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Christoph Michel und Albert Newen WITTGENSTEIN ÜBER SELBSTWISSEN: VERDIENSTE UND GRENZEN SEINER SPRACHSPIELEPISTEMOLOGIE 0 EINLEITUNG:S ELBSTWISSEN UND S ELBSTZUSCHREIBUNG Zur Phänomeneinordnung für eine Betrachtung von Selbstwissen gehen wir von Selbstzuschreibungen aus: Eine Selbstzuschreibung wird mit Sät- zen der Form „F (ich)“ ausgedrückt, wobei „F“ ein beliebiges Prädikat ist. Selbstzuschreibungen schließen somit sowohl physische als auch menta- le Prädikate ein. Im Zentrum der philosophischen Diskussion stehen die Selbstzuschreibungen mentaler Prädikate und dabei insbesondere die Selbstzuschreibungen von Überzeugungen. Die Selbstzuschreibungen sind dabei stets wesentlich indexikalische, d.h. sie haben die Form „Ich glaube, dass ich F“, die einer Person S auch durch die Form „S glaubt, dass sie selbst F“ zugeschrieben werden kann. Es handelt sich somit um Zuschrei- bungen von Erste-Person-Überzeugungen von sich selbst im Gegensatz zu Überzeugungen von sich selbst, die mit Hilfe von koreferentiellen Kenn- zeichnungen oder Eigennamen ausgedrückt werden können (Perry 1979, Newen 1996). Eine solche Selbstzuschreibung drückt eine selbstbezügli- che Überzeugung aus. Wissen liegt dann vor, wenn ein kognitives System eine wahre Überzeugung hat, die informationsbasiert ist. 1 Ein kognitives System S verfügt genau dann über Selbstwissen in Bezug auf ein menta- les Phänomen M, wenn S weiß, dass es selbst M hat, d.h. wenn S eine wahre selbstbezügliche Überzeugung in Bezug auf M hat. Bei sprachkom- petenten Personen kann dieses Wissen mit Selbstzuschreibungen der Form „Ich weiß, dass ich M habe“ explizit zum Ausdruck gebracht werden. Es sind in der Hauptsache zwei Grundmerkmale, die Selbstwissen zu einem epistemologischen Spezialfall und damit zu einem philosophischen 1 Die übliche Forderung der Rechtfertigung wird dahingehend verallgemeinert, dass wir lediglich verlangen, dass eine Überzeugung informationsbasiert ist. Wir werden sehen, dass dies wichtig ist, um den Wissensbegriff im Fall von selbstbezüglichen Überzeugungen über die eigenen mentalen Zustände anwenden zu können, denn solche selbstbezüglichen Überzeugungen sind informationsbasiert, auch wenn die Informationen nicht die Rolle von Gründen bzw. Kriterien einnehmen.

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Page 1: WITTGENSTEIN ÜBER SELBSTWISSEN: VERDIENSTE UND … · zeichnungen oder Eigennamen ausgedrückt werden können (Perry 1979, Newen 1996). Eine solche Selbstzuschreibung drückt eine

Christoph Michel und Albert Newen

WITTGENSTEIN ÜBER SELBSTWISSEN:VERDIENSTE UND GRENZEN SEINER

SPRACHSPIELEPISTEMOLOGIE

0 EINLEITUNG: SELBSTWISSEN UND SELBSTZUSCHREIBUNG

Zur Phänomeneinordnung für eine Betrachtung von Selbstwissen gehenwir von Selbstzuschreibungen aus: Eine Selbstzuschreibung wird mit Sät-zen der Form „F (ich)“ ausgedrückt, wobei „F“ ein beliebiges Prädikat ist.Selbstzuschreibungen schließen somit sowohl physische als auch menta-le Prädikate ein. Im Zentrum der philosophischen Diskussion stehen dieSelbstzuschreibungen mentaler Prädikate und dabei insbesondere dieSelbstzuschreibungen von Überzeugungen. Die Selbstzuschreibungen sinddabei stets wesentlich indexikalische, d.h. sie haben die Form „Ich glaube,dass ich F“, die einer Person S auch durch die Form „S glaubt, dass sieselbst F“ zugeschrieben werden kann. Es handelt sich somit um Zuschrei-bungen von Erste-Person-Überzeugungen von sich selbst im Gegensatz zuÜberzeugungen von sich selbst, die mit Hilfe von koreferentiellen Kenn-zeichnungen oder Eigennamen ausgedrückt werden können (Perry 1979,Newen 1996). Eine solche Selbstzuschreibung drückt eine selbstbezügli-che Überzeugung aus. Wissen liegt dann vor, wenn ein kognitives Systemeine wahre Überzeugung hat, die informationsbasiert ist.1 Ein kognitivesSystem S verfügt genau dann über Selbstwissen in Bezug auf ein menta-les Phänomen M, wenn S weiß, dass es selbst M hat, d.h. wenn S einewahre selbstbezügliche Überzeugung in Bezug auf M hat. Bei sprachkom-petenten Personen kann dieses Wissen mit Selbstzuschreibungen der Form„Ich weiß, dass ich M habe“ explizit zum Ausdruck gebracht werden.

Es sind in der Hauptsache zwei Grundmerkmale, die Selbstwissen zueinem epistemologischen Spezialfall und damit zu einem philosophischen

1Die übliche Forderung der Rechtfertigung wird dahingehend verallgemeinert, dass wirlediglich verlangen, dass eine Überzeugung informationsbasiert ist. Wir werden sehen, dassdies wichtig ist, um den Wissensbegriff im Fall von selbstbezüglichen Überzeugungenüber die eigenen mentalen Zustände anwenden zu können, denn solche selbstbezüglichenÜberzeugungen sind informationsbasiert, auch wenn die Informationen nicht die Rolle vonGründen bzw. Kriterien einnehmen.

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Thema machen. Die Tatsache der epistemischen Asymmetrie besteht darin,dass der Selbstzuschreiber in einigen Fällen mentalen Selbstwissens übereine spezifische Zugangsform verfügt, die sich von der drittpersonalen Zu-gangsperspektive unterscheidet, und ihm seine Selbstkenntnis vielfach alsnicht-inferentiell, grundlos und unbezweifelbar erscheint. Die Fähigkeit,korrekte Selbstzuschreibungen2 zu produzieren beruht also offenbar in eini-gen Fällen auf einer spezifisch erstpersonalen informationellen Grundlage.

Dem steht das Faktum der Autorität der ersten Person zur Seite: Selbst-zuschreibungen werden in der Sprachgemeinschaft als Ausdruck einerhochgradig verlässlichen Wissensform behandelt, was sich in einem signi-fikanten epistemischen Kredit ausdrückt: Selbstzuschreibungen werden inder Regel nicht korrigiert und bezüglich der Einschätzung seiner eigenenmentalen Zustände hat der Sprecher das letzte Wort. Epistemische Asym-metrie und Autorität der ersten Person konvergieren in der Alltagsintuition,dass ein Subjekt auch über ein Privileg bezüglich der Einschätzung seinereigenen mentalen Phänomene (Wahrnehmungen, Emotionen, Gedanken)verfügt. Zu den Voraussetzungen einer Theorie des Selbstwissens gehörtes, neben der Klärung unserer philosophischen Intuitionen, Selbstwissenals epistemisches Phänomen auf der einen, und die besonderen Merkmaleder sozialen Praxis mentaler Selbstzuschreibung auf der anderen Seite alsunterschiedene, aber gleichwohl wesentlich aufeinander bezogene Phäno-mene zu begreifen. Die Selbstwissenstheorie hat infolge dieser Unterschei-dung das Verhältnis zwischen epistemischer Asymmetrie und Autorität derersten Person zu beschreiben.

Der mysteriöse Zug des Selbstwissens tritt am deutlichsten zutage, wennman die Gründe und Konsequenzen für die von Ludwig Wittgenstein ange-merkte Sprachspiel-Sinnlosigkeit einer Frage der Form „Woher weißt du,dass du glaubst, dass p?“ betrachtet. In unserem Sprachspiel zeigt sich, dasswir in unseren Selbstzuschreibungen als gerechtfertigt gelten, gleichzei-tig erscheint die Forderung nach epistemischer Rechenschaft im konkretenFall unverständlich. Die ‚Woher-Frage‘ gilt nicht als sinnvoller Zug unseresSprachspiels. Selbstwissen scheint somit ein einzigartiges Wissen zu sein— das einzige, mit dem man sich jederzeit vor jede nur denkbare Prüfungs-kommission wagen darf. Ganz anders sieht es bezüglich der ‚Woher-Frage‘für eine allgemeine Theorie des Selbstwissens aus, denn ihre Aufgabe istgerade die Lösung der Frage nach der Quelle und der Natur unseres erstper-sonalen Wissens. Ihr sollte es gelingen zu klären, was den Wissenscharak-

2Bei Selbstzuschreibungen sind im Folgenden stets Selbstzuschreibungen von mentalenPhänomenen gemeint.

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ter von Selbstwissen konstituiert und in welcher Form und unter welchenBedingungen von einer erstpersonalen und darüber hinaus privilegiertenZugänglichkeit bestimmter mentaler Zustände zu sprechen ist.

Wittgensteins Ausführungen zu diesem Thema richten sich vor allem ge-gen die sog. ‚cartesianische‘ Konzeption einer unfehlbaren Wissensrelationzu privaten transparenten Objekten.3 Es soll dargelegt werden, dass seineSprachspielanalysen eine wichtige ‚grammatische‘ Korrektur unserer car-tesianischen Intuitionen mit sich bringen und gleichzeitig den Boden fürein neues Verständnis der Unterscheidung von Selbstwissen und Selbst-zuschreibung bereiten, auch wenn Wittgenstein selbst letztlich nur die Ei-genschaften von Selbstzuschreibungen analysiert. Aus der cartesianischenSichtweise stellen die Sprachspieleigenschaften von Selbstzuschreibungenbloß einen Spiegel fundamentaler epistemischer Gegebenheiten dar. Eben-so soll deutlich werden, dass man das Phänomen des Selbstwissens ver-fehlt, wenn man im Gegenzug die Autonomie des Sprachspiels menta-ler Zuschreibungen überbewertet und ins Extrem eines Sprachspielfunda-mentalismus verfällt sowie Selbstwissen den Wissenscharakter letztlich ab-spricht. Beide Extrempositionen erscheinen als einseitige Fehlinterpreta-tion des Verhältnisses zwischen Selbstwissen und Selbstzuschreibungen.Dagegen soll in einer kritischen Betrachtung klar die Unterscheidung vonSelbstwissen und Selbstzuschreibungen herausgestellt und die Beziehungder beiden Phänomene erläutert werden, um so die Kenntnis unserer eige-nen mentalen Phänomene als Wissen verständlich zu machen.

1 ALLTAGSINTUITIONEN, DIE CARTESIANISCHEN THESEN

UND DAS SPRACHSPIEL

Der traditionellen neuzeitlichen Philosophie des Geistes galten, vereinfachtgesprochen, mentale Zustände per se als bewusst und hatten als transpa-rente und infallibel identifizierbare private Objekte den epistemischen Sta-tus von Bewusstseinsgegebenheiten. Überzeugungen über unsere aktuellengeistigen Zustände haben nun in der Tat den Anschein besonderer epistemi-scher Gediegenheit, scheinen doch Fälle von Überzeugungen vorzuliegen,die allein dadurch wahr sind, dass wir sie haben. Der bloße Glaube, dass ichmich in einem mentalen Zustand M befinde, scheint sein Gerechtfertigtsein

3Siehe z.B. Wright (1998).

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und seine Wahrheit zu implizieren. Das oft als „cartesianisch“ etikettierteBild mentalen Selbstwissens trägt im Wesentlichen folgende Züge4:

– Infallibilität: Wenn ein Subjekt S glaubt, sich in einem mentalen Zu-stand M zu befinden, dann befindet es sich tatsächlich in M und istbezüglich seiner Überzeugung auch gerechtfertigt, d.h. es kann sichdarüber nicht täuschen.

– Transparenz: Wenn ein Subjekt S sich im mentalen Zustand M befin-det, dann glaubt S auch, sich in M zu befinden.

– Normative Unbezweifelbarkeit und Unkorrigierbarkeit: Die von Sdurch eine aufrichtige Selbstzuschreibung ausgedrückte Überzeu-gung, dass S sich in M befindet, kann nie gerechtfertigterweise be-zweifelt bzw. korrigiert werden.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Grundlage dieser starken phi-losophischen Thesen letztlich Überinterpretationen unseres Selbstzuschrei-bungssprachspiels sind. Aus cartesianischer Sicht besteht die epistemischeAsymmetrie in einem mysteriösen einzigartigen Zugang, der uns die irr-tumsfreie Identifikation privater innerer Objekte erlaubt. In diesem carte-sianischen Bild von Selbstwissen bildet die Autorität der ersten Personlediglich ein Korollar der privilegierten epistemischen Relation bzw. derspeziellen Natur innerer Objekte. Die Eigenschaften der normativen Unbe-zweifelbarkeit und Unkorrigierbarkeit verweisen hier also nur scheinbar aufeine intersubjektive Facette des Selbstwissens, denn sie folgen bereits ausden stärkeren Thesen der Infallibilität und Transparenz. Die wechselseitigeImplikation des Habens von M und des Wissens, sich in M zu befinden,begründet allein und rechtfertigt vollständig die Autorität von Selbstzu-schreibungen. Die epistemische Asymmetrie als exklusive und privilegier-te Erfahrung begründet die Autorität der ersten Person und ist gleichzeitigdas Fundament der sogenannten semantischen Asymmetrie mentaler Prä-dikate: Die Bedeutung mentaler Prädikate wird für jede Person durch ihreprivilegierten privaten Erfahrungen festgelegt, so dass jede Person eine ei-gene private Bedeutung mit einem mentalen Prädikat verbindet. Wenn dasPrädikat darüber hinaus eine öffentliche Bedeutung hat, dann ist diese ver-schieden von der privaten Bedeutung.5 Wittgensteins besonderes Verdienst

4Die exakten Standarddefinitionen dieser Eigenschaften finden sich bei Alston (1971),S. 229.

5In einer Version gehört zu dieser Auffassung von mentalen Prädikaten eine Trennung ineine private Sprache der geistigen Phänomene und eine öffentliche Sprache der körperlichen

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besteht darin, die Idee einer privaten Sprache, wie sie dem cartesianischenAnsatz zugrunde liegt, ad absurdum geführt zu haben. Gegen die seman-tische Asymmetrie mentaler Prädikate etabliert er gerade die semantischeSymmetrie: Das Prädikat „Schmerzen haben“ hat in „Ich habe Schmerzen“dieselbe Bedeutung wie in „Er hat Schmerzen“. Mit dieser Sprachspiel-beobachtung wird das cartesianische Bild Schritt für Schritt ins Wankengebracht.

2 DIE SPRACHSPIELBEOBACHTUNGEN

Zunächst eine Vorbemerkung zum Status der Sprachspielanalysen: Witt-gensteins zentrales methodisches Ziel ist es, eine Übersichtlichkeit überdie Grammatik mentaler Prädikate und mentaler Selbstzuschreibungen her-zustellen. Via Sprachspielvergleich legt Wittgenstein grammatische Unter-schiede dar und weist damit zugleich auf Überinterpretationen der Sprach-spielepistemologie des Selbstwissens hin. So blockiert er den Übergang zueiner cartesianischen Theorie über die Natur und die Zugänglichkeit desMentalen. Mit diesem Zug werden bei Wittgenstein philosophische The-sen zur Epistemologie des Selbstwissens zunächst einmal auf die Alltags-grammatik unserer psychologischen Sprachspiele zurückgesetzt, um Klar-heit über den angemessenen Ausgangspunkt der Betrachtung von Selbst-wissen zu schaffen. In Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“findet sich eine Reihe von Bemerkungen zum Thema Selbstwissen, diezwar insgesamt keine systematische Theorie ergeben, wohl aber als pro-duktive Sprachspielbeobachtungen gelten können. Sie bilden die Basis fürdie Kritik und Neubewertung der cartesianischen Intuitionen. Wittgensteinvertritt jedoch keine konstruktive philosophische Gegentheorie zum Carte-sianismus. Crispin Wright (1998) dagegen geht davon aus, dass Wittgen-stein die konstruktive Position des „Default View“ zuzuschreiben ist, diewir später diskutieren werden. Uns scheint Wittgensteins Beitrag zunächstam fruchtbarsten als Klärung unserer alltagspsychologischen Intuitionen zuSelbstwissen beschrieben. Unsere Alltagsintuitionen sind es, die aufgrundmangelnder grammatischer Transparenz überhaupt in ein cartesianischesBild des Mentalen führen können. Die ‚grammatische‘ Aufklärung dieserIntuitionen ist hinreichend, um diesen Übergang zu blockieren. Die über

Phänomene. Für den radikalen Empiristen à la David Hume gilt die Bedeutungsfestlegungdurch private Erfahrungen aber nicht nur für mentale Prädikate, sondern ganz generell. Ge-gen beide Thesen, die zumindest eine Privatsprache des Mentalen einschließen, steht imKern die Wittgensteinsche Beobachtung der Symmetrie der Bedeutung mentaler Prädikate.

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eine grammatische Analyse hinausführenden Schritte einer substantiellenTheorie des Selbstwissens liegen nicht im Fokus der Sprachspielanalyse.Für sie sind bei Wittgenstein bestenfalls Ansätze zu finden. Wrights Inter-pretation names „Default View“ geht davon aus, dass Wittgensteins Auf-fassung erstens nicht nach einer Erklärung der Autorität der ersten Personsucht, und dass sie zweitens sogar mit jeder Theorie, die eine solche Erklä-rung liefert, unverträglich ist. Wenn ersteres auch richtig ist, so wird sichletzteres jedoch als nicht zutreffend erweisen (s. unten). Für eine fruchtbaresystematische Auseinandersetzung benötigen wir einen Theorienvergleichund werden entsprechend nicht nur Interpretationen, sondern auch syste-matische Rekonstruktionen der Wittgensteinschen Ausführungen berück-sichtigen und selbst einfließen lassen.

In der gebrauchsanalytischen Perspektive sind die epistemische Asym-metrie und die autoritative Rolle von Selbstzuschreibungen Klassenmerk-male mentaler Prädikate.6 Unser Sprachspiel weist in diesem Zusammen-hang vier wichtige Besonderheiten auf:

(1) Die Kriterienlosigkeit (Sprachspiel-Grundlosigkeit)7

Im Gegensatz zu anderen Personen, bin ich nicht auf Verhaltensbeobach-tungen angewiesen um zu wissen, in welchem mentalen Zustand ich michbefinde. Bestimmte mentale Selbstzuschreibungen erleben wir nicht als ab-geleitet oder begründet. Weder für das Prädikat noch für das Subjekt derSelbstzuschreibung benötigen wir Identifikationskriterien:

„Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andere siehat: was er sagt und tut. Für mich, wenn ich sie habe: garnichts.“ (PU §377)

„Worauf will ich hinaus? Darauf, daß es sehr verschiedene Kriterien der ›Identität‹der Person gibt.

Nun, welches ist es, das mich bestimmt, zu sagen, ›ich‹ habe Schmerzen? Garkeins.“ (PU §404)

6Welche Art Gegenstand etwas sei, so Wittgenstein, sage uns die Grammatik (PU §373):„Und welchen Grund haben wir hier, »E« die Bezeichnung einer Empfindung zu nennen?

Vielleicht die Art und Weise, wie dies Zeichen in diesem Sprachspiel verwendet wird.“ (PU§270)

7Kriterienlosigkeit und Grundlosigkeit werden hier synonym verwendet, wobei Grün-de bzw. Kriterien als öffentlich zugänglich aufgefasst werden. Wir werden die Eigenschaftder Kriterienlosigkeit (keine Kriterien zu haben, wobei Kriterien immer intersubjektiv zu-gänglich sind) unterscheiden von der Eigenschaft, keine Informationsbasis zu haben undargumentieren, dass Selbstwissen zwar kriterienlos, aber informationsbasiert ist.

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„Ich identifiziere meine Empfindung freilich nicht durch Kriterien, sondern ichgebrauche den gleichen Ausdruck.“ (PU §290)

Im Sprachspiel werden Selbstzuschreibungen ohne Angabe irgendwelcherGründe akzeptiert (‚sprachspiel-grundlos‘). Die Fragen „Woher weißt du,dass du glaubst, dass p?“, „Woher weißt du, dass du Schmerzen hast?“ sindsinnlos, d.h. nicht Teil des Sprachspiels. In einigen Fällen haben wir kei-ne Vorstellung davon, was sie bedeuten könnten. In welchem Zustand mansich befindet, scheint nichts zu sein, was man ‚herausfindet‘. Mit „heraus-finden“ ist gemeint: In welchem Zustand man sich befindet, das findet mannicht mit Hilfe von Kriterien heraus. Unter ‚Kriterien‘ versteht Wittgensteinstets öffentlich zugängliche Bewertungsstandards.

(2) Die subjektive Unbezweifelbarkeit

Sofern die Voraussetzung besteht, dass wir über mentale Begriffe verfügen,ist es sinnlos, an eigenen Selbstzuschreibungen zu zweifeln.

„Wenn er nun z.B. sagte: »O, ich weiß, was ›Schmerz‹ heißt, aber ob das Schmer-zen sind, was ich jetzt hier habe, das weiß ich nicht« - da würden wir bloß dieKöpfe schütteln und müßten seine Worte für eine seltsame Reaktion ansehen, mitder wir nichts anzufangen wissen. [. . . ] Jener Ausdruck des Zweifels gehört nichtzu dem Sprachspiel; [. . . ]“ (PU §288)

Diese subjektive Unbezweifelbarkeit hängt eng mit der Grundlosigkeit vonSelbstzuschreibungen zusammen sowie mit der Problematik eines unbe-gründeten Zweifels im Falle von Selbstzuschreibungen. Der Zweifel anFremdzuschreibungen bzw. Selbstzuschreibungen anderer Personen hinge-gen hat nichts Ungrammatisches. Die subjektive Unbezweifelbarkeit spie-gelt sich in folgender grammatischer Anomalie mentaler Prädikate:

„Man kann den eigenen Sinnen mißtrauen, aber nicht dem eigenen Glauben.Gäbe es ein Verbum mit der Bedeutung ›fälschlich glauben‹, so hätte das keine

sinnvolle erste Person im Indikativ Präsens. Siehs nicht als selbstverständlich an,sondern als etwas sehr Merkwürdiges, daß die Verben »glauben«, »wünschen«,»wollen« alle die grammatischen Formen aufweisen, die »schneiden«, »kauen«,»laufen« auch haben.“ (PU II, S. 514)

(3) Die Autorität der Ersten Person

Selbstzuschreibungen werden von anderen Sprechern als Ausdruck verläss-lichen Wissens behandelt und stehen nicht unter Zweifelsvorbehalt. All-tagssprachlich kommt dies auch durch die Wissensasymmetrie zum Aus-druck ‚Ich weiß, dass ich Schmerzen habe. Er kann es nur vermuten‘.

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(4) Die semantische Symmetrie mentaler Prädikate

Die Bedeutung mentaler Prädikate ist dieselbe, unabhängig davon, ob siein Äußerungen mit Erste-Person- oder Dritte-Person-Pronomina verbun-den werden. In der Äußerung „Ich habe Zahnschmerzen“ hat das Prädikat„Zahnschmerzen haben“ dieselbe Bedeutung wie in „Er hat Zahnschmer-zen“. Die semantische Symmetrie mentaler Prädikate ergibt sich aus Witt-gensteins radikaler Ablehnung einer privaten Sprache (PU §§243–315). DiePrivatsprachenargumentation basiert wiederum wesentlich auf der Annah-me, dass ein Ausdruck nur dann eine Bedeutung haben kann, wenn es öf-fentlich zugängliche Kriterien für seine korrekte Verwendung gibt. SolcheKriterien kann es jedoch für Ausdrücke einer Privatsprache nicht geben.Mentale Prädikate haben daher wie alle anderen sprachlichen Ausdrückeauch öffentlich zugängliche Kriterien für eine korrekte Anwendung unddiese legen die Bedeutung fest. Insofern ist es auch konsequent, dass men-tale Prädikate in allen Anwendungsfällen dieselbe Bedeutung haben.

Die ersten beiden Sprachspiele, die Kriterienlosigkeit und die subjekti-ve Unbezweifelbarkeit, konstituieren die epistemische Asymmetrie. Diesebeiden Merkmale schließen jedoch weder die Infallibilität noch die Trans-parenz des epistemischen Zugangs zu mentalen Phänomenen ein. Dass ei-ne Selbstzuschreibung nicht auf der Basis von Kriterien erfolgt, impliziertnicht einmal, dass sie privilegiert, geschweige denn, dass sie irrtumsfrei ist.Auch für die Transparenzthese ist aus den ersten beiden Sprachspielmerk-malen nichts herauszuziehen: Unbewusste mentale Zustände sind mit Witt-gensteins Sprachspielbeobachtungen voll vereinbar. Auch ist es mit seinenAuffassungen vereinbar, dass ich ein mentales Phänomen registriere, aberbegrifflich falsch klassifiziere und aufgrund meines Verhaltens durch an-dere belehrt werde, z.B. dass ich enttäuscht und nicht bloß ärgerlich bin.Weder die normative Unbezweifelbarkeit noch die Nichtkorrigierbarkeitgehören somit zum Kern der Sprachspielbeobachtungen. Vielmehr sind al-le cartesianischen Intuitionen aus Überinterpretationen erwachsen, die imFolgenden aufgezeigt werden sollen. Eine Herausforderung für den Um-gang mit den Sprachspielbeobachtungen besteht darin, wie die ersten dreiSprachspielbeobachtungen mit der letzten, der semantischen Symmetriementaler Prädikate, zusammengehen können, denn zur semantischen Sym-metrie gehört die konstitutive Rolle öffentlich zugänglicher Kriterien fürdie Zuschreibung mentaler Prädikate. Damit scheint unmittelbar die logi-sche Möglichkeit einherzugehen, mentale Selbstzuschreibungen begründetzu kritisieren. Genau diese Möglichkeit muss auch eingeräumt werden.

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Wenn Wittgenstein die Autorität der ersten Person als Sprachspiel her-ausstellt, so hat sie den Status einer bedeutungskonstituierenden Rolle fürSelbstzuschreibungen mentaler Prädikate.8

3 DAS „TRÖPFCHEN SPRACHLEHRE“:DIE GRAMMATIK DER EPISTEMISCHEN ASYMMETRIE

Die cartesianische Interpretation der epistemischen Asymmetrie ist vomAusgangspunkt der Sprachspielbetrachtung als das Produkt einer falschenepistemologischen Substantialisierung der ersten drei Sprachspielregeln zuinterpretieren. Genauso kann aber auch eine unangemessene epistemolo-gische Schlussfolgerung aus der vierten Sprachspielbeobachtung gezogenwerden, nämlich der Übergang von der semantischen Symmetrie mentalerPrädikate zur epistemischen Symmetrie, wie sie von Ryle (1949) behaup-tet wird: Wir haben ihm gemäß epistemisch genau dieselben Bedingungenzum Erfassen unserer mentalen Phänomene wie eine andere Person, dereinzige Unterschied besteht nur in der größeren Vertrautheit, die man mitsich selbst im Vergleich zu anderen hat. Manche von Wittgensteins Äuße-rungen weisen in diese Richtung. Schließlich finden sich bei Wittgensteinsogar Äußerungen, die die epistemische Position des anderen herauszuhe-ben scheinen. Wir möchten solche Äußerungen als Teil einer kritischenSprachspielanalyse einordnen. Verstörung9 hat hervorgerufen, dass er die

8Aber wie bereits herausgestellt, sind mentale Prädikate stets richtig oder falsch an-wendbar, so dass wir auch bei Selbstzuschreibungen falsch liegen können. Eine begründeteKritik ist aber nur dann möglich, wenn ich weiß, dass ich eine bessere Informationsbasis ha-be als der Selbstzuschreiber. Normalerweise ist diese Situation gerade nicht gegeben, aberes ist wiederum mit Wittgensteins Erwägungen verträglich, dass ich im Fall von Kindernoder psychisch kranken Menschen Selbstzuschreibungen in Frage stelle. Was Wittgensteinin den Blick nimmt, sind stets Sprachspiele im Sinne von stark verankerten Gepflogen-heiten, die für eine Sprachgemeinschaft gelten. Es bleibt damit offen, ob es im EinzelfallAbweichungen von diesen Regeln geben kann. Die konstitutiven Regeln des Kartenspielswerden durch den Falschspieler nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur partiell unterlaufenbzw. mit unerlaubten Mitteln ausgenutzt.

9Für William Alston war Wittgenstein mit dieser Äußerung in der Selbstwissensfrageungerechtfertigter Weise diskreditiert, obgleich die Adäquatheitsbedingung, die Alston imZuge seiner Kritik aufstellt, als gerechtfertigt gelten kann: „But it seems that normally Iwould be in a position to answer that question, the same question to which he does not knowthe answer. But how can we understand my being in that position without supposing that Iknow something he doesn’t, e.g., that I do feel elated? Thus it seems to be as undeniable asanything could be that persons normally do know what mental states they are in at a givenmoment, and that no argument designed to show that this is false or meaningless can besound.“ Alston (1971), S. 224.

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folgende Sprach-Reglementierung10 als erreichtes Ziel seiner analytischenBemühungen bewertet:

„Ich kann wissen, was der andere denkt, nicht was ich denke.Es ist richtig zu sagen »ich weiß, was du denkst«, und falsch: »ich weiß, was

ich denke.«(Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprach-

lehre.)“ (PU II, S. 565)

Die ‚Sprachlehre‘ betrifft unverkennbar den Sachverhalt der epistemischenAsymmetrie in Form einer Wissensasymmetrie, aber welche Klarheit sollteausgerechnet eine Inversion der klassischen cartesianischen Wissensasym-metrie zu bringen vermögen? Wittgenstein möchte hier freilich nicht dieklassische Richtung der epistemischen Asymmetrie aufheben. Der Leitfa-den zum Verständnis dieser ‚Sprachlehre‘ findet sich unter den methodolo-gischen Erläuterungen der PU.

„Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künf-tigen Reglementierung der Sprache [. . . ] Vielmehr stehen die Sprachspiele da alsVergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht auf die Ver-hältnisse unserer Sprache werfen sollen.“ (PU §130)

„Nur so nämlich können wir der Ungerechtigkeit, oder Leere unserer Behauptun-gen entgehen, indem wir das Vorbild als das, was es ist, als Vergleichsobjekt —sozusagen als Maßstab — hinstellen; und nicht als Vorurteil, dem die Wirklichkeitentsprechen müsse. (Der Dogmatismus, in den wir beim Philosophieren so leichtverfallen.)“ (PU §131)

„Wir wollen in unserem Wissen vom Gebrauch der Sprache eine Ordnung her-stellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen möglichenOrdnungen; nicht die Ordnung: Wir werden zu diesem Zweck immer wieder Un-terscheidungen hervorheben, die unsere gewöhnlichen Sprachformen leicht über-sehen lassen. Dadurch kann es den Anschein haben, als sähen wir es als unsereAufgabe an, die Sprache zu reformieren.“ (PU §132)

Wittgensteins Sprachlehre läuft unserer legitimen Alltagsrede zwar erheb-lich entgegen, aber diese ist auch nicht ihr Adressat. Wittgenstein korri-giert die epistemische Asymmetrie, sofern sie als philosophischer Sachver-halt artikuliert wird (im spezifisch kritischen Sinne von Philosophie, den

10Die Bewertungen „richtig“ bzw. „falsch“ werden von Wittgenstein nach Maßstab dergrammatischen Analyse zugeteilt. ‚Richtig‘ muss dementsprechend bedeuten ‚grammatischtransparent‘, als ‚falsch‘ hat zu gelten, was nur einen scheinbar sinnvollen philosophischenSatz darstellt.

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Wittgenstein über Selbstwissen 11

Wittgenstein mit grammatischer Verwirrung gleichsetzt). Die Sprachleh-re ist eine instrumentelle Äußerung, keine generelle dogmatische Regle-mentierung. Wittgenstein bestreitet in keiner Weise, dass wir Selbstwissenhaben. Es ist vielmehr der therapeutische Zweck dieser Sprachlehre, miteiner vertrauten, intuitiven, aber im philosophischen Gebrauch latent un-sinnigen Lesart der Wissensasymmetrie zu brechen. Indirekt formuliert der‚Selbstwissenssatz‘ gerade die offene Hauptfrage der Selbstwissenstheo-rie nach der angemessenen Analyse des Ausdrucks ‚wissen‘ in Bezug aufdie Kenntnis unserer mentalen Zustände. Die elementare Grundlage für dasVerständnis der Sprachlehre besteht darin, dass Wittgenstein den Gebrauchvon ‚wissen‘ im Sinne einer wahren, gerechtfertigten Überzeugung als pri-mären Gebrauch (bzw. Normalgebrauch) ins Zentrum rückt.11 Dieser istdabei nur deshalb ein wichtiger komparativer Maßstab, weil er unser Bildvom Geist und seiner Zugänglichkeit beeinflusst, nicht weil er etwa die ein-zig und allein legitime Verwendung des Ausdrucks ‚wissen‘ darstellte.

„Man sagt »ich weiß«, wo man auch sagen kann »Ich glaube«, oder »Ich vermute«;wo man sich überzeugen kann.“ (PU II, S.564)

Die Verwendung von ‚wissen‘ in Bezug auf die Korrektheit von Fremd-zuschreibungen wird dementsprechend als grammatisch korrekt und

11Hacker (2006) liefert am Beispiel ‚Schmerz‘ eine sehr eingehende und konzise Darstel-lung der Grammatik epistemischer Operatoren nach Wittgenstein und gibt damit eine ent-sprechend detaillierte Erläuterung der epistemischen Asymmetrie. Diese Analyse motiviertHacker dazu, eine sog. „cognitive assumption“ zurückzuweisen (S. 269), welche besage,das Selbstwissen v.a. sensorischer Zustände das Resultat einer epistemischen Fähigkeit desinneren Sinnes sei (und Selbstzuschreibungen entsprechend Beschreibungscharakter besä-ßen). Unserer Ansicht nach ist es jedoch zu weitgehend, aus Sprachspielbeobachtungenauf einen nicht-kognitiven Charakter von Selbstzuschreibungen zu schließen. Die Tatsache,dass der Gebrauch von ‚wissen‘ in Selbstzuschreibungen nicht Teil unseres Sprachspiels istimpliziert offensichtlich nicht, dass es keine erstpersonale Informationsgrundlage unsererKenntnis eigener mentaler Zustände gibt. Die grammatische Feststellung, dass man wederwissen noch nicht wissen könne, dass man Schmerzen habe, begründet nach Hacker, dassder Begriff ‚wissen‘ im Zusammenhang mit sensorischen Selbstzuschreibungen insgesamtverfehlt sei. „ ‘He knows . . . , so he has reason . . . ’ is excluded here, since there is no suchthing as his not knowing.“ (S. 265); „There is no room for ignorance, and hence nothingfor ‘I know’ to exclude.“ (S. 267). Die Feststellung, bei der Kenntnis meiner mentalen Phä-nomene handle es sich also weder um Wissen noch um Nichtwissen, kann nicht der letztePunkt der Klarheit sein. Vielmehr liegt hier eine Verengung der ‚cognitive assumption‘ vor.Hacker gesteht selbst zu, dass es lediglich um den Ausschluss einer Kognitivitätsthese geht,die zum cartesianischen Bild des Selbstwissens führt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist je-doch kein sprachspieldogmatischer Ausschluss des Ausdrucks ‚wissen‘ notwendig, sondernlediglich die Klärung und Abgrenzung grundlegend verschiedener Gebrauchsweisen. (siehePU §§130–132)

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unbedenklich bewertet, da Fremdzuschreibungen kriterienbasiertes und da-mit rechtfertigbares und potentiell bezweifelbares Wissen darstellen unddie ‚Woher-Frage‘ daher sinnvoll gestellt werden kann.12 Das gilt jedoch sonicht für Selbstzuschreibungen, die nach Maßgabe des Sprachspiels nicht-inferentiell, grundlos und subjektiv unbezweifelbar sind und damit kei-nen Standardfall von Wissen darstellen. Diese Feststellung allein motiviertaber kein generelles Verbot des erstpersonalen Gebrauchs von ‚wissen‘ inSelbstzuschreibungen bzw. des Terminus Selbstwissen.13 Auch Ernst Tu-gendhat schreibt:

„Daß wir diese Frage [‚Woher weißt Du, dass du M hast?‘ C.M./A.N.] nicht mehrstellen können, verstößt nicht gegen den Sinn von »Wissen«. Vielmehr verweistjedes empirische Wissen in der Frage »wie wissen wir es?« auf einen subjektivenZustand — z.B. »wie weiß ich, daß p? Weil ich es wahrnehme« — bei dem essinnlos wäre, die Frage »wie wissen wir es?« zu iterieren.“14

Der Grund dafür, weshalb uns ‚wissen‘ im Verwendungszusammenhangder ersten Person nicht als verfehlt erscheint, besteht darin, dass wir tat-sächlich wissen, was wir fühlen, glauben, wünschen und hoffen und in derLage sind, darüber Auskunft zu geben und wir dieses ‚Wissen‘ nach PU§288 nicht einmal sinnvoll zu bezweifeln vermögen, damit eben auch kei-neswegs nicht wüssten, dass wir Schmerzen haben etc. Außerdem ist es eineTatsache, dass wir aufrichtige Selbstzuschreibungen kompetenter und psy-chisch unauffälliger Personen als verlässliches Kriterium dafür betrachten,dass die Selbstzuschreibung auch einer mentalen Tatsache entspricht. DieAlltagsform der Wissensasymmetrie ist eine Art ‚minimalcartesianischer‘Teil unserer Alltagspsychologie, da sie das wesentliche strukturelle Merk-mal einer asymmetrischen Wissensverteilung besitzt und Selbstzuschrei-

12„Wenn wir das Wort »wissen« gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (undwie sollen wir es denn gebrauchen!), dann wissen es Andere sehr häufig, wenn ich Schmer-zen habe.“ (PU §246)

Die Struktur einer cartesianische Wissensasymmetrie ist letztlich völlig unklar, da sieaufgrund ihrer privaten Semantik überhaupt keine Konzeption eines epistemischen Zugangszu mentalen Vorgängen anderer besitzt.

13Tugendhat z.B. (1979) bewertet Wittgenstein aber hier in diesem Sinne als dogmatisch:„Sollte Wittgenstein mit dem logischen Ausgeschlossensein des Zweifels dieses Nichtzwei-felnkönnen meinen, so bestünde darin eine dogmatische Festlegung des Wortes »wissen«,die wiederum unserem faktischen Sprachgebrauch widerspräche. Wahrscheinlich hat sichWittgenstein [. . . ] durch den nicht-kognitiven Charakter dieser Sätze dazu bestimmen las-sen, ihnen einen Wissenscharakter abzusprechen. Aber Wissen und Erkennen ist nicht das-selbe, und nicht alles Wissen braucht sich auf einen Erkenntnisakt zu stützen.“ S. 132f.

14Tugendhat (1979), S. 133.

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ber von der Sprechergemeinschaft als Wissensautoritäten in Bezug auf ihrementalen Phänomene behandelt werden.

„»Seine Motive weiß nur er« — das ist ein Ausdruck dafür, daß wir ihn nach seinenMotiven fragen. — Ist er aufrichtig, so wird er sie uns sagen; aber ich brauchemehr als Aufrichtigkeit, um seine Motive zu erraten. Hier ist die Verwandtschaftmit dem Fall des Wissens.“ (PU II, S. 569)

3.1 DIE WISSENSASYMMETRIE

Die Artikulation der Wissensasymmetrie ist nach Wittgenstein philoso-phisch streng genommen nur als Strukturaussage legitim, d.h. als ‚gramma-tischer Satz‘ über unseren Gebrauch mentaler Prädikate. Ihr pragmatischerZweck besteht in dem Hinweis, dass ein spezifisches Prädikat zur Klasseder M-Prädikate gehört, bzw. im Verweis auf die allgemeinen Eigenschaf-ten von M-Prädikaten:

„»Nur du kannst wissen, ob du die Absicht hattest.« Das könnte man jemandemsagen, wenn man ihm die Bedeutung des Wortes Absicht erklärt. Es heißt dannnämlich: so gebrauchen wir es.“ (PU §247)

Auf dieser Ebene der Artikulation ist die Wissensasymmetrie deskriptiv,theoretisch folgenlos und philosophisch unproblematisch, praktisch kannsie eben z.B. Teil eines grammatischen Lehr-Sprachspiels sein. Auf der un-mittelbaren Ebene des Sprachspiels der Selbstzuschreibung hat die Äuße-rung der Wissensasymmetrie keine Funktion, sondern sie beschreibt nureinen speziellen Zug des Sprachspiels, ist also eine Spielregel und damitnichts, worauf wir in der Kommunikation mit kompetenten Sprechern zu-sätzlich rekurrieren würden.

„Der Satz »Empfindungen sind privat« ist vergleichbar dem: »Patience spielt manallein«.“ (PU §248)

Zuschreibungen von privilegiertem mentalem Wissen sind legitim, wennsie pragmatischen Zwecken folgen. Ein solcher Zweck kann z.B. sein, auseinem kommunikativen Kontext heraus explizit etwa auf die Praxis der Au-torität der ersten Person zu verweisen oder verwiesen zu werden:

„Wer mir aber vorhält, man sage manchmal »Ich muß doch wissen, ob ich Schmer-zen habe!«, »Nur du kannst wissen, was du fühlst« und ähnliches, der soll sich dieAnlässe und den Zweck dieser Redensarten besehen. »Krieg ist Krieg!« ist ja auchnicht ein Beispiel eines Identitätsgesetzes.“ (PU II, S. 564)

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Ein Indiz für die grammatische Unstimmigkeit der erstpersonalen Verwen-dung von ‚wissen‘ auf der Ebene der Selbstzuschreibung ist bereits, dasskeiner der legitimen erstpersonalen Verwendungskontexte von ‚wissen‘ einepistemischer Kontext im engeren Sinne ist, d.h. es geht in ihnen nichtum die Mitteilung des Resultats einer Überzeugungsbildung bzw. um dasErheben eines Wahrheitsanspruches innere Objekte oder Vorgänge betref-fend. Entsprechend haben ‚zweifeln‘, ‚vermuten‘, ‚herausfinden‘ etc. keineAnwendung. Epistemische Verwendungen von ‚ich weiß‘ kommen im ge-wöhnlichen erstpersonalen Zuschreibungssprachspiel nicht vor, denn wirschreiben uns mentale Zustände zu, nicht die Kenntnis mentaler Zustände.Der Operator ‚ich weiß‘ fügt einer konkreten Selbstzuschreibung der Form‚Ich habe M‘ nichts hinzu.

„Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer im Spaß), ich wisse, dass ichSchmerzen habe. Was soll es denn heißen — außer etwa, dass ich Schmerzen ha-be?“ (PU §246)

Wenn wir betonen, dass wir wissen, dass wir uns in M befinden, ist das Re-sultat im nicht-philosophischen Sprachspiel jedoch eben keine Mitteilung,sondern ein Scherz, amüsanter Unsinn also:

„It makes sense to say ‚p‘, and I know that I am right that p, because q; one maysay ‚I believe that p, and I am sure that I am right to believe that p (I was told thatp on good authority)’. But it would be a joke to say ‚I believe that p, and I knowthat I am right that I believe that p’.“15

Die Sprachlehre ist an die philosophische Interpretation der Wissensasym-metrie adressiert, wie sie der Privatsprachler zur Erläuterung des epistemo-logischen Fundaments seiner semantischen Theorie verwendet. Hier ist dieFormulierung der Wissensasymmetrie kein grammatisches Meta-Sprach-spiel, sondern wird als unmittelbar einsichtiger, fundamentaler Sachverhalteines exklusiven epistemischen Zugangs vorgetragen, der dafür verantwort-lich ist, dass notwendigerweise ich allein weiß und wissen kann, ob ichmich in M befinde oder nicht.

„Inwiefern sind meine Empfindungen privat? — Nun, nur ich kann wissen, ob ichwirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten. — Das ist in einerWeise falsch, in einer anderen unsinnig. (PU §246)16

15Hacker (1997), S. 292.16„Zu sagen »nur er kann wissen, was er beabsichtigt« ist Unsinn; zu sagen »nur er kann

wissen, was er tun wird« falsch.“ [PU II, S. 568]

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Wenn wir diese Verwendung von ‚wissen‘ als philosophisches Sprachspielernst nehmen, entsteht ein falsches Bild von der Natur und Beschaffen-heit sowie der epistemischen Zugänglichkeit und Gerechtfertigtheit unse-res Selbstwissens. Um zu verstehen, warum dieses Verständnis von priva-ten Empfindungen einerseits falsch, andererseits unsinnig ist, ist ein kurzerExkurs über mentale Phänomene selbst erforderlich.

Wittgenstein ist der Auffassung, dass mentale Phänomene einen Muster-charakter haben.17 Zahnschmerzen zu haben besteht darin, dass eine Person1. typische Körperreaktionen und charakteristische Verhaltensweisen auf-weist, 2. typische Äußerungen macht und 3. auch typische Empfindungenhat. Elemente aus diesen drei Gruppen bilden gemeinsam ein charakteristi-sches Muster, welches das mentale Phänomen festlegt, ohne dass es mög-lich wäre, ein bestimmtes Merkmal als zwingend notwendig auszuweisen.Interessant ist, dass Wittgenstein sich explizit vom Behaviorismus18 distan-ziert und es insofern angemessen ist, Empfindungen als Teil des Musterseinzubeziehen. Wichtig für die Diskussion des Selbstwissens ist es, dass zumentalen Phänomenen auch öffentliche Kriterien gehören.19 Wir könnenstatt von einer Musterauffassung auch von einer multikriteriellen Auffas-sung mentaler Phänomene sprechen.20 Insofern ist es falsch, dass nur ichwissen kann, ob ich wirklich Schmerzen habe. Wissen als wahre, gerecht-fertigte Meinung kann auch bei einer anderen Person vorliegen, wenn diesenämlich aufgrund des Beobachtens von öffentlichen Kriterien eines typi-

17Savigny (2004), s. Einleitung.18Einer behavioristischen Interpretation steht die Art und Weise entgegen, wie Wittgen-

stein die epistemische Asymmetrie charakterisiert (siehe unten). Auch distanziert sich Witt-genstein von einer philosophischen Leugnung ‚innerer Gegenstände‘ (PU §308).

19„Ein ›innerer Vorgang‹ bedarf äußerer Kriterien.“ (PU §580)20Strenggenommen ist die Rede von Musterauffassung treffender, weil darin die Annah-

me von vielfältigen charakteristischen Merkmalen vorkommt, wobei es offen bleibt, welchedavon öffentlich zugänglich und damit Kriterien im engeren Sinne sind und welche nichtöffentlich zugänglich sind. Wenn wir in Übernahme der üblich gewordenen Redeweise voneiner multikriteriellen Individuierung bzw. einem Multikriterien-Modell sprechen, dann istdies somit in einem weiteren Sinne von Kriterien aufzufassen. Elizabeth Fricker hat über-zeugend für die Alternativlosigkeit der multikriteriellen Individuierung mentaler Begriffeargumentiert und plausibel gemacht, dass eine grammatische Erklärung der besonderen Ei-genschaften von Selbstzuschreibungen und eine epistemologische Erklärung von Selbst-wissen keine explanatorische Dichotomie bilden. Stärker als sie möchten wir betonen, dasses sich ohnehin um zwei separate, aber wesentlich verknüpfte Phänomene handelt und einkombinierter Ansatz damit nicht nur problemlos möglich, sondern auch allein aussichts-reich erscheint. Fricker stellt auch klar, dass eine Theorie des besonderen Zugangs keinecartesianische Observationstheorie sein muss und wir schwächere Varianten zur Auswahlhaben.

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schen Zahnschmerzmusters zu der wahren Überzeugung kommt, dass ichSchmerzen habe. Der zweite Fall ist der interessantere, nämlich, dass esunsinnig ist, dass nur ich wissen kann, ob ich wirklich Schmerzen habe.Unsinnig ist diese Redeweise dann, wenn damit ein Wissensanspruch ge-meint ist, der Irrtumsfreiheit und Unbezweifelbarkeit meint, denn — wieoben erläutert — schließt die Kriterienlosigkeit von Selbstzuschreibungendiese cartesianischen Merkmale nicht ein.

3.2 DIE ZWEIFELSASYMMETRIE

Wittgenstein korrigiert bzw. spezifiziert die Bedeutung des Ausdrucks ‚Nurich weiß, ob ich M habe‘, wie wir ihn im Kontext der Sprachspielregelgebrauchen, indem er die Wissensasymmetrie in eine Zweifelsasymmetrieübersetzt.

„Und »wissen« heißt hier [in der Wissensasymmetrie C.M./A.N.], daß der Aus-druck der Ungewißheit sinnlos ist.“ (PU §247)

„Das ist richtig: es hat Sinn, von anderen zu sagen, sie seien im Zweifel darüber,ob ich Schmerzen habe; aber nicht, es von mir selbst zu sagen.“ (PU §246)

Diese Übersetzung in die Form der Zweifelsasymmetrie stellt einen phi-losophisch transparenten Modus der epistemischen Asymmetrie dar, da sieunter Vermeidung des Ausdrucks ‚wissen‘ den entscheidenden Unterschiedzwischen der Bedeutung von ‚wissen‘ in der epistemischen Asymmetrieund der Standardgrammatik von ‚wissen‘ offenlegt:

„»Ich weiß . . . « mag heißen »Ich zweifle nicht . . . « — aber es heißt nicht, dieWorte »Ich zweifle . . . « seien sinnlos, der Zweifel logisch ausgeschlossen.“ (PUII, S. 564)

Die Zweifelsasymmetrie ist nach Wittgenstein die philosophisch korrekteVariante der Sprachspielasymmetrie und ist die eigentliche Erläuterung deroben zitierten ‚Sprachlehre‘. Die Bedeutung von ‚wissen‘ in Bezug auf ei-gene mentale Zustände ist scharf von ‚wissen‘ in Bezug auf die mentalenZustände anderer abgetrennt.21 Die eigenen Selbstzuschreibungen von sub-

21Wittgenstein scheint neben dem theoretischen Zugang zu mentalen Zuständen andererjedoch auch so etwas wie eine ‚Zweite-Person’-Perspektive zu kennen. So ist in einemechten Fall sozialer Interaktion in manchen Fällen der Zweifel zwar logisch, nicht aberfaktisch möglich. „Versuch einmal — in einem wirklichen Fall — die Angst, die Schmerzendes anderen zu bezweifeln.“ (PU §303)

„»Aber schließt du eben nicht nur vor dem Zweifel die Augen, wenn du sicher bist?« - Sie

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jektiver Anzweifelbarkeit auszunehmen, passt scheinbar gut in ein cartesia-nisches Bild von Selbstzuschreibungen. Allerdings begründet die Zweifels-asymmetrie natürlich keinen Anspruch auf eine generelle Unbezweifelbar-keit aufrichtiger Selbstzuschreibungen. Wenn wir nun unter Vernachlässi-gung des grammatischen Unterschiedes zwischen ‚wissen‘ und ‚nicht sinn-voll zweifeln können‘ das Sprachspielmerkmal der Sinnlosigkeit des Zwei-fels an eigenen Selbstzuschreibungen nicht vom Phänomen unterscheiden,dass Selbstzuschreibungen in der Sprechergemeinschaft auch allgemeinnicht unter Geltungsvorbehalt stehen, erhalten wir ein verzerrtes Bild derEpistemologie des Selbstwissens als unfehlbarer Wissensrelation zwischeneinem Subjekt und seinen privaten mentalen Zuständen. In solch einem Bildist der logische Ausschluss des Zweifels an eigenen Selbstzuschreibungenäquivalent mit der normativen Unbezweifelbarkeit22 unfehlbaren Wissens.

„Aber ich kann mich doch hier nicht irren; es heißt doch nichts, zu zweifeln, obich Schmerzen habe!“ (PU §288)

Der Fehlschluss besteht in folgendem Übergang: ‚Wenn es also sinnlosist zu sagen, ich wisse nicht/ich zweifle, ob ich Schmerzen habe (siehePU §288), dann besitze ich unfehlbares Wissen hinsichtlich meiner men-talen Zustände.‘ Die Autorität der ersten Person von Selbstzuschreibun-gen im Sprachspiel führt gemeinsam mit der Kriterienlosigkeit von Selbst-zuschreibungen zur Fiktion einer umfassenden Rechtfertigungsenthoben-heit bzw. uneingeschränkten epistemischen Souveränität des Subjekts. Wirkönnen nach Wittgenstein gerechtfertigt sein, ohne eine Rechtfertigung an-geben können zu müssen.23 Die cartesianische Annahme, dass die Über-zeugung, M zu haben, ihr Gerechtfertigtsein per se einschließt, und da-

sind mir geschlossen.“ [PU II, S. 569] Obgleich der Zweifel hier keine faktische Anwend-barkeit hat, scheint die epistemische Asymmetrie dadurch im Kern nicht abgeschwächt zuwerden.

22Nach der Definition von Alston verlangt die normative Unbezweifelbarkeit die Unmög-lichkeit des Zweifels an meiner Überzeugung durch andere.

„[A person, C.M./A.N.] P enjoys indubitability vis-à-vis a type of proposition, R =def.For any proposition, S, of type R, it is logically impossible that P should believe that Sand that anyone should have grounds for doubting that P knows that S.“ Alston (1971), S.230. Zusammen mit der subjektiven Unbezweifelbarkeit folgt, dass weder P noch jemandanderes an Ps Überzeugung zweifeln kann.

23Ein verwandtes Phänomen konstatiert Wittgenstein bei basalem Regelfolgen: „Nun,wie weiß ich’s? — Wenn das heißt »Habe ich Gründe?«, so ist die Antwort: die Gründewerden mir bald ausgehen. Und ich werden dann, ohne Gründe, handeln.“ (PU §211)

„»Wie kann man einer Regel folgen?« — wenn das nicht eine Frage nach den Ursachenist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, daß ich so nach ihr handle.

Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt,

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mit eine logisch unbezweifelbare Wissensform vorliegt, wird durch dieerwähnte Tatsache suggeriert, dass sinnvoller Weise eine Rechtfertigungfür diese Selbstzuschreibung nicht mehr verlangt werden kann und Selbst-zuschreibungen kompetenter Sprecher auch im allgemeinen nicht von an-deren bezweifelt werden. Die Praxis, Selbstzuschreibungen üblicherweisenicht zu bezweifeln, kann nicht in eine substantielle epistemische Unbe-zweifelbarkeit oder Unkorrigierbarkeit umgemünzt werden, sondern be-grenzt sich auf eine ‚Sprachspiel-Unkorrigierbarkeit‘ bzw. ‚Sprachspiel-Unbezweifelbarkeit‘, in welcher Selbstzuschreibungen aufgrund der multi-kriteriellen Individuierung mentaler Begriffe stets kritisierbar bleiben.Im pragmatischen Alltagskontext wird Selbstzuschreibungen ein exklusi-ver Grad des Gerechtfertigtseins zugestanden.

Die Zweifelsasymmetrie ist nur eine grammatische Erläuterung und frei-lich in keiner Weise eine Erklärung der Binnenstruktur der epistemischenAsymmetrie. Sie unterschlägt zudem das wesentliche Element des Selbst-wissens, das nur in der Formulierung der Wissensasymmetrie zum Aus-druck kommt: die epistemische Privilegiertheit. Die subjektive Unbezwei-felbarkeit allein kann nicht die epistemisch privilegierte Behandlung vonSelbstzuschreibungen erklären; das Gerechtfertigtsein von Selbstzuschrei-bungen und die Autorität der ersten Person sind aus der Zweifelsasymme-trie nicht ersichtlich.24 Die grammatische Aufklärung allein kann das Phä-nomen Selbstwissen nicht völlig verständlich machen. Im Zuge der Auf-klärung wird zwar die Frage der Bedeutung von ‚wissen‘ in ‚Selbstwissen‘gestellt, aber sie wird von Wittgenstein nur in einer negativen Annäherungbeantwortet.

und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: »So handle ich eben.«“(PU §217)

24Davidson hat das mehrfach betont: „Man kommt einer Charakterisierung der Autoritätder ersten Person näher, wenn man feststellt, daß der Selbstzuschreiber seine Behauptungennormalerweise nicht auf Anhaltspunkte oder Beobachtungen stützt, und es hat normalerwei-se auch keinen Sinn, den Selbstzuschreiber zu fragen, warum er glaubt, die Überzeugungen,Wünsche oder Absichten zu haben, die er zu haben behauptet. Dieses Merkmal von Selbst-Zuschreibungen wurde von Wittgenstein bemerkt: [. . . ] Die meisten Philosophen sind Witt-genstein in diesem Punkt gefolgt, und sie haben, wie wir sehen werden, das »Kriterium« aufpropositionale Einstellungen ausgedehnt. Dieses Merkmal der Autorität der ersten Person,so suggestiv es auch ist, trägt nichts zur Erklärung der Autorität bei. [. . . ] der Hauptgrundist einfach der, daß Behauptungen, die nicht auf Anhaltspunkten und Indizien beruhen, imallgemeinen nicht mehr Autorität haben als Behauptungen, die durch Anhaltspunkte undIndizien gestützt sind; noch sind sie eher dazu befähigt, richtig zu sein.“ Davidson (1994),S. 637.

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4 DIE AUTORITÄT DER ERSTEN PERSON

Gerechtfertigte Wissensautorität ist ein soziales Phänomen, bei dem derStatus einer Person als Autorität von einer Wissensgemeinschaft zugebilligtwerden muss. Voraussetzung dafür ist eine unter Beweis gestellte epistemi-sche Fähigkeit. Das Wesen einer Wissensautorität besteht in einer episte-mischen Asymmetrie, einem Wissensvorsprung bzw. zumindest in Verläss-lichkeit sowie in der Gepflogenheit, eine Proposition p als wahr anzuneh-men bzw. zu akzeptieren, weil es diese spezielle Person A ist (die Wissens-autorität), die p für wahr hält. Wenn die anderen sich nicht selbst gründlichvon etwas überzeugen wollen oder können oder in pragmatischen Kontex-ten von einer übergenauen Nachprüfung abgesehen werden kann, beginntbereits die Praxis, Aussagen einer bestimmten Person eine kriterielle Funk-tion zuzugestehen.25 Diese Praxis ist dann Ausdruck einer epistemischenVerlässlichkeitsbewertung. Im Fall einer besonders starken Autorität undeinem hohen Bewährungsgrad der Äußerungen ist es umso plausibler, dassdieser Bewertung ein epistemisches Privileg zugrunde liegt. Es gibt in allenechten Fällen einer Wissensautorität klare Kriterien, diesen Status wiederzu entziehen (Der Papst beispielsweise ist per Dekret unfehlbar und damiteine absolute Autorität für Katholiken in Glaubensfragen und damit eine in-stitutionell übersteigerte Form einer Wissensautorität, da mit der Korrigier-barkeit in diesem Fall ein wesentliches Kriterium für Wissensautoritätenaufgehoben wurde). Entscheidend am Sprachspiel der Autorität ist es, dassdie aufrichtige Aussage p von A in ihrem Kompetenzbereich ein starkes(aber revidierbares) Kriterium für die anderen Mitglieder der Gemeinschaftist, p als wahr zu akzeptieren.

Die starke Form der Autorität der ersten Person besteht nach Wittgen-stein konkret gerade darin, dass die Selbstzuschreibung einer mentalen Ei-genschaft auch als zentrales Kriterium der Korrektheit der Selbstzuschrei-bung bewertet wird.26 Im Fall mentaler Selbstzuschreibungen ist anzuneh-men, dass alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft aufgrund der epistemi-schen Asymmetrie einen revidierbaren epistemischen Dauerkredit besit-zen. Mit der Sprachspiel-Unbezweifelbarkeit liegt die stärkste Form derWissensautorität vor, die sich dadurch auszeichnet, dass der Tatbestand

25Die kriterielle Funktion kann sich auch im schwächeren Rahmen einer Konventionbewegen.

26Aus diesem Grund würden wir hier wiederum der Interpretation Hackers widerspre-chen, der den Begriff der Autorität der ersten Person in Bezug auf Wittgenstein für irrefüh-rend hält. Siehe dazu Hacker (2006), S. 247.

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der aufrichtigen Selbstzuschreibung oftmals als praktisch einzig ausschlag-gebendes Kriterium fungiert. Die Selbstzuschreibung besitzt bei den alsstark autoritativ bewerteten Prädikaten in der kommunikativen Praxis den(Schein-)Charakter eines unabhängigen Kriteriums (den die cartesianischeAuffassung durch eine unfehlbare innere Erkenntnisrelation fundierenwollte), in Wahrheit bleibt die herausgehobene kriterielle Funktion derSelbstzuschreibung wechselseitig von anderen, öffentlich zugänglichenKriterien abhängig. Bezüglich der Autorität der ersten Person hat eineSelbstwissenstheorie die spezifischen Bedingungen ihres Grades und ihrerStabilität, sowie die Voraussetzungen für gerechtfertigtes Außerkraftsetzenzu untersuchen. Eine Theorie des Selbstwissens muss damit auch imstandesein, auftretende Fehlfunktionen beim Erkennen eigener mentaler Zuständezu beschreiben.

4.1 DAS FUNDAMENT DER AUTORITÄT DER ERSTEN PERSON

Die Fähigkeit der korrekten Einschätzung und Verbalisierung eigener undfremder mentaler Zustände scheint eine wichtige Technik intersubjektiverKommunikation zu sein, deren Erwerbsgeschichte für ein Verständnis desGebrauchs mentaler Prädikate von Bedeutung ist. Die öffentlichen Kriteri-en mentaler Zustände sind die Grundlage des Klassifizierungs- und Verba-lisierungstrainings. Wittgenstein selbst hat nur Ansätze einer Lerntheoriegeliefert, die vor allem expressivistisch interpretiert wurden. Diese Inter-pretation ist jedoch weder als Interpretation gut zu stützen noch systema-tisch besonders plausibel. Lernen beginnt zunächst auf der Ebene der Kon-ditionierung und führt zur selbständigen Beherrschung einer Praxis, d.h.von der Ebene biologisch determinierten Äußerungsverhaltens zum nor-mativ geleiteten sprachlichen Agieren. Die ‚Ersetzungsthese‘ des Lernensvon ›Schmerz‹ aus PU §244 kann, schwächer als in der expressivistischenLesart als Konditionierungsvorgang aufgefasst werden.

„Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen,Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hatsich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringenihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbeneh-men.

»So sagst du also, daß das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien bedeute?«— Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und be-schreibt es nicht.“ (PU §244)

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Wir werden umerzogen, uns in einem sprachlich geregelten Kontext zuverhalten. PU §441 zieht den expliziten Vergleich zwischen körperlichem,intentionalem Verhalten mit sprachlichem. Auch Wunschäußerungen sinddemnach ausdrücklich als sozial konditioniertes Äußerungsverhalten in ei-nem intersubjektiven Sprachspielkontext zu sehen.

„Wir sind von Natur und durch eine bestimmte Abrichtung, Erziehung, so einge-stellt, daß wir unter bestimmten Umständen Wunschäußerungen von uns geben.(Ein solcher Umstand ist natürlich nicht der Wunsch.) Eine Frage, ob ich weiß,was ich wünsche, ehe mein Wunsch erfüllt ist, kann in diesem Spiele garnichtauftreten. [. . . ]

Wie, wenn man fragte: »Weiß ich, wonach ich lange, ehe ich es erhalte?« Wennich sprechen gelernt habe, so weiß ich’s.“ [PU §441]

Wenn Wittgenstein eine ‚Ersetzung‘ des natürlichen Ausdrucksverhaltensdurch sprachliches Verhalten andeutet, ist es ein wesentliches Element die-ser Ersetzung, dass das sprachliche Verhalten den kriteriellen Status bzw.die kriterielle Rolle jenes natürlichen Ausdrucksverhaltens erbt. Selbstzu-schreibungen werden im Allgemeinen als Kriterien ihrer Korrektheit ak-zeptiert, wie entsprechendes natürliches Ausdrucksverhalten ein analyti-sches Kriterium für Schmerz darstellt. Was Selbstzuschreibungen angeht,ist dieser kriterielle Status jedoch Ergebnis eines Trainings und die kri-terielle Funktion von Selbstzuschreibungen damit abgeschwächt. Je kon-trastreicher äußere Verhaltenskriterien und phänomenale Erlebnisgrundla-gen sind, desto eher erreichen wir eine kontingente klassifikatorische Si-cherheit in unseren Selbstzuschreibungen, die einen Anschein von Unfehl-barkeit besitzt. Verkürzend und irreführend wäre es, die logische Unkor-rigierbarkeit natürlichen Ausdrucksverhaltens auf Selbstwissen zu übertra-gen und die starke Autorität der ersten Person expressivistisch so zu fun-dieren. Sich selbst einen mentalen Zustand zuzuschreiben, ist niemals bloßAusdrucksverhalten, sondern zugleich eine Äußerung mit intersubjektiv zu-gänglichem Inhalt; sprachliche Selbstzuschreibungen sind normativ gelei-tete Verhaltensweisen in einem intersubjektiven Sprachspielkontext, schrei-en oder stöhnen nicht.

Aus Sicht der klassischen expressivistischen Lesart ist Irrtum z.B. in Be-zug auf Schmerz nicht möglich, da Selbstzuschreibungen ‚nicht-kognitiv‘sind. Es könne daher lediglich von einer falschen Verwendung des Aus-drucks gesprochen werden.27 Selbstwissen wird auf diesem Wege mit

27Siehe Tugendhat (1979): „Der »ich-ρ«-Satz hat also, soweit wir bisher sehen können,dieselbe Verwendungsregel wie der entsprechende Ausruf. Auch hier gibt es nur die Mög-lichkeit der regelwidrigen Verwendung, nicht die des Irrtums.“ S. 129, auch. 133f.

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sprachlicher Ausdruckskompetenz gleichgesetzt. Die Frage, woher ichweiß, dass ich mich in M befinde, kann ich aus der Sicht Wittgensteinsmit dem Hinweis „Ich habe sprechen gelernt“ beantworten. Die ‚Nicht-Kognitivität‘ von Selbstzuschreibungen besteht nach Tugendhat in einerArt „direkten Korrelation zwischen dem sprachlichen Ausdruck und demTatbestand“.28 Wie sollen wir jedoch Fälle beschreiben, in denen basa-le Selbstzuschreibungen trotzdem misslingen? Repressionsphänomene undSelbsttäuschung bei kompetenten Sprechern zeigen29, dass die Verbindungzwischen In-einem-Angstzustand-Sein, Angsterleben und einer sprachli-chen Einordnung des Erlebens nicht so unmittelbar ist wie gemeinhin ver-mutet und dass eine kognitive Dimension des Selbstwissens existiert. Esist eine unplausible These zu behaupten, dass der Zweifel an aufrichtigenSelbstzuschreibungen identisch mit dem Zweifel an Sprachbeherrschungsei, obgleich die akzeptable Verwendung multikriterieller Begriffe das pri-märe Kriterium dafür darstellt, ob Mitgliedern unserer Sprechergemein-schaft die Autorität der ersten Person zugestanden wird.

Zudem ist aus interpretatorischer Sicht zu sagen, dass Wittgenstein denExpressivismus nicht so heiß isst, wie er von einigen Interpreten gerne ge-kocht wird, denn Wittgenstein beschreibt die Relation zwischen der sprach-lichen Äußerung und einem Ausdrucksverhalten durchaus differenzierterals es eine Identifikationsthese erlauben würde:

„Ein Schrei ist keine Beschreibung. Aber es gibt Übergänge. Und die Worte »Ichfürchte mich« können näher und entfernter von einem Schrei sein. Sie können ihmganz nahe liegen, und ganz weit von ihm entfernt sein. [. . . ] Ist aber »Ich fürchtemich« nicht immer, und doch manchmal, etwas der Klage Ähnliches, warum solles dann immer eine Beschreibung des Seelenzustandes sein?“ (PU II, S. 512)

Entscheidend für die Grenzen einer expressivistischen Theorie des Selbst-wissens sind jedoch systematische Mängel: Für leichte Variationen von Ich-Äußerungen bleibt es völlig rätselhaft, was die Verwendungsweise als Aus-drucksäußerung sein könnte, und es ist es völlig unplausibel zu leugnen,dass diese Variationen Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen haben. Auf-grund der Systematizität und Produktivität von Sprache erweist sich der

28Vgl. Wittgenstein: „Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäu-ßerung und den Schmerz treten wollen?“ (PU §245)

29Die Selbsttäuschung im Fall von Selbstwissen wird in empirischen Studien zur syste-matischen Fehleinschätzung gerade vorliegender mentaler Zustände aufgezeigt, z.B. deseigenen emotionalen Zustands. Diesen beurteilen sog. „Repressors“ falsch, wenn es darumgeht, eigene Angstzustände bewusst zu erfassen (s. Jäger & Bartsch (2002) sowie Newen(2005a) für eine Kurzdarstellung sowie weitere Argumente).

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Expressivismus als Theorie der Selbstzuschreibungen daher auch als un-zureichend. Allgemein kann gezeigt werden, dass behaviorale Ausdrucks-äußerungen wie Stöhnen nicht so eng mit Selbstzuschreibungen verbundensind, wie es der Expressivismus behauptet:

(a) Selbstzuschreibungen ohne dazugehörige Ausdrucksäußerungen z.B.bei Variationen der Zeit wie „Ich hatte Schmerzen“ bzw. „Ich wer-de Schmerzen haben“: Was ist die behaviorale Verhaltensweise, dieeiner solchen Äußerung als Ausdrucksäußerung entspricht?

(b) Selbstzuschreibungen mit kognitivem Gehalt: Wenn wir eine Selbst-zuschreibung in ein Konditional einbetten, z.B. „Wenn ich Schmer-zen habe, dann sollte ich eine Aspirin nehmen“, dann ist es erfor-derlich, das Antezedens als einen Satz mit Wahrheitsbedingung auf-zufassen. Denn das Konditional führt zusammen mit Selbstzuschrei-bung „Ich habe Schmerzen“ zur Konklusion „Ich sollte eine Aspirinnehmen.“ Wahrheitsbedingungen müssen wir prinzipiell zugrundelegen, wenn wir aus Selbstzuschreibungen auf Behauptungen schlie-ßen, wie ich z.B. von „Ich habe Schmerzen“ auf „Irgendjemand hatSchmerzen“ schließen kann. Schließlich nehmen wir auch Wahrheits-bedingungen für den Fall von Zuschreibungen mentaler Phänomenean: „Er glaubt, dass ich Schmerzen habe.“ Die Wahrheitsbedingungdes Gesamtsatzes macht es wegen Kompositionalität erforderlich,dass auch der Teilsatz „Ich habe Schmerzen“ einen kognitiven Ge-halt hat.30

(c) Die Feinkörnigkeit komplexer Selbstzuschreibungen: „Ich überlege,welche Kritikpunkte ich heute zu den Kernthesen meines Vortragsüber Selbstwissen hören werde.“ Es ist völlig unklar, welcher behavi-oralen Ausdrucksäußerung eine solche Selbstzuschreibung entspre-chen könnte. Das Grundproblem für den Expressivismus ist, dass diekognitiven Inhalte von Selbstzuschreibungen sehr viel differenziertersind, als unsere behavioralen Ausdrucksäußerungen.

Da auch aus der Sicht Crispin Wrights der Expressivismus obsolet ist, siehter für eine Wittgensteinsche Auffassung nur noch die theoretische Alterna-tive des sog. ‚Default View‘. Dahinter steckt die These, dass die Autoritätder ersten Person ein ‚Konstitutionsprinzip‘ des psychologischen Diskurses

30Die Kritikpunkte (a) und (b) gehen auf Peter Geach zurück und sind z.B. so auch zufinden bei Wright (1998), S. 25.

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ist und der Bereich des Mentalen und seine epistemischen Eigenschaftennur ein grammatisches Konstrukt darstellen: Welche Wünsche, Überzeu-gungen oder Intentionen ich habe, wird wesentlich erst durch die sprachli-chen Selbstzuschreibungen festgelegt:

„the authority standardly granted to a subject’s own beliefs, or expressed avow-las, about his intentional states is a constitutive principle: something which is nota consequence of the nature of those states, and an associated epistemologicallyprivileged relation in which the subject stands to them, but enters primitively intothe conditions of identification of what a subject believes, hopes and intends.“31

Der epistemischen Asymmetrie kann gemäß ‚Default View‘ prinzipiell kei-nerlei fundierende Rolle für die Praxis der Autorität der ersten Person zu-kommen. Die Grammatik der Selbstzuschreibungen wird stattdessen kur-zerhand als autonom betrachtet.32 Entgegen Wrights Sichtweise erscheintuns der ‚Default View‘ interpretatorisch unzutreffend und systematisch un-befriedigend. Auch wenn Wittgensteins Beitrag vor allem in kritischenSprachspielanalysen besteht, so wird im ‚Default View‘ die These der Au-tonomie der Grammatik überbewertet. Überbewertet wird erstens die kri-terielle Funktion: Die Selbstzuschreibungen sind zwar in vielen Fällen daszentrale Kriterium, aber sie genießen diesen hervorgehobenen Status nurim Sprachspiel unter Normalbedingungen. Da die kriterielle Funktion imMultikriterien-Modell wechselseitig von anderen öffentlichen Kriterien ab-hängig ist, kann nur von einer Teil- bzw. Scheinautonmie dieses Kriteri-ums die Rede sein.33 Als reines Sprachspiel-Phänomen sollte aus einerWittgensteinschen Perspektive bestenfalls die überhöhte Form der Autoritätder ersten Person als Unbezweifelbarkeit bzw. Unkorrigierbarkeit im inter-subjektiven Sprachspiel bezeichnet werden, nicht aber das gesamte Phä-nomen der Selbstzuschreibungen. Die ‚Default View‘-Interpretation ergibtsich bei Wright daraus, dass Cartesianismus und Expressivismus explana-torisch versagen. Es ist jedoch nicht einleuchtend, davon auszugehen, dasssich mit diesen unannehmbaren Ansätzen explanatorische Annäherungen

31Wright (1998), S. 41.32„Against the craving for explanation, he [Wittgenstein, C.M./A.N.] seemingly wants

to set a conception of the ‚autonomy of grammar‘. The features of avowals which set ourproblem — the features which seem to betray something remarkable about self-knowledge— do so only if we suppose, that they are in some way consequential upon somethingdeeper: for instance, the nature of their subject matter and of looking at the matter.“ Wright(1998), S. 39.

33Für die detaillierte Kritik von sog. ‚Artefact of Grammar‘-Theorien bzw. Erklärungensiehe Fricker (1998).

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an die besonderen Merkmale von Selbstzuschreibungen generell erübrigensollen. Alle Versuche, die Autorität der ersten Person durch die episte-mische Asymmetrie zu fundieren, erscheinen nach Wright als Schritte indie ‚cartesianische Falle‘.34 Unsinnig ist die cartesianische Intuition, wiewir oben zu zeigen versucht haben, jedoch dann und nur dann, wenn siedie Unanzweifelbarkeit von Selbstzuschreibungen nicht als ‚Sprachspiel-Unbezweifelbarkeit‘ erkennt und hinter sie eine substantielle epistemischeUnfehlbarkeit projiziert. Aber gerade eine systematische Unterscheidungder Merkmale von Selbstwissen und Selbstzuschreibungen kann diese Kon-sequenz vermeiden, indem Selbstzuschreibungen die Eigenschaft der‚Sprachspiel-Unkorrigierbarkeit‘ besitzen können, ohne dass deshalbSelbstwissen irrtumsimmun sein müsste.

Zweitens finden wir eine allgemeine Formulierung der epistemischenAsymmetrie bei Wittgenstein, in der er von asymmetrischen „Grundlagen“der Information spricht:

„Zweierlei aber ist wichtig: Daß der Andere in vielen Fällen meine Handlungennicht vorhersagen kann, während ich sie in meiner Absicht vorhersehe. Und daßmeine Vorhersage (im Ausdruck meiner Absicht) nicht auf der gleichen Grundlageruht, wie seine Vorhersage meiner Handlung, und die Schlüsse, die aus diesenVorhersagen zu ziehen, ganz verschieden sind.“ (PU II, S. 569)

Wenn man eine asymmetrische Informationsgrundlage akzeptiert, so be-sitzt man damit prinzipiell auch den Spielraum für eine Erklärung der Au-torität der ersten Person auf der Basis der epistemischen Asymmetrie. Witt-genstein hat eine solche Erklärung weder geliefert noch angestrebt, aber siebleibt mit seinen Äußerungen kompatibel. Da der ‚Default View‘-Interpre-tation eine solche Kompatibilität ausschließt, bietet er keine angemesseneWittgenstein-Interpretation.

Drittens scheint der ‚Default View‘ das Merkmal der Kriterienlosigkeitbzw. Sprachspielgrundlosigkeit überzubewerten. Es ist ein non-sequitur,aus unserem Sprachspiel darauf zu schließen, dass Selbstwissen keine ko-gnitive Leistung darstelle, bzw., dass keine substantielle Epistemologie desSelbstwissens anzunehmen sei (vgl. auch Fricker (1998)). In unserer

34„The bearing of these strategic remarks is immediate if we reflect that our whole pro-blem is constituted by a demand for explanation. We are asking: what is the explanationof the characteristic marks of avowals? And we easily accept a refinement of the questionalong the lines: what is about the subject-matter of avowals, and about their authors’ relati-on to it, which explains the possession by these utterances of their characteristic effortless,non-inferential authority? Cartesianism takes the question head on, giving the obvious, butimpossible answer.“ Wright (1998), S. 39.

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Sprachspielepistemologie sind Selbstzuschreibungen kriterien- bzw.‚grundlos‘ (da wir keine Rechenschaft darüber ablegen können, woher wirwissen, dass wir uns in M befinden) und nichtinferentiell. Vom Standpunktder ersten Person können wir keine Angaben machen, wie wir es heraus-finden; entsprechend ist Selbstwissen nichts, was man durch eine kognitiveAbsicht erlangen kann. Das impliziert aber weder, dass kein empirischesPhänomen eines speziellen Zugangs existiert, folglich auch nicht, dass die-ser Zugang nicht untersucht werden könnte; ebensowenig kann daraus ge-schlossen werden, dass es sich nicht um Wissen handelt oder dass es fürdieses keine Rechtfertigung geben kann.35 Aus diesen Gründen besitzt der‚Default View‘ auch nichts, was ihn als systematische Position attraktivmacht.

4.2 ZUR AUTORITÄT DER ERSTEN PERSON:MIT WITTGENSTEIN ÜBER WITTGENSTEIN HINAUS

Der zentrale Kritikpunkt an allen rein konventionalistischen Positionenzum Selbstwissen lautet, dass die Autorität der ersten Person allein als Ge-pflogenheit verankert ist und nicht in der Natur der mentalen Zustände. Eswird dabei explizit geleugnet, dass die epistemische Asymmetrie irgendei-ne Rolle für die Autorität der ersten Person spielt. Damit kann man jedochden folgenden Aspekten nicht Rechnung tragen:

– Meine Erlebnisse bilden eine Informationsgrundlage, und zwar nichtnur für meine Bewertung der Welt, sondern auch für die Einschät-zung meiner eigenen mentalen Phänomene: Meine Einschätzung,dass ich ein Roterlebnis habe, stützt sich auf das Erlebnis.

– Wenn ich ein mentales Phänomen habe, bin ich in einer anderen epi-stemischen Situation als eine Person, die beobachtet, dass ich dasmentale Phänomen erlebe, und ich habe eine andere und normaler-weise geeignetere Informationsgrundlage für die Einschätzung.

Selbst wenn wir eingestehen, dass ich in bestimmten Situationen als Beob-achter ähnliche Erlebnisse habe wie das betroffene Subjekt, so ist doch dieIntensität und Qualität wesentlich verschieden und führt zu anderen men-talen Zuständen, z.B. wenn ich sehe, wie ein Kind im vollen Lauf auf denBetonboden fällt und sich die Knie aufschlägt, so kann der Beobachter ab-hängig von der Empathiefähigkeit auch einen „Schmerz“ spüren, aber dies

35Vgl. Fricker (1998), S. 172f.

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ist dann die Grundlage für Mitleid oder jedenfalls einen anderen mentalenZustand als der des Kindes.36 Die Einschätzung meiner eigenen mentalenPhänomene hat als Informationsbasis zumindest auch ein bewusstes Erleb-nis, welches eben nur das betroffene Subjekt hat. Daneben gibt es auchKriterien zur Einschätzung, die öffentlich sind, und daher sowohl dem Er-fahrungssubjekt als auch dem Beobachter zur Verfügung stehen. Als Erfah-rungssubjekt verlasse ich mich in vielen Fällen allein auf meine bewussteErfahrung, ohne intersubjektive Kriterien heranzuziehen (kriterienlos), aberdamit ist die Einschätzung nicht ohne Informationsgrundlage. Wir habendarauf hingewiesen, dass Wittgenstein durchaus eine Informationsgrundla-ge anerkennt und damit nicht einfach in ein rein konventionalistisches Kor-sett gesteckt werden kann. Anderseits bleibt er jedoch ganz dezidiert aufSprachspielanalysen begrenzt und sieht die philosophische Bemühung mitder kritischen Analyse von Alltagsintuitionen hinreichend abgeschlossen.

Über Wittgenstein hinaus können wir die Informationsgrundlage nähercharakterisieren: Mein bewusstes Erleben ist gerade die entscheidende In-formationsgrundlage, die ich bei einer sprachlichen Selbstzuschreibungnoch begrifflich einordnen muss. Wir können unterscheiden: 1. die Selbst-bekanntschaft als Proto-Selbstwissen, die im Haben eines bewussten Erleb-nisses besteht, 2. das Selbstwissen auf der Basis einer begrifflichen Einord-nung (ein Erlebnis wird als Roterlebnis kategorisiert) und 3. die explizitesprachliche Selbstzuschreibung „Ich weiß, dass ich ein Roterlebnis habe“(Newen 2005a).

Die gemeinsame Grundlage für alle diese Fälle ist eine bewusste Erfah-rung aus der Erste-Person-Perspektive. Beim Selbstwissen kommt dann ei-ne begriffliche Einordnung der Erlebnisse hinzu und schließlich bei densprachlichen Selbstzuschreibungen eine begriffliche Repräsentation des Ichund des Wissens. Je komplexer die Repräsentation ist, desto mehr Fehlerkönnen auftreten. Sobald eine begriffliche Repräsentation ins Spiel kommt,kann auch eine Fehlrepräsentation auftreten. Aber bei basalen mentalenPhänomenen wie Roterlebnissen oder Schmerzen erlernen wir früh eine sta-bile Klassifikation, während komplexe mentale Phänomene dagegen eherfalsch eingeschätzt werden. Wir haben daher beim Selbstwissen eine Situa-tion, die einerseits verschieden ist von Wissen aufgrund von Kriterien, dieöffentlich sind, weil es eine epistemische Asymmetrie gibt, aber anderer-

36Die Entdeckung von Spiegelneuronen liefert hier auch keine entgegenstehende Evi-denz, denn die empirischen Studien beziehen sich fast alle auf einfache motorische Ak-tivitäten, für die gezeigt wurde, dass meine eigene Greifbewegung dieselben Hirnzellenaktiviert wie die Beobachtung der Greifbewegung bei einer anderen Person.

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seits haben wir einen klaren Fall von Wissen, weil die Kernbedingungenvon Wissen erfüllt sind: Die epistemische Asymmetrie entpuppt sich dabeials Asymmetrie der Informationsgrundlage:

Ich habe prinzipiell eine epistemisch deutliche bessere Informations-grundlage für die Einschätzung meiner eigenen mentalen Phänomene(Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken) als im Fall der Einschätzungvon mentalen Phänomenen anderer Personen, nämlich die bewussteErfahrung aus der Erste-Person-Perspektive.

Da sogar eine Selbsteinschätzung, die nur aufgrund von bewussten Erfah-rungen erfolgt, eine Informationsgrundlage hat, nämlich meine bewussteErfahrung, und diese gewöhnlich verlässlich ist, so ist meine Selbstein-schätzung gerechtfertigt, wenn auch ohne öffentliche Kriterien (kriterien-los), und sofern sie wahr ist, ist meine Meinung über meine mentalen Phä-nomene eben ein Wissen.37 Bezüglich des Selbstwissens kann man dannsinnvoll die Frage stellen, ob ich ein verlässlicher Informant bin und dieAntwort lautet: Wenn ich die üblichen begrifflichen Klassifikationen be-herrsche und sprachkompetent bin sowie nicht in psychischen Ausnahme-situationen oder Experimentsituationen stecke, dann sind meine Selbstein-schätzungen gut brauchbar. Daraus hat sich dann die sprachbasierte Kon-vention entwickelt, den Selbstzuschreibungen einer Person stets ein Vor-recht für die mentale Einschätzung einzuräumen. Wenn man jedoch wieRorty (1970) und alle rein konventionalistischen Ansätze das Fundamentfür die Autorität der ersten Person allein in einer Konvention sieht, fehltdie Verankerung in der Natur der mentalen Phänomene. Ohne eine solchekönnen jedoch Selbsttäuschung oder Fehleinschätzung mentaler Phänome-ne trotz guter Sprachkompetenz nicht verständlich werden.

5 VERDIENSTE UND GRENZEN EINER SPRACHSPIEL-AUFFASSUNG FÜR DIE SELBSTWISSENSTHEORIE

Kommen wir zu einer Übersicht über Wittgensteins Auffassung zum Selbst-wissen und deren Grenzen: Die cartesianischen Intuitionen haben einegrammatische Verwirrung als Ausgangspunkt. Doch die Auflösung dieserVerwirrung impliziert nicht die Aufgabe der Selbstwissenstheorie. Es istWittgensteins methodologisches Primat, auf Erklärungen zugunsten gram-matischer Übersicht zu verzichten. An der Wittgensteinschen Perspektive

37Andere können prinzipiell dasselbe Wissen haben, aber auf der Basis öffentlich zu-gänglicher Informationen.

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hat sich jedoch als unzureichend erwiesen, dass das komplexe Phänomendes Selbstwissens nicht mit der grammatischen Klärung der epistemischenAsymmetrie gelöst ist, da sie keine Möglichkeit eines positiven Verständ-nisses des Ausdrucks ‚wissen‘ in Selbstwissen aufzeigt. Wittgenstein bleibtuns eine Theorie des Erlernens mentaler Zuschreibungen und eine Theo-rie der Anwendung mentaler Prädikate in der ersten Person schuldig. EineTheorie des Erwerbs unserer Selbstzuschreibungskompetenz liegt außer-halb des Rahmens und der Reichweite seiner Methodologie. Philosophi-sche Probleme bzw. Beunruhigungen im engeren Sinn waren für Wittgen-stein Fragen wie die des Solipsismus. Die Selbstwissenstheorie bleibt dage-gen eine philosophische Herausforderung auf der Grundlage geklärter All-tagsintuitionen. Die sogenannte ‚cartesianische Erklärung‘ des PhänomensSelbstwissen ist eine ‚Erklärung‘ auf der Grundlage grammatischer Un-übersichtlichkeit. Die grammatische Übersicht über unsere Selbstzuschrei-bungspraxis scheint zwar nicht mehr als eine gute Propädeutik für eine er-folgreiche Erklärung des Gesamtphänomens zu sein, sie braucht aber auskeinen ersichtlichen Gründen eine Erklärung ausschließen.

Es ist Wittgensteins Verdienst, für den Fall von Selbstzuschreibungenmentaler Phänomene, die zentralen Sprachspiele aufgezeigt zu haben, näm-lich Kriterienlosigkeit, subjektive Unbezweifelbarkeit, Autorität der erstenPerson sowie vor allem die semantische Symmetrie der mentalen Prädikate.Letzteres ist seit Wittgenstein eine allgemein akzeptierte Adäquatheitsbe-dingung für jede Theorie des Selbstwissens. In diesem Rahmen ist seinemultikriterielle Theorie mentaler Prädikate ein wichtiger Baustein.38 Dar-auf kann man die plausible systematische Position stützten, dass mentalePhänomene (nicht nur Prädikate) durch eben diese oben aufgezeigte Viel-falt von Merkmalen individuiert werden und somit das subjektive Erleb-niselement zwar dazugehört, aber stets nur eines unter vielen ist. Mit die-sen Ausführungen hat Wittgenstein den Boden für eine anti-cartesianischeTheorie des Selbstwissens bereitet. In der Konsequenz, aber über Wittgen-stein hinausgehend, sind letztlich sprachliche Selbstzuschreibungen undepistemisches Selbstwissen zu unterscheiden, wenn sie auch eng mitein-ander verzahnt sind. Damit wird dann die Suche nach einer Antwort für dasFundament der Autorität der ersten Person in der Natur des Mentalen neuaufgeworfen.

Auch wenn Wittgensteins Sprachspielanalysen einen wichtigen Aus-gangspunkt für Untersuchungen darstellen, müssen wir das zugrunde lie-

38Diese Voraussetzung ist jedoch keineswegs unstrittig. Es gibt eine umfassende Diskus-sion zu phänomenalen Begriffen einerseits und zur Individuierung phänomenaler Zustände.

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gende Sprachparadigma heute als zu eingeengt bewerten, demgemäß wiruns bei der Analyse von kognitiven Phänomenen auf die Sprachspielana-lysen beschränken müssen. Wir haben vielfältige Evidenzen dafür, dassdie kognitiven Fähigkeiten in starkem Maße sprachunabhängig sind: Mei-ne Wahrnehmungen sind in vielen Fällen unabhängig von einem Wahr-nehmungsurteil, manchmal sogar völlig unabhängig von Sprache und Be-griffsbildung. Während die Wahrnehmung selber zumindest in vielen Fäl-len nichtbegrifflich ist, ist das Wahrnehmungsurteil begrifflich (Dretske1981, 1997). Genauso wie viele Wahrnehmungen sind sogenannte Basi-semotionen (Ekman 1999, Zinck/Newen 2007) unabhängig von Spracheverfügbar. Wenn man diesen Phänomenen Rechnung tragen möchte, so be-nötigt man als Hintergrundannahme eine Theorie der mentalen Repräsenta-tionen, wie sie in der Philosophie des Geistes heute üblich ist (Fodor 1998).Damit aber verlässt man dann klar den von Wittgenstein bereiteten Bodengebrauchstheoretischer Theorien und verfolgt das Ziel, eine repräsentatio-nale Theorie des Selbstwissens zu entwickeln (Newen/Vosgerau 2007).

Wittgensteins Beitrag kann selbst aus der Sicht eines Vertreters der re-präsentationalen Theorie des Geistes gewürdigt werden. Er besteht in ei-ner Aufklärung unserer Alltagsintuitionen zum Selbstwissen mit Hilfe vonSprachspielanalysen, die u.a. zu einem besseren Verständnis von Wissens-asymmetrie und Zweifelsasymmetrie geführt hat. Wir haben dargelegt, dassdiese Sprachspielanalysen eine anti-cartesianische Sichtweise der Auto-rität der ersten Person begründen, aber keineswegs eine informationsba-sierte epistemische Asymmetrie ausschließen. Eine adäquate Wittgenstein-Interpretation, die seinem methodisch bescheidenen Anspruch Rechnungträgt, lässt erkennen, dass er den Spielraum für eine Unterscheidung vonSelbstzuschreibung und Selbstwissen eröffnet, die ohne cartesianische pri-vate Objekte auskommt. So kann und sollte über Wittgenstein hinaus dieSuche nach einer neuen kognitiven Theorie des Selbstwissens als Funda-ment der Autorität der ersten Person erfolgen.

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