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Eine kognitive Typologie der Zeit Prolegomenon Wolfgang Schulze KGE/UMB - ATS/LMU © 2009

Wolfgang Schulze KGE/UMB - ATS/LMU © 2009. Warming Up Tempus edax rerum (Ovid, Met. xv,234) Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti

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  • Wolfgang Schulze KGE/UMB - ATS/LMU 2009
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  • Warming Up Tempus edax rerum (Ovid, Met. xv,234) Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. (Augustinus, Confessiones XI.14.17) Tempora mutantur et nos mutamur in illis (Lothar I (795 - 855)?) Denke immer daran, dass es nur eine allerwichtigste Zeit gibt, nmlich: Sofort! (Leo Tolstoi) Dreifach kommt die Zeit: Zgernd kommt die Zukunft hergezogen, pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit. (Friedrich Schiller)
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  • 1. Abschnitt Einige Typen der Zuordnung
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  • ZEIT ist unteilbar: "Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist fr uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnckige." (Albert Einstein (1879- 1955), ohne Quelle)
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  • ZEIT ist JETZT und EINS: , . / v . , /| ` . . . / = \ ; . v . / [ =|. Das Jetzt aber wohnt doch dem Eins bei whrend seines ganzen Seins. Denn es ist immer jetzt, solange es ist. (Platon, Parmenids 151a, bers. Franz Susemihl).
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  • ZEIT ist apriori (1) (Kant): Die Zeit ist 1. kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen wrde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde lge. Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen, da einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nacheinander) sei.
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  • ZEIT ist apriori (2) (Kant): 2. Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen berhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen mglich. Diese knnen insgesamt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Mglichkeit,) kann nicht aufgehoben werden. (Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787) Hier: Der transzendentalen sthetik Zweiter Abschnitt: Von der Zeit 4 (Metaphysische Errterung des Begriffs der Zeit).
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  • Vernderung und Bewegung ist in der ZEIT: () der Begriff der Vernderung und, mit ihm, der Begriff der Bewegung (als Vernderung des Orts) [ist] nur durch und in der Zeitvorstellung mglich: da, wenn diese Vorstellung nicht Anschauung (innere) a priori wre, kein Begriff, welcher es auch sei, die Mglichkeit einer Vernderung, d. i. einer Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prdikate (z.B. das Sein an einem Orte und das Nichtsein eben desselben Dinges an demselben Orte) in einem und demselben Objekte begreiflich machen knnte. Nur in der Zeit knnen beide kontradiktorisch-entgegengesetzte Bestimmungen in einem Dinge, nmlich nacheinander, anzutreffen sein. (Kant (ebenda) 5).
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  • ZEIT ist einholbar: Schulmeister: () da das auseinandergelaufene Heer des Ypsilanti am 25sten knftigen Monats in einer groen Bataille gesiegt hat. Tobies (Nase und Maul aufsperrend): Am 25sten knftigen -? Schulmeister:. Wundern Sie sich nicht, Herr Tobies! Die Kuriere gehen rasch! Verbesserte Poststraen, verbesserte Poststraen! Tobies: Jesus Christus! so 'ne Poststrae, worauf der Kurier einen Monat vorausluft, mchte ich vor meinem Tode wohl 'mal sehen! Schulmeister: Freilich ist so etwas hier zu Lande rar! Aber, Herr Tobies, Sie werden ja aus eigner Erfahrung bemerkt haben, da ein gutes Pferd auf einer guten Chaussee den Weg von einer Stunde in einer halben zurcklegt; wenn Sie sich nun das Pferd immer besser und die Chaussee immer vortrefflicher denken, so mu es ja natrlich dahin kommen, da das Pferd den Weg in einer Viertelstunde, in zehn Minuten, in einer Minute, in nichts, in garnichts und zuletzt in noch weniger als gar nichts zurcklegt! Begreifen Sie? (Christian Dietrich Grabbe (1822). Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung Ein Lustspiel in drei Aufzgen. Hier: 1. Akt.) [vgl. auch Zenon-Paradoxon von Achilles und der Schildkrte)]
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  • Ist Zeit messbar? scio quia metimur, nec metiri quae non sunt possumus, et non sunt praeterita vel futura. praesens vero tempus quomodo metimur, quando non habet spatium? metitur ergo cum praeterit, cum autem praeterierit, non metitur; quid enim metiatur non erit. sed unde et qua et quo praeterit, cum metitur? unde nisi ex futuro? qua nisi per praesens? quo nisi in praeteritum? ex illo ergo quod nondum est, per illud quod spatio caret, in illud quod iam non est. quid autem metimur nisi tempus in aliquo spatio? neque enim dicimus simpla et dupla et tripla et aequalia, et si quid hoc modo in tempore dicimus nisi spatia temporum. in quo ergo spatio metimur tempus praeteriens? utrum in futuro, unde praeterit? sed quod nondum est, non metimur. an in praesenti, qua praeterit? sed nullum spatium non metimur. an in praeterito, quo praeterit? sed quod iam non est, non metimur. (Augustinus (345-430) Confessiones XI,21.27).
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  • Ich wei es, da wir sie messen, und da das, was nicht ist, nicht gemessen werden kann, und da Vergangenheit und Zukunft nicht sind. Wie messen wir aber die gegenwrtige Zeit, wenn sie keine Ausdehnung hat? Sie wird gemessen, wenn sie vorbergeht, wenn sie aber bereits vorbergegangen ist, wird sie nicht mehr gemessen, weil dann nichts mehr da ist, was gemessen werden kann. Aber woher, wie und wohin geht sie vorber, indes sie gemessen wird? Woher, wenn nicht aus der Zukunft, wie, wenn nicht durch die Gegenwart, wohin, wem nicht in die Vergangenheit? Aus dem also, was noch nicht ist, durch das, was keine Dauer hat, zu dem, was nicht mehr ist. Was messen wir aber, wenn nicht die Zeit in irgendeiner Ausdehnung? Denn wenn wir sagen: Das Einfache, das Doppelte, das Dreifache, das Gleiche, so sagen wir das nur von der Zeit in ihrer Ausdehnung und Dauer. In welcher Dauer messen wir also die vorbergehende Zeit? Etwa in der Zukunft, von wo aus sie vorbergeht? Aber was noch nicht ist, messen wir nicht, oder in der Gegenwart, durch die sie vorbergeht? Aber wir knnen nicht messen, was keine Dauer hat. oder in der Vergangenheit, wohin sie vorbergeht. Aber wir knnen nicht messen, was nicht mehr ist. (bers. Otto F. Lachmann).
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  • Zeit ist messbar. Nicht allein aber messen wir die Bewegung mit der Zeit, sondern auch mit der Bewegung die Zeit; weil sie durch einander sich bestimmen. Die Zeit nmlich bestimmt die Bewegung, indem sie ihre Zahl ist; die Bewegung aber die Zeit. Und wir sagen viel oder wenig Zeit, indem wir sie mit der Bewegung messen, gleichwie auch mit dem Zhlbaren die Zahl, z.B. mit dem Einen Pferde, die Zahl der Pferde. Mittelst der Zahl nmlich zwar erkennen wir die Menge der Pferde; umgekehrt aber mittelst des Einen Pferdes, die Zahl selbst der Pferde. Eben so auch bei der Zeit und der Bewegung: durch die Zeit nmlich die Bewegung, durch die Bewegung aber messen wir die Zeit (Aristoteles Physik akroasis, cap. XII)
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  • Zeit ist die Summe von Zustnden Zenon sagt, dass ein fliegender Pfeil in jedem Moment seiner Flugbahn einen bestimmten, exakt umrissenen Ort einnimmt. An einem exakt umrissenen Ort befindet sich der Pfeil in Ruhe, denn an einem Ort kann er sich nicht bewegen. Da sich der Pfeil in jedem Moment also in Ruhe befindet, msste er sich insgesamt in Ruhe befinden. (Pfeil-Paradoxon des Zenon von Elea (~490-~430), vgl. Aristoteles Physik akroasis, cap. IX).
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  • Zeit'teile' sind soziale Konstruktionen: ra-Zeitskala (), die es den lebenden Generationen ermglichte, ihren eigenen Platz in der Generationsabfolge przise zu bestimmen. (Norbert Elias (1988) ber die Zeit, p.23).
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  • Schemata Beispiele: Basal: Unmittelbar sensorisch begrndete Schemata e.g. F -> G Konstruiert (mit Eigenwahrnehmung): e.g. MOTION (EGO- ~ ALTRI-) -> Die Konstruktion von Bewegung erfolgt inferentiell ber die Fllung von Wahrnehmungssakkaden gekoppelt mit sensomotorischen Mustern/Wahrnemungen der Eigenbewegung.
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  • Die Konstruktion von Bewegung G1 G2 G3 G4 F 1 F 2 F3 F4 Sakkaden Fixationen Bewegung von F in G1-G4
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  • Bewegung und Zeit Wenn G1-Gn und und F1-Fn als verwandt konstruiert werden, ergibt sich: F1(G1) F1(G1) F1(G1) F1(G1) . F1 n (G1 n ) Sakk 1 Sakk 2 Sakk 3 Sakk n -> F bewegt sich in G
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  • Bewegung 1: Ground dynamisch
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  • Bewegung 2: Figure dynamisch G1 G8 G7 G2 G6 G3 G5 G4
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  • Zeit als Sakkade Im sensorischen Gedchtnis (berfhrt in Kurzzeitgedchtnis) werden Einzelbilder sequentiell gespeichert und im neuen Bild wiederbelebt: B 1 B 2 B 3 B 4 B 5 B 6 B 7 B 8 B 9 B 10 B 11 B 12 B 13 B 14 B 15
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  • ZEIT ist Wahrnehmung in Erfahrung ZEIT ist abhngig von Wahrnehmung. Ohne Wahrnehmung gibt es keine autonome Zeit. -> Das physikalische RAUM-ZEIT-Kontinuum ist fr die Konstruktion der ZEIT unerheblich. Wahrnehmung konstruiert Bewegung. Bewegung wird konstruiert als Vernderung. ZEIT resultiert aus der Inbeziehungsetzung der Wahrnehmung varianter, aber verwandter Umweltreize. ZEIT resultiert also aus der Inbeziehungsetzung von Wahrnehmung und Erfahrung. Dabei ist ZEIT selbst ein emergentes Schema, das unmittelbar konzeptualisiert werden kann.
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  • Dynamizitt der Zeit ZEIT-Wahrnehmung erfolgt auf der Basis der Dynamizitt (Bewegung) der Erfahrung: ZEIT Wahrnehmung UR >ur Memory
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  • Zeit ist (zyklische) Vernderung (1) 1. Die Wahrnehmung von Vernderung beinhaltet also die Fixation->Speicherung etwas Wahrgenommenen (> Erfahrung) und (nach Sakkade, s.u.) die Fixation- >Speicherung eines varianten Analogons, wobei die qualitative/quantitative Differenz als Vernderung und in ihrer Kopplung mit dem Gedchtnisappell als Zeitdifferenz konstruiert wird. 2. Die konstante Wahrnehmung von Eigen- und Fremdvernderungen bedeutet die Konstruktion eines Zeitpfeils. 3. Damit verbunden ist die Erfahrung von Geburt und Tod als Skalen auf dem Zeitpfeil.
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  • Zeit ist (zyklische) Vernderung (2) 4. Die Wahrnehmung/Erfahrung rekursiver Vernderungen (e.g. Tag -> Nacht -> Tag -> Nacht etc.) ermglicht prognostische Konstruktionen: Auf den Tag folgt die Nacht. Dann ist Zukunft lediglich eine projezierte Vergangenheit (die kommende Nacht ist analog zu dem, was dem (jetzigen) Tag vorausgegangen ist). 5. Zyklische Vernderungen werden als Teil des globalen Zeitpfeils konstruiert:
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  • Zeit ist (zyklische) Vernderung (3) Zyklische Vernderung von F in G t 0 t n
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  • Die Konzeptualisierung der ZEIT Konzeptualisierung: Schema-basierte Fixierung von Erfahrungssegmenten, die kategoriell als verwandt verarbeitet werden: Disjunkt Prototypisch Radial Familienhnlich Embodiment Konzeptualisierung ist sprachunabhngig!
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  • Die Allegorie der ZEIT www.fes.de/.../internet/images/s-schur/zeit.jpgwww.fes.de/.../internet/images/s-schur/zeit.jpg www.realschule.bayern.de/.../bilder/uhr_dali.jpg Ilse Schtze-Schur: Die Zeit (um 1921) Salvatore Dali: Persistence of Time (1931) Originalholzschnitt (40,5 cm x 36,5 cm) (Ausschnitt)
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  • Allegorie Allegorie: Die reifizierende (dimensionale) Abbildung von Vorstellungen, die nicht-dimensionale Umweltreize abbilden. -> Reifikation kognitiver Sakkaden
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  • Kognitive Sakkaden (1) http://www.badminton-technik.de/vh_aufschlag.html /http://www.badminton-technik.de/vh_aufschlag.html / modifiziert] Fixation 1 Fixation 2 Sakkade Mensch bewegt Arme
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  • Kognitive Sakkaden (2) ZEIT kann nicht sensorisch als dimensional erfahren werden. Ergo: ZEIT ist eine kognitive Sakkade, die die Wahrnehmung/Erfahrung von Bewegung/Vernderung etc. schematisiert. Die Konzeptualisierung von ZEIT kann also nur auf einer hherer Ebene (Ereignisvorstellung) erfolgen. Gleichzeitig liefern die relationalen (Sakkaden-) Vorstellungen die Quelldomne fr die dann ber Metaphorisierung gewonnenen ZEIT-Vorstellungen.
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  • Konzeptuelle Metaphern Beispiele der metaphorischen Gewinnung von ZEIT- Konzeptualisierungen ZieldomneQuelldomne ZEIT ist Bewegung/Prozess ZEIT ist Vernderung ZEITistvor ~ nach
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  • Die Reifikation der ZEIT Griechisch: *das umfassende/Umfasste (?) Latein: tempus *Ausdehnung? Irisch: aimser (unklar) Kymrisch: pryd *-mal (?) Gotisch: eihs *Ausdehnung Altnordisch: t *Teil, Antei, Zuteilung Litauisch: laikas *bleiben, halten (?) Avestisch: zvran *alt Sanskrit kla- (unklar) Altkirchslawisch: vrm *Rcklauf, Rundlauf
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  • Sprachbasierte Symbolisierung Die sprach-basierte Symbolisierung von konzeptuellen Einheiten: Die artikulatorische Fixierung einer konzeptuellen Einheit: Konzeptueller Raum Artikulationen
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  • 3. Abschnitt ZEIT in der Sprache
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  • ZEIT als Raumkonzept (Deutsch) In die/der Zeit (in) ber die/der Zeit (supra) supra Kontaktzone Hinter die/der Zeit (post) super Unter der Zeit (sub) Vor der Zeit (ante) ante ad in post post An der Zeit (ad) sub
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  • ZEIT ist teilbar Von der Zeit (genitivus/ablativus partitivus)
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  • Weitere Eigenschaften ZEIT ist ein Container: Aus der ZEIT heraus In die ZEIT hinein ZEIT ist ein (humaner?) Begleiter Sie ging mit der ZEIT.
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  • ZEIT als Aktant (1) ZEIT als Aktant: Korpus (deutsch) mit 2536 Belegen (hier hchstfrequente Belege): Subjective (intrans. Agens): 1482 vergehen 404 stehen 279 reif=sein 243 verstreichen 167 dauern 91 Agentive (trans. Agens): 52 heilen 23 bringen 19 Objective (trans. Patiens): 1072 nehmen 147 rauben 123 verbringen 102
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  • ZEIT als Aktant (2) Semantische Primitive (Auswahl): MOVE791 THING360 EXTENSION114 POSSESSION186 ANIMATE124 PLANT243 STAND279 ERGO: ZEIT (Deutsch) ist eine bewegliche/sich flssig bewegende bzw. sich nicht bewegende (un)belebte, dreidimensionale Einheit (Ausschnitt). ZEIT findet im Raum statt (F: ZEIT ->G) oder ist Raum (Landmark) eines Trajektors (F->G: ZEIT ).
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  • Die Attribuierung der ZEIT einige 18048QUANTITY geraume 9410DIMENSION lang (Pos/Kom/Sup)8202DIMENSION kurz (Pos/Komp/Sup)5297DIMENSION absehbar 4966VISIBIL gleich 2344IDENTITY jene 2291IDENTITY meiste 2144QUANTITY unser 2003POSSESSED jung (Komp/Sup) 1832AGE ganz 1276GESTALT hoch (Superlativ) 824DIMENSION unabsehbar 500VISIIAL gengend 464QUANTITY selbe 378IDENTITY begrenzt 372GESTALT viel 309QUANTITY BASIS: 65305 Belege
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  • Die Semantik der ZEIT ERGO (2): [Deutsch] ZEIT ist eine begrenzte, teilbare, zhlbare, sichtbare, bewegliche/sich flssig bewegende bzw. sich nicht bewegende (un)belebte, dreidimensionale, mit Identitt versehene Einheit, die penetrieren ebenso wie penetriert werden kann. [vorlufig]
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  • 4. Abschnitt Die sprachliche Segmentierung der Zeit
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  • Optionen der linguistisches Kodierung Kog.Kat. Ling.Kat. LexikalischKonstruktionellFlektiv Radikal Lexikalisch Idiomatisch
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  • Beispiele der Kodierung von ZEIT Lexikalisch: Morgen gehe ich in die Stadt. Konstruktionell (rad.): *ich gehen Stadt (~nFUT) / *gehen ich Stadt (~FUT) Konstruktionell (lex.): Ich werde in die Stadt gehen. Konstruktionell (idiom.): *Wenn=die=Sonne=aufgeht (> morgen) gehe ich in die Stadt. Flektiv: in forum ibo. Je lexikalischer der Zeit'ausdruck', desto 'enger' ist der Zeit- Raum (spezifisch, berbestimmt). Die Grammatikalisierung von Zeit'ausdrcken' ffnet den Zeit-Raum (unspezifisch, unterbestimmt).
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  • Grnde der Segmentierung (1) Die Gegenwart zeigt man, aber das Vergangene muss man erzhlen. Und da man dies auf so viel Art erzhlen konnte und anfangs im Bedrfnis, Worte zu finden, es so vielfltig tun mute, so wurden in allen alten Sprachen viel Prterita, aber nur ein oder kein Prsens. (Herder (1772) Abhandlung ber den Ursprung der Sprache, 3. Abschnitt V,3)
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  • Grnde der Segmentierung (2) Warum gibt es konzeptuelle Tempora (besser: eine Faktorisierung der ZEIT)? Grundlage: Die Zugnglichmachung des Gedchtnisses! - Kognitionsinterner Reiz (KIR -> kir):
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  • REIZ-Verarbeitung in der Kognition (1) 1. Jeder Umweltreiz (UR) wird primr in der Wahrnehmung durch den spezifischen sensorischen Apparat (-> sensorisches Gedchtnis) gebrochen. 2. Die daraus resultierende Abbildung (ur) initiiert einen Erfahrungsappell (-> Gedchtnis ( )), der gekoppelt ist mit dem durch UR>ur gegebenen aktuellen Zustand der Kognition (). 3. Das Verfahren des memory appeal (in seiner Korrelation mit ) kann einen kognitionsinternen Reiz (KIR) auslsen, der ber eine unspezifische, interne Sensorik erneut in eine Abbildung (kir) umsetzt wird. kir wird dann analog zu ur verarbeitet. 4. Der Prozess KIR>kir ist die Voraussetzung dafr, dass Gedchtnisinhalte () bewusst gemacht werden knnen.
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  • REIZ-Verarbeitung in der Kognition (2) *URur KIR kir ur kir
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  • Die Faktorisierung der ZEIT als kognitionsinterner Reiz (1) Die humane Fhigkeit, sich ihre eigenen Gedchtnisprozesse zu erschlieen, gibt ihr die Mglichkeit, Gedchtnisanteile selbst als Reiz (KIR) auszulsen und entsprechend zu verarbeiten (ohne die Kopplung mit einem unmittelbaren ur ) *UR -> ur -> KIR -> kir Der deiktische Hinweis auf diesen Prozess wird als Vergangenheit konzeptualisiert.
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  • Die Faktorisierung der ZEIT als kognitionsinterner Reiz (2) Der deiktische Hinweis auf eine hochgradige Aktivierung des ur -Bereichs (unter Einschluss einer ur -Aktivitt) wird als Gegenwart konz eptualisiert. Die KIR-basierte Imagination eines UR mit Appell an ur fhrt zur Konstruktion von ur zuknftigt.
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  • REIZ-Verarbeitung in der Kognition (1) Vergangenheit
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  • REIZ-Verarbeitung in der Kognition (2) Gegenwart
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  • REIZ-Verarbeitung in der Kognition (3) Zukunft
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  • Augustinus ber die Zeiten `tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris.' sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. si haec permittimur dicere, tria tempora video fateorque, tria sunt. dicatur etiam, `tempora sunt tria, praeteritum, praesens, et futurum,' sicut abutitur consuetudo; dicatur. (Augustinus Confessiones XI,20.26) Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwrtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwrtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwrtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung. Wenn es uns gestattet ist, so zu sagen, so sehe ich allerdings drei Zeitunterschiede und gestehe, da es wirklich drei gibt. Man mag auch sagen: Es gibt drei Zeiten, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wie es einmal der Mibrauch der Gewohnheit ist; mag man es sagen,
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  • Tempus in der Antike (1) Tempus praesens de praeteritispraesens de praesentibuspraesens de futuris memoria contuitus expectatio esse nosse velle visio voluntas intelligentia providentia
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  • Tempus in der Antike (2) Prudentia est rerum bonarum et malarum neutrarumque scientia. Partes eius: memoria, intellegentia, providentia. Memoria est, per quam animus repetit illa, quae fuerunt; intellegentia, per quam ea perspicit, quae sunt; providentia, per quam futurum aliquid videtur ante quam factum est. Cicero, de inventione 2.160 Weisheit ist das Wissen um das, was gut ist, was schlecht ist, was keines von beiden ist. Ihre Teile (sind): Gedchtnis, Wahrnehmung und Vorausschau. Gedchtnis (ist), wodurch sich der Geist daran erinnert, was geschehen ist. Wahrnehmung (ist), wodurch er feststellt, was ist. Vorausschau (ist), wodurch etwas gesehen wird, bevor es geschehen ist (bers. W. Schulze). Vgl. Aristoteles (De Memoria et Reminiscentia 1, 449b, 27) / . / v |/ / v ; , , , ; . , , v . / . , ; , / . , v , , / . , , . Vom Jetzt ist im Jetzt keine Erinnerung, wie schon vorher gesagt, sondern Wahrnehmung des Bestehenden, Erwartung des Zuknftigen, Erinnerung des Entstandenen. (bers. W. Schulze).
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  • Die Triade der ZEIT in der Sprache TripartiteBipartite(1)Bipartite(2)Bipartite(3)Neutral PRESENTPRESnFUTnPASTPRES General PAST FUT PAST nPRES FUTURFUTnPAST Sprache (exempl.) LateinPama- Nyunga GermanischArchi (i.T.)Vietnam.
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  • Die Begrifflichkeit der Zeit-Stufen Vergangenheit: Lehnbersetung aus lat. praeter-itum was vorber gegangen ist Gegenwart: Schon ahd. ge ginwart ~ andwart (adj.) mit -wart zu lat. vertere = 'dem Gegenber zugewandt', vgl. "in meinem gesichtskreis gegen mich gekehrt oder gegen mich herkommend" (Grimm V,sp.2281), vgl. Latein praesens was vor(a)n steht [ZEIT erst spter] Zukunft: Schon ahd. zuochunft 'was einem zukommt' (vgl. franz. avenir)['ZEIT' erst ab sptem Mhd.]
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  • Schematisch (Deutsch) PAST PRESENT FUTURE Gegen- wart KOG ver-gehen zu-kommen
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  • Grammatikalisierungsbasen PRESENTPASTFUTURE essiveablativeallative comecome=fromcome=to comitativegetcopula dogodeontic modality essivehave-possessiongo=to existitivhave-possession go(=in)passlove/want in (spatial)throwobligation keepyesterdaytake liethen livetomorrow locativeventive sit stand(vgl. u.a. Heine & Kuteva 2002)
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  • Basiskonzeptualisierung Gegenwart ist Sein in/an einer Ereignisvorstellung -> (ANTE-)ESSIV Vergangenheit ist Separierung von einer Ereignisvorstellung -> ABLATIV Zukunft ist Zuwendung hin zu einer Ereignisvorstellung -> ALLATIV
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  • Raum- und Zeit-Paradigmatisierung ZEITRAUMZEITRAUMZEITRAUMZEITRAUMZEITRAUM TRIBI(1)BI(2)BI(3)NEUTRAL PRESS nFUTnALL PRESSnPAnABL GEN.LOC PAABL nPRnESS PAABL FUALLFUTALLnPAnABL
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  • Points of Reference (1) Die Fixierung der Zeit-Stufen basiert auf dem Typ der Zuordnung von Figure und Ground: KOG definiert sich in seiner (primr rumlichen) Beziehung zu einer Ereignisvorstellung TrajektorRELLandmark a. F:KOG->/ESS/ABL/ALLG:EV b.F:EV->/ESS/ABL/ALLG:KOG E.g. a. KOG entfernt=sich=von einer EreignisvorstellungPAST/Egomotion b. Eine Ereignisvorstellung kommt=zu=auf KOGFUTURE/Altrimotion
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  • Points of Reference (2) 1. Intern: COG konstruiert sich als im Zeitpfeil befindlich (EGO-Reference Point) ALTRIMOTION: Integration der Kategorie VENTIV/ITIV: Ventiv:X bewegt sich zum Zentrum hin E.g:Zukunft (kommen) Itiv:X bewegt sich vom Zentrum weg E.g.:Vergangenheit (gehen)
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  • Points of Reference (3) EGOMOTION: VENTIV: Ich komme aus der Vergangenheit. ITIV: Ich gehe in die Zukunft. EGO VENTIV ITIV PAST PoR FUTURE ALTRI ITIV VENTIV
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  • Points of Reference (4) VISION "Die praktisch erkannte Gegenwart ist keine Messerschneide, sondern ein Sattelrcken mit einer gewissen ihm eigenen Breite, auf den wir uns gesetzt finden und von dem aus wir nach zwei Seiten in die Zeit hineinblicken." (William James (1886). The Perception of Time. [1886] In: The Principles of Psychology (Chapter XV). London 1901. Deutsch: Die Wahrnehmung der Zeit. In: Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Hrsg. v. Walther Ch. Zimmerli, Mike Sandbothe. Darmstadt 1993. S. 31-6, hier p.35).
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  • Points of Reference (5) a. FACING THE PAST (der Aymara-Typ) PAST PoR FUTURE Gesehen Sichtbar Nicht gesehen Vor Augen Nicht vor Augen / hinter Gesehen>Gewusst Nicht gesehen>nicht gewusst [vgl. = -Prinzip] Aymara : nayra pacha (Augen/Front/Sicht-Zeit)Geste nach vorne > PAST q'ipa pache (Rckseite-Zeit)Geste nach hinten > FUTURE
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  • Points of Reference (6) b. FACING THE FUTURE PAST PoR FUTURE Gesehen Sichtbar Nicht gesehen Nicht vor Augen Vor Augen Gesehen>Gewusst Nicht gesehen>vorgestellt Deutsch: MorgenGeste nach vorne > FUTURE GesternGeste nach hinten > PAST
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  • Points of Reference (7) c. Das chinesische Modell oben vorn hinten unten Mit: Yang = 'formlose Zeit Yin = 'durch ein Objekt geformte Zeit' (mit zwei Grenzen)
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  • Points of Reference (8) Externer PoR: Separatum Projektion Basales Verfahren PoR PA FU
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  • Points of Reference (9) Externer PoR (1) Separatum Projektion Profilierung des Zeit-Abschnittes (1): PoR blickt in die Vergangenheit [PoR ist intrinsisch links profiliert]: Ich komme vor dem Essen (vor der Zeit des Essens) [MOTION in einen Zeitraum hinein, der vor dem des Essens liegt] Ich komme nach dem Essen (nach/hinter der Zeit des Essens) [Motion in einen Zeitraum hinein, der hinter dem des Essens liegt.] PA vor FU nach
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  • Points of Reference (10) Externer PoR (2) Separatum Projektion Profilierung des Zeit-Abschnittes (1): PoR blickt in die Zukunft [PoR ist intrinsisch rechts profiliert]. PA nach FU vor
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  • Points of Reference (11) Analog zu PoR / extern (1): Vor-fahren (~gehen) / Nach-kommen Vor-gestern / *nach morgen (vgl. engl. after tomorrow) t n t o vor nach nach nach nach nach ->vor ->vor ->vor ->vor -vor
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  • 5. Abschnitt Conclusio
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  • CONCLUSIO (1) Tizian: Allegorie der Zeit (1565; Org. 75,5 x 68,5 cm) Auschnitt: Original Umstellung links/rck rechts/vorn links/vor rechts/rck
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  • Conclusio (2) 1. Kognitive Linguistik kann nicht klren, was ZEIT ist, sondern nur wie etwas als Zeit konzeptualisiert wird. 2. Es gibt keinen universellen ZEIT-Begriff. 3. Universell ist die Konzeptualisierung von gedchtnisbezogenes kognitiven Ereignissen. 1. Dabei gilt: Die Triade der ZEIT (PAST/PRES/FUT) ist eine universelle, operationale Eigenschaft der humanen Kognition. 2. Die emergente Konzeptualisierung dieser Eigenschaft als e.g. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erwchst mit der zunehmenden Verarbeitung von Gedchtnis- Ereignissen als kognitionsinterne Reize (Bewusstwerdung) 3. ZEIT ist das Wissen um die eigene Erfahrung.
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  • Conclusio (3) 4. Die sprachbasierte Konzeptualisierung von ZEIT- Dimensionen beruht nicht auf der Vorstellung von Zeit, sondern resultiert aus der Metaphorisierung heterogener Quelldomnen. Eine umfassende lexikalische Typologie, die Prferenzen fr bestimmte Quelldomnen in den Sprachen der Welt aufzeigen wrde, fehlt jedoch noch. 5. Die Fraktionierung der ZEIT (Triade) wird hingegen weitaus einheitlicher konzeptualisiert. MOTION und VISION sind die zentralen Verfahren. 6. Die Fraktionierung der ZEIT luft dabei konzeptuell analog zur Dimension der Trajektor-Landmark- Beziehung (Essiv, Ablativ, Allativ).
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  • Conclusio (4) 7. Die Grammatikalisierung der ZEIT-Fraktionen beruht auf der Explikation oder Unterspezifikation der Triade PRES/PAST/FUTURE. Der Grad der Differenzierung ist sprachspezifisch. 8. TEMPUS ist eine rein linguistische Kategorie und reflektiert die kognitiven Verfahren zur Konzeptualisierung der ZEIT- Triade nur bruchstckhaft. 9. Ergo: ZEIT ist keine linguistische Kategorie. Als kognitives Segment ist ZEIT eine emergente Struktur, die sekundr vergesellschaftet und als konzeptuelle Entitt reifiziert werden kann. 10. Die Annahme, dass bestimmte Sprachgemeinschaften keinen Zeit-Begriff htten, ist falsch (sie basiert irrig auf der Parallelsetzung von Tempus und Zeit). 11. ZEIT erfhrt man, man hat sie nicht.