichen die Konsequenzen einer ernsthaften Krise aber leider über diese eigentliche Korrektur hinaus, da sie zu einer dauerhaften Vernichtung von Human- und physischem Kapital führen können. Zusätzlich kann eine nicht-nachhaltige private Verschuldung in be-stimmten Fällen zu einem deutlichen Anstieg der öffentlichen Verschuldung führen, da sich der öffentliche Sektor gezwungen sieht, seinen Haushalt aufs Spiel zu setzen. Im Nachhinein wäre es deshalb besser gewesen, wenn eine regelmäßige Messung der Wirtschaftsleistung und des Wohlstands hinreichend früh angezeigt hätten, dass sich eine nicht-nachhaltige Situation aufbaut. Dies hätte Korrekturen ermöglicht, bevor sich die Schieflage endgültig in eine Krise auswächst. Bis heute sind jedoch Indikatoren zur finanziellen Nachhaltigkeit im volkswirt-schaftlichen Berichtswesen der statistischen Ämter nicht enthalten. Dieser Abschnitt widmet sich deshalb dem Ausweis der finanziellen Nachhaltigkeit, der das Berichtswesen zur Wirtschaftsleistung und Wohlfahrt ergänzen sollte. Dazu untersuchen wir eine Reihe von Indikatoren zu nicht-nachhaltigen Entwicklungen im privaten Sektor und speziell im Finanzsektor, der in vielen Ländern die privaten und öffentlichen Finanzinstitute umfasst. Ziel ist es dabei nicht, Fragen der Glättung konjunktureller Schwankungen anzuspre-chen. Es geht vielmehr nur darum, exzessive fundamentale und unerwünschte Entwicklungen, wie sie häufig in Boomphasen zu beobachten sind, zu untersuchen, die möglicherweise zu schweren wirtschaftlichen Krisen wie der derzeit beobachteten führen. 203. Obwohl unsere Ziele ehrgeizig sind, wollen wir doch realistisch bleiben. Es wird nie möglich sein, Finanzkrisen mit Sicherheit vorherzusagen. Was wir aber dennoch anbieten können, ist ein kleines Set von halbwegs robusten Frühwarnindikatoren, die die Politik und die Öffentlichkeit im Fall von fundamentalen Fehlentwicklungen im Finanzsektor alarmieren sollen. Dieses begrenzte Set von Indikatoren ist nicht als Ersatz für detaillierte makroökono-mische Beobachtung, bestehende Frühwarnsysteme oder andere bereits von Experten oder nationalen wie internationalen Institutionen – insbesondere zur Überwachung – eingesetzten Methoden zur Untersuchung der ökonomischen Nachhaltigkeit zu verstehen. Zudem decken diese Indikatoren nicht alle relevanten Gebiete umfassend ab. Vielmehr ist es ihr Zweck, so früh wie möglich wirtschaftliche Entwicklungen zu entdecken, die zu Notsituationen führen könnten, wenn sie nicht korrigiert werden. Wenn diese Indikatoren einen Warnhinweis ge-ben, sollten die Politiker Experten und Öffentliche Institutionen einschalten, und wenn die Warnungen bestätigt werden, sollten sie vorbeugende Schritte einleiten. Die Indikatoren kön-nen auch als Kontrollmechanismus für die Öffentlichkeit dienen, da sie die Grundlage für eine informierte Diskussion über finanzielle Nachhaltigkeit bilden. 204. Der kommende Abschnitt ist wie folgt gegliedert: Zunächst liefern wir eine kurze Be-gründung für die Einbeziehung von Indikatoren zur finanziellen Nachhaltigkeit in unser Indi-katorensystem. Dazu stellen wir auch unseren Ansatz den Empfehlungen des SSFC-Reports gegenüber. Danach ermitteln wir Indikatoren für die Politik und die Öffentlichkeit.

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124 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Finanzkrisen und Nachhaltigkeit

205. Wegen der fortschreitenden Globalisierung und Integration werden Länder und Märkte zunehmend miteinander verflochten. Dies hat sich insbesondere in den vergangenen Jahrzehn-ten verstärkt. Besonders die europäischen Länder haben eine weit reichende politische und wirtschaftliche Integration vollzogen. Dies schafft die Basis für hohes Wachstum, erhöht zu-gleich aber auch die Gefahr internationaler Ansteckungen (Sachverständigenrat zur Begutach-tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2009). Sowohl die jüngere und die historische Erfahrung als auch die Wirtschaftstheorie deuten darauf hin, dass Finanzkrisen kostspielig sind, und sie sind keinesfalls selten. Deshalb ist es ratsam, Frühwarnsysteme in die regelmä-ßige Berichterstattung der statistischen Ämter aufzunehmen. 206. Die Krise der vergangenen Jahre hat deutlich gezeigt, wie teuer Finanzkrisen sein kön-nen. Der IWF beziffert den gesamten zu erwartenden Abschreibungsbedarf der Banken für Kredite und Sicherheiten für den Zeitraum 2007 bis 2010 auf weltweit 2 810 Mrd US-Dollar, wovon 814 Mrd US-Dollar Banken im Euro-Raum betreffen (IWF, 2009). Dies bedeutet eine enorme Vernichtung von Vermögensanlagen. Die Kosten für die Realwirtschaft lassen sich anhand des Rückgangs der Produktion und der Beschäftigung ableiten. Im Jahr 2009 lag in der EU die Veränderungsrate des BIP bei -4,2 vH, und die Arbeitslosenquote erreichte 8,9 vH. Auch eine jüngere Studie über systemische Bankenkrisen während der vergangenen vier Jahrzehnte zeigt, dass die kumulierten Produktionsverluste im Gefolge von Bankenkri-sen sehr bedeutend sein können, im Durchschnitt etwa 20 vH des BIP im Verlauf der ersten vier Jahre der Krise (Laeven und Valencia, 2008). Zudem betreffen Krisen in der Privatwirt-schaft auch den öffentlichen Bereich. Deshalb können die fiskalischen Kosten von systemi-schen Bankkrisen hoch sein, im Durchschnitt 13,3 vH und bis zu 55,1 vH jeweils gemessen am BIP (Caprio und Klingebiel, 1996; Hoggarth et al., 2001). 207. Finanz- und Wirtschaftskrisen sind zudem keinesfalls selten (Bordo et al., 2001). Jün-gere Beispiele sind die US-amerikanische Sparkassenkrise in den 1980er Jahren, die Skandi-navische Bankenkrise in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, die Asienkrise am En-de der 1990er Jahre, und die „dot-com“-Krise zu Beginn dieses Jahrhunderts. Die jeweiligen Gründe und Wurzeln unterscheiden sich stark voneinander, ebenso wie die internationale Ausbreitung und die Intensität (Caprio und Klingebiel, 1996). Eines haben sie aber gemein-sam: Für die betroffenen Volkswirtschaften sind sie höchst zerstörerisch, da die Wirtschafts-leistung einbricht, die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellt und die Volkswirtschaften in ihrer Entwicklung zurückgeworfen werden, manchmal um fünf bis zehn Jahre. Besonders wichtig ist auch, wie Reinhart und Rogoff (2009, 2010) zeigen, dass großen Fi-nanzkrisen im Regelfall ein Anstieg der öffentlichen Verschuldung folgt, der oft zu einer Fiskalkrise führt. Damit ist klar, dass der Aufbau von finanziellen Ungleichgewichten nicht nur vermieden werden sollte, um kurzfristige Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Ag-gregate abzuschwächen. Die Verhinderung von Finanzkrisen würde zugleich die oben vorge-stellten Maße der fiskalischen Nachhaltigkeit verbessern.

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208. Die Häufigkeit und Schwere von Finanzkrisen sind auch in der ökonomischen Theorie abgehandelt worden. Nach Minsky, einem der wichtigsten Beiträge in der Literatur, bewegt sich die finanzielle Fragilität im Gleichschritt mit dem Konjunkturzyklus (Minsky, 2008). Verkürzt gesagt werden Risiken in der Boomphase aufgebaut, die sich im Abschwung materi-alisieren. In einer Wirtschaft mit beständigem Wachstum und steigenden Gewinnerwartungen engagieren sich Unternehmen schließlich in spekulativen Finanzgeschäften: Obwohl sie wis-sen, dass die derzeitigen Gewinne nicht alle Zinsen abdecken, glauben immer mehr Unter-nehmen, dass die Gewinne ständig weiter steigen und Darlehen schließlich zurückgezahlt werden können. Weitere Darlehen wiederum führen zu weiteren Investitionen, was das Wirt-schaftswachstum noch mehr antreibt. Da sich die Darlehensgeber von der Euphorie hoher Gewinne anstecken lassen, tragen auch sie durch weitere Ausleihungen zum Zyklus bei. In dieser Phase ignorieren oder unterschätzen viele Wirtschaftssubjekte die sich kumulierenden Risiken. Diese Spirale dreht sich, bis die Wirtschaft zu viel risikobehaftete Kredite aufge-nommen hat. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die ersten großen Unternehmen zahlungsunfä-hig werden. Dies ist der Punkt, an dem der Aufschwung zu Ende geht und in einen Ab-schwung mündet. Darlehensgeber erkennen plötzlich die Risiken und vergeben Kredite re-striktiver. Die Refinanzierung wird für viele Unternehmen schwieriger oder sogar unmöglich, mit der Konsequenz weiterer Ausfälle. Dann beginnt eine Krise der Realwirtschaft mit einer Abwärtsspirale, wenn keine neuen Quellen zur Unterstützung des Refinanzierungsprozesses gefunden werden. Da in Boomphasen generell eine größere Euphorie über die Wirtschaftsleistung herrscht und Risiken zu leicht übersehen werden, könnten Frühwarnindikatoren sehr gut für die Politik geeignet sein, über das eigene Handeln nachzudenken, und wiederum für die Öffentlichkeit, die Politik zu überprüfen. Vor der Krise gab es durchaus hoch angesehene Ökonomen, die vor den nahenden Risiken gewarnt haben. Allerdings hat angesichts der herausragenden weltwei-ten Wirtschaftsleistung niemand auf sie gehört. 209. Der SSFC-Report bestätigt die Notwendigkeit, Maße des Wohlstands und der Wirt-schaftsleistung um Indikatoren zu ergänzen, die nicht-nachhaltige Entwicklungen im privaten Sektor und speziell im Finanzsektor anzeigen. Er betont, dass die gegenwärtige Krise gezeigt hat, dass weder private noch öffentliche Rechnungslegungen in der Lage waren, eine Früh-warnung auszusprechen. Insbesondere sei ein Teil der Wirtschaftsleistung eine „Illusion“ ge-wesen; Gewinne hätten auf Preisen beruht, die durch eine Blase inflationär aufgebläht waren. Vor diesem Hintergrund vertritt die SSFC die Meinung, dass Kriterien, die die Nachhaltigkeit mit in den Blick genommen hätten, zum Beispiel die steigende Verschuldung, eine vorsichti-gere Beurteilung der Wirtschaftsleistung geliefert hätten. Konkret schlägt der SSFC-Report Stress-Tests der Bilanzen mit alternativen Bewertungen vor, um so Situationen zu berücksichtigen, in denen Marktpreise für Vermögensanlagen nicht vorliegen oder durch Blasen oder das Platzen von Blasen verzerrt sind. Allerdings wurde der SSFC-Report fertig gestellt, bevor die Krise voll ausgebrochen war und die Schwere der

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126 Nachhaltigkeit

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Probleme offenbar wurde. Deshalb diskutiert er die Probleme auch nicht tiefer. Durch die Einbeziehung von direkt auf diese Fragen bezogenen Indikatoren hoffen wir, diese Lücke füllen zu können. Entwicklung angemessener Indikatoren

210. Gemäß des Ansatzes für unser Indikatorensystem ist es das Ziel dieser Expertise, der Politik einen begrenzten Satz von robusten vorlaufenden Indikatoren zu Notfällen im Fi-nanzsektor an die Hand zu geben. Diese Indikatoren sollen auf der einen Seite der Politik die Möglichkeit verschaffen, Schlussfolgerungen über die Wahrscheinlichkeit drohender Krisen zu ziehen. Auf der anderen Seite sollen sie kostengünstig genug sein, um Teil eines regelmä-ßigen statistischen Berichtswesens sein zu können. Aus diesem Grund können diese Indikato-ren auch kein Ersatz für eine umfassende und komplexe Expertenanalyse sein. Dementspre-chend liegt die Herausforderung – wie schon im Fall des materiellen und immateriellen Wohlstands und der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen und der Umwelt – wiederum darin, den breiten Rahmen möglicher Indikatoren zu einem begrenzten Set robuster Maße zu reduzieren, die eine aussagekräftige Zusammenfassung der finanziellen Entwicklungen liefern. Die Aufgabe, Ungleichgewichte zu entdecken, die zu schweren Krisen führen, falls sie nicht zufriedenstellend korrigiert werden, ist alles andere als einfach. Es müssen passende und ro-buste vorlaufende Indikatoren gefunden werden, die auf viele Fälle anwendbar sind. Dabei variieren Krisen häufig in ihren konkreten Ursachen und den Bedingungen des wirtschaftli-chen Umfelds bei ihrem Ausbruch. Die Suche nach allgemeinen Charakteristika ist aber nicht vergeblich, wie Kindleberger in seiner Analyse von Finanzkrisen anmerkt: Für Historiker sei jedes Vorkommnis einzigartig (Kindleberger, 1978). Die Volkswirtschaftslehre aber behaup-te, dass sich Kräfte in der Gesellschaft und in der Natur wiederholen. Historie sei auf das Spe-zielle, Volkswirtschaftslehre auf das Allgemeine ausgerichtet. Diese Zuversicht wird durch eine zunehmende Literatur zur Identifikation von solchen Variablen bestätigt, die ausreichend robuste Eigenschaften haben, um als vorlaufende Indikatoren zur Vorhersage von Finanzkri-sen dienen zu können. In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ist die Suche nach robusten Indikatoren zur Vorhersage nicht-nachhaltiger Entwicklungen nichts Neues. Es gibt eine umfangreiche Lite-ratur über die optimale Reaktion der Geldpolitik auf Vermögenspreisblasen, über die Mög-lichkeit von vorlaufenden Indikatoren, Währungs- und Finanzkrisen vorherzusagen, und über nicht-parametrische Frühwarnsysteme. Es gibt auch einen zunehmenden Konsens über einige wenige Variablen, die ausreichend robuste Indikator-Eigenschaften besitzen und die verstärkt von Frühwarnsystemen in Zentralbanken und internationalen Organisationen beobachtet wer-den. 211. Grundsätzlich gibt es ein zweipoliges Set von Indikatoren. Auf der einen Seite stehen hoch aggregierte Indikatoren, die umfassend verschiedene disaggregierte Indikatoren wi-derspiegeln. Sie gehen weniger ins Detail, sind aber besser handhabbar und von der breiten Öffentlichkeit leichter zu verstehen. Auf der anderen Seite gibt es eine große Bandbreite di-saggregierter Indikatoren, die ebenfalls geprüft werden könnten. Obwohl sie sehr ins Detail

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Nachhaltigkeit 127

CAE / SVR - Expertise 2010

gehen und deshalb tiefere Einsichten erlauben, sind sie für unsere Zwecke zu komplex und sollten deshalb nur von Experten und Überwachungsbehörden herangezogen werden. Da wir Politikern und der Öffentlichkeit ein handhabbares und einsichtiges Set von Indikatoren zur Verfügung stellen wollen, bevorzugen wir aggregierte Maße. 212. Eine umfangreiche empirische Literatur versucht, Indikatoren zu identifizieren, mit de-nen sich die Anhäufung von Risiken und deren Materialisierung vorhersehen lassen. Eine Auswahl dieser Literatur findet sich im Anhang zu diesem Kapitel in der Tabelle A1 (Sei-ten 157 ff.). Dabei fällt auf, dass frühere Arbeiten eher eine Bandbreite unterschiedlicher In-dikatoren heranzogen, um finanzielle Notlagen zu untersuchen, während die neuere Literatur versucht, sich auf ein kleines Set von Indikatoren zu konzentrieren – was gleichsam der Ab-sicht dieser Expertise entspricht – und darunter die wesentlichen zu bestimmen. Insbesondere plädieren einige Studien dafür, sich auf ein kleines und handhabbares Indikatorenset zu be-schränken (Borio und Drehmann, 2009a; Borio und Lowe, 2002a, 2002b). Nach Durchsicht der empirischen Literatur scheinen dazu das Kreditwachstum und die Vermögenspreise am besten geeignet und allgemein akzeptiert zu sein. Insbesondere auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise sind diese beiden wohl eine sinnvolle Wahl: Beide zeigten vor der Krise einen inflationsartigen Anstieg, der wesentlich stärker war als der des Einkommens. Eines der wenigen relativ robusten Ergebnisse aus der empirischen Literatur zu vorlaufenden Indikatoren von Bankkrisen ist, dass ein deutliches Kreditwachstum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es zu Problemen kommt (Tabelle A1, Seiten 157 ff.). Diese Schlussfolgerung lässt sich schon aus früheren Studien ziehen. Ein jüngeres Ergebnis ist, dass auch ein deutli-cher und anhaltender Anstieg der Vermögenspreise die Wahrscheinlichkeit von finanziel-len Notlagen erhöht. Dieses Ergebnis ist robust und wurde im vergangenen Jahrzehnt erarbei-tet, als verlässliche Daten zu Vermögenspreisen verfügbar wurden. So lagen Preise für Eigen-tum über einen ausreichend langen Zeitraum kaum vor, bis die Bank für Internationalen Zah-lungsausgleich (BIZ) mit ihrer Erhebung im Jahr 1990 begann. Zahlreiche Studien zeigen, dass ein permanenter, starker Anstieg der Kredite zusammen mit dem Anstieg der Vermö-genspreise die Wahrscheinlichkeit zukünftiger finanzieller Instabilität erhöht (Borio und Drehmann, 2009a; Borio und Lowe, 2002a, 2002b). 213. Deshalb schlagen wir der Politik und Öffentlichkeit vor, sich auf drei Indikatoren zu konzentrieren:

− gesamte private Kredite in Relation zum BIP (beide nominal),

− reale Aktienkurse (deflationiert mit dem Verbraucherpreisindex),

− reale Immobilienpreise (deflationiert mit dem Verbraucherpreisindex).

Daneben sollte aber noch eine Reihe korrespondierender Maße nachrichtlich ausgewiesen werden. Insbesondere sollten die privaten Kredite in Relation zum BIP für den Nicht-Finanzsektor und den Finanzsektor und die realen Immobilienpreise jeweils für Geschäfts- und Wohnimmobilien aufgeteilt werden.

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128 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

214. Grundsätzlich ist bei der Interpretation des Niveaus des Kreditwachstums Vorsicht ge-boten. Eine Zunahme des Kreditwachstums bedeutet nicht zwangsläufig eine Überhitzung der Nachfrage. Sie kann zum Beispiel auch Ergebnis verbesserter Angebotsbedingungen sein. Deshalb sollte das Kreditwachstum nicht unabhängig vom Einkommen, also vom BIP, be-trachtet werden. Wenn das Kreditwachstum mit einer ähnlichen Rate wie das Einkommen zunimmt, könnte man dies als nachhaltig betrachten. Wenn aber das Einkommen als Folge der realen Effekte einer Kreditblase steigt, dann ist Sorge angebracht. Deshalb ist es notwendig, einen Schwellenwert zu definieren, ab dem das Kreditwachstum als nicht-nachhaltig anzusehen wäre. Wenn zum Beispiel die Kredite im Gleichschritt mit dem BIP zunehmen, errechnet sich ein in etwa konstanter Quotient aus beiden Größen. Wenn aber das Kreditwachstum deutlich und dauerhaft schneller wächst als das BIP, lässt sich ein Ab-weichen dieses Quotienten von seinem langfristig nachhaltigen Pfad feststellen. Kurz gesagt zeigt sich dann eine Kreditlücke, die auf eine nicht-nachhaltige Verschuldung des privaten (Nicht-Finanz- und Finanz-)Sektors hindeuten könnte. Diese Methode ist auch auf die Akti-enkurslücke und die Immobilienpreislücke anzuwenden. Kasten 4 enthält eine detaillierte Darstellung der methodischen Fragen. 215. Bei der Analyse von Vermögenspreisindikatoren wäre es ebenso angemessen, Quo-tienten zu verwenden, wobei der Nenner die Realwirtschaft abbildet. Dies stünde auch mit dem grundsätzlichen Vorgehen in Einklang, dass das Kreditwachstum sowie der Anstieg der Kapitalpreise immer im Zusammenhang mit einem Maß für das Einkommen betrachtet wer-den sollte, das diese Entwicklungen finanziert. So könnten etwa Immobilienpreise ins Ver-hältnis zum Einkommen sowie Immobilienpreise in Relation zu Mietpreisen gestellt werden. Dabei sollten aber zwei Einschränkungen beachtet werden: Erstens muss die Verfügbarkeit der Daten gesichert sein – nicht nur für Frankreich und Deutschland, auf die wir uns hier kon-zentrieren, sondern auch für eine größere Zahl anderer Länder –, so dass internationale Ver-gleiche möglich sind. Zweitens muss die Sensitivität der Vermögenspreisrelationen im Hin-blick auf deren Frühwarneigenschaften getestet werden (Kasten 4). Deshalb schlagen wir vor, zunächst die oben genannten drei Indikatoren zu nutzen (einen als Quote, zwei als Indizes); diese Einschätzung wird durch verschiedene Untersuchungen bestärkt, die zeigen, dass diese Frühwarnindikatoren robuste Ergebnisse liefern (Borio und Drehmann, 2009a; Borio und Lowe, 2002a, 2002b).

Kasten 4

Methodische Fragen

Gemäß Borio und Lowe sowie Borio und Drehmann konzentrieren wir uns im Folgenden auf drei Variablen, die – wie auch die Literaturzusammenfassung im Anhang zu diesem Kapitel zeigt – wohl sinnvolle Informationen über die Entwicklung finanzieller Ungleichgewichte widerspiegeln: den Quotienten aus (privaten) Krediten in Relation zum BIP, die realen Aktienkurse sowie die Preise für (gewerbliche und private) Immobilien (Borio und Drehmann, 2009a; Borio und Lowe, 2002a, 2002b). Da weder ein deutliches Kreditwachstum noch ein Anstieg der Kapitalpreise ein klares Warnsig-nal sind, müssen deren Veränderungen so in vorlaufende Indikatoren umgesetzt werden, dass

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Nachhaltigkeit 129

CAE / SVR - Expertise 2010

damit ein Krisenpotenzial abgebildet werden kann. Dazu verwenden wir einen so genannten Lü-cken-Ansatz. Dieser versucht, kumulative Prozesse, die in einer Boomphase die Grundlage für eine darauf folgende Notsituation liefern, mit Hilfe von Abweichungen der (als Niveaus gemes-senen) Kernvariablen von ihrem geschätzten Trend abzuleiten. Für gewöhnlich wird der Trend mit einem Hodrick-Prescott-(HP-)Filter bestimmt. Allerdings können auch andere Verfahren – zum Beispiel lineare Filter – verwendet werden. Im vorliegenden Zusammenhang hat sich der HP-Filter – trotz seiner statistischen Mängel – durch robuste Ergebnisse bewährt.

Anschließend werden die Abweichungen in jeder Periode zu einer so genannten Lücke aufad-diert, um dadurch kumulative Prozesse abzubilden, die in der kurzen und mittleren Frist – zwi-schen ein und fünf Jahren – auftreten. Zum Beispiel wird der HP-Filter auf die realen Immobi-lienpreise angewendet, um einen Trend oder eine „gefilterte“ Zeitreihe zu erhalten. Danach wer-den für jede Periode die Abweichungen der beobachteten Immobilienpreise von der gefilterten Reihe berechnet und aufsummiert. Nach diesem Ansatz entstehen immer dann „Lücken“, wenn Entwicklungen zu beobachten sind, die moderat, aber dauerhaft über der Trendentwicklung lie-gen. Gleichsam bauen sich „Lücken“ auch dann auf, wenn sich kurzfristige starke Trendabwei-chungen einstellen.

Allerdings ist es eine Sache, das Entstehen von Lücken im Nachhinein zu beurteilen, wenn die trendbereinigten Zeitreihen bereits Informationen über deren weitere Entwicklung enthalten. Öf-fentliche Institutionen müssen ihre Entscheidungen jedoch zum jetzigen Zeitpunkt treffen. Für die Lücken, die sie berechnen können, liegen also nur Informationen bis zum Zeitpunkt der not-wendigen Beurteilung vor. Das bedeutet, die Berechnungen basieren auf einseitigen Trends. Deshalb ist es hier wie in jeder anderen Situation, in der Trendschätzungen die Darstellung der Wirtschaftsleistung unterstützen: In der praktischen Arbeit müssen der Trend neu geschätzt und die Lücke neu berechnet werden, sobald neue Daten vorliegen.

Grundsätzlich werden Fehlentwicklungen der Vermögenspreise durch Vermögenspreislücken abgebildet, die Absorptionsfähigkeit des Systems gegenüber Schocks hingegen durch Kreditlü-cken – ein grobes Maß für die Gesamtverschuldung einer Volkswirtschaft als Ganzer. Wenn al-so die Kredite in Relation zum BIP, die realen Aktienkurse oder die Immobilienpreise „hinrei-chend“ von ihrem Trend nach oben hin abweichen – wenn sie eine kritische Schwelle über-schreiten – dann könnte dies auf finanzielle Ungleichgewichte hindeuten, die eine darauf folgen-de finanzielle Notsituation signalisieren (Borio und Drehmann, 2009a). Schaubild 26 zeigt die durchschnittliche Kredit-, Aktienkurs- und (gewerbliche und private) Im-mobilienpreislücke im zeitlichen Umfeld der Krise. Zur Definition der Krisensituation werden die Standards zu Bankenkrisen gemäß der jüngeren Forschung herangezogen (Borio und Dreh-mann, 2009a). Im Durchschnitt zeigt sich, dass alle drei Lücken vor der Krise relativ groß und positiv sind. Zudem erreichen die Immobilien- und die Aktienkurslücke deutlich vor einer Krise ihren Höhepunkt. Dabei findet die Aktienkurslücke bereits vor der Immobilienlücke ihren Höhe-punkt und ist zudem um ein Vielfaches größer. Die Kreditlücke hingegen hat ihren Höhepunkt lediglich ein Jahr vor der Krise. Zugleich weisen alle drei Indikatoren eine beachtliche Streuung auf.

Um diese drei Variablen als vorlaufende Indikatoren nutzen zu können, muss ein Schwellenwert bestimmt werden, ab dem davon ausgegangen wird, dass eine Krise wahrscheinlich auftreten wird. Die Schätzung der optimalen Schwellenwerte ergibt für die Kreditlücke 4 Prozentpunkte, für die Immobilienpreislücke 15 vH und für die Aktienkurslücke 40 vH (Borio und Drehmann, 2009a). Hinter der Definition der Schwellenwerte steht die Bedingung, das Rauschen im Ver-hältnis zum Signal (Noise-to-Signal-Ratio) bei einer Vorhersage der Krise mindestens drei Quar-tale im Voraus zu minimieren.

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130 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Schaubild 26

Kredit- und Vermögenspreislücken vor und nach Bankenkrisen1)

1) Die historische Streuung der entsprechenden Variablen in einem bestimmten Quartal wird für sämtliche Krisenländer gemessen. Die jeweiligenLücken werden anhand eines einseitigen, roll e den Hodrick-Prescott-Filters mit einem Lambda von 400 000 geschätzt. Die Lücken werden füri rendie Gesamtheit von n18 Industrieländer (Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Japan, Kanada,Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz, Spanien, Vereinigtes Königreich und die Vereinigten Staaten) über den Zeitraum von1980 bis 2003 berechnet.– 2) In Prozentpunkten als Abweichung vom Trend.– 3) Gewichteter Durchschnitt der realen Wohn- und Gewerbe-immobilienpreise; Gewichtung entsprechend der geschätzten Anteile am gesamten Immobilienvermögen; die Lücke in Relation zum Trend in vH.–4) In Relation zum Trend in vH.

Quelle: Borio und Drehmann, 2009a

-25

25

50

0

Prozentpunkte

-16 -12 -8 -4 0 4 8 12 16

Quartale vor und nach Krisen

Kredit/BIP-Lücke2)

-25

25

50

0

vH

-16 -12 -8 -4 0 4 8 12 16

Quartale vor und nach Krisen

-50

50

100

150

0

-75

vH

-16 -12 -8 -4 0 4 8 12 16

Quartale vor und nach Krisen

Reale Immobilienpreislücke3) Reale Aktienkurslücke4)

90.Mittelwert 10.Perzentile:

Das Noise-to-Signal-Ratio ist dabei als Quotient aus der Häufigkeit des Fehlers erster Art – also des Anteils der Perioden ohne Krise, für die fehlerhaft eine Krise angezeigt wurde – zu Eins mi-nus der Häufigkeit des Fehlers zweiter Art – also Eins minus dem Anteil der Krisenperioden, die nicht korrekt vorhergesehen wurden – definiert. Gemäß Borio und Drehmann sollte sich danach eine ausgewogene Balance zwischen der Identifizierung kostspieliger Krisen und der Fehlein-schätzung ergeben (Borio und Drehmann, 2009a). Dabei können der Schwellenwert und die zugrunde liegende Optimierungsregel gemäß der Zielfunktion des Nutzers variieren – beispiels-weise wird bei einem niedrigeren Schwellenwert eine größere Zahl von Krisen erfasst, allerdings auf Kosten eines höheren Rauschens in Relation zum Signal. Bei diesen Schwellenwerten schneiden die Indikatoren grundsätzlich relativ gut ab. Bei einem Prognosehorizont von drei Jahren werden etwa drei Viertel (77 vH) der Krisen mit einem Noise-to-Signal-Ratio von unter 20 vH vorhergesehen. Das bedeutet, dass von zehn Krisensignalen etwa zwei einen Fehlalarm darstellen. Allerdings stützt sich dieses ermutigende Ergebnis auf Berechnungen innerhalb der Stichprobe. Obwohl Vorhersagen außerhalb der Stichprobe nicht so gut abschneiden, sind sie doch erfolgversprechend: Immerhin werden mehr als 50 vH der Krisen mit einem Noise-to-Signal-Ratio von weniger als 70 vH angezeigt. Der starke Anstieg der Noise-to-Signal-Ratio im Vergleich zu den Schätzungen innerhalb der Stichprobe lässt sich zum Teil durch die geringe Zahl von Perioden ohne Krise im Zeitraum von 2004 bis 2008 erklären. So können schon kleine Abweichungen der absoluten Anzahl der Fehler zweiter Art zu deutlichen Veränderungen der Noise-to-Signal-Ratio führen. Um eine konkretere Einschätzung bezüglich der Leistungsfähigkeit der vorlaufenden Indikatoren zu erhalten, werden einige Fallstudien herangezogen (Schaubild 27). Dabei ist es naheliegend, das Verhalten der Indikatoren in Hinblick auf die derzeitige Krise zu betrachten. Die Daten bele-gen, dass die Kreditlücke für die meisten Länder – mit Ausnahme Deutschlands – eine außer-gewöhnliche Entwicklung vor der Krise angezeigt hätte. Auch die Immobilenpreislücke hätte in vielen Fällen ein Warnsignal gegeben. Die Aktienkurslücke hingegen hätte bei der Vorhersage der Krise vollkommen versagt. Allerdings hätten die Lücken – und das gilt für alle drei Indikato-ren – schon zu Beginn der 1990er Jahre und um das Jahr 2000 Schwachstellen angezeigt.

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zum Schaubild
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Nachhaltigkeit 131

CAE / SVR - Expertise 2010

Schaubild 27

Geschätzte kumulierte Lücken1)

1) Die Kalibrierung erfolgt in-sample für den Zeitraum von 1980 bis 2003, während für den Zeitraum 2004 bis 2008 eine out-of-sample Prognose be-rechnet wird Der Schwellenwert beträgt 4 Prozentpunkte für die Kredit/BIP-Lücke, 15 vH für die reale Immobilienpreislücke und 40 vH für die.– 2)reale Aktienpreislücke. Gewichteter Durchschnitt der realen Wohn- und Gewerbeimmobilienpreise; Gewichtung entsprechend der geschätzten– 3)Anteile am gesamten Immobilienvermögen. Die Erklärung bezieht sich auf die Wohnimmobilienpreise.

Quelle: Borio und Drehmann, 2009a

-15-10

-5

51015

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05

Kredit/BIP-Lücke Reale Immobilienpreislücke3) Reale Aktienkurslücke

08-15-10-5

5101520

0

vH

1990 95 2000 05 08-60-40-20

20406080

0

vH

1990 95 2000 05 08

Deutschland

-15-10

-5

51015

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05 08-20

-10

10

20

30

0

vH

1990 95 2000 05 08-60-40-20

20406080

0

vH

1990 95 2000 05 08

Frankreich

-5

5

10

15

20

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05 08-20

-10

10

20

30

0

vH

1990 95 2000 05 08-60-40-20

20406080

0

vH

1990 95 2000 05 08

Italien

-10

102030405060

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05 08-30-20-10

1020304050

0

vH

1990 95 2000 05 08-50

50100150200250300

0

vH

1990 95 2000 05 08

Spanien

-10-5

510152025

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05 08-20

-10

10

20

30

0

vH

1990 95 2000 05 08-40

-20

20

40

60

0

vH

1990 95 2000 05 08

Vereinigtes Königreich

-10

-5

5

10

15

0

Prozentpunkte

1990 95 2000 05 08-20

-10

10

20

30

0

vH

1990 95 2000 05 08-60-40-20

204060

0

vH

1990 95 2000 05 08

Vereinigte Staaten

Schwellenwert 2)

Hesse-C
Schreibmaschinentext
Daten zum Schaubild
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132 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Grundsätzlich können die Indikatoren jeweils einzeln zur Vorhersage finanzieller Probleme ge-nutzt werden. Ihre Kombination erhöht nicht zwangsläufig die Anzahl der richtig angezeigten Kri-sen, verringert allerdings die Zahl der Fehlanzeigen (Rauschen) und somit das Noise-to-Signal-Ratio. Dies gilt insbesondere für die Kombination von Kreditwachstum und Vermögenspreisen, also die Kombination aus Kreditlücke einerseits und entweder der Immobilienpreislücke oder der Aktienkurslücke andererseits.

216. Dieser „Lücken“-Ansatz nimmt die grundlegende Idee auf, dass nicht-nachhaltige Ent-wicklungen kumulative Effekte haben, das heißt, dass sich Schwachstellen eher über einen längeren Zeitraum aufbauen und nicht innerhalb nur eines Jahres. Eine große Lücke kann entweder durch ein sehr starkes Kreditwachstum innerhalb eines Jahres oder aber durch ein mehrere Jahre anhaltendes Wachstum oberhalb des Trends entstehen. Ebenso sind Boompha-sen bei den Vermögenspreisen als Perioden definiert, in denen die realen Vermögenspreise um einen bestimmten Betrag von ihrem Trendwert abweichen, was auf eine Vermögens-preislücke hinweist (Borio und Lowe, 2002a). Die eigentliche Frage ist allerdings, wann ist die Lücke so groß, dass sie als nicht-nachhaltig anzusehen ist? Oder anders gefragt: Wo liegt der kritische Schwellenwert? Eine in der Literatur gängige Methode zur Bestimmung des Schwellenwerts ist die Minimie-rung des so genannten Rauschens im Verhältnis zum Signal (Noise-to-Signal-Ratio), das die Zahl der falschen Warnungen eines Indikators im Verhältnis zu den zutreffenden anzeigt (Kaminsky und Reinhart, 1999). Ein Noise-to-Signal-Ratio von 1,0 zum Beispiel bedeutet, dass im Durchschnitt auf jedes richtige Signal ein falsches kommt (Kasten 4). In Anlehnung an Borio und Drehmann schlagen wir für den Indikator Kreditwachstum einen Schwellen-wert von 4 Prozentpunkten vor, für die Immobilienpreise von 15 vH und für die Aktien-kurse von 40 vH (Borio und Drehmann, 2009a). 217. Borio und Drehmann weisen darauf hin, dass die Minimierung des Rauschens in Relati-on zum Signal nur eine von vielen Möglichkeiten ist, die objektive Zielfunktion bei der Be-stimmung konkreter Schwellenwerte zu spezifizieren (Borio und Drehmann, 2009a). Zum Beispiel könnte man der korrekten Vorhersage drohender Krisen eine größere Bedeutung beimessen – auch wenn dies einen Anstieg des Rauschens, also zunehmende Fehlalarme be-deuten würde. In diesem Fall wären niedrigere Schwellenwerte anzusetzen, etwa 3 Prozentpunkte (Kreditwachstum), 10 vH (Immobilienpreise) und 30 vH (Aktienkurse). Die Bewertung dieses Zielkonflikts hängt ganz entscheidend von den Zielen des Empfängers der Information ab. So könnte die breite Öffentlichkeit eher daran interessiert sein, dass anstehen-de Krisen unmittelbar angezeigt werden, und deshalb ein hohes Rauschen in Kauf nehmen, da für sie relativ viele Fehlalarme nicht so kostspielig sind. Im Gegensatz dazu könnten Fehl-alarme für öffentliche Institutionen sehr kostspielig sein, da sie entsprechende Maßnahmen ergreifen würden, um die Krise zu vermeiden. Bei einem Fehlalarm wären die Bemühungen und die Ressourcen verschwendet.

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Nachhaltigkeit 133

CAE / SVR - Expertise 2010

4. Ökologische Nachhaltigkeit

218. Die ökologische Nachhaltigkeit ist der dritte Aspekt einer nachhaltigen Entwicklung und derjenige, welcher in der akademischen und in der öffentlichen Diskussion als der wich-tigste angesehen wird. Insbesondere darf ein ökologisch nachhaltiges System seine Ressour-cenbasis nicht verschwenden. Dies lässt sich nur erreichen, wenn eine Über-Ausbeutung erneuerbarer Ressourcen oder von natürlichen Senken vermieden wird. So sollte die Ab-sorptionsfähigkeit der Ozeane und der Wälder für Kohlendioxid sichergestellt und ein Versie-gen des Grundwassers durch einen zu hohen Verbrauch vermieden werden. Ökologische Nachhaltigkeit erfordert zudem, dass die Ausbeutung nicht-erneuerbarer Ressourcen effi-zient und intergenerativ gerecht erfolgen. Schließlich verlangt sie die Aufrechterhaltung der Biodiversität, um so die Belastbarkeit des ökologischen Systems bei Schocks sicherzustellen (Polasky et al., 2005). In diesem Abschnitt diskutieren und evaluieren wir – auch mit Blick auf die entsprechenden Zielkonflikte – Indikatoren zu diesen Aspekten, die Kandidaten für unser Indikatorensystem sein könnten. Letztlich haben wir uns entschlossen, zwei Indikatoren zu den Treibhausgas-emissionen aufzunehmen, einen zum Niveau der Emissionen und einen zu denen pro Kopf. Da sich die Wasserproblematik aus nationaler Perspektive nicht angemessen verfolgen lässt, bleibt sie hier unberücksichtigt. Außerdem schlagen wir einen Indikator zur Rohstoffproduk-tivität und einen zum Rohstoffverbrauch für das Indikatorensystem vor. Schließlich haben wir uns trotz einiger Vorbehalte gegenüber dessen Eignung für einen (vorläufigen) Indikator zur Biodiversität entschieden. Wir sind uns durchaus bewusst, dass die richtige Ausgestal-tung all dieser Indikatoren, insbesondere des Indikators zur Biodiversität, nicht allein von Ökonomen geleistet werden kann. Unsere Auswahl spiegelt deshalb den derzeitigen, keines-falls befriedigenden Stand der Diskussion so gut wie möglich wider. Gegenüber Anpassungen des Indikatorensystems sind wir offen, sobald die interdisziplinäre Forschung bessere Maße liefert. Die Notwendigkeit zur Betrachtung der ökologischen Nachhaltigkeit

219. Die weite Definition der ökologischen Nachhaltigkeit in dieser Expertise entspricht dem von uns so empfundenen weltweiten Konsens, dass die vordringlichsten Umweltprobleme der Klimawandel, die Erschöpfung nicht-erneuerbarer Ressourcen, die Über-Ausbeutung er-neuerbarer Ressourcen und der anhaltende Verlust an Biodiversität sind. Wie sehr diese The-men in das Zentrum der politischen Diskussion gelangt sind, zeigt sich an den internationa-len Vereinbarungen der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 (Rio-Gipfel): Sie führte zur Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, die 27 Prinzipien zur Erreichung einer zukünftig nachhaltigen Entwicklung in der Welt enthält, zur Klimarahmenkonvention und zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt. Während die Rio-Erklärung nur ein kurzes, nicht-bindendes Dokument ist, sind die Klima-rahmenkonvention und das Übereinkommen über die biologische Vielfalt verbindliche Ver-einbarungen. Ziel der Klimarahmenkonvention ist eine Stabilisierung der Konzentration der

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Treibhausgase in der Atmosphäre auf einem Niveau, das gefährliche anthropogene Störun-gen des Klimasystems verhindert. Diese Rahmenvereinbarung führte zum Kyoto-Protokoll, das die Industrieländer zu einer Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Das Übereinkommen über biologische Vielfalt hat drei Hauptziele: (i) Erhaltung der biologischen Vielfalt (Biodiversität), (ii) eine nachhaltige Nutzung ihrer Komponenten und (iii) eine faire und gerechte Verteilung der Vorteile, die aus genetischen Ressourcen entstehen. 220. Als Folge des Rio-Gipfels wurden auf der Ebene der Europäischen Union und auf nati-onaler Ebene Strategien zur Umsetzung dieser Vereinbarungen entwickelt. Eine zentrale Vor-aussetzung dafür, dass diese verschiedenen Strategien erfolgreich zur Erreichung der ehrgei-zigen Ziele beitragen, ist ein verlässliches Monitoring des Erreichten in regelmäßigen In-tervallen. Zu diesem Zweck haben zahlreiche Forschungsinstitute und öffentliche Institutio-nen eine Vielzahl von Einzel- und zusammengesetzten Indikatoren sowie andere aggregierte Maße unterschiedlichster Art entwickelt. Ökologische Nachhaltigkeit berührt zweifellos Kerngebiete der Ökonomie, die Knappheit der Ressourcen und den Wettbewerb der Wün-sche. Deshalb konzentrieren wir uns verständlicherweise auf solche Indikatoren, die diese Aspekte betonen – nicht zuletzt weil wir uns eher berufen fühlen, die Qualität solcher Indika-toren beurteilen zu können. Die überwiegende Forschung zu Umweltthemen findet außerhalb des Bereichs der Wirt-schaftswissenschaften statt, aus dem offensichtlichen Grund, dass die Entwicklung der bes-ten Indikatoren für die bedeutendsten Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit auch Kompe-tenzen in den Natur- und den übrigen Sozialwissenschaften erfordert. In unseren Ausführun-gen müssen wir uns daher auf Indikatoren verlassen, deren Auswahl oder Entwicklung auf dem wissenschaftlichen Diskurs anderer Disziplinen beruht. Die hier dargestellte Auswahl ist deshalb von der zurückhaltenden Einsicht geprägt, dass sie sich der kritischen Diskussion von Wissenschaftlern anderer Disziplinen stellen müssen und deshalb im Nachgang zu dieser Ex-pertise noch Änderungen erfahren dürften. Gleichwohl können auch die Wirtschaftswissenschaften aus unserer Sicht einen bedeutenden Beitrag zur Debatte der ökologischen Nachhaltigkeit leisten. Dies zeigt sich etwa in der Er-kenntnis, dass die Abwägung der Wohlfahrt verschiedener Individuen – ganz zu schweigen verschiedener Generationen – immer eine äußerst umstrittene Angelegenheit sein muss. Eines der eisernen Prinzipien, das Ökonomen in jede Diskussion über Wohlfahrtvergleiche einbringen müssen, ist, dass deutlich sein muss, wessen Wohlfahrtsgewinne und -verluste gegeneinander abgewogen werden. Nur dann kann man diskutieren, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine solche Abwägung vornehmen zu können. Wenn diese Minimal-forderung nicht erfüllt ist, gibt es keine sinnvolle Möglichkeit, vermeintliche Knappheitsin-dikatoren zu interpretieren – und dann sollte man sie erst gar nicht ausweisen. 221. Aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften könnte man hoffen, dass man einen umfassen-den Indikator zur Nachhaltigkeit des Wachstumspfades eines Landes entwickeln kann, indem man die Nettoinvestitionen in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen so anpasst, dass die Beanspruchung der natürlichen Ressourcen berücksichtigt wird. Das Standardmodell

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für ein optimales Wachstum betont die Akkumulation von physischem Kapital als Motor des Wirtschaftswachstums (Dasgupta und Heal, 1974; R.M. Solow, 1974). Dieses Modell kann sehr leicht um zusätzliche Produktionsfaktoren erweitert werden, zum Beispiel nicht-erneuerbare und erneuerbare natürliche Ressourcen oder Humankapital. Bei einer gegebenen Spezifikation der intertemporalen Zielfunktion der Gesellschaft (d’Autume und Schubert, 2008) kann man die Höhe der „echten“ Ersparnisse (oder adjusted net savings) als Summe der Nettoinvestitionen in physisches und Humankapital sowie natürliche Ressourcen ableiten (Pearce et al., 1996; Hamilton und Clemens, 1999). Diese echten Ersparnisse können als Indi-kator für Nachhaltigkeit interpretiert werden: Ein negativer Wert zeigt an, dass die Wohlfahrt in der Zukunft unvermeidlich zurückgehen wird (Hartwick, 1977). In diesem Sinne hat die Weltbank seit 1990 die angepassten Nettoersparnisse für 140 Länder errechnet. Dazu wurde die Differenz zwischen Bruttoersparnis und Abschreibungen um ein Maß für Bildungsausgaben erhöht und um unterstellte Werte für die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Zerstörungen durch Treibhausgase und Schadstoffpartikel verringert. Dieses Vorgehen erscheint auf den ersten Blick verlockend, sieht sich in der Praxis allerdings großen Schwierigkeiten ausgesetzt. Insbesondere sind die Preise, die für Bestimmung der unterstell-ten Werte erforderlich sind, nicht ohne Weiteres verfügbar. Obwohl es Ansätze zur Bestim-mung entsprechender Werte gibt („contingent evaluation“), bereitet deren Umsetzung erhebli-che Probleme. Dies ist der Hauptgrund, weshalb der SSFC-Report dem Konzept der ange-passten Nettoersparnisse sehr kritisch gegenübersteht. Zudem haben wir bei der Betrachtung der Nachhaltigkeit des Wachstums die Nettoinvestitio-nen schon als Indikator für unser Indikatorensystem betont. Dieses Maß ist mit den angepass-ten Nettoersparnissen – unabhängig vom Vorgehen bei der Anpassung – hoch korreliert. Mit den „echten“ Ersparnissen könnte man deshalb bestenfalls eine sehr geringe Variation der bereits im Indikatorensystem enthaltenen Informationen erzielen. 222. Deshalb müssen wir – wieder einmal – die Aufgabe in Einzelteile zerlegen, die nachein-ander angegangen werden. Als erstes betrachten wir in diesem Abschnitt den Klimawandel, der zweifellos die – innerhalb und außerhalb unserer Disziplin – am weitesten erforschte Di-mension der ökologischen Nachhaltigkeit ist. Aber auch für dieses gut erfasste Problem blei-ben aus Sicht der Wirtschaftswissenschaft die angemessenen politischen Schlussfolgerungen kontrovers, da es überhaupt keine politische Option gibt, die nur Vorteile für die zukünftigen Generationen mit sich bringt, ohne die derzeitige Generation zu belasten. Zudem betrifft die Erderwärmung jede Region auf der ganzen Welt, und die Klimaeffekte von Treibhausgas-emissionen sind unabhängig davon, wo die Emissionen erfolgen. Dies hält uns aber nicht da-von ab, die Entwicklung der nationalen Treibhausgasemissionen zu analysieren. Dabei wissen wir aber, dass zusätzliche Informationen bezüglich der weltweiten Emissionen und der Optio-nen zukünftiger Generationen benötigt werden, wenn wir die nationalen Entwicklungen beur-teilen wollen. Die Forschung zu Rohstoffproduktivität und erst recht zur Ökonomie der Ökosysteme und zur Biodiversität steckt hingegen noch in den Kinderschuhen. Sie hat deshalb noch nicht

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zufriedenstellend die Zielkonflikte identifiziert, die in der politischen Diskussion im Mittel-punkt stehen müssen. Zudem können sowohl die Rohstoffproduktivität als auch die Biodiver-sität wiederum nur auf weltweiter Ebene untersucht werden. Wenn Arten gefährdet sind, ist es wohl von geringerem Interesse, ob deren Lebensraum zum Beispiel in Deutschland oder in Frankreich ist. Ungeachtet der Tatsache, dass ein Teil der Leistungen der Biodiversität von lokalen Ökosystemen erbracht wird, ist noch nicht vollkommen bekannt, wie nationale Indi-katoren zur Rohstoffproduktivität oder Biodiversität in diese globale Betrachtung einbezogen werden müssen. Angesichts dieses noch unbefriedigenden Stands der Forschung ist unsere Auswahl von Indikatoren zu diesen beiden Aspekten eindeutig als vorläufig und offen für spätere Anpassungen anzusehen. Treibhausgasemissionen

223. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand haben die steigenden Konzentrationen von Koh-lendioxid und anderen Treibhausgasen in der Atmosphäre schon eine globale Erwärmung verursacht, und sie werden wohl noch einen weitergehenden Klimawandel bewirken. Zu den Konsequenzen der globalen Erwärmung gehören steigende Meeresspiegel, eine Zunahme extremer Wetterlagen, eine Versauerung der Ozeane und ein zunehmender Verlust von Arten und Ökosystemen. Zudem könnte der Klimawandel die Wasserversorgung und Nahrungsmit-telproduktion gefährden, zusätzliche Gesundheitsrisiken erzeugen, Konflikte verschärfen und die Migration beschleunigen. Damit hat der Klimawandel das Potenzial, größere gesellschaft-liche und wirtschaftliche Krisen auszulösen. Sicherlich ist es schwierig, die Menge dieser negativen Konsequenzen in einer einzigen Ziffer zusammenzufassen. Der „Stern-Report“ unternimmt einen derartigen Versuch und schätzt die Zerstörungen aufgrund von Wetterex-tremen, die aus einem weltweiten Anstieg der Temperatur um etwa 2°C resultieren, auf 0,5 vH bis 1 vH des Welt-BIP pro Jahr. Das Problem könnte sich aber auch als noch ernster herausstellen, denn nach dem „business as usual“-Szenario des Stern-Reports könnte der glo-bale Temperaturanstieg nach dem Jahr 2100 mehr als 5°C erreichen – mit entsprechend noch höheren wirtschaftlichen Kosten (Stern, 2007). Derartige Beurteilungen haben internationale Vereinbarungen unterstützt, die Treibhausgas-emissionen zu begrenzen. Zuletzt hat die breite Mehrheit der Länder im Rahmen der Über-einkunft von Kopenhagen bei der UN-Klimakonferenz im Dezember 2009 vereinbart, dass der Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur unter 2°C gehalten werden sollte. Um-weltexperten gehen davon aus, dass zur Erreichung dieses Ziels bis zum Jahr 2050 die welt-weiten kumulierten CO2-Emissionen 750 Gt nicht überschreiten dürfen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, 2009a). 224. Eine Begrenzung der Treibhausgasemissionen erfordert internationale Vereinbarungen, wie etwa das Kyoto-Protokoll, die genaue Emissionsziele für die teilnehmenden Länder festlegen, und damit ein kumulatives Ziel. Bisher haben 190 Länder dieses Protokoll unter-zeichnet und zugestimmt, dass die Treibhausgasemissionen im Zeitraum der Jahre 2008 bis 2012 um 5,2 vH im Vergleich zum Referenzjahr 1990 reduziert werden sollen. Die EU-15-Länder haben sich verpflichtet, diese Emissionen im Durchschnitt um 8 vH zu senken. Für Frankreich ist wegen der geringen Emissionen pro Kopf der Bevölkerung eine Stabilisierung

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das Ziel, während Deutschland mit 21 vH die höchsten Reduktionen im Vergleich aller Län-der akzeptiert hat. Andere Länder mit hohen Emissionen wie China, das das Kyoto-Protokoll im Jahr 2002 ratifiziert hat, sind allerdings von jeglichen Minderungsverpflichtungen ausge-nommen. Weitere Länder mit hohen Emissionen wie die Vereinigten Staaten haben das Pro-tokoll noch nicht einmal unterzeichnet. Zur Enttäuschung der Befürworter des Klimaschutzes gelang es der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 nicht, einen umfassenden und verbindlichen Nachfolgever-trag zu verabschieden. Da aber jedes wie auch immer geartete Nachfolgeabkommen – egal, ob es noch kommen wird oder nicht – notwendigerweise die nationalen Emissionen der teil-nehmenden Länder festlegen müsste, erscheint es sinnvoll, einen Indikator zu den Treibhaus-gasemissionen in unser Indikatorensystem aufzunehmen. Zudem werden Deutschland, Frank-reich und die EU insgesamt wohl kaum ihre Rolle als „Pioniere beim Klimaschutz“ aufgeben, die sich in ehrgeizigen Reduktionsverpflichtungen beim Kohlendioxid äußert, auch wenn an-dere Länder sich verweigern. Nach dem Gipfel von Kopenhagen hat die EU ihre Zusage, die Emissionen bis zum Jahr 2020 um mindestens 20 vH gegenüber dem Referenzjahr 1990 zu reduzieren, bekräftigt. Die französische, die deutsche und die britische Regierung wollen ihre europäischen Partner sogar von einer Erhöhung des Ziels auf 30 vH überzeugen. 225. Um die nationalen Emissionen zu überwachen, können wir auf die umfassenden Leis-tungen von Umweltspezialisten und öffentliche Institutionen zurückgreifen. Sowohl die fran-zösische als auch die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und – auf der Ebene der Europäischen Union – die Strategie der EU für nachhaltige Entwicklung weisen die Trends der von Men-schen verursachten Emissionen der sechs Treibhausgase (GHG) aus, die im Kyoto-Protokoll genannt sind (Kohlendioxid, Methan, Distickstoffoxid und die so genannten F-Gase teilhalo-genierte Fluorkohlenwasserstoffe, perfluorierte Fluorkohlenwasserstoffe und Schwefelhe-xafluorid). Um die gesamten Treibhausgasemissionen auszuweisen, werden die Gase, mit ihren globalen Erwärmungspotenzialen gewichtet, zu CO2-Äquivalenten aggregiert (Eurostat, 2007). Um internationale Vergleiche zu erleichtern, die auch die Nicht-Annex I-Staaten, wie etwa die meisten Schwellenländer, umfassen, veröffentlicht die OECD in ihrem Factbook 2010 zudem die CO2-Emissionen, die den größten Teil der Treibhausgasemissionen ausma-chen. Die bedeutendste Kennzahl zum Klimawandel ist zweifellos das Niveau der gesamten Treib-hausgasemissionen. Die Teilnehmerländer der Klimarahmenkonvention, insbesondere die Annex-I-Staaten melden die nationalen Werte regelmäßig an das Sekretariat der Klimarah-menkonvention. Diese Daten sind derzeit für die Jahre 1990 bis 2008 verfügbar. Wir schlagen vor, die gesamten Treibhausgasemissionen in unser Indikatorensystem als Nachhaltigkeits-indikator aufzunehmen. 226. Tabelle 17 zeigt die Treibhausgasemissionen für Frankreich und Deutschland in den Jahren 1990, 2000 und 2008. In Deutschland erreichten sie im Jahr 2008 insgesamt 958 Mio Tonnen, im Jahr 1990 insgesamt 1 232 Mio Tonnen, in Frankreich 527 Mio Tonnen beziehungsweise 563 Mio Tonnen. Die Niveaus sind für den Klimawandel von Bedeutung;

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für politische Maßnahmen müssen sie jedoch zu den nationalen Zielen in Beziehung gesetzt werden. Diese werden im Normalfall als Reduktionen in Prozent des Wertes von 1990 ausge-drückt. Bis zum Jahr 2008 hatte Deutschland seine Treibhausgasemissionen um mehr als 22 vH gegenüber 1990 reduziert, womit das Reduktionsziel von 21 vH für den Zeitraum 2008 bis 2012 schon erfüllt wäre. Für Frankreich beträgt der Rückgang etwa 6 vH, womit es sein Ziel ebenfalls erreicht hätte. Würde man den Erfolg der nationalen Klimaschutzpolitik allein an nationalen Emissionsniveaus messen, wären diese Werte recht zufriedenstellend.

Treibhausgasemissionen in Deutschland und Frankreich

Deutschland Frankreich

1990 2000 2008 1990 2000 2008

Mio Tonnen

Treibhausgasemissionen insgesamt nach Kyoto-Protokoll1) ........... 1 232 1 025 958 563 557 527 CO2-Emissionen durch Verbrennung von Öl,

Kohle und Gas zur Energiegewinnung gemäß IEA/OECD .......... 950 827 804 352 377 368

Tonnen pro Kopf

Treibhausgasemissionen insgesamt nach Kyoto-Protokoll1) ............. 15,5 12,5 11,7 9,7 9,2 8,2 CO2-Emissionen durch Verbrennung von Öl,

Kohle und Gas zur Energiegewinnung gemäß IEA/OECD .......... 12,0 10,1 9,8 6,1 6,2 5,7

1) Jährliche Treibhausgasemissionen vereinbart im Rahmenübereinkommen über Klimaveränderung der Vereinten Na-tionen (UNFCCC), im Kyoto-Protokoll und durch die Entscheidung 280/2004/EC der Europäischen Kommission. Im Ky-oto-Protokoll sind folgende Treibhausgase enthalten: Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Distickstoffoxid (N2O), perflu-orierte Fluorkohlenwasserstoffe (PFC), teilhalogenierte Fluorkohlenwasserstoffe (HFC) und Schwefelhexafluoride (SF6). Die verschiedenen Treibhausgase sind gewichtet nach ihrem Effekt auf die globale Erwärmung und werden dargestellt in CO2-Äquivalenten.

Quellen: IEA, OECD, UN

Tabelle 17

227. Allerdings ist Umweltpolitik notwendigerweise eine globale Angelegenheit. Diesem Umstand kann man nicht gerecht werden, wenn man nur nationale Werte betrachtet oder wenn man die Einhaltung nationaler Ziele als Erfolg werten würde. Im Gegenteil: Die natio-nalen Emissionen müssen um den globalen Zusammenhang ergänzt und in diesen eingebet-tet werden. Dazu nutzen wir die CO2-Emissionen aus der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur Energiegewinnung, wie sie von der OECD ausgewiesen werden (Tabelle 17). Im Jahr 2008 erreichte der Anteil dieser Emissionen an den Treibhausgasemissionen gemäß Klima-rahmenkonvention in Deutschland mehr als 80 vH, in Frankreich etwa 70 vH. Im Referenz-jahr 1990 betrug der Anteil Deutschlands an den weltweiten CO2-Emissionen nur 2,7 vH, der Frankreichs lag bei 1,3 vH. Dementsprechend sind die Emissionsminderungen im Zeitraum von 1990 bis 2008 im Vergleich zu den weltweiten CO2-Emissionen fast zu vernachlässigen. Hinzu kommt – und dies ist von besonderer Bedeutung –, dass in anderen Ländern und in der Welt insgesamt die CO2-Emissionen im gleichen Zeitraum beachtlich gestiegen sind. Hierbei muss offen bleiben, ob dies trotz oder aber – als Marktreaktion („carbon leakage“) – wegen der Bemühungen in Europa geschehen ist. Die Schlussfolgerung daraus ist jedenfalls eindeu-tig: Da der Klimawandel ein globales Phänomen ist, kann ein nationaler Indikator der Treib-hausgasemissionen, für sich allein betrachtet, sehr leicht in die Irre führen. In unserem Indika-

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Daten zur Tabelle
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torensystem sollte er deshalb um zusammenfassende Angaben zu den weltweiten, gesamten Treibhausgasemissionen ergänzt werden. Tabelle 17 zeigt die Entwicklung der CO2-Emissionen aus der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur Energiegewinnung weltweit und für ausgewählte Regionen und Länder. Im Jahr 2008 wurden weltweit 29 381 Mio Tonnen CO2 emittiert. Gegenüber 1990 bedeutet dies ei-nen Anstieg um 40 vH. Die EU-27 reduzierten in diesem Zeitraum ihre CO2-Emissionen um 5 vH, in den OECD-Ländern kam es dagegen zu einer Zunahme um etwa 14 vH. Die Emissi-onen Chinas verdreifachten sich, die der Vereinigten Staaten stiegen um fast 15 vH, und In-dien emittierte im Jahr 1990 lediglich 591 Mio Tonnen CO2, die auf 1 428 Mio Tonnen im Jahr 2008 angestiegen sind. 228. Offensichtlich ist zur Begrenzung der anthropogenen Treibhausgasemissionen ein ver-bindliches internationales Klimaabkommen erforderlich. Kernpunkte eines derartigen Ab-kommens sollten rechtlich verbindliche Ziele zu den Treibhausgasemissionen sein, ein inter-nationales Emissionshandelssystem und ein Allokationsmechanismus, der die Emissions-rechte unter den teilnehmenden Ländern verteilt (Tirole, 2009). Vorhersagen zur entsprechen-den Deckelung der globalen Treibhausgasemissionen sollten auf den Vorschlägen des IPCC beruhen, die auf dem Gipfel von Kopenhagen bestätigt wurden. Danach sollte die Erderwär-mung unter 2°C im Vergleich zur Situation vor der Industrialisierung gehalten werden. Jüngs-te Schätzungen gehen davon aus, dass, um mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln dieses Ziel zu erreichen, im Zeitraum von 2010 bis 2050 die weltweiten CO2-Emissionen 750 Gt nicht überschreiten sollten (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, 2009b, 2009c). Ungeachtet der großen Unsicherheit, die mit solchen Schätzungen verbunden ist, muss die weltweite Emissionsmenge, wenn sie festgelegt ist, unter allen Ländern aufgeteilt werden. Dabei sind ganz unterschiedliche Allokationsmechanismen denkbar; allerdings scheint das Gleichheitspostulat ein guter Ausgangspunkt für die Verteilung zu sein. Danach wären wohl weltweit gleiche Emissionsrechte pro Kopf eine sinnvolle Basis – möglicherweise durch entsprechende Regelungen angepasst, um die hohen Pro-Kopf-Emissionen von Treibhausgas-emissionen in den hoch entwickelten Volkswirtschaften zu berücksichtigen, die sich in der Vergangenheit aufgebaut haben. Bei einem weltweiten Volumen von 750 Gt CO2 bis zum Jahr 2050 und einer voraussichtli-chen Bevölkerung von 6,9 Milliarden Menschen im Jahr 2010 errechnen sich daraus 109 Tonnen pro Kopf für den Zeitraum von 2010 bis 2050 oder 2,7 Tonnen jährlich. Vergli-chen mit den derzeitigen CO2-Emissionen pro Kopf in verschiedenen Ländern und ungeachtet der Möglichkeit, die nationalen Emissionsziele durch eine Verlagerung von emissionsintensi-ven Industrien ins Ausland zu erreichen, ist es offensichtlich, dass zur Erreichung dieses Ziels gewaltige Reduktionsanstrengungen der hoch entwickelten und der Schwellenländer erfor-derlich sind (Schaubild 28). Insofern ein weltweites Emissionshandelssystem bestünde, könn-ten diese Länder allerdings Emissionsrechte von den Entwicklungsländern erwerben.

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229. Abgesehen von ihrer möglichen Rolle in einem Allokationsmechanismus für weltweit gehandelte Emissionsrechte wäre es wohl sinnvoll, die Politik und die breite Öffentlichkeit über die nationalen Treibhausgasemissionen pro Kopf zu informieren. Deshalb schlagen wir dieses Maß als zweiten Indikator für die Treibhausgasemissionen in unserem Indikatoren-system vor. Tabelle 18 stellt die entsprechenden Werte für die Jahre 1990, 2000 und 2008 dar. In Deutschland erreichten sie 11,7 Tonnen im Jahr 2008, was gegenüber 1990 einer Redukti-on um fast 25 vH entspricht. In Frankreich beträgt der Rückgang 15 vH, und die Emissionen pro Kopf betrugen 8,2 Tonnen im Jahr 2008.

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

0

2,7

Tonnen pro Kopf

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

0

2,7

Tonnen pro Kopf

Australien Brasilien China Deutsch-land

Frank-reich

Indien Indo-nesien

Kanada RussischeFöderation

VereinigteStaaten

CO -E en durch Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur Energiegewinnung2 missionin ausgewählten Ländern im Jahr 20081)

1) Veröffentlicht von der IEA (International Energy Agency) beziehungsweise von der OECD. Vorgeschlagen vom Wissenschaftlichen Beirat– 2)der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Er basiert auf einer Begrenzung der kumulierten globalen CO -Emissionen auf(2009b). 2750 Mrd Tonnen bis zum Jahr 2050, damit die globale Erwärmung um weniger als 2° C steigt, verglichen mit der Situtation vor der Industriali-sierung Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird als positiver Ansatz für eine faire Verteilung des globalen CO -Budgets gesehen Dementspre-. .2chend kann ein jährlicher Durchschnitt der CO -Emissionen pro Kopf errechnet werden.2

Jährlicher Durchschnitt gemäß„Budgetansatz"2)

Schaubild 28

Australien Brasilien China Indien Kanada

230. Jede sinnvolle Betrachtung dieser Fakten muss noch einen weiteren Punkt in den Blick nehmen, der weit über die Schwierigkeiten hinausgeht, ein weltweites und verbindliches Kli-maschutzabkommen zu erzielen, die Regeln zur Zuteilung von Emissionsrechten auf die ein-zelnen Länder in Kraft zu setzen, oder die Machtposition einzelner bedeutender Länder wie der Vereinigten Staaten oder der BRIC-Länder zu berücksichtigen, ein solches Abkommen zu verhindern: Da die Kosten von Umweltschäden sehr unsicher und die Schätzungen dazu kon-trovers sind und da das Beharrungsvermögen der Politik wie auch bei anderen öffentlichen Gütern eher groß ist, besteht für jedes Land ein Anreiz, als Trittbrettfahrer zu agieren. Damit entsteht für die Politik die enorme Herausforderung zu entscheiden, was passiert, wenn welt-weite verbindliche Abkommen nicht zustande kommen oder isolierte Selbstverpflichtungen zur Emissionsminderung nicht effizient sind (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministe-rium der Finanzen, 2010). Dann könnten Anpassungsstrategien an den Klimawandel kosten-günstiger werden als eine aktive Politik zur Emissionsminderung. Diese Gesichtspunkte müs-sen unter dem Eindruck der gegenwärtigen theoretischen Erkenntnisse und der empirischen Evidenzen diskutiert werden, wenn das Indikatorensystem vorgestellt wird.

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Daten zum Schaubild
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Energiegewinnung in der Welt und nach Ländern1)

1990 2000 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Welt …………………… 20 965 23 497 24 070 25 111 26 357 27 129 28 024 28 945 29 381

Australien .................... 260 339 359 361 372 389 394 387 398 Belgien ........................ 108 119 112 120 117 113 110 106 111 Brasilien ...................... 194 302 309 302 320 326 331 345 365 Chile ............................ 32 54 53 55 62 63 65 72 73 China ........................... 2 211 3 038 3 309 3 830 4 548 5 068 5 608 6 032 6 508 Dänemark .................... 50 51 52 57 51 48 56 51 48 Deutschland …………. 950 827 833 842 843 811 823 801 804 Estland ........................ 36 15 14 16 17 17 16 19 18 Finnland ...................... 54 54 62 72 67 55 67 64 57 Frankreich ................... 352 377 376 385 385 388 380 373 368 Griechenland ............... 70 87 90 94 93 95 94 98 93 Indien .......................... 591 981 1 021 1 046 1 117 1 160 1 250 1 338 1 428 Indonesien ................... 141 268 293 299 314 324 339 365 385 Irland ........................... 30 41 42 41 42 43 45 44 44 Island .......................... 2 2 2 2 2 2 2 2 2 Israel ........................... 33 55 59 61 60 60 62 65 63 Italien .......................... 397 426 435 452 453 457 458 441 430 Japan .......................... 1 064 1 184 1 205 1 213 1 212 1 221 1 205 1 242 1 151 Kanada ........................ 432 533 533 556 554 559 544 571 551 Luxemburg .................. 10 8 9 10 11 11 11 11 10 Mexiko ......................... 265 346 353 361 368 390 397 418 408 Neuseeland ................. 22 30 32 33 33 33 34 32 33 Niederlande ................. 156 172 178 183 185 183 178 177 178 Norwegen .................... 28 34 34 37 38 36 37 38 38 Österreich .................... 56 62 68 73 74 75 72 69 69 Polen ........................... 344 291 280 291 295 293 305 304 299 Portugal ....................... 39 59 63 58 60 63 56 55 52 Russische

Föderation ................ 2 179 1 506 1 494 1 531 1 513 1 516 1 580 1 579 1 594 Schweden .................... 53 53 54 55 54 50 48 46 46 Schweiz ....................... 41 42 41 43 44 44 44 42 44 Slowakische

Republik ................... 57 37 38 38 37 38 37 37 36 Slowenien .................... 13 14 15 15 15 16 16 16 17 Spanien ....................... 206 284 302 310 327 340 332 344 318 Südafrika ..................... 255 299 295 321 338 331 332 343 337 Südkorea ..................... 229 421 445 448 469 468 477 490 501 Tschechische

Republik ................... 155 122 117 121 122 120 121 122 117 Türkei .......................... 127 201 192 202 207 216 240 265 264 Ungarn ........................ 67 54 55 57 56 56 56 54 53 Vereinigtes

Königreich ................ 549 524 522 534 534 532 533 521 511 Vereinigte Staaten ....... 4 869 5 698 5 605 5 680 5 758 5 772 5 685 5 763 5 596

EU-27 insgesamt ............ 4 054 3 831 3 877 3 994 4 005 3 973 3 988 3 930 3 850 OECD insgesamt ............ 11 045 12 476 12 490 12 730 12 863 12 903 12 841 12 970 12 630

1) Veröffentlicht von der IEA (International Energy Agency) beziehungsweise von der OECD.

CO2-Emissionen durch die Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur

Mio Tonnen

Tabelle 18

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Daten zur Tabelle
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Rohstoffproduktivität und Rohstoffverbrauch

231. Im Zentrum der politischen Diskussion über Nachhaltigkeit steht immer wieder die Fra-ge, ob die derzeitige Wirtschafts- und Produktionsweise zu einer Über-Ausnutzung des ge-genwärtigen Bestands an natürlichen Ressourcen führt. Die Abbauintensität natürlicher Res-sourcen hat deshalb bisher in den Veröffentlichungen zur Nachhaltigkeit eine prominente Stellung eingenommen. Insbesondere gehen die Nachhaltigkeitsstrategien sowohl von Frank-reich als auch von Deutschland und der Europäischen Union davon aus, dass eine Erhöhung der Rohstoffproduktivität ein sinnvolles politisches Ziel wäre. So fordert die deutsche Nach-haltigkeitsstrategie eine Erhöhung der Rohstoffproduktivität nicht-erneuerbarer Rohstoffe in Deutschland um 100 vH im Zeitraum von 1994 bis 2010. Konzeptionell bestehen zwischen der Überwachung des Verbrauchs erneuerbarer und nicht-erneuerbarer Ressourcen erhebliche Unterschiede, was eine gemeinsame Betrachtung aus-schließt. Für die erneuerbaren Ressourcen stellt sich insbesondere die Frage, ob deren derzei-tige Abbaurate und die damit einhergehenden Umweltauswirkungen eine nachhaltige Repro-duktion bedrohen. Eine Beantwortung dieser Frage erfordert eine genaue Untersuchung der jeweiligen Ressource, zum Beispiel der Fischbestände oder des Trinkwassers. Dazu müssen sorgfältige Prozesse und Regulierungen erarbeitet werden, die ein dauerhaftes Monitoring und eine Regulierung der entsprechenden Industrien sicherstellen. Dabei muss zwischen unter-schiedlichen Bereichen wie Wasser, Wälder, Fischgründe und anderen Ernteprodukten unter-schieden werden (EU Commission, 2007). Ohne einen sorgfältigen gesellschaftlichen und interdisziplinären Diskurs kann keine Prioritätenliste entwickelt werden, in welcher Weise die erneuerbaren Ressourcen behandelt werden sollen. Zweifellos ist die Überwachung be-stimmter erneuerbarer Ressourcen eine zentrale Aufgabe, die allerdings ein eigenes For-schungsprogramm begründet. Hinzu kommt, dass die Betrachtung der Biodiversität im nächs-ten Abschnitt sich teilweise mit der Nachhaltigkeit erneuerbarer Ressourcen überschneidet. 232. Aus diesen Gründen konzentriert sich die folgende Untersuchung auf nicht-erneuerbare Ressourcen. Die verfolgten Nachhaltigkeitsstrategien benutzen die „Rohstoff-produktivität“ als Hauptindikator für den nachhaltigen Abbau einer Ressource. Die Rohstoff-produktivität bezieht die gesamte Produktion auf den gesamten Rohstoffeinsatz. Im makro-ökonomischen Kontext erfasst dieser Indikator den Betrag des realen BIP, der pro Einheit der (nicht-erneuerbaren) Ressource erzeugt werden kann. Dahinter steht die Vorstellung, dass traditionelle Maße wie Abbauraten oder der Umfang bekannter Reserven die Komplexität des Problems nicht zutreffend erfassen können. Eine Förderung der Nachhaltigkeit kann auf zwei – sich nicht gegenseitig ausschließenden – Wegen erreicht werden: Erstens reduziert eine Erhöhung der Recyclingrate die Abbauge-schwindigkeit einer natürlichen Ressource, indem die Reichweite des bereits abgebauten Be-stands erhöht wird. Allerdings sind die Kenntnisse zu den tatsächlichen Möglichkeiten, mit Maßnahmen des Recycling erfolgreich Rohstoffe zu schonen, durchaus begrenzt. Zweitens können Verbesserungen der Produktionstechnik die Rohstoffproduktivität insgesamt erhö-hen, was tendenziell ebenfalls die Reichweite des Bestands verlängert. Dabei sollte man aller-dings nicht übersehen, dass die Effekte eines effizienzsteigernden technischen Fortschritts

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oftmals zu einem gewissen Teil durch eine erhöhte Nachfrage kompensiert werden. Dieser Effekt ist bekannt als „rebound effect“. Dahinter steht grundsätzlich die Bedeutung der rela-tiven Preise der Waren und Dienstleistungen, die aus der Ressource entstehen. Effizienzver-besserungen führen bei gegebener Produktionsmenge zu Einsparungen bei der Ressource, machen die Produktion zugleich aber kostengünstiger und erhöhen dadurch tendenziell die Nachfrage der Konsumenten. Deshalb wäre es wünschenswert, einen Knappheitsindikator zu finden, der diese Feinheiten mit berücksichtigt. 233. Ausgangspunkt für unsere Suche nach einem Indikator für die Nachhaltigkeit nicht-erneuerbarer Ressourcen ist eine grundlegende Erkenntnis der Wirtschaftswissenschaften: Liegt kein Marktversagen vor, führt die Allokation durch den Markt im Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage zu effizienten Ergebnissen. Im Fall von nicht-erneuerbaren Res-sourcen folgt ein intertemporal effizienter Abbaupfad dem so genannten Gesetz von Hotel-ling: Die Preissteigerungsrate der entsprechenden Ressource muss gleich dem realen Zinssatz sein. Die Idee dahinter ist leicht zu verstehen. Die Erträge aus dem Abbau einer bestimmten Menge der Ressource könnten am Kapitalmarkt zu einem gegebenen Zinssatz angelegt wer-den. Lässt man die Ressource hingegen im Boden, bedeutet dies, dass der Wert des Ressour-cenbestands im gleichen Ausmaß steigen müsste, wobei unterstellt ist, dass der Preis jeder Einheit der Ressource auch entsprechend steigt. Die Arbitrage führt dazu, dass der Preis im Fall eines Nicht-Abbaus dem Zinssatz als Maß für den Gewinn bei einem Abbau entspricht (Olson und Knapp, 1997). Als Konsequenz daraus liefern die Preise nicht-erneuerbarer Res-sourcen einen direkten Hinweis auf bevorstehende Nachhaltigkeitsprobleme. Allerdings geht die ökonomische Theorie noch über diesen hypothetischen Idealzustand hin-aus, indem sie die Über-Nutzung nicht-erneuerbarer natürlicher Ressourcen als Folge von Externalitäten oder eines Mangels an intergenerativer Fairness betont. Auf der einen Seite kann der Abbau selbst Schäden an der Umwelt, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft her-vorrufen, die sich nicht im Preis der entsprechenden Ressource widerspiegeln. So gibt es zum Beispiel eine umfangreiche Literatur zum so genannten „resource curse“ („Rohstofffluch“): Länder mit einem übermäßigen Angebot an natürlichen Rohstoffen wie Öl verzeichnen oft ein nur geringes Wachstum, Umweltzerstörung und gesellschaftliche Konflikte. Auf der anderen Seite kann ökonomische Effizienz alleine betrachtet ein unzureichendes Maß für Nachhaltigkeit sein, geht man aus Gründen der intergenerativen Verteilung und Fairness davon aus, dass der derzeitige Lebensstandard von zukünftigen Generationen zumindest gehalten werden sollte. Unter dem Aspekt des Wohlstands zukünftiger Generationen könnten ökonomisch effiziente Allokationen, also mit einer ungewünschten Verteilung von Wohlfahrt zwischen den Generationen einhergehen (Howarth, 1991). Außerdem ist die Entscheidung, eine nicht-erneuerbare Ressource heute abzubauen, im Gegensatz zu den meisten anderen zu treffenden Entscheidungen grundsätzlich nicht reversibel (Sandler, 1997). 234. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Beobachtung der Preise nicht-erneuerbarer Ressour-cen um Indikatoren zu ergänzen, die ihren Einsatz in der Produktion und die Produktivität dabei widerspiegeln. Maße zur Rohstoffproduktivität in Verbindung mit den bekannten Re-

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serven können auf den ersten Blick eine grobe Abschätzung des zukünftig insgesamt mögli-chen Outputs bei gegebener Technik liefern. Dabei gibt es allerdings zwei wesentliche Prob-leme, ein konzeptionelles und eines zur angemessenen Interpretation der Maße. Erstens erge-ben sich bei der Messung viele konzeptionelle Fragen. Insbesondere gibt es nicht eine homo-gene Ressource, sondern viele, oft sehr heterogene Rohstoffe mit unterschiedlichen Substitu-tionsmöglichkeiten. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wollen wir aber nur eine kleine Zahl zusammenfassender Indikatoren entwickeln. Misst man, zweitens, die Rohstoffproduktivität auf nationaler oder regionaler Ebene, ergibt sich damit noch kein aussagekräftiges Bild über den globalen Grad der Nachhaltigkeit. Kon-kret: Maße zur nationalen Rohstoffproduktivität zeigen nur dann Nachhaltigkeitsprobleme an, wenn man einen direkten Bezug zwischen der Nutzung der Ressource und der nationalen Po-litik herstellen kann. Da ein solches Maß notwendigerweise nationale Produktionsmuster abbildet und die globale Sicht zumeist vernachlässigt, könnte eine Änderung des Indikator-werts grundsätzliche Veränderungen in der Rohstoffproduktivität oder die Verlagerung rohstoffintensiver Produktionen ins Ausland anzeigen. Die bloße Betrachtung dieses Indika-tors, könnte zu gravierenden Missverständnissen über die Entwicklung des Rohstoff-verbrauchs führen. Deshalb müssen Maße zur inländischen Rohstoffproduktivität – wenn sie denn als nützlicher Indikator angesehen werden – um weitere Indikatoren ergänzt werden, da diese allein den Rohstoffeinsatz eines Landes oder einer Region nicht umfassend abbilden kann (Kasten 5). Die Chance und die Vorteile der Globalisierung und des internationalen Handels ermöglichen die Entkopplung von heimischen Konsum- und heimischen Produktionsmustern. So könnte man zum Beispiel einen zusätzlichen Indikator entwickeln, der sich nicht auf die Produktions-seite, sondern auf die Konsumseite des Rohstoffeinsatzes bezieht. Der inländische Konsum enthält nicht nur im Inland produzierte Güter mit geringem Rohstoffverbrauch aufgrund einer hoch effizienten Produktionstechnik, sondern auch importierte Güter mit hohem Rohstoffein-satz. Beide Indikatoren zusammen können grundsätzlich ein besseres Bild über den gegen-wärtigen Pfad des inländischen Rohstoffeinsatzes liefern.

Kasten 5

Maße zu Rohstoffproduktivität und -verbrauch: Nutzung und Probleme

Der Indikator „Rohstoffproduktivität“ wird derzeit vom Statistischen Bundesamt für Deutschland und von Eurostat auf europäischer Ebene ermittelt. Eurostat verwendet allerdings eine leicht an-dere Definition, die im Folgenden beschrieben wird. Ausgangspunkt für beide Maße ist der di-rekte Materialeinsatz (Direct Material Input – DMI), der die gesamte Menge (in Tonnen) aller primären Rohstoffe, die importiert oder im Inland abgebaut wurden, und alle importierten Fertig- und Halbfertigerzeugnisse aggregiert. Im Fall Deutschlands ist dieses Maß auf abiotische, das heißt nicht-erneuerbare Rohstoffe begrenzt. Durch Abzug der exportierten primären Rohstoffe und (Fertig- und Halbfertig-)Erzeugnisse, gelangt man zum inländischen Materialverbrauch (Domestic Material Consumption – DMC). Beide Maße werfen eine Reihe methodischer Probleme auf, die bestenfalls gemildert, keinesfalls aber endgültig gelöst werden können. DMI-Maße führen international betrachtet zu Doppelzäh-

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lungen, da die Rohstoffe auf der Export- und auf der Importseite gezählt werden. Deshalb überschätzt ein Aufsummieren der nationalen DMI den wahren weltweiten Wert für DMI, was in-ternationale Vergleiche problematisch macht. In der Folge können sich Schätzungen der natio-nalen Werte ändern, wenn sich die Handelsströme umkehren, obwohl die globale Rohstoffpro-duktivität gleich geblieben ist. Mit Blick auf die nationale Ebene ist in der oberen Hälfte von Schaubild 29 die Entwicklung von DMI und DMC für Frankreich und Deutschland im Zeitraum von 2000 bis 2007 dargestellt. DMI zeigt für beide Länder einen ähnlichen Verlauf, während er beim DMC unterschiedlich ist: In Deutschland geht der Materialverbrauch zurück, in Frankreich steigt er an.

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Log. Maßstab2000 = 100

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1) Direkter Materialinput: inländische Rohstoffentnahme und Importe von abiotischen Rohstoffen (Gesamtverbrauch abzüglich Biomasse),die direkt von der Wirtschaft verwendet werden.– 2) Inlandsmaterialverbrauch: im Inland verbrauchte abiotische Rohstoffe; DMC = DMI –Exporte.– 3) Bruttoinlandsprodukt in Relation zum DMI beziehungsweise DMC.

Quelle: EU

Schaubild 29

Rohstoffproduktivität3)

FrankreichDeutschland

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Log. Maßstab2000 = 100

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DMC2)DMI1)

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Log. Maßstab2000 = 100

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2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

DMC2)DMI1)

Rohstoffeinsatz und -verbrauch sowie Rohstoffproduktivitätin Deutschland und Frankreich

Rohstoffeinsatz und -verbrauch

Auf der Ebene der Europäischen Union ist das Maß für die Rohstoffproduktivität definiert als reales BIP in Relation zum DMC. Deutschland nutzt, wie bereits erwähnt, eine andere Definition, nämlich reales BIP in Relation zum DMI. Streng genommen entspricht die deutsche Definition

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Daten zum Schaubild
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eher der ökonomischen Definition von Produktivität als die europäische. Das BIP ist ein Produk-tionsmaß, DMC hingegen ein Verbrauchsmaß, was die Interpretation des Quotienten erschwert. Die Entwicklung der Rohstoffproduktivität für Frankreich und Deutschland im Zeitraum von 2000 bis 2007 ist in der unteren Hälfte von Schaubild 29 dargestellt. Mit DMI als Maß für den Rohstoffeinsatz zeigt sich für beide Länder ein ähnlicher Verlauf, wobei sich die Produktivität tendenziell erhöht. Mit dem Verbrausmaß DMC ergibt sich ein leicht anderes Bild, wobei das qualitative Ergebnis aber gleich bleibt. Danach hat sich die Rohstoffproduktivität in Deutschland um mehr als 20 vH erhöht, die Frankreichs um 10 vH. Ein gewichtiger Nachteil derartiger Indikatoren ist, dass sie sich insbesondere auf die Nachhal-tigkeit aus inländischer Sicht konzentrieren, ohne im Detail den Rohstoffverbrauch aufgrund von Importgütern zu betrachten. Dieser Ausschluss verschärft das Problem im Zeitablauf, da struk-turelle und weltweite Verschiebungen hin zu grenzüberschreitenden Produktionsketten mit Pro-duktionsstufen, die über die ganze Welt verteilt sind, zu Verschiebungen im Rohstoffverbrauch von einem Land zum anderen führen, die in dem derzeitigen Indikator nicht abgebildet werden. Dieser Wandel zum Import von (Halb-)Fertigerzeugnissen, die primäre Rohstoffe enthalten, kann sogar einen Rückgang des Rohstoffverbrauchs anzeigen, nur weil die Importe von Rohstoffen zurückgehen, da die inländische Produktion bestimmter Güter durch deren Import ersetzt wird. Der DMC spiegelt in der derzeitigen Form die in den Importen und Exporten enthaltenen Roh-stoffe nicht richtig wider, da nur deren Gewicht an der Grenze einbezogen wird, das bei Halb- oder Fertigerzeugnissen den wahren Rohstoffgehalt eher unterschätzt. Deshalb muss dieser Indikator und damit die gesamte Materialflussrechnung um eine detaillierte Berechnung der in Importen und Exporten enthaltenen Rohstoffe ergänzt werden, um zu einem globalen Bild des inländischen Rohstoffverbrauchs zu gelangen. Im Idealfall sollte es bei korrekter Messung mög-lich sein, den „wahren“ Rohstoffkonsum der gesamten Welt durch die Aggregation des DMC al-ler individuellen Länder zu berechnen.

Für die Jahre 2000 bis 2007 hat das Statistische Bundesamt versucht, die Angaben zum deut-schen Rohstoffverbrauch anzupassen, indem es im Detail den Rohstoffgehalt importierter und exportierter Güter geschätzt hat (Buyny und Lauber, 2010). Dazu wurde der Produktionsprozess vieler Halb- und Fertigerzeugnisse in Einzelschritte zerlegt, um den Rohstoffverbrauch abzu-schätzen und mit einer entsprechenden Input-Output-Analyse zu verknüpfen. Damit erhält man den DMI und folglich den DMC in so genannten Rohstoffäquivalenten. Wesentliches Ergebnis dieses Forschungsprojekts ist, dass im vergangenen Jahrzehnt rohstoffintensive Produktion ins Ausland verlagert wurden und dass ein hoher Anteil des deutschen Rohstoffinputs (DMI) in im-portierten Waren und Diensten versteckt ist. Allerdings werden nach entsprechender Weiterver-arbeitung viele dieser Waren wieder in andere Länder exportiert. Aus diesem Grund nimmt der deutsche Rohstoffverbrauch (DMI abzüglich der Exporte) derzeit mit einer wesentlich größeren Rate ab (Schaubild 30) als sich dies in Schaubild 29 darstellt. Allerdings spiegeln auch diese korrigierten Werte noch nicht den umfänglichen Rohstoff-verbrauch wider, da die den Berechnungen zugrunde liegenden Input-Output-Analysen und Pro-duktionstechnologien auf deutschen Input-Output-Tabellen beruhen, die gleiche Produktionspro-zesse im Ausland unterstellen. Zieht man in Betracht, dass viele Länder Produktionstechnolo-gien anwenden, die nicht so effizient wie die in Deutschland eingesetzten sind, dann könnte der Rohstoffverbrauch sogar noch höher sein. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, diesen Berechnungen länderspezifische Input-Output-Tabellen und Produktionsverfahren zugrunde zu legen.

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1) DMC: im Inland verbrauchte abiotische Rohstoffe (Gesamtverbrauch abzüglich Biomasse); DMC = DMI (Direkter Materialinput) – Ex-porte.– 2) Werte unterscheiden sich geringfügig zu anderen Quellen.– 3) Rohstoffäquivalente umfassen statt des tatsächlichen Ge-wichts importierter Güter den gesamten direkten und indirekten Rohstoffeinsatz, der im Ausland zur Produktion notwendig war.

Quelle: Destatis

Schaubild 30

Verschiedene Maße zum Verbrauch von abiotischen Rohstoffen (DMC) in Deutschland1)

Rohstoffäquivalent (RÄ)3)

Verbrauch2)

Log. Maßstab2000 = 100

235. Insgesamt kann das Standardergebnis der ökonomischen Theorie, dass sich abgesehen von Externalitäten alle Informationen über die Nachhaltigkeit natürlicher Ressourcen in ihren Preise widerspiegeln, ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Immer dann, wenn Preise die Nachhaltigkeit nur unzuverlässig anzeigen, könnte tatsächlich die Alternative – eine Unter-suchung der Rohstoffproduktivität – dabei helfen, nicht-nachhaltige Abbau-Pfade zu erken-nen. Da nach unserer Diskussion aber auch bei Indikatoren zur Rohstoffproduktivität Skepsis angebracht ist, ob sie immer sinnvolle Informationen zur Nachhaltigkeit liefern, haben wir uns entschlossen, zwei Indikatoren in das Indikatorensystem aufzunehmen – einen Indikator zur Rohstoffproduktivität (BIP in Relation zum nicht-erneuerbaren DMI) und einen Indika-tor zum Rohstoffverbrauch (DMC pro Kopf). Wie bereits dargestellt, kann das Maß zum DMC, wie es derzeit für die EU und die nationale Ebene zur Verfügung steht, nicht den Roh-stoffverbrauch angemessen wiedergeben, der in Importen enthalten ist. Deshalb sollte dieses Maß – nicht aber das Produktivitätsmaß unter Verwendung von DMI – in Zukunft entspre-chend erweitert werden und in Rohstoffäquivalenten ausgewiesen werden (Kasten 5). Beide Maße sind in Schaubild 31 dargestellt. Der Rohstoffverbrauch in Rohstoffäquivalenten ist derzeit nur für Deutschland verfügbar. Trotz unserer grundsätzlichen Zurückhaltung gegenüber diesen Maßen ist deren Verwendung aber immer noch besser, als einfach von der Vermutung auszugehen, dass unser derzeitiger Abbau von Ressourcen schlichtweg zu hoch ist, und auf dieser Basis gewünschte Abbauraten in Relation zu willkürlich gesetzten Schwellenwerten vorzuschreiben. Im Idealfall erfordern die möglichen Externalitäten, die mit der derzeitigen Art der Ressourcenausbeutung verbun-den sind, ein ausgeklügelteres Berichtssystem, als es in unser Indikatorensystem eingeht.

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Daten zum Schaubild
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148 Nachhaltigkeit

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Deshalb erkennen wir an, dass die Indikatoren in unserem System wegen der Heterogenität der Situation und der beschriebenen Unzulänglichkeiten nur als Warnsignale dienen können.

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1) Reales Bruttoinlandsprodukt in Relation zum DMI; DMI (Direkter Materialinput): inländische Rohstoffentnahme und Importe von abiotischen Roh-stoffen (Gesamtverbrauch abzüglich Biomasse), die direkt von der Wirtschaft verwendet werden.– 2) DMC: Inlandsmaterialverbrauch (im Inland ver-brauchte abiotische Rohstoffe; DMC = DMI – Exporte).– 3) DMC in Rohstoffäquivalenten (RÄ: Rohstoffäquivalente umfassen statt des tatsäch-lichen Gewichts importierter Güter den gesamten direkten und indirekten Rohstoffeinsatz, der im Ausland zur Produktion notwendig war).

Quellen: Destatis, EU

Schaubild 31

Rohstoffproduktivität und Rohstoffverbrauch in Deutschland und Frankreich

Frankreich

Deutschland

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Rohstoffverbrauch (DMC) pro Kopf2)Rohstoffproduktivität (DMI)1)

Frankreich

Deutschland

Deutschland(RÄ pro Kopf )3)

Biodiversität

236. Biodiversität (Artenvielfalt) kann als die Gesamtheit aller Gene, Arten und Ökosysteme einer Region und aller ihrer Interaktionen verstanden werden. Grundsätzlich kann auch sie als eine Form von Kapital angesehen werden, das zur Produktion von Diensten erforderlich ist, um die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen. Ihre Bewahrung ist zur Sicherung von Nahrungsmitteln, für den medizinischen Fortschritt, für die chemische Industrie und für in-dustrielle Rohstoffe ebenso erforderlich wie für die Absorption von Kohlendioxid durch die Ökosysteme Ozean und Wald (Baumgärtner, 2008). Dementsprechend können die Abnahme oder Veränderungen der Biodiversität negative Folgen für Nahrungsmittel, Pflanzen, Medizin und Trinkwasser sowie für die Befruchtung von Pflanzen, die Filterung von Schadstoffen oder den Schutz vor Naturkatastrophen haben. Man kann eine globale und eine lokale Dimension der Biodiversität unterscheiden. So ist die Absorption von Kohlendioxid durch Ozeane und Wälder ein Dienst des globalen Ökosystems, da der größte Teil des Kohlendioxids an Orten absorbiert wird, die sich vom Ort des Aussto-ßes unterscheiden. Andererseits betreffen Dienste des Ökosystems, die zum Beispiel die Fruchtbarkeit von Böden beeinflussen oder verbessern, die lokale Biodiversität. 237. Um die mögliche Bedeutung der Biodiversität zu berücksichtigen, sollte ein zusam-menfassender Indikator für diesen natürlichen Kapitalbestand in das Indikatorensystem auf-

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Daten zum Schaubild
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genommen werden. Dabei ist ein nationaler Indikator, der das Ökosystem eines gegebenen Territoriums abbildet, immer durch einen Wert über die Entwicklung der globalen Biodiversi-tät zu ergänzen, um sowohl der lokalen als auch der globalen Dimension gerecht zu werden. Im Idealfall sollte der Indikator konzeptionell für beide Betrachtungsebenen identisch sein, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten. In der wissenschaftlichen Diskussion können zwei Ansätze unterschieden werden, Biodiver-sität (und deren Veränderung) quantitativ zu bewerten. Ökologen nutzen traditionell Konzepte wie den Artenreichtum, Ökonomen hingegen solche, die auf der paarweisen Unähnlichkeit zwischen Arten oder zwischen gewichteten Eigenschaften dieser Arten basieren. Ganz offen-sichtlich betrachten diese beiden Klassen von Maßen Biodiversität aus ganz unterschiedlichen Gründen und bewerten deren Aspekte und Komponenten unterschiedlich. Deshalb erfordert die Messung von Biodiversität ein normatives Urteil über den Zweck der Biodiversität im ökologisch-ökonomischen System (Baumgärtner, 2006). 238. Es gibt viele individuelle und zusammengesetzte Indikatoren, mit denen die Entwick-lung der Biodiversität beobachtet werden kann. Zum Beispiel werden im Rahmen der deut-schen „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ Indikatoren wie die Zahl der gefährde-ten Arten, die Fläche der streng geschützten Gebiete, die Zunahme der Flächeninanspruch-nahme zu Siedlungszwecken und für Transportinfrastruktur, der Anteil der ökologischen an allen landwirtschaftlich genutzten Flächen oder der Flächenanteil des zertifizierten Waldge-biets herangezogen. Unserer Auffassung nach sind diese Indikatoren zu selektiv, da sie nur bestimmte Aspekte der Biodiversität in den Blick nehmen. Insbesondere basieren sie nicht auf der paarweisen Unähnlichkeit, dem von Ökonomen in diesem Zusammenhang bevorzugten Konzept. Am weitesten verbreitet und entwickelt sind Vogelindizes, die sich in der deutschen Nationa-len Strategie zur biologischen Vielfalt, der deutschen Strategie für nachhaltige Entwicklung und der Strategie der Europäischen Union für nachhaltige Entwicklung finden. Der deutsche Vogelindex bezieht sich auf 59 Arten und nennt Zielgrößen für den Bestand im Jahr 2015 für jede Vogelart. Aus ökonomischer Sicht erscheint die Sinnhaftigkeit derartiger Zielgrößen un-klar. Außerdem gibt es keinen klaren Beleg dafür, dass die Zahl von Vögeln Biodiversität angemessen widerspiegelt. Zu Gunsten des Indikators wird vorgebracht, dass Vögel Verände-rungen in anderen Dimensionen der Biodiversität ausdrücken können und auf Veränderungen der Umwelt reagieren (Gregory et al., 2005). Dennoch ist bisher unklar, welche Beziehung zwischen der Biodiversität, wenn sie auf so einfache Art erfasst wird, und der großen Band-breite von Ökosystemdienstleistungen besteht, die das komplexe Ökosystem bereitstellt. Den-noch haben wir uns entschlossen, diesen Indikator als vorläufigen Indikator in das Indikato-rensystem aufzunehmen. 239. Alternativ dazu wurden einige aggregierte Biodiversitätindizes wie der „Red List In-dex“ oder der „Living Planet Index“ entwickelt (Cocciufa et al., 2006). Letzterer hat sich für die globale Ebene als zum Teil angemessen erwiesen; wir benötigen aber einen Indikator, der auch die nationale Ebene zutreffend berücksichtigt. Zudem ist er ein aggregierter Indikator für

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den Artenreichtum, und es ist durchaus zweifelhaft, ob derartige Indikatoren für die Biodiver-sität insgesamt aussagekräftig sind. Andere aggregierte Indikatoren wie der „Red List Index“ können möglicherweise auf der nationalen Ebene erfolgreich eingesetzt werden, sind aber unglücklicherweise nur recht begrenzt aussagekräftig: Selbst wenn einzelne Arten auf nati-onaler Ebene stark von Ausrottung bedroht sind, könnten sie global reichlich vorkommen. Ein weiteres Maß für Biodiversität könnte in deren Berücksichtigung in örtlichen Planungs-prozessen liegen. In einem ersten Schritt müsste dazu eine landesweite Datenbasis vorliegen, die genau sowie konsistent über das gesamte Gebiet ist und regelmäßig erhoben oder aktuali-siert wird. Auf europäischer Ebene ist diese Datenbasis wohl im Rahmen des CORINE (Coordinated Information on the European Environment) Land Cover-Projekts verfügbar. In einem zweiten Schritt müsste der potenzielle Wert der Biodiversität bei den verschiedenen räumlichen Flächencharakterisierungen bestimmt werden. Wenn Werte der Biodiversität für unterschiedliche Nutzungen festgelegt werden sollen, müssten sowohl der Artenreichtum be-ziehungsweise die Artenknappheit in verschiedenen Ökosystemen beurteilt als auch der An-teil der einheimischen Arten in Relation zu den zugewanderten in die Betrachtung einbezogen werden. In Frankreich ist ein entsprechendes Pilotprojekt in drei Départments in Vorbereitung, um eine solche Datenbasis zu erstellen und ein Monitoring der Biodiversität einzuführen. Ein ähnliches Pilotprojekt – die „ökologische Flächenstichprobe“ – wurde in Deutschland zwi-schen 1995 und 1996 durchgeführt (Hoffmann-Kroll et al., 1998). Diese Stichprobe hatte zum Ziel, die Biodiversität zu beobachten und Informationen zum Zustand der Landschaften be-reitzustellen. Dazu wurden Informationen über Standorte, Pflanzenarten, Vögel und andere Arten zusammengetragen. Allerdings diente die ökologische Flächenstichprobe nicht dazu, einen einzigen Indikator zu entwickeln. Sie wurde jedoch nur in Nordrhein-Westfalen durch-geführt, da die Entscheidungsträger eine Ausweitung auf alle Bundesländer als viel zu teuer einschätzten. Beide Projekte erscheinen zwar erfolgversprechend für die Bereitstellung von Daten und Instrumenten, um viele Aspekte der Biodiversität zu erfassen. Sie können aber nicht Grundlage eines regelmäßigen statistischen Berichtswesens sein, wie wir es mit dem Indikatorensystem beabsichtigen. 240. Die Bedeutung der Biodiversität und die möglichen Folgen ihres weiteren Verlusts sind bisher kaum diskutiert. Alle vorgestellten Indikatoren wurden außerhalb des Gebiets der Wirt-schaftswissenschaften entwickelt. Sie betrachten jeweils bestimmte Aspekte der Biodiversität, die nicht notwendigerweise Aspekte der ökonomischen Bedeutung der Biodiversität betreffen. Auch wenn das Jahr 2010 von den Vereinten Nationen zum „Jahr der Biodiversität“ ausgeru-fen worden war, steckt die ökonomische Forschung dazu noch in den Anfängen. Deshalb sind entsprechende ökonomische Maße, wie sie von Weitzmann (1992, 1993, 1998) oder Nehring und Puppe (2002, 2004, 2009) vorgeschlagen wurden, noch weit davon entfernt, ope-rational und quantifizierbar zu sein. Der G8+5-Gipfel der Umweltminister im Jahr 2007 star-tete die Forschungsinitiative „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (TEEB). Der erste Bericht an die Politiker (TEEB, 2009) blieb aber recht vage und stellt keinen einzigen

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quantitativen Indikator vor, der in unser Indikatorensystem als Indikator der Nachhaltigkeit aufgenommen werden könnte. Obwohl wir die bedeutende Rolle sehen, die die Biodiversität für die ökologische Nachhaltig-keit spielt, sehen wir uns derzeit nicht in der Lage, einen Indikator zu benennen, der explizit die wirtschaftliche Dimension der Biodiversität umfassend abbildet. Deshalb haben wir uns entschlossen, vorläufig als fünften Indikator zur ökologischen Nachhaltigkeit den Vogelindex in das Indikatorensystem zu übernehmen. Wir schlagen aber ausdrücklich weitere Forschung auf diesem Gebiet vor, in der Hoffnung, dass diese in Zukunft zu einem angemesseneren In-dikator führt.

5. Zusammenfassende Bemerkungen

241. Dieses Kapitel basiert auf der Einsicht, dass sich der derzeitige Pfad wirtschaftlicher Aktivität als nicht-nachhaltig herausstellen könnte, wenn er weiter verfolgt wird, obwohl die heutige Wirtschaftsleistung und der Wohlstand recht zufriedenstellend sind. In diesem Fall wären harte und schmerzhafte Anpassungen erforderlich, und es wären sogar kostspielige gesellschaftliche Krisen möglich. Ein Abschnitt dieses Kapitels widmete sich insbesondere zwei Facetten der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit, der Nachhaltigkeit des Wachstums einer-seits und der externen und fiskalischen Nachhaltigkeit andererseits. Ein weiterer Abschnitt betraf eine dritte Facette, die finanzielle Nachhaltigkeit des Privaten Bereichs. In diesen Ab-schnitten wurde sowohl eine mittel- als auch eine langfristige Perspektive verfolgt, da der Wohlstand zukünftiger Generationen sehr eng mit dem zusammenhängt, was mit der heutigen Generation mittelfristig passiert. 242. Der erste Aspekt der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit bezieht sich auf die Nachhaltig-keit des Wachstums. Insbesondere sehen wir das Wachstum dann als nachhaltig an, wenn ein ausreichender Teil der Wohlstandsmehrung in der Wirtschaft in Investitionen fließt, unab-hängig davon, ob in materielle oder immaterielle Kapazitäten. Um die Bedeutung der Kapi-talbildung für das Wirtschaftswachstum zu betonen, haben wir uns entschlossen, den Quotien-ten aus Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors und BIP in unser Indikatorensystem aufzunehmen. Da wir einen zuverlässigen Prädiktor für die zukünftige Gesamtproduktivität und die zu erwartenden Trends in Wissenschaft, Technologie und Innovation benötigen, neh-men wir als zweiten Indikator der Nachhaltigkeit des Wachstums die (F&E-)Investitionen in Relation zum BIP auf. 243. Der zweite Aspekt, die externe und fiskalische Nachhaltigkeit, ist eng mit der inter-temporalen Budgetbeschränkung verknüpft, die langfristig bindend ist. Wegen dieser langfris-tigen Perspektive sind die hier behandelten Themen auch eng mit der intergenerativen Ge-rechtigkeit verbunden. Wenn nicht-nachhaltige fiskalische oder externe Situationen überwun-den werden müssen, kann dies schmerzhafte Folgen haben. Als Indikator für fiskalische Nachhaltigkeit haben wir erstens den konjunkturbereinigten Budgetsaldo des Staates ge-wählt, der gemäß der „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ die staatlichen Nettoinvestitionen nicht übersteigen sollte. Als zweiter Indikator dient die fiskalische Nachhaltigkeitslücke gemäß „S2“ im Nachhaltigkeitsreport der EU-Kommission. Fiskalische Nachhaltigkeit wird

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152 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

dann signalisiert, wenn dieser Indikator negativ oder null ist. Bei einer positiven Nachhaltig-keitslücke sollte er im Zeitablauf zumindest zurückgehen und schließlich gegen Null konver-gieren, damit die Finanzpolitik nachhaltig ist. 244. Das vorliegende Kapitel hat zudem Möglichkeiten untersucht, wie das regelmäßige Be-richtswesen der statistischen Ämter über die aktuelle Wirtschaftsleistung und den Wohlstand um einen Ausweis der finanziellen Nachhaltigkeit erweitert werden kann. Dazu wurde ein Set von Indikatoren vorgeschlagen, die vor nicht-nachhaltigen Entwicklungen im privaten Sek-tor und speziell im Finanzsektor warnen. Ziel ist es lediglich, fundamentale exzessive und unerwünschte Entwicklungen zu untersuchen, die möglicherweise zu schweren Wirtschafts-krisen führen. Dieses Ziel ist sehr ehrgeizig; die Diskussion hat gezeigt, dass es nie möglich sein wird, Finanzkrisen mit Sicherheit vorherzusagen. Was wir aber angeboten haben, ist ein enges Set von Frühwarnindikatoren, die Politiker und Öffentlichkeit im Fall von fundamen-tal unerwünschten Entwicklungen im Finanzsektor warnen könnten. Diese Indikatoren sollen für die Politik und die Öffentlichkeit einfach und leicht handhabbar sein, da diese nicht die Zeit und die Kenntnisse haben, eine Vielzahl von disaggregierten Indikatoren zu beobachten oder Stress-Tests oder Frühwarnmodelle selbst auszuführen. 245. Trotz dieser Vorbehalte sind die drei vorgeschlagenen Indikatoren unserer Einschätzung nach die sinnvollste Auswahl aus der empirischen Literatur, die sich mit vorlaufenden Indika-toren befasst. Insbesondere schlagen wir vor, die gesamte private Kreditaufnahme in Rela-tion zum BIP, die realen Vermögenspreise und die realen Immobilienpreise, beide deflatio-niert mit dem Verbraucherpreisindex, zu beobachten. Dieser Vorschlag lässt sich leicht um-setzen. Daten zur privaten Kreditaufnahme und zu den Vermögenspreisen werden von den nationalen Zentralbanken bereitgestellt, Daten zu Immobilienpreisen von der Bank für inter-nationalen Zahlungsausgleich (BIS, 2010). Dieses begrenzte Set von Indikatoren ist keines-falls als Ersatz für eine detaillierte makroökonomische Überwachung oder bestehende Früh-warnsysteme von Experten und souveränen öffentliche Institutionen gedacht. Vielmehr soll es frühzeitig wirtschaftliche Entwicklungen identifizieren, die zu Notsituationen führen könnten, wenn sie nicht korrigiert werden. Wenn diese Indikatoren Alarm schlagen, sollten die Politi-ker Experten und öffentliche Institutionen zu Rate ziehen und gegebenenfalls Gegenmaßnah-men ergreifen. Für die zukünftigen Arbeiten auf diesem Gebiet, insbesondere auf der supra-nationalen Ebe-ne, kommt es darauf an, die Qualität der Daten sicherzustellen. Zum Beispiel weisen Borio und Drehmann darauf hin, dass bei den Daten immer noch Einschränkungen wie Heterogeni-tät über die Länder hinweg bestehen (Borio und Drehmann, 2009a; McKinsey, 2010). Des-halb besteht die Notwendigkeit zur internationalen Harmonisierung und Standardisierung der Erhebungen, um verlässliche und vergleichbare Informationen zu erhalten. Dies ist umso bedeutender, als die Globalisierung im Allgemeinen und die finanzielle Integration im Beson-deren dazu zwingen, auf EU-Ebene tätig zu werden – womit 27 Nationalstaaten betroffen sind. Da Harmonisierung hauptsächlich darin besteht, Standards für Definitionen, die Daten-erhebung und die Datenqualität zu erarbeiten, dürfte dies ein zugleich kosteneffizienter wie wertvoller Beitrag sein.

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CAE / SVR - Expertise 2010

246. Nach derzeitigem Erkenntnisstand haben steigende Konzentrationen von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen in der Atmosphäre bereits eine globale Erwärmung verursacht, und sie werden wohl noch einen weiteren Klimawandel bewirken. Dieser Klimawandel hat das Potenzial, größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisen auszulösen. Deshalb soll-ten die Treibhausgasemissionen Eingang in unser Indikatorensystem finden. Die Kennziffer mit der größten Bedeutung für den Klimawandel ist das Niveau der Treibhausgasemissio-nen. Allerdings ist der Klimawandel ein globales Phänomen, und deshalb könnte das nationa-le Niveau dieser Emissionen, das wir als Indikator für unser System vorschlagen, leicht in die Irre führen, wenn es allein betrachtet wird. Aus diesem Grund sollte es immer um einige zu-sammenfassende Angaben über die gesamten Treibhausgasemissionen beziehungsweise, wenn keine kompletten Daten verfügbar sind, durch die CO2-Emissionen ergänzt werden. Offensichtlich benötigt eine angemessene Strategie zur Begrenzung der globalen anthropoge-nen Treibhausgasemissionen ein verbindliches internationales Klimaschutzabkommen. Kern-elemente eines solchen Abkommens sollten ein rechtlich verbindliches Emissionsziel, ein internationales Emissionshandelssystem und ein Allokationsmechanismus sein, der die Emis-sionsrechte den teilnehmenden Ländern zuteilt. Obwohl recht unterschiedliche Allokations-mechanismen denkbar sind, scheint doch das Gleichheitspostulat ein guter Ausgangspunkt für eine faire Verteilung der weltweiten Menge zu sein. Das Recht auf weltweit gleich hohe Emissionen pro Kopf wäre deshalb eine sinnvolle Basis für die Zuteilung der nationalen Rechte. Aber auch unabhängig von ihrer Rolle in einem Allokationsmechanismus für welt-weit gehandelte Emissionsrechte wäre es sinnvoll, die Politik und die breite Öffentlichkeit über die nationalen Treibhausgasemissionen pro Kopf der Bevölkerung zu unterrichten. Deshalb schlagen wir diesen Wert als zweiten Treibhausgasindikator für das Indikatorensys-tem vor. 247. Die Nachhaltigkeit (nicht-erneuerbarer) Ressourcen war über Jahrzehnte ein heiß disku-tiertes Thema sowohl unter Politikern, unter Wissenschaftlern als auch in der breiteren Öf-fentlichkeit. Aus Sicht der ökonomischen Theorie spiegelt sich eine zunehmende Knappheit von nicht-erneuerbaren Ressourcen in der Entwicklung ihrer Preise wider, und deshalb er-scheint ein zusätzlicher Ausweis physikalischer Maße zunächst nicht erforderlich. Die Theo-rie geht aber über diesen hypothetischen Idealzustand hinaus, indem sie die Möglichkeit einer Über-Nutzung nicht-erneuerbarer natürlicher Ressourcen betont, die als Folge von Externali-täten oder mangelnder intergenerativer Gerechtigkeit entstehen kann. Deshalb sollte man neben den Preisen auch physische Ströme ausweisen. Dazu können Indikatoren zum Einsatz nicht-erneuerbarer Ressourcen in der Produktion und zum Rohstoffkonsum veröffentlicht werden. Als ersten Indikator schlagen wir daher als Maß der Rohstoffproduktivität den Quotienten aus dem BIP und dem direkten Materialeinsatz (Direct Material Input – DMI) vor, der die in der inländischen Produktion insgesamt eingesetzte Menge an nicht-erneuerbaren Ressourcen umfasst. Als zweiten Indikator wählen wir den inländischen Materialverbrauch (Domestic Material Consumption – DMC), ausgedrückt pro Kopf der Bevölkerung, als Maß des Rohstoffkonsums. DMC misst den gesamten inländischen Verbrauch von nicht-erneuerbaren Ressourcen, indem vom DMI die Exporte abgezogen werden. Zukünftig sollte

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154 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

der DMC erweitert werden, um den Rohstoffgehalt der Importe und Exporte adäquat zu mes-sen. 248. Schließlich ist im weiten Sinne auch die Biodiversität eine Art von Kapital, das zur Pro-duktion von Ökosystemdienstleistungen benötigt wird, um die Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen. Ihre Bewahrung ist wohl für viele wünschenswerte Facetten der derzeitigen und zukünftigen menschlichen Existenz von Bedeutung, wie die Sicherstellung der Nahrung, den medizinischen Fortschritt oder für industrielle Rohstoffe. Die Erhaltung der Biodiversität ist allerdings nicht nur eine globale Aufgabe, sondern betrifft auch die Stabilität lokaler Ökosys-teme. Dementsprechend sollte ein Indikator der Biodiversität in unser Indikatorsystem auf-genommen werden. Unglücklicherweise wurden alle vorliegenden Indikatoren dazu außerhalb des Bereichs der Wirtschaftswissenschaften entwickelt. Deshalb ist es schwierig zu beurtei-len, ob sie mögliche Zielkonflikte in der Wohlfahrt sowohl innerhalb einer Generation als auch zwischen den Generationen vollständig und angemessen berücksichtigen. Da wir derzeit keinen Indikator benennen können, der explizit die ökonomische Dimension der Biodiversität umfassend abbildet, haben wir uns entschlossen, den Vogelindex als vorläufigen fünften Indi-kator zur ökologischen Nachhaltigkeit aufzunehmen.

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CAE / SVR - Expertise 2010

Anhang zum Abschnitt „Finanzielle Nachhaltigkeit“

Sinnvolle vorlaufende Indikatoren müssen Anforderungen in verschiedenen Dimensionen erfüllen. Dieser Anhang zeigt Kriterien zur Auswahl von verlässlichen und robusten Indikato-ren aus den in Tabelle A1 genannten Kandidaten. Erstens ist es wichtig, dass vorlaufende Indikatoren grundsätzlich dazu geeignet sind, die öf-fentlichen Institutionen vor drohenden Krisen zu warnen. Deshalb müssen sie außerhalb der Stichprobe leistungsfähig sein (Borio und Drehmann, 2009a; Davis und Karim, 2008a). Vie-le der vorgeschlagenen Indikatoren schneiden innerhalb der Stichprobe recht gut ab. Wie be-reits dargestellt ist es jedoch notwendig, ein Set von Indikatoren zu bestimmen, die eine gute Zusammenfassung oder einen Überblick über eine große Bandbreite finanzieller Entwicklun-gen liefern, um deren Umfang soweit wie möglich zu erfassen. Dies ist auch deshalb beson-ders wichtig, da sich die Gründe und Ursachen von Krisen jeweils deutlich unterscheiden (Ghosh et al., 2009). Um den Anforderungen der Politik zu genügen, muss, zweitens, jeder Indikator das Risiko zukünftiger finanzieller Anspannungen ausreichend lange im Voraus anzeigen, damit die öffentliche Institutionen Gegenmaßnahmen ergreifen können (Borio und Drehmann, 2009a). In den Worten von Borio und Drehmann beinhaltet dies, inwieweit die Indikatoren Barometer oder eher Thermometer einer Notlage sind (Borio und Drehmann, 2009b). Frühere Studien legten einen Prognosehorizont von etwa einem Jahr zugrunde (Kaminsky und Reinhart, 1999), spätere wählten längere und verschiedene Zeiträume (Borio und Lowe, 2002a). Derzeit reichen die Prognosehorizonte von einem bis zu vier Jahren, um so der Politik Zeit zu geben, die Lage zu bewerten und entsprechende Maßnahmen umzusetzen (Borio und Drehmann, 2009b). Aus Sicht der Politik ist eine frühe Warnung immer die bessere (Kaminsky und Rein-hart, 1999). Ein dritter kritischer Punkt bei vorlaufenden Indikatoren ist die Verfügbarkeit von Daten. Oberstes Gebot sollte immer die Auswahl von Daten mit ausreichendem Vorlauf und mit Ver-trauenswürdigkeit sein (Borio und Drehmann, 2009b). Bei Quantität und Qualität der Daten gibt es immer beachtliche Einschränkungen. So ist zum Beispiel die Erhebung von Daten zwischen den Ländern oft nicht standardisiert, so dass die Heterogenität der Länder insbeson-dere bei internationalen Vergleichen zum wesentlichen Problem wird (McKinsey, 2010). Dies kann insofern beachtliche Konsequenzen haben, weil viele Wissenschaftler die Verfügbarkeit von Daten als Kriterium für die Auswahl der in ihre Studie einbezogenen Länder wählen, was zu Selektionsverzerrungen der Stichprobe führen kann (Bell und Pain, 2000). Zudem sollten Daten rechtzeitig verfügbar sein und Verzögerungen bei der Veröffentlichung vermieden werden. Kurz: Rechtzeitige Aktualisierungen der vorlaufenden Indikatoren müssen gewähr-leistet sein. Daten, die nur mit erheblicher Verzögerung vorliegen, verkürzen den Prognoseho-rizont und die Eignung der vorlaufenden Indikatoren beträchtlich.

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156 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Tabelle A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen

Studie Methodik Signifikante and robuste Indikatoren

Stichproben-umfang

Kernergebnisse

(Borio und Drehmann, 2009a)

− Krisenvorhersa-ge mittels Indi-katoren und Schwellenwer-ten

− zusammenge-setzter Index

− Aktienkurse − private Kredite/BIP − Immobilienpreise − länderübergreifende

Finanzengagements

1970-2008, 18 Industrie-länder

− Die Studie basiert auf (Borio und Lowe, 2002a, b).

− Ausschließlich auf Krediten und Aktien-kursen basierende Indikatoren, hätten für die aktuelle Krise (außerhalb der Stichprobe über die Periode von 2004-2008) keine Warnsignale gegeben.

− Ein Indikator, der zusätzlich (gewerbli-che und private) Immobilienpreise mit einschließt, erhöht die Vorhersagekraft erheblich.

− Werden darüber hinaus länderübergrei-fende Finanzengagements berücksich-tigt, kann die Prognosefähigkeit weiter gesteigert werden.

− Weitere Forschungsvorschläge: Be-rücksichtigung von Spreads der Kredit-risiken sowie des Verschuldungshe-bels.

(Misina und Tkacz, 2009)

− lineare and nicht-lineare Modelle

− Kredite (gesamte inländische Unter-nehmenskredite)

− Vermögenspreise (realer Preisindex für Gewerbe- und Wohnimmobilien)

1984-2006, Kanada, USA, Japan

− Da es für einzelne Industrieländer, die keine oder nur wenige Finanzkrisen erfahren haben, schwierig ist, ver-schiedene vorauslaufende Indikatoren zu testen, versucht die Studie dieses Problem zu umgehen, indem ein Index für finanziellen Stress (FSI) – entwickelt von (Illing und Liu, 2006) – verwendet wird.

− Hauptuntersuchungsgegenstand ist Kanada, während für Robustheitstests Japan und die US verwendet werden.

− Im Rahmen eines linearen Modells ist Kreditwachstum der beste Prädiktor für den finanziellen Stess-Index (FSI).

− In einem nicht-linearen Modell sind Vermögenspreise tendenziell ein bes-serer Prädiktor.

− Für einen zweijährigen Prognosehori-zont sind Unternehmenskredite sowie reale Preisindizes für Gewerbe- und Wohnimmobilien wichtige Prädiktoren für finanziellen Stress.

− Diese Resultate gelten ebenso für Vorhersagen außerhalb der Stichprobe.

(Rose und Spiegel, 2009)

− Ökonometrische Multiple-Indikatoren – Multiple-Ursachen (MIMIC) Modelle

− Veränderung der Aktienmarkt-kapitalisierung/BIP

− Leistungsbilanz/BIP − kurzfristige

Verschuldung/ Wäh-rungsreserven

− inländische Bank-kredite/BIP

− Forderungen von Banken/Einlagen

2008, 107 Länder

− Die Studie ist in der Lage die Schwere von Krisen für Länder zu modellieren, vermag aber nicht, empirisch eine Ver-knüpfung zwischen länderspezifischen Ursachen und der Schwere einer Krise herzustellen.

− Zu diesen generell schwachen Ergeb-nissen gibt es einige wenige Ausnah-men:

− Für Länder, deren Wertpapiermarkt (gemessen in Relation zum BIP) zwi-schen 2003 und 2006 stark zugelegt hatte, bestand eine größere Wahr-scheinlichkeit von der Krise im Jahr 2008 getroffen zu werden.

− Länder mit größeren Leistungsbilanz-defiziten und geringeren Währungsre-serven waren ebenfalls verwundbarer.

− Schwächere Hinweise gibt es dafür, dass Länder mit hohem Kredit-Wachstum und einem höher verschul-deten Bankensektor ebenfalls die Krise schwerer erleben.

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Nachhaltigkeit 157

CAE / SVR - Expertise 2010

Tabelle A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen

Studie Methodik Signifikante and robuste Indikatoren

Stichproben-umfang

Kernergebnisse

(Schularick und Taylor, 2009)

− probabilistische OLS- und Logit- Modelle

− reale aggregierte Bankdarlehen

1870-2008, 12 Industrie-länder

− Kredit-Wachstum (reale aggregierte Bankdarlehen; zeitverzögert) sind signi-fikante Prädiktoren für Finanzkrisen.

− Das Modell behielt selbst außerhalb der Stichprobe einen signifikanten In-formationsgehalt (auf einem 5 vH Signi-fikanzniveau).

− Nachteil: Definitionen von Kredit-, Geld- und Bankinstituten variieren zwischen den Ländern, was einen Länderver-gleich erschwert.

(Davis und Karim, 2008a)

− Krisenvorhersa-ge mittels Indi-katoren und Schwellenwer-ten

− zusammenge-setzter Index

− multivariate Logit-Modelle

− reales BIP-Wachstum

− Realzins − reales BIP pro Kopf − Veränderung der

Terms-of-Trade − öffentlicher Finan-

zierungssaldo/BIP − M2/Währungs-

reserven − private Kredite/BIP − Kredit-Wachstum − Einlagensicherungs-

systeme

1979-2003, 105 Länder

− Im Basismodell werden reales BIP-Wachstum, Realzinsen, reales BIP pro Kopf sowie Veränderungen der Terms-of-Trade konsistent und signifikant mit Krisen assoziiert.

− Verschiedene Transformationen der unabhängigen Variablen (Standardisie-rung, Zeitverzögerung, Interaktionster-me) verbessern das Modell und weitere Variablen werden signifikant: öffentli-cher Finanzierungssaldo/BIP, M2/Währungsreserven, private Kredi-te/BIP, Kredit-Wachstum und Einlagen-sicherungssysteme.

− Kombinationen von Variablen zu einem zusammengesetzten Indikator erhöhen die Fähigkeit Krisen vorherzusagen.

− Ergebnisse außerhalb der Stichprobe zeigen, dass das Modell wertvolle In-formationen für die Politik liefern kann.

(Davis und Karim, 2008b)

− multivariate Logit-Modelle

− binär-rekursiver Baum (BRT) Ansatz

Logit-Indikatoren: − reales BIP-

Wachstum − Terms-of-Trade − reales BIP pro Kopf − M2/Währungs-

reserven

BRT-Indikatoren: − reales inländisches

Kredit-Wachstum − Realzins − nominaler

Wechselkurs − Inflation

1979-2007, 7 OECD-Länder und 65 Schwellen-länder

− Die Studie verwendet zwei Ansätze für die Vorhersage von Bankenkrisen (au-ßerhalb der Stichprobe):

− Das Logit-Modell ermittelt reales BIP-Wachstum, Terms-of-Trade, reales BIP pro Kopf sowie M2/Währungsreserven als signifikante Indikatoren von Ban-kenkrisen.

− Das BRT-Modell identifiziert Indikato-ren für Bankenkrisen in der folgenden Reihenfolge (entsprechend ihrer statis-tischen Bedeutung): reales inländi-sches Kredit-Wachstum, Realzinsen, nominaler Wechselkurs und Inflation.

(Duttagupta und Cashin, 2008)

− binär-rekursiver Baum (BRT) Ansatz

− nominaler Wechselkurs

− Zinsdifferenz − Inflation − ausländische

Depositen/ Währungsreserven

− private Kredite/ Einlagen

1990-2005, 50 Schwellen- und Entwick-lungsländer

− Das BRT-Modell identifiziert fünf Vari-ablen als wichtige Determinanten von Bankenkrisen: nominale Abwertung, Profitabilität von Banken (Zinsdiffe-renz), Inflation, Dollarisieriung der Ver-schuldung (ausländische Deposi-ten/Währungsreserven), Liquidität der Banken (private Kredite/Einlagen).

− Es identifiziert ebenso drei Bedingun-gen für Krisenanfälligkeit:

− Makroökonomische Instabilität: hohe jährliche Inflation kombiniert mit relativ geringem Terms-of-Trade-Wachstum.

− Geringe Profitabilität der Banken: geringe Zinsprofitabilität (Differenz zwi-schen Kredit- und Einlagenzins) in Ver-bindung mit einem moderaten Export-wachstum.

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158 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Tabelle A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen

Studie Methodik Signifikante and robuste Indikatoren

Stichproben-umfang

Kernergebnisse

− Hohe Wechselkursrisiken: hohe Doll-arisierung der Verschuldung (ausländi-sche Depositen/Währungsreserven) kombiniert mit entweder (i) einer relativ hohen Abwertung oder (ii) einer gerin-gen Liquidität der Banken (private Kre-dite/Einlagen)

(Hanschel und Mon-nin, 2005)

− multivariate Modelle

− BIP − Europäisches BIP − Vermögenspreise

(Aktienkurse und Hauspreise)

− private Kredite/BIP − Investitionen/BIP

1987-2002, Schweiz

− Abhängige Variable ist ein Stress-Index, der die Verfassung des Banken-sektors repräsentiert.

− Unabhängige Variablen werden als Abweichung vom Trend dargestellt.

− Das Modell ist in der Lage, die größe-ren Stressperioden vorherzusagen und liefert selbst für Vorhersagen außerhalb der Stichprobe gute Ergebnisse.

− Drei Variablen erweisen sich als robust: Aktienkurse, Hauspreise sowie private Kredite/BIP.

− Der Prognosehorizont einzelner Indika-toren kann bis zu fünf Jahren betragen.

(Noy, 2004) − multivariate Probit-Modelle

− inländische Finanz-marktliberalisierung

− Inflationsrate − M2/Währungs-

reserven − BIP pro Kopf-

Wachstum − ausländischer

Zinssatz − reale Wechselkurse

1975-1997, 61 Länder (Nicht-OECD)

− Ein Anstieg der Inflationsrate, ein Anstieg von M2/Währungsreserven, ein Rückgang des BIP-Wachstums, eine reale Abwertung sowie ein Rückgang der ausländischen Zinsen erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Bankenkrise.

− Daneben ist die Finanzmarktliberalisie-rung ein signifikanter Indikator für Ban-kenkrisen.

(Borio und Lowe, 2002a)

− Krisenvorhersa-ge mittels Indi-katoren und Schwellenwer-ten

− zusammenge-setzter Index

− reale Vermögens-preise (reale Immo-bilienpreise)

− private Kredite/BIP − Investitionen

1960-1999, 34 Schwellen- und Industrie-länder (inklu-sive G10)

− Nachhaltig rapides Kredit-Wachstum in Verbindung mit großen Anstiegen der Vermögenspreise erhöht die Wahr-scheinlichkeit für finanzielle Instabilität. Investitionen als zusätzliche Variable verbessern das Modell nicht signifikant.

− Ausschlag gebend ist die Kombination von Indikatoren, nicht die Einzelindika-toren. D.h. von Bedeutung sind insbe-sondere die Interaktionen zwischen verschiedenen Ungleichgewichten.

− Die relevante Frage ist nicht, ob für eine Vermögensklasse eine „Blase“ existiert, sondern vielmehr, welche Kombination von finanz- und realwirt-schaftlichen Ereignissen das Risiko im Finanzsystem substanziell erhöht.

(Borio und Lowe, 2002b)

− Krisenvorhersa-ge mittels Indi-katoren und Schwellenwer-ten

− zusammenge-setzter Index

− reale Vermögens-preise (reale Immo-bilienpreise)

− private Kredite/BIP − realer effektiver

Wechselkurs

1960-1999, 34 Schwellen- und Industrie-länder

− Kredite, Aktien- und Wechselkurse besitzen einen gemeinsamen Informa-tionswert (bei der Betrachtung aller Länder der Stichprobe).

− Bei Industrieländern erhöht die Einbin-dung von Wechselkursen die Vorher-sagekraft nicht maßgeblich.

− Bei Schwellenländern liefern Wechsel-kurse zusätzlichen Informationswert.

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Nachhaltigkeit 159

CAE / SVR - Expertise 2010

Tabelle A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen

Studie Methodik Signifikante and robuste Indikatoren

Stichproben-umfang

Kernergebnisse

(Ei-chengreen und Arteta, 2000)

− multivariate Probit-Modelle

− inländisches Kredit-wachstum

− M2/Währungs-reserven

− Finanzierungssal-do/BNP

− Leistungsbilanz/BIP

1975-1997, 75 Schwellen-länder

− Ein Boom inländischer Kredite ist eng mit Bankenkrisen verknüpft.

− Geringe Währungsreserven (approxi-miert durch M2) sind ein weiteres Sym-ptom für rapides Kredit-Wachstum, das den Ausgangspunkt für eine Krise lie-fert.

− Budget-Überschüsse werden eher mit Bankenkrisen assoziiert als Defizite.

− Leistungsbilanz/BIP ist in vielen Reg-ressionen signifikant.

(Kaminsky, 2000)

− Signalansatz mit zusammen-gesetzten vor-laufenden Indi-katoren

− M2-Multiplikator − inländische

Kredite/BIP − Finanzmarkt-

liberalisierung − M1-Überschuss − Exporte − Terms-of-Trade − realer Wechselkurs − Währungsreserven − M2/Währungs-

reserven − reale Zinsdifferenz − realer Weltzinssatz − Auslandsschulden − Kapitalflucht − kurzfristige Aus-

landsschulden − Produktion − realer inländischer

Zinssatz − Aktienkurse

1970-1995, 20 Länder

− Hier werden nur vorlaufende Indikato-ren aufgeführt, die ein Noise-to-Signal-Ratio (NSR) von weniger als 1,0 auf-weisen.

− Aus den einzelnen vorlaufenden Indika-toren werden verschiedene zusam-mengesetzte Indikatoren konstruiert, um die Wahrscheinlichkeit von heran-nahenden Krisen zu schätzen.

− Entsprechend der zusammengesetzten Indikatoren steigt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit von Problemen im Bankensektor von 8 vH in ruhigen Pha-sen auf 17 vH in angespannten Pha-sen.

− Insgesamt ist festzustellen, dass zu-sammengesetzte Indikatoren eine hö-here Vorhersagekraft besitzen als der beste Einzelindikator, nämlich der reale Wechselkurs.

(Demirgüc-Kunt und Detragia-che, 1999)

− multivariate Logit-Modelle

− reales BIP-Wacshtum

− Realzins − Inflation − M2/Währungs-

reserven − Kreditwachstum

1980-1995, 65 Ent-wicklungs- und Industrieländer

− Die Studie ist eng mit vorherigen Arbei-ten von Demirgüc-Kunt und Detragia-che verbunden, zielt aber auf ein „schlüsselfertiges“ Modell für Entschei-dungsträger ab.

− Geringes BIP-Wachstum, hohe Real-zinsen, hohe Inflation, starkes Kredit-Wachstum in der Vergangenheit und ein hoher Anteil von M2 an Währungs-reserven erhöhen die Wahrscheinlich-keit einer Bankenkrise.

(Gonzalez-Hermosillo, 1999)

− multivariate Logit-Modelle

− notleidende Darlehen/Gesamt-vermögen

− Kapital/Gesamt-vermögen

− Gewerbe- und Industriedarlehen/ Gesamtvermögen

− Landwirtschaftsdar-lehen/Gesamt-vermögen

− Baukredite sowie mit Mehrfamilien-immobilien, Nicht-wohngebäuden und Bauernhöfen besi-cherte Darlehen/ Gesamtvermögen

1980-1995, US Südwest, US Nordost, Kalifornien, Mexiko, Ko-lumbien

− Ein hoher Anteil an notleidenden Dar-lehen in Relation zum Gesamtvermö-gen sowie ein geringer Kapitalanteil am Gesamtvermögen erhöhen die Wahr-scheinlichkeit für Notlagen und Zu-sammenbrüche von Banken.

− Proxies für Marktrisiken (Gewerbe- und Industriedarlehen, Landwirtschaftsdar-lehen, Baukredite sowie mit Mehrfami-lienimmobilien, Nichtwohngebäuden und Bauernhöfen besicherte Darlehen, mit Wohnimmobilien besicherte Darle-hen, Wohnungsbaukredite, Konsumen-tenkredite, unverbriefte Darlehen) so-wie Liquiditätsrisiken (Großeinlagen, Publikumseinlagen, Fed-Kredite und andere Kreditmittel, Einlagen anderer Banken, Investmentpapiere, Zinsauf-wendungen) sind generell wichtige De-

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160 Nachhaltigkeit

CAE / SVR - Expertise 2010

Tabelle A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen

Studie Methodik Signifikante and robuste Indikatoren

Stichproben-umfang

Kernergebnisse

− mit Wohnimmobilien besicherte Darle-hen/Gesamt-vermgöen

− Wohnungsbau-kredite/Gesamt-vermögen

− Konsumenten-kredite/Gesamt-vermögen

− unverbriefte Darlehen/Gesamt-vermögen

− Großeinlagen/ Gesamtvermögen

− Publikumseinlagen/ Gesamtvermögen

terminanten für Notlagen und Zusam-menbrüche von Banken.

− Fed-Kredite und andere Kreditmittel/ Gesamtvermögen

− Einlagen anderer Banken/Gesamt-vermögen

− Investmentpapiere/ Gesamtvermögen

− Zinsaufwendungen/ Gesamteinlagen

(Kaminsky und Rein-hart, 1999)

− Signalansatz − M2-Multiplikator − Inlandskredite/BIP − Realzins − M2/Währungs-

reserven − Exporte − realer Wechselkurs − Importe − Währungsreserven − Realzinsdifferenz − Produktion − Aktienkurse

1970-1995, 20 Ent-wicklungs- und Industrieländer

− Hier werden nur Indikatoren aufgelistet, die (i) wenigstens 50 vH der Krisen ak-kurat vorhergesagt haben und (ii) ein Noise-to-Signal-Ratio (NSR) von weni-ger als 1,0 aufweisen.

− Der Prognosehorizont ist 12 Monate. − Jeder der folgenden Indikatoren signa-

lisierte mehr als 80 vH der Krisen: Re-alzinsen, Exporte, Währungsreserven, Realzinsdifferenz, Produktion sowie Aktienkurse.

− Jeder der folgenden Indikatoren besitzt ein NSR von 50 vH oder weniger: M2-Multiplikator, Realzinsen, Importe, Pro-duktion und Aktienkurse.

− Folgende allgemeine Schlussfolgerun-gen können gezogen werden:

− Bankenkrisen gehen Rezessionen oder wenigstens geringe Wachstumsraten voraus.

− Die finanzielle Verwundbarkeit einer Volkswirtschaft nimmt zu, wenn die un-besicherten Verbindlichkeiten im Ban-kensystem stark ansteigen.

− Krisen geht typischer Weise eine Viel-zahl von schwachen und sich ver-schlechternden wirtschaftlichen Fun-damentaldaten voraus.

(Hardy und Pazarbasi-oglu, 1998)

− multivariate Logit-Modelle

− Kapital/Produktion − Inflation − Realzins − realer effektiver

Wechselkurs − Brutto-Auslands-

verbindlichkeiten/ BIP

− Terms-of-Trade

1980-1997, 38 Länder

− Die besten Warnhinweise geben Pro-xies für die Verwundbarkeit des Ban-ken- und Unternehmenssektors, wie etwa Kredit-Wachstum und steigende Auslandsverbindlichkeiten.

− Kapital/Produktion ist nicht signifikant, aber die Einbindung dieser Variablen verbessert die Vorhersagekraft.

− Ein Anstieg gefolgt von einem scharfen Abfall der Inflation scheint einer der zu-

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Tabelle A1: Empirische Literatur zu Frühwarnsystemen für Bankenkrisen

Studie Methodik Signifikante and robuste Indikatoren

Stichproben-umfang

Kernergebnisse

verlässigsten vorlaufenden Indikatoren für Probleme im Bankensektor zu sein.

− Realzinsen steigen im Krisenjahr typi-scher Weise an; sie beginnen ihren Anstieg bereits in den Jahren davor.

− Bankenkrisen werden mit einer schar-fen Abwertung der realen effektiven Wechselkurse assoziiert. Allerdings geht einer Krise eine Aufwertung der realen effektiven Wechselkurse voraus.

− Brutto-Auslandsverbindlichkeiten in Relation zum BIP sind signifikant und tragen zur Vorhersagekraft des Modells bei.

− Ein signifikantes Ergebnis ist, dass ein Rückgang der Terms-of-Trade einer Krisensituation vorausgeht.

− Die Berücksichtigung von regionalen Variablen erhöht die Vorhersagekraft des Modells.

− Etwa ein Drittel der Krisen können nur mit vorlaufenden Indikatoren vorherge-sagt werden.

(Demirgüc-Kunt und Detragia-che, 1997)

− multivariate Logit-Modelle

− reales BIP-Wachstum

− Inflation − Realzins − M2/Währungs-

reserven − private Inlands-

kredite/BIP − reales Wachstum

der Inlandskredite − Einlagensicherungs-

systeme − Law & Order-Index

1980-1994, 65 Ent-wicklungs- und Industrieländer

− Krisen brechen tendenziell in einem schwachen makroökonomischen Um-feld aus, das durch geringes BIP-Wachstum und hohe Inflation charakte-risiert ist. BIP-Wachstum verliert aller-dings an Signifikanz, wenn es um eine Periode verzögert wird.

− Hohe Realzinsen werden klar mit systemischen Problemen im Banken-sektor verknüpft.

− Es gibt Hinweise darauf, dass die Verwundbarkeit durch Zahlungsbilanz-krisen eine Rolle spielte: die Tests indi-zieren, dass die Verwundbarkeit ge-genüber plötzlichen Kapitalabflüssen, einem hohen Anteil an privaten Kredi-ten (weniger robust) und in der Ver-gangenheit hohem Kreditwachstum (weniger robust) mit einer hohen Kri-senwahrscheinlichkeit verknüpft sind.

− Insbesondere Länder mit expliziten Einlagensicherungssystemen waren Risiken ausgesetzt; dies gilt ebenso für Länder mit einem schwachen Geset-zesvollzug.

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