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1 Einleitung 1.1 Forschungsstand und Thema der Arbeit Athen in klassischer Zeit galt schon den Zeitgenossen als „Schule Griechen- lands“ (τῆς Ἑλλάδος παίδευσιν) 1 und „Hauptsitz der Weisheit“ (τὸ πρυτανεῖον τῆς σοφίας). 2 Isokrates meinte über seine Heimatstadt: „Unsere Polis hat nun auf dem Gebiet intellektueller und rhetorischer Fähigkeiten alle anderen Men- schen soweit zurückgelassen, daß die Schüler Athens Lehrer der anderen ge- worden sind“. 3 Der Stolz auf die kulturelle Leistung und Ausstrahlung der Stadt kommt in mehreren Texten der Zeit zum Ausdruck. 4 Doch wie repräsentativ sind diese Stimmen? Dass nicht alle Isokrates’ Meinung teilten, merkt er selbst in seiner Antidosis-Rede nicht ohne Verärgerung an: „Darauf aber müßten alle Bürger stolz sein und Männer sehr schätzen, die unserer Polis diesen Ruhm eingebracht haben.“ Stattdessen besäßen manche „die Unverschämtheit […], Verleumdungen über diese Menschen in Umlauf zu setzen“. 5 Isokrates geht es dabei vor allem um die rhetorische Bildung, um die er selbst sich ein Leben lang bemühte. Doch auch die Philosophen mussten sich nicht selten als Schwätzer, Scharlatane, wunderliche Außenseiter oder gar Gottlose bezeichnen lassen. In der Politeia fasst Platon die Kritik dahingehend zusammen, dass „die meisten, die sich mit [der Philosophie] abgeben, […] ganz schlecht und nur die Ausge- zeichnetsten bloß unnütz“ werden würden. 6 Es stellt sich daher grundsätzlich die Frage: Was dachten ihre Zeitgenossen über Leute wie Anaxagoras, Protagoras, Isokrates und Platon und die Studien, mit denen sie und ihre Schüler sich beschäftigten? Welches Bild hatte man von den Philosophen und Rhetoriklehrern in der Stadt, deren Ruhm die gesamte Antike hindurch und bis heute in so großem Maße von ihren intellektuellen || 1 Thuk. 2,41,1. 2 Plat. Prot. 337d. 3 Isok. 4,50 (Übersetzung Ley-Hutton): Τοσοῦτον δ’ ἀπολέλοιπεν ἡ πόλις ἡμῶν περὶ τὸ φρονεῖν καὶ λέγειν τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους, ὥσθ’ οἱ ταύτης μαθηταὶ τῶν ἄλλων διδάσκαλοι γεγόνασιν. 4 Vgl. weiterhin Plat. Apol. 29d; Lach. 183a–b; Isok. 15,224–226; Hadot 1995, 37 f. 5 Isok. 15,226–228 (Übersetzung Ley-Hutton): ἐφ’ οἷς ἄξιον ἦν ἅπαντας τοὺς πολίτας φιλοτιμεῖσθαι καὶ περὶ πολλοῦ ποιεῖσθαι τοὺς αἰτίους τῇ πόλει τῆς δόξης ταύτης γενομένους. […] ὅμως τολμῶσι βλασφημεῖν περὶ αὐτῶν καὶ λέγειν ὡς ταύτην ποιοῦνται τὴν μελέτην ἵν’ ἐν τοῖς ἀγῶσιν παρὰ τὸ δίκαιον πλεονεκτῶσιν. 6 Plat. Pol. 489d (Übersetzung Schleiermacher): τὸν ἐγκαλοῦντα τῇ φιλοσοφίᾳ λέγειν ὡς παμπόνηροι οἱ πλεῖστοι τῶν ἰόντων ἐπ’ αὐτήν, οἱ δὲ ἐπιεικέστατοι ἄχρηστοι. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/14/14 9:48 PM

Wortverdreher, Sonderlinge, Gottlose (Kritik an Philosophie und Rhetorik im klassischen Athen) || 1. Einleitung

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  • 1 Einleitung

    1.1 Forschungsstand und Thema der Arbeit

    Athen in klassischer Zeit galt schon den Zeitgenossen als Schule Griechen-lands ( )1 und Hauptsitz der Weisheit ( ).2 Isokrates meinte ber seine Heimatstadt: Unsere Polis hat nun auf dem Gebiet intellektueller und rhetorischer Fhigkeiten alle anderen Men-schen soweit zurckgelassen, da die Schler Athens Lehrer der anderen ge-worden sind.3 Der Stolz auf die kulturelle Leistung und Ausstrahlung der Stadt kommt in mehreren Texten der Zeit zum Ausdruck.4 Doch wie reprsentativ sind diese Stimmen? Dass nicht alle Isokrates Meinung teilten, merkt er selbst in seiner Antidosis-Rede nicht ohne Verrgerung an: Darauf aber mten alle Brger stolz sein und Mnner sehr schtzen, die unserer Polis diesen Ruhm eingebracht haben. Stattdessen besen manche die Unverschmtheit [], Verleumdungen ber diese Menschen in Umlauf zu setzen.5 Isokrates geht es dabei vor allem um die rhetorische Bildung, um die er selbst sich ein Leben lang bemhte. Doch auch die Philosophen mussten sich nicht selten als Schwtzer, Scharlatane, wunderliche Auenseiter oder gar Gottlose bezeichnen lassen. In der Politeia fasst Platon die Kritik dahingehend zusammen, dass die meisten, die sich mit [der Philosophie] abgeben, [] ganz schlecht und nur die Ausge-zeichnetsten blo unntz werden wrden.6

    Es stellt sich daher grundstzlich die Frage: Was dachten ihre Zeitgenossen ber Leute wie Anaxagoras, Protagoras, Isokrates und Platon und die Studien, mit denen sie und ihre Schler sich beschftigten? Welches Bild hatte man von den Philosophen und Rhetoriklehrern in der Stadt, deren Ruhm die gesamte Antike hindurch und bis heute in so groem Mae von ihren intellektuellen

    || 1 Thuk. 2,41,1. 2 Plat. Prot. 337d. 3 Isok. 4,50 (bersetzung Ley-Hutton): , . 4 Vgl. weiterhin Plat. Apol. 29d; Lach. 183ab; Isok. 15,224226; Hadot 1995, 37 f. 5 Isok. 15,226228 (bersetzung Ley-Hutton): . [] . 6 Plat. Pol. 489d (bersetzung Schleiermacher): , .

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  • 2 | Einleitung

    Leistungen profitiert hat? Die Etablierung eines geistigen Bildungswesens, die sich in Athen seit der zweiten Hlfte des 5. Jahrhunderts vollzog, bedeutete einen grundlegenden kulturellen Wandel, der die Stadt wesentlich geprgt hat.7 Die Bedeutung dieser Entwicklung und ihrer Auswirkungen auf das kulturelle und soziale Leben wurde bereits von den Zeitgenossen wahrgenommen.

    Entgegen der heutigen Sicht, dass hier die Grundlagen abendlndischer Bildung gelegt wurden, standen im Fokus der zeitgenssischen Diskussion hufig die negativen Aspekte des neuen Denkens. Das Weltbild der Philosophen stand erkennbar im Kontrast zu den Vorstellungen, die sich die meisten Men-schen ber die Welt, die Gtter, die menschliche Gesellschaft und ganz allge-mein den Sinn des Lebens machten. Die Gottlosigkeit, die den Philosophen immer wieder unterstellt wurde, war dabei nur ein Thema in der Diskussion. Der Sinn so mancher Theorie schien fragwrdig und ebenso der Nutzen, den solche Studien fr das menschliche Leben haben sollten. Andererseits befrch-tete man, dass die argumentativen Fhigkeiten, die Rhetoriklehrer und Philoso-phen vermittelten, sowohl in den politischen Institutionen als auch im sozialen Leben zu unlauteren Zwecken ge- und missbraucht werden knnten.8 Die Hu-figkeit solcher und hnlicher Vorbehalte in den Quellen zeigt, dass die Kritik an Philosophie und geistiger Bildung ein aktuelles und wichtiges Thema im zeit-genssischen Diskurs des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. gewesen ist. Eben um diese Diskussion geht es in der vorliegenden Arbeit. Ihr Ziel ist es, die gngigen Wahrnehmungsmuster und Topoi, die diese Diskussion ausmachten, umfas-send zu rekonstruieren und zu analysieren.

    Einflsse des philosophischen Denkens finden sich in vielen zeitgenssi-schen Texten.9 Wie eingehend und vielfltig sich etwa Euripides in seinen St-cken damit auseinandergesetzt hat, ist zuletzt von Franziska Egli in einer aus-fhrlichen Untersuchung gezeigt worden.10 In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch nicht um die Rezeption philosophischer Ideen an sich, sondern um de-ren Wahrnehmung und (kritische) Bewertung durch die Zeitgenossen. Eine ex-plizite Wertung und Kritik der aufgegriffenen Ideen findet sich allerdings in der Tragdie nur selten. Da die Handlung in einen zeitlich und rtlich entrckten

    || 7 Siehe dazu unten, Kap. 1.4. 8 Die Losung entwickelte sich geradezu zu einem Schlagwort gegen Sophisten, Philosophen und Rhetoriklehrer aller Couleur das schwchere Argument zum strkeren machen oder, wie es oft bersetzt wird, Unrecht zu Recht machen; vgl. Aristot. Rhet. 1402a2426; Aristoph. Nub. 112118; 882885; Plat. Apol. 18b; 19b; Isok. 15,15. 9 Vgl. etwa zur Rezeption der Sophisten bei Thukydides Guthrie 1969, 8488; Ostwald 1992, 359362; Winton 2000, 111121. 10 Egli 2003; vgl. auch Ostwald 1992, 356359.

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  • Forschungsstand und Thema der Arbeit | 3

    mythischen Raum verlagert ist, spielen die Figur des philosophischen Lehrers und das, was er seinen Schlern beibringt, in ihr zumeist keine wichtige Rolle. Anders ist dies in der Komdie. Sie lehnt sich sehr viel enger an das aktuelle Zeitgeschehen in Athen an als die Tragdie, und so finden wir in ihr nicht nur die Philosophen selbst als Figuren, sondern vor allem die Art von expliziter und kritischer Auseinandersetzung mit ihrem Denken und Wirken, die das Thema dieser Arbeit ist.

    Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass die Philosophen in der Komdie zumeist als Typus auftreten.11 Dieser Typus hat verschiedene Facetten, deren wichtigste seine Darstellung als weltfremder und komischer Auenseiter ist. Dieses Bild, das vor allem auf die (angebliche) Sinn- und Nutzlosigkeit der Phi-losophie abzielt, reprsentiert tatschlich einen wichtigen Aspekt der zeitge-nssischen Diskussion. Doch auch potenzielle Gefahren geistiger Bildung wer-den auf der Bhne besonders in Bezug auf Naturphilosophie, Rhetorik und eine sophistisch-inspirierte Moral thematisiert. Davon ausgehend verfolgt die vorliegende Arbeit ein doppeltes Ziel: Zum einen soll die Darstellung der Kom-die auf das tatschliche Denken und Wirken der Philosophen bezogen werden. Zum anderen stellt sich die Frage nach der Reprsentativitt und Relevanz der in ihr zu greifenden Kritik. Um diese Frage zu beantworten, werden ihre ue-rungen im Zusammenhang mit anderen zeitgenssischen Texten wie auch der Reaktion der Philosophen auf die Kritik diskutiert. Dabei zeigt sich, dass die komische Philosophiekritik zwar den Konventionen des Genres entsprechend verfremdet und berspitzt ist, aber gleichwohl auf Meinungen verweist, die auch auerhalb des Theaters geuert wurden und durchaus ernst zu nehmen sind.

    Dies gilt etwa fr die Sicht, die Theorien der Naturphilosophen wie auch die Gedanken, die sich die Sophisten zur Religion machten, seien eine Gefahr fr den gngigen Glauben an die Gtter. Der Asebie-Vorwurf war besonders im spten 5. Jahrhundert einer der wesentlichen Punkte in der zeitgenssischen

    || 11 Einen grundlegenden berblick zur Darstellung der Philosophen in der attischen Komdie bietet Weiher 1913. Fr eine neue Auswahl von Fragmenten mit bersetzung und Kommentar siehe auch Oslon 2007, 227255, 445449. Ein kurzer berblick zu den wesentlichen Aspekten des komdiantischen Philosophenbildes findet sich auch bei Scholz 1998, 2531, und Haake 2009, 124127. Das Hauptaugenmerk der Forschung gilt schon aus Grnden der berliefe-rung dem Sokrates-Bild der aristophanischen Wolken; vgl. dazu Weiher 1913, 718; Dover 1990, XXXIILVII; Marianetti 1992, 108132; Zimmermann 1993, 256265; Patzer 1993; MacDo-well 1995, 130133; Althoff 2007. Zur Darstellung des Sokrates in den Fragmenten anderer Komdien vgl. Patzer 1994. Zum Sophisten-Bild in den Komdienfragmenten vgl. Carey 2000; Tell 2011, 4648. Zur Rezeption der Sophisten bei Aristophanes vgl. Scholten 2003, 283326.

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  • 4 | Einleitung

    Auseinandersetzung um die Philosophie. In der Forschung haben zumeist die Asebie-Verfahren gegen Philosophen im 5. und 4. Jahrhundert im Vordergrund gestanden.12 Die vorliegende Arbeit interessiert sich dagegen nicht fr diese Prozesse an sich, sondern vor allem fr den zeitgenssischen philosophiekriti-schen Diskurs, der sie ermglichte und zugleich in ihnen zum Ausdruck kam. Dafr sollen die im Kontext der Verfahren aufgeworfenen Kritikpunkte detail-liert untersucht und in den Zusammenhang weiterer uerungen zur Gottlo-sigkeit der Philosophen in den zeitgenssischen Quellen gestellt werden. Wird als ideengeschichtlicher Hintergrund oft nur Aristophanes bekannte Philoso-phenkomdie Die Wolken herangezogen, sollen in dieser Untersuchung eine Vielzahl von unterschiedlichen Texten in den Blick genommen werden, die sich mit der Asebie-Problematik auseinandersetzen.

    Ein ebenso wichtiges, wenn auch gnzlich verschiedenes Streitthema war die Rhetorik. Dass und wie die zentrale Rolle, die der Rede in den Entschei-dungsprozessen der athenischen Demokratie zukam, im zeitgenssischen Dis-kurs, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen den Rednern, themati-siert und problematisiert wurde, ist besonders von Josiah Ober, Harvey Yunis und Jon Hesk bereits eingehend untersucht worden.13 Vor diesem Hintergrund sollen in der vorliegenden Arbeit vor allem drei Aspekte noch eingehender be-leuchtet werden: Erstens soll gefragt werden, wie die Tatsache reflektiert und bewertet wurde, dass es sich bei der Rhetorik um ein Bildungsgut handelte, das man sich seit der zweiten Hlfte des 5. Jahrhunderts mit Hilfe entsprechender professioneller Lehrer aneignen konnte. Zweitens schliet sich daran die Frage an, wie sich die gngigen Vorbehalte gegenber der Macht der Rhetorik auf die Wahrnehmung der Lehrer dieser Kunst auswirkten. Und drittens soll der Fokus erweitert werden: Liegt er in den meisten Arbeiten auf der Rolle und Bewertung der Rhetorik im politischen Bereich, soll in dieser Untersuchung auch die paral-lel gefhrte Diskussion betrachtet werden, in der die Wirkungen von Sprachbe-herrschung und Argumentationsknnen im gesellschaftlichen Leben allgemein thematisert wurden. Denn schlielich machten nicht nur die Redner in der Volksversammlung, sondern auch die Philosophen in ihren Diskussionen von solchen Fhigkeiten Gebrauch. Die Umwertung gngiger Wahrheiten und Wer-te, die man ihnen zuweilen zuschrieb, schien erst dadurch berhaupt mglich.

    || 12 Grundlegend dazu immer noch Derenne 1930; vgl. auch Nestle 1950, Sp. 737739; Fischer 1967; Ostwald 1986, 530536; Rubel 2000, 78119, 157177, 342363; Hartmann 2002, 6063; Dreler 2010. Weitere Literatur zu den einzelnen Verfahren wird in den Anmerkungen zu Kap. 4 dieser Arbeit angefhrt. 13 Ober 1989, 104191; Yunis 1996; Hesk 2000, 202291.

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  • Forschungsstand und Thema der Arbeit | 5

    Der bisher festgestellte Gegensatz zwischen den Philosophen und ihren Zeitgenossen ist auch in den Texten der Philosophen selbst zu greifen. Hanns-Dieter Voigtlnder hat untersucht, welche Funktion diesem Gegensatz im philo-sophischen Denken zukam.14 Er kann zeigen, dass die schematische Abgren-zung gegenber einer stilisierten unphilosophischen Menge ( ) eine wichtige Rolle dabei gespielt hat, das Wesen der Philosophie und des wahren Philosophen zu bestimmen und oft mit protreptischer Absicht nach auen hin darzustellen. Voigtlnder sieht zwar, dass dieser literarisch stilisierte Ge-gensatz auf durchaus reale und wechselseitige Vorbehalte und Verstndnis-probleme zwischen den Philosophen und ihren Zeitgenossen verweist.15 Doch ist der auerphilosophische Diskurs, auf den sich die philosophischen Texte in dieser Frage beziehen, nicht Gegenstand seiner Untersuchung. Auch bleiben da es um den Blick der Philosophen auf die Menge und nicht die Auensicht auf die Philosophen geht viele Themen der zeitgenssischen Philosophiekritik wie etwa die Asebie-Problematik unbercksichtigt.

    Einen berblick zur Stellung der Philosophen in der athenischen Gesell-schaft und den gngigen Elementen der zeitgenssischen Philosophiekritik bietet Peter Scholz in seiner Monographie Der Philosoph und die Politik.16 Das Hauptaugenmerk seiner Arbeit gilt jedoch nicht der Auensicht auf die Philoso-phen, sondern der Frage, in welchem Verhltnis diese im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. zum politischen Leben standen. Dass viele Philosophen an einem akti-ven Engagement in der Politik kein Interesse hatten und sich vornehmlich ihren Studien widmeten, charakterisiert er als wesentlichen Aspekt der Ausbildung einer spezifisch philosophischen Lebensform in jener Zeit.17 Die Philosophie galt ihnen als Wert an sich und das Leben des Philosophen als anzustrebende Le-bensform, gegenber der die vita activa der meisten Zeitgenossen zurckstand. Scholz zeigt dabei auch, dass durchaus ein Zusammenhang besteht zwischen der Entscheidung der Philosophen fr eine vita contemplativa und dem Auen-seitertum, das ihnen von auen immer wieder zugeschrieben wurde. Doch be-trachtet er das Thema aus dem Blickwinkel des philosophischen Diskurses. Die vorliegende Arbeit widmet sich dagegen der anderen Seite des von Voigtlnder

    || 14 Voigtlnder 1980 (Zusammenfassung der Ergebnisse: 617625). 15 Vgl. etwa (in Bezug auf die -Antithese in der Politeia) Voigtlnder 1980, 325, 333. 16 Scholz 1998, 1171 (zur zeitgenssischen Philosophiekritik bes. 4151, 6271); vgl. auch 361365. 17 Zur Herausbildung der philosophischen Lebensform vgl. auch Scholz 2006, 4348. Zum Konzept der philosophischen Lebensform vgl. auerdem Hadot 1995, bes. 1522; 1998; Nie-hues-Prbsting 2004, 142219.

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  • 6 | Einleitung

    und Scholz aufgezeigten Gegensatzes: der Auenwahrnehmung geistiger Bil-dung.

    In ihrer 2003 erschienenen Habilitationsschrift hat sich Helga Scholten mit Blick auf die politischen wie geistesgeschichtlichen Entwicklungen des ausge-henden 5. Jahrhunderts die Frage gestellt: Bedeuteten die neuen sophistischen Lehren eine Bedrohung fr die Religion und Politik der Polis, und wie wurden sie von ihren Zeitgenossen wahrgenommen?18 Dabei kommt sie zu dem eindeu-tigen Ergebnis: Die Aussagen der Sophisten stellten nachweislich eine Bedro-hung fr die Religion und Politik der Polis dar.19 In ihrer Untersuchung be-schrnkt sie sich allerdings vornehmlich auf die Analyse der sophistischen Schriften. Zu den von den Sophisten ausgehenden Gefahren in der Wahrneh-mung ihrer Zeitgenossen bietet sie einen kurzen berblick, der drei Komdien des Aristophanes behandelt verbunden mit der Feststellung, dass die umfas-sende Thematik [] eine eigene Untersuchung rechtfertige, die an dieser Stel-le nicht geleistet werden knne.20

    Wie auch in der vorliegenden Arbeit an mehreren Stellen zu zeigen sein wird, findet sich im Gedankengut der Sophisten sicher Einiges, was geeignet war, gngige religise und gesellschaftliche Vorstellungen in Frage zu stellen. Aus diesem Potenzial lsst sich allerdings nicht ohne Weiteres auf die von Scholten postulierte Wirkung schlieen.21 Ihre These eines verderblichen Ein-flusses des sophistischen Denkens entspricht vielmehr einer verbreiteten zeit-genssischen Wahrnehmung, die zum Teil vermittelt durch Platon auch das Sophistenbild spterer Generationen geprgt hat, dem tatschlichen Denken und Wirken der Sophisten jedoch keineswegs gerecht wird. So kritisiert auch Klaus Meister, dass von Scholten sowohl die positiven Aspekte sophistischen Wirkens nicht hinreichend bercksichtigt werden als auch die Mglichkeit, dass das Denken der Sophisten nicht Ursprung oder Ursache, sondern Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen gewesen ist (bzw. beide As-pekte dialektisch aufeinander bezogen gewesen sind).22 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich demgegenber nicht auf das (angenommene) negative Poten-zial dieser oder jener Theorie, sondern auf die kritische zeitgenssische Wahr-nehmung philosophischer Bildung und nimmt dabei ber die Sophisten hinaus auch andere Vertreter des neuen Bildungswesens in den Blick.

    || 18 Scholten 2003, 14. 19 Scholten 2003, 260. 20 Scholten 2003, 275326 (Zitat: 275). 21 Vgl. dazu die Kritik Meisters (2010, 27 mit 280 Anm. 70) an Scholtens Untersuchung; vgl. auch Piepenbrink 2003; Dreher 2004. 22 Meister 2010, 27.

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  • Forschungsstand und Thema der Arbeit | 7

    Zu dessen Entwicklung in klassischer Zeit zu Bildungskonzepten und -inhalten, der Institutionengeschichte etc. liegt bereits eine Vielzahl einschl-giger Arbeiten vor, die fr diese Untersuchung mit Gewinn herangezogen wur-den.23 Doch behandeln all diese Arbeiten den zeitgenssischen Diskurs, der sich kritisch mit dem neuen Bildungswesen und seinen Inhalten auseinandersetzt, nur am Rande. Dies gilt auch fr Johannes Christes Untersuchung Bildung und Gesellschaft, die sich mit der gesellschaftliche[n] Stellung der wissenschaftli-chen Lehrer in der griechisch-rmischen Antike beschftigt.24 In Bezug auf die klassische Zeit Griechenlands die nur einen Teilbereich seines Themas bildet geht es ihm vor dem Hintergrund der zumeist geringen Achtung der Erwerbs-ttigkeit in der Antike vor allem um die Frage, welche Stellung und welches Ansehen die berufsmig ausgebte Lehr- und Forscherttigkeit aus Sicht der Philosophen wie aus Sicht der brigen Gesellschaft hatte.25 Diese Thematik steht jedoch nur fr einen kleinen Teil der zeitgenssischen Diskussion.

    Eine umfassende Untersuchung zur Selbstdarstellung und ffentlichen Wahrnehmung des Philosophen in der hohen Kaiserzeit hat Johannes Hahn vorgelegt.26 Auch F. Declava Caizzi hat in ihrer Studie zu Early Hellenistic Images of the Philosophical Life einen Ansatz verfolgt, der dem in der vorlie-genden Untersuchung nahesteht.27 Unter images versteht sie zweierlei: (a) the way [the philosopher] intends to show himself to other people, that is to say, how he conceives philosophical life and his own personal role compared with other ways of living []; and (b) the way he is viewed by others.28 Wie sie rich-tig feststellt, lassen sich beide Perspektiven nicht immer scharf auseinanderhal-ten. Im Einzelnen untersucht sie in erster Linie die berlieferung zum Lebens-stil und Auftreten herausragender hellenistischer Philosophen (vor allem Zenon und Epikur). Eine etwaige zeitgenssische und kritische Auseinandersetzung mit deren Denken und Wirken wie sie in dieser Arbeit fr die Philosophen der klassischen Zeit rekonstruiert werden soll wird nicht weiter thematisiert.29

    || 23 Vgl. vor allem Jaeger 1959; Beck 1964; Freeman 1969; Lynch 1972, 3267; Marrou 1981, 69143; Christes 1997, Sp. 663667; Baumgarten 2006; Lth 2006. 24 Christes 1975 (Zitat: VII). 25 Vgl. Christes 1975, VII: trat dabei die Frage in den Vordergrund, wie sich einerseits die Bildung als Bildungsgut, andererseits der Vorgang der Bildungsvermittlung, der hhere Unter-richt, schlielich aber auch das geistige Tun im Bereich der ihn tragenden Wissenschaften in die Vorstellungen der Gesellschaft vom Standesgemen einfgen. 26 Hahn 1989. 27 Declava Caizzi 1993; vgl. auch Korhonen 1997. 28 Declava Caizzi 1993, 305; vgl. Korhonen 1997, 35. 29 In der Natur der von ihr hauptschlich verwendeten spteren Quellen (vor allem Diogenes Laertius und Athenaios) liegt es, dass die negativen Aspekte in der berlieferung zu einem

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  • 8 | Einleitung

    Weiterhin hat Matthias Haake der ffentlichen Rede ber Philosophen und Philosophie in den hellenistischen Poleis eine wichtige Untersuchung gewid-met.30 Gesttzt in erster Linie auf die hellenistischen Philosopheninschriften konstatiert er eine wachsende gesellschaftliche Akzeptanz und schlielich Wertschtzung der Denker. Allerdings liegt es in der Natur ffentlicher Inschrif-ten, dass kritische Stimmen praktisch nicht zu Wort kommen. Da die Inschriften auerdem entweder gar nicht oder (spter) in nur sehr allgemeiner und stereo-typer Form nher auf die philosophische Aktivitt der geehrten Intellektuellen eingehen, lsst sich der zeitgenssische Diskurs zum Wesen und Wert philoso-phischer Bildung aus ihnen nur eingeschrnkt rekonstruieren. Und schlielich setzt die ffentliche Ehrung von Philosophen durch die Polis deren erfolgreiche Etablierung im Gemeinwesen voraus. Dieser Prozess war jedoch im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. anders als in der von Haake untersuchten hellenistischen Periode noch offen und keineswegs abgeschlossen. Trotz der kultur- und geistesgeschichtlichen Bedeutung dieses Vorgangs ist eine umfassende Untersuchung des kritischen Diskurses, der mit der Etablierung von Philosophie und geistiger Bildung in Athen einherging, bisher ein Desiderat der Forschung.31 Eine eigene Untersuchung scheint schon durch die Prominenz

    || bestimmten Philosophen zumeist auf sptere literarische Polemik (insbesondere zwischen den Anhngern der verschiedenen Philosophenschulen) zurckgehen und nicht notwendig repr-sentativ fr die zeitgenssische Wahrnehmung dieser Philosophen sind. Vgl. in diesem Zu-sammenhang zur antiplatonischen Tradition in der antiken Literatur Dring 1941, 132171; Chroust 1962. 30 Haake 2007. 31 Scholz 1998 bietet einen guten berblick zum Auenseitertum der Philosophen in der athenischen Gesellschaft (1171) und den damit zusammenhngenden gngigen Topoi der Philosophiekritik (bes. 4151, 6271). Vgl. auch Ostwald 1992, 367369; Rubel 2000, 6066; Waterfield 2009, 163166. Einen Ansatz, der in manchem dem dieser Arbeit vergleichbar ist, verfolgt Didier Masseau in seiner Monographie ber den antiphilosophischen Diskurs zur Zeit der franzsischen Aufklrung (Masseau 2000). Die Kritik des 18. Jahrhunderts, die besonders an der Religions- und Kirchenkritik und dem Rationalismus der Aufklrer ihren Ansto nahm und dabei auch auf die befrchteten Folgen eines solchen Denkens fr die ethische Bildung der Jugend verwies, mag durchaus Parallelen, vielleicht sogar Traditionslinien zum philoso-phiekritischen Diskurs der Antike aufweisen. Ebenso ist Masseaus Feststellung, dass es sich sowohl bei den Philosophen als auch den Anti-Philosophen um durchaus heterogene Grup-pierungen handelte, die zudem nicht immer scharf voneinander abzugrenzen waren, auch fr die vorliegende Untersuchung relevant. Gleichwohl gibt es auch wesentliche Unterschiede: Anders als fr das 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. knnen wir fr das 18. Jahrhundert auf einen umfangreichen Textcorpus antiphilosophischer Schriften zugreifen, anhand dessen sich die Argumentationsmuster der Kritiker im Einzelnen nachvollziehen lassen. Auch ist zu bedenken,

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    der Thematik in den zeitgenssischen Quellen gerechtfertigt. Aus philosophie-historischer Sicht kann sie zudem dabei helfen, das Umfeld, in dem sich die klassische griechische Philosophie entwickelt hat, besser zu verstehen.32 Zu-gleich kann sie einen Beitrag zur Mentalittsgeschichte des klassischen Athens leisten und verdeutlichen, welchen Stellenwert geistige Bildung in der antiken griechischen Gesellschaft hatte und haben sollte. Schlielich war auch die Kritik zumeist keineswegs ein Ausdruck von allgemeinem Unverstndnis oder der geistigen Unterlegenheit der Kritiker, sondern postulierte (explizit oder implizit) zugleich Erwartungen und Ansprche, was Bildung fr den Einzelnen und fr die Polis bewirken sollte und was nicht.

    Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist ein Perspektivwechsel: Betrachtet werden soll die Etablierung von Philosophie und Rhetorik in Athen aus der Auenperspektive derer, die nicht selbst als Lehrer oder Schler am geistigen Bildungswesen Anteil hatten. Sie folgt dem Blickwinkel des nicht-philosophischen Publikums, das sich kritisch und wertend mit dem neuen Ph-nomen des geistigen Bildungswesens in seiner Stadt auseinandergesetzt hat.33 Dieser Blickwinkel ist sowohl in nicht-philosophischen Texten als auch als referierte Kritik bei den Philosophen selbst zu greifen. Im Vordergrund der Untersuchung stehen also weniger die einzelnen Theorien und Konzepte der Philosophen, ihr Leben und Wirken oder die Entwicklung der von ihnen be-grndeten Institutionen. Vielmehr geht es um die Frage, welche Bedeutung die Zeitgenossen dem intellektuellen Leben in ihrer Stadt beimaen, welche Wahr-nehmungen und Werturteile, Befrchtungen und Erwartungen bezglich geisti-ger Bildung im zeitgenssischen Diskurs geuert wurden. Die in den Quellen hufig zu findende Skepsis gegenber geistigen Neuerungen und ihren (unter-stellten) gesellschaftlichen Auswirkungen ist dabei durchaus als Ergnzung und Korrektiv zu der Erfolgsgeschichte zu sehen, die die Entwicklung eines hheren geistigen Bildungswesens in Athen trotz aller Kritik gewesen ist. Die verbreitete Kritik war gleichsam die Kehrseite der Medaille und zwang nicht zuletzt diejenigen, die als Lehrer in diesem Bereich auftraten, zur Schrfung

    || dass es sich bei den Anti-Philosophen selbst um eine intellektuelle Strmung handelte. Ihre Kritik an der Philosophie richtete sich mithin gegen eine bestimmte Form des modernen Denkens, fr das vor allem die Aufklrer um das Encyclopdie-Projekt standen. 32 Fr einen sozialgeschichtlichen Blick auf die Entstehung und Entwicklung der griechi-schen Philosophie bis ins 4. Jahrhundert vgl. Lloyd 1979, 226267; 1991; Schlange-Schningen 2002; zur Sophistik vgl. Tenbruck 1976; Martin 1976; Meister 2010, 3436. 33 Isokrates bezeichnet diejenigen, die nicht selbst Lehrer oder Schler waren, als Laien () und thematisiert dabei auch ihre (teils kritische) Sicht auf das neue Bildungswesen; vgl. 13,1; 13,7; 15,4.

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  • 10 | Einleitung

    ihrer Argumente, welche Art von Bildung sie anzubieten hatten und welchen Wert diese fr sie selbst, ihre Schler und die Allgemeinheit haben sollte.

    1.2 Fragestellung und Methodik

    Genau wie sich das athenische Bildungswesen im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. nur schwer auf einen Nenner bringen lsst, waren auch die Themen der Kritik vielfltig und heterogen. Eine wesentliche Frage war etwa, welche Fhigkeiten geistige Bildung dem Schler vermitteln konnte. Besonders in Bezug auf die Philosophie gab es einige Zweifel, ob mit einem solchen Bildungsweg ber-haupt ein konkreter Nutzen verbunden war. Waren die Philosophen mit ihren abgehobenen Spekulationen und migen Diskussionen nicht vielmehr im praktischen Leben vllig unbeholfen und nutzlos und konnten folglich auch ihren Schlern nichts Brauchbares beibringen? Der Rhetorik dagegen konnte man einen Nutzen nicht absprechen. Wer sie erlernte, verfgte ber ein effekti-ves Instrument, andere von der eigenen Position zu berzeugen ob in den politischen Institutionen der Stadt oder im gesellschaftlichen Leben allgemein. Die Macht der Sprache war geradezu ein Allgemeinplatz im Denken der Zeit. Gerade deshalb stellte sich ganz akut die Frage, auf welche Weise und zu wel-chen Zwecken diese Macht von denjenigen, die sie beherrschten, eingesetzt wurde. Verfolgten sie nur ihren eigenen Vorteil, oder stellten sie ihr Knnen in den Dienst der Allgemeinheit?

    In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu stellen, ob und wie philo-sophische Theorien rezipiert wurden. Ein gngiger Topos der Kritik war, dass es mit deren Sinn- und Wahrheitsgehalt nicht weit her war. Die verbreiteten Zwei-fel an ihrer Relevanz fr das tgliche Leben sind aus dieser Perspektive nur allzu verstndlich. Doch wie genau wurden die Ideen der Philosophen eigent-lich wahrgenommen und verstanden? Fand eine inhaltliche Auseinanderset-zung berhaupt statt, oder unterlag der Kritik ein vereinfachtes und verzerrtes Bild? Die Frage, ob die Vorwrfe berechtigt waren, lsst sich auch in Bezug auf die Unterminierung gngiger Werte und Normen stellen, die den Philosophen oft angelastet wurde. Um diese Fragen zu beantworten, sollen in der Arbeit gngige Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster zu dem in Bezug gesetzt wer-den, was Philosophen tatschlich dachten und sagten. In einigen Punkten las-sen sich die Vorwrfe durchaus als Ergebnis von mangelndem Verstndnis (und Interesse) fr das zeitgenssische Denken verstehen. Zugleich wird aber auch zu untersuchen sein, wo im Denken und Wirken der Philosophen tatschliche Ansatzpunkte fr die Kritik lagen.

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  • Fragestellung und Methodik | 11

    Im Mittelpunkt der Diskussion stand zumeist nicht der Inhalt und Sinn die-ser oder jener Theorie. Die Frage war vielmehr, welche Auswirkungen von dem neuen Bildungswesen im gesellschaftlichen Leben zu erwarten waren, und sie stellte sich sowohl in Bezug auf die Philosophen als auch auf die Rhetoriklehrer. Wenn die Aushhlung des religisen Weltbilds durch die Naturphilosophen oder ethischer Normen durch die Sophisten diskutiert wurden, so ging es dabei vor allem um die befrchteten Folgen eines solchen Denkens fr das Zusam-menleben in der Polis. Ebenso stand hinter der Kritik am mangelnden Nutzen der Philosophie fr das praktische Leben zugleich die Befrchtung, die jungen Schler knnten durch solche Beschftigungen ihrem sozialen Umfeld und den Erfordernissen des politischen Lebens entfremdet werden. Auch die Kritik an der Rhetorik unterstellte, dass diese im gesellschaftlichen Leben zu falschen und eigenntzigen Zwecken gebraucht wurde und damit Schaden anrichtete. Davon ausgehend soll zugleich untersucht werden, welche Werte und Ideale und welche Weltsicht hinter der Kritik standen und welche Ansprche an Bil-dung sie zugrunde legte. Dabei zeigt sich, dass auch die verbreitete Kritik kei-neswegs Ausdruck einer generellen Ablehnung geistiger Bildung war. Die Frage war vielmehr, an welchem Mastab deren Relevanz, Sinn und Wirkung gemes-sen wurden. Die Philosophen hatten hier oft andere Vorstellungen als ihre Zeit-genossen.

    Ein weiteres Thema der Untersuchung ist die Frage, welche Bedeutung der untersuchte kritische Diskurses fr das philosophische Leben in Athen hatte. Herrschte in der Stadt ein Klima, das eine freie Entfaltung des philosophischen Denkens unmglich machte? Diese Frage stellt sich insbesondere mit Blick auf die Asebie-Verfahren, die sowohl im 5. als auch im 4. Jahrhundert v. Chr. gegen einige Philosophen gefhrt wurden. Dass von einem Zeitalter der Verfolgung, wie manche Forscher angenommen haben,34 dennoch keine Rede sein kann, zeigt allein die Tatsache, dass sich die Philosophie gerade in dieser Zeit erfolg-reich in Athen etabliert hat. Zudem waren die Philosophen keine passive Ziel-scheibe der Kritik, sondern haben sich aktiv mit ihr auseinandergesetzt und auch untereinander ber den Sinn und Nutzen des eigenen Unterrichts gestrit-ten. Wie zu zeigen sein wird, hat diese Diskussion auch fr die Entwicklung und Auendarsellung der unterschiedlichen Philosophie- und Bildungskonzepte eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.

    || 34 Dodds 1970, 41; vgl. auch Schmidt 1989, 43 f.; Schubert 1993, 5255; 1994, 111114; Minois 2000, 40.

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  • 12 | Einleitung

    Ziel der Arbeit ist die Rekonstruktion des zeitgenssischen Diskurses, der sich kritisch mit dem neuen geistigen Bildungswesen, seinen Inhalten und Vertre-tern auseinandersetzte. Eine solche Rekonstruktion ist gleichwohl mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Zum einen war die kritische Sicht auf Philosophen und Rhetoriklehrer im 5. und 4. Jahrhundert zwar durchaus verbreitet und ein-flussreich, reprsentierte jedoch nur eine mgliche Sichtweise. Nicht alle teilten die Kritik, nicht alle nahmen sie gleichermaen ernst. Viele mssen durchaus auch einen positiven Wert in der neuen Bildung gesehen haben: Wie sonst wre deren langfristiger Erfolg in Athen und im griechischen Kulturraum insgesamt zu erklren? Die Schwierigkeit, die tatschliche Relevanz und Tragweite des kritischen Diskurses einzuschtzen, verweist auf ein weiteres Problem: das der Quellen. Vieles von dem, was in unserem Untersuchungszeitraum ber die Philosophen geschrieben wurde, ist nicht berliefert, und noch mehr wurde gedacht und gesagt, aber niemals aufgeschrieben. Es ist also, wenn berhaupt, nur in Anstzen mglich, das Philosophenbild des normalen Athener Brgers zu rekonstruieren. Unsere Quellen sind verfasst von Mitgliedern einer gebilde-ten Elite, die mit den Philosophen und ihren Ideen vertraut waren. Die Wolken etwa vertreten zwar einen dezidiert kritischen Standpunkt,35 zeigen aber zu-gleich, dass sich Aristophanes eingehend mit dem Denken der Philosophen beschftigt hat.36 Das Stck lsst sich also nicht ohne Weiteres als allgemeine Sicht der athenischen ffentlichkeit auf die Philosophen lesen.

    Noch schwerer wiegt allerdings, dass wesentliche Aspekte des philosophie-kritischen Diskurses fr uns nur noch in den Texten der Philosophen zu greifen sind. Diese sind offenkundig keine neutralen Quellen. Zum Teil greifen sie kriti-sche Argumente auf, um sie mit eigenem Inhalt unterfttert gegen ihre Kon-kurrenten zu richten. Hufiger allerdings referieren sie die Kritik als negatives Gegenbild, um in Auseinandersetzung mit ihr den Wert und Nutzen ihres eige-nen Bildungskonzepts herauszuarbeiten. Dies beeinflusst naturgem auch die Art und Weise, wie die Kritik dargestellt wird. Folgt man dem Standpunkt der Philosophen, so motivierte die Kritiker zumeist Unverstndnis, Neid oder das Bemhen, den guten Ruf ehrenwerter Brger zu beschdigen. Dahinter steht zugleich das bekannte Bild der aufbrausenden athenischen Volksmasse, die

    || 35 Vgl. dazu Scholten 2003, 283303. 36 hnliches lsst sich zur Figur des Kallikles sagen, den Platon im Gorgias als vehementen Kritiker einer (bertriebenen) Beschftigung mit der Philosophie auftreten lsst, dem er aber zugleich ein grundstzliches Wohlwollen und Interesse gegenber solchen Studien zuschreibt (vgl. 485a; 487c).

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  • Fragestellung und Methodik | 13

    allem Neuen mit Unverstndnis und Intoleranz begegnete. Die Wirklichkeit in Athen hat dem zumeist nicht entsprochen.

    In dieser Arbeit kann es daher nur darum gehen, gngige Topoi der Kritik an Philosophie und geistiger Bildung zu rekonstruieren.37 Die Perspektive, der diese Rekonstruktion folgt, ist die Auensicht: die Sicht derer, die nicht selbst als Lehrer, Schler oder wohlwollend Interessierte dem neuen Bildungswesen zuzurechnen waren. Diese Perspektive lsst sich, wie bemerkt, in unseren Quel-len hufig nur indirekt greifen in der Haltung, die die Vertreter und Befrwor-ter der neuen Bildung zu ihr einnahmen. Wir wissen oft nicht, wer Kritik ur-sprnglich warum und in welchem Zusammenhang geuert hatte. Die Autoren unserer Quellen sind zumeist nicht die Urheber der Vorwrfe, sondern geben sie nur mehr oder minder akkurat wieder. Dies gilt fr die Philosophen ge-nauso wie etwa fr Aristophanes, der ebenfalls gngige Sichtweisen aufgegrif-fen (und nicht erfunden) hat. Daher ist bei der Analyse der Quellen nicht nur danach zu fragen, wer spricht, sondern auch von welchem stilisierten Stand-punkt die referierten Argumente ausgehen. Wie dicht unsere Quellen der tat-schlichen zeitgenssischen Diskussion und der Sicht der Nicht-Philosophen folgen, ist nicht zu entscheiden. Dass solche kritischen Topoi dennoch auf eine reale Auseinandersetzung verweisen, ist nicht nur durch die relative Hufigkeit, mit der sich besonders Platon und Isokrates mit ihnen beschftigen, sondern auch durch ihre zahlreiche Prsenz in nicht-philosophischen Texten hinrei-chend gesichert.

    Aufgrund der Quellenlage ist jede Untersuchung zur Wahrnehmung geisti-ger Bildung im zeitgenssischen Diskurs der klassischen Zeit weitgehend auf Athen beschrnkt. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf das 5. und 4. Jahrhundert und ist durch das Asebie-Verfahren gegen den Naturphiloso-phen Anaxagoras (etwa 433 v. Chr.) und das Gesetz des Sophokles (zeitweiliges Verbot der Philosophenschulen; 307/6 v. Chr.) begrenzt. Im Anaxagoras-Prozess

    || 37 Dieser Ansatz unterscheidet sich von dem, den Matthias Haake (2007) in seiner Arbeit zur hellenistischen Zeit verfolgt hat: Ziel seiner Untersuchung ist [] eine Analyse des ffentli-chen Diskurses ber Philosophen und Philosophie in den Poleis der hellenistischen Welt. Unter dem Begriff ffentlicher Diskurs wird dabei diejenige Summe von manifestierten ue-rungen verstanden, als deren auctor eine Polis als politische und soziale Gemeinschaft auszu-machen ist und deren kommunikativer Ort im ffentlichen Raum der Polis liegt (5 f.) in seiner Untersuchung sind dies vorwiegend ffentliche Ehreninschriften. Ein solcher ffentli-cher Diskurs der Polis ber Philosophen und Philosophie ist jedoch fr die klassische Zeit fast nur in den Asebie-Verfahren zu greifen. Die vorliegende Untersuchung sttzt sich dagegen vornehmlich auf den literarischen Diskurs, aus dem sich gngige zeitgenssische Sichtweisen auf die Philosophen rekonstruieren lassen.

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  • 14 | Einleitung

    und dann vor allem in den einige Jahre spter entstandenen Wolken des Kom-diendichters Aristophanes sind antiphilosophische Vorbehalte in Athen erst-mals zu greifen. Nicht nur vollzog sich die Etablierung eines hheren geistigen Bildungswesens in der Stadt in diesem Untersuchungszeitraum; auch die gn-gigen Positionen des philosophiekritischen Diskurses sind im Wesentlichen in dieser Zeit entstanden. Das Sophokles-Gesetz war fr lange Zeit die letzte anti-philosophische Repressionsmanahme in Athen. Seine Aufhebung schon ein Jahr nach Inkrafttreten markiert den bergang in eine Zeit, in der der philoso-phiekritische Diskurs erkennbar an Bedeutung verlor und sich geistige Bildung einer zunehmenden ffentlichen Wertschtzung erfreuen konnte.38

    1.3 Terminologie

    Die geistigen Studien, denen man seit Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen nachging, wiesen sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf den Zweck, zu dem man sie betrieb, eine groe Bandbreite auf. Es ist daher nicht leicht, sie begriff-lich auf einen Nenner zu bringen.39 Sowohl die von den Zeitgenossen als auch die von der modernen Forschung verwendeten Termini lassen sich zumeist nur auf Teilbereiche oder -aspekte des Phnomens beziehen. F.L. Vatai und V. Azoulay beispielsweise verwenden den Begriff Intellektuelle.40 So unter-schiedliche Mnner wie Anaxagoras, Protagoras, Isokrates, Sokrates und Platon lassen sich zwar allesamt als Intellektuelle bezeichnen. Zu letzterer Gruppe gehren aber genauso Komdien- und Tragdiendichter, Geschichtsschreiber und im weiteren Sinne auch allgemein gebildete Figuren des ffentlichen Le-bens wie Perikles.41 Dem Begriff fehlt es also zumindest fr die vorliegende Un-

    || 38 Zu letzterer Entwicklung vgl. vor allem Haake 2007; vgl. auch Habicht 1994, 241247. 39 Vgl. Azoulay 2007, 173 Anm. 173: tout comme le mot intellectuel en franais, les termes grecs accols aux lites du savoir sont, Athnes, profondment ambivalents. 40 Azoulay 2007, bes. 171174; Vatai 1984, bes. 1 f.; vgl. auch Dover 1990, XXXV f. mit Anm. 1. Auch Jacques le Goff verwendet den Begriff in seiner Studie ber Die Intellektuellen im Mittelal-ter. Nach ihm verweist er auf ein genau umrissenes Milieu: das der Magister in den Schulen. [ Dieses Milieu] bezeichnet diejenigen, die beruflich denken und ihre Gedanken lehren. Diese Verbindung aus eigenem Nachdenken und seiner Weitergabe durch die Lehre charakterisierte den Intellektuellen (1986, 1). Diese Beschreibung trifft jedoch nur auf den von le Goff in den Vordergrund gestellten Magister der mittelalterlichen Universitt zu. Die Lehrttigkeit sowie die (mehr oder minder) anerkannte Stellung des Magisters im Gefge der Universitt gehren dagegen nicht zu den essenziellen Merkmalen des Intellektuellen, wie wir ihn aus der Moderne kennen. 41 Vgl. Azoulay 2007, 173.

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  • Terminologie | 15

    tersuchung an Trennschrfe.42 Deren Thema ist die zeitgenssische Wahrneh-mung geistiger Bildung und ihrer Vertreter. Aristophanes, Thukydides und Euripides waren zwar alle drei mit dem neuen Denken vertraut, und Gleiches lsst sich fr viele weitere Intellektuelle annehmen. Doch waren sie kein akti-ver Teil des neuen Bildungswesens, sondern Beobachter und Rezipienten.43 Zudem handelt es sich beim Intellektuellen um einen anachronistischen Be-griff, der sich etwa mit Blick auf seinen gesellschaftlichen Status oder die Erwartungen, die sich an sein ffentliches Auftreten knpfen nicht ohne Wei-teres auf die Antike bertragen lsst.44

    Zeitgenssisch ist dagegen der Terminus .45 Das Wort hatte ur-sprnglich eine recht weite Bedeutung und bezeichnete all jene, die fr ihre Weisheit berhmt waren. Dazu zhlten nicht nur Denker wie Pythagoras und Thales, sondern auch herausragende Staatsmnner, Kulturbringer, Dichter und andere weise Mnner.46 Im 5. Jahrhundert galt der vornehmlich als Experte in einem bestimmten Bereich, der sein Wissen und seine Fhigkeiten an andere vermittelte. Aus dem Sophisten wurde ein professioneller Lehrer. In diesem Sinne bezog sich der Begriff nun auch auf die Gruppe von Weisheitsleh-rern, die seit der zweiten Hlfte des 5. Jahrhunderts in Griechenland auftraten und noch heute unter diesem Namen bekannt sind. Die breitere Bedeutung des

    || 42 Vgl. Scholz 1998, 3 f. Auch Vatai stellt mit Blick auf die einschlge Literatur fest: The word intellectual cannot be defined with any precision (1984, 1). 43 Zur Rezeption der zeitgenssischen Philosophie in den Stcken des Euripides vgl. vor allem Egli 2003. Auch in der Komdie wurde Euripides hufig mit dem neuen Denken und insbesondere mit Sokrates in Verbindung gebracht; vgl. etwa Aristoph. Ach. 399; Thesm. 1318; Ran. 890894; 956 f.; 971975; Lefkowitz 1989, 7174; Patzer 1994, 5159; Egli, 157163. 44 Der Begriff ist im Frankreich der 1890er Jahre im Zuge der Dreyfus-Affre entstanden, in der zahlreiche Intellektuelle ffentlich fr Dreyfus Partei ergriffen; vgl. Azoulay 2007, 171 f. Azoulay geht es in seiner Untersuchung daher um une analogie contrle avec le cas des lites du savoir Athnes durant la premire moiti du IVe sicle (172; meine Hervorhebung). 45 Zur Bedeutung und Entwicklung des Begriffs vgl. Chroust 1947, 21; Malingrey 1961, 34 f.; Guthrie 1969, 2734; de Romilly 1988, 17 f.; Dover 1990, 144; Narcy 2001, Sp. 723 f.; Scholten 2003, 1827; Meister 2010, 15 f.; Tell 2011, 2137. 46 Vgl. Aristid. or. 46 311,1312,13 (DK 79 1). Diog. Laert. 1,12: Die Weisen wurden aber auch Sophisten genannt, und nicht nur sie, sondern auch die Dichter (bersetzung Apelt; , ). hnlich bemerkt auch Isokrates, da Solon zu den Sieben Weisen ( ) gezhlt wurde und den entsprechenden Beinamen trug, der freilich bei euch heute nichts gilt und verurteilt wird (15,235 [bersetzung Ley-Hutton]: ). Auch Aristoteles (fr. 5) soll die Sieben Weisen als Sophisten bezeichnet haben. Vgl. auch die Verwendung des Begriffs bei Herodot (1,29,1; 2,49,1; 4,95,2); dazu Guthrie 1969, 28 f.

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  • 16 | Einleitung

    als weiser Mann und als Experte und Lehrer in den verschiedensten Bereichen blieb daneben aber weiterhin bestehen. Ein Problem fr die Verwen-dung des Begriffes liegt zudem in der pejorativen Bedeutung, die er im allge-meinen Sprachgebrauch mehr und mehr annahm. Als Sophist galt nun jemand, der seine intellektuellen Fhigkeiten zu unlauteren Zwecken einsetzte oder ein Geschft aus seiner Weisheit machte.

    An diese Verwendung knpft auch Platon an: Der Sophist ist fr ihn das Gegenstck zum Philosophen.47 Ihm gehe es vor allem um seine ffentliche Reputation, um Erfolg und Einnahmen, die ihm seine Weisheit verschaffen sollte. Wirkliche Weisheit sei jedoch nur fr den Philosophen zu erreichen, der seinen Geist zum unwandelbaren Sein im Reich der Ideen wandte. Da der So-phist wie die meisten Menschen in der Welt des Scheins lebe, sei auch seine Weisheit nur ein Schein. Zwar ist die negative Konnotation des Wortes Sophist schon vor Platon zu greifen. Doch gehen die inhaltliche Begrndung, die mit diesem Negativurteil zum Teil noch heute verbunden ist, und die daran anknp-fende Antithese SophistPhilosoph, die sich in der modernen Literatur eben-falls noch des fteren findet, wesentlich auf ihn zurck.48 Wer sie verwendet, nimmt also den platonischen Standpunkt ein.49 In seiner neutralen Bedeutung als Lehrer von Wissen und geistigen Fhigkeiten liee sich der Begriff sicher auf all diejenigen beziehen, um die es in dieser Untersuchung geht. So bezeichnet im 4. Jahrhundert der Redner Aischines auch Sokrates als einen .50 Doch ist der Begriff schon im zeitgenssischen Sprachgebrauch keineswegs eindeutig: Er konnte mehr bezeichnen als einen Weisheitslehrer. Und auch fr die Weisheitslehrer war nur eine von mehreren ge-bruchlichen Bezeichnungen. Deshalb ist der Begriff zur Abgrenzung der Grup-pe derjenigen, um die es in dieser Arbeit geht, nur von geringem heuristischen Wert. Ich verwende ihn daher, wie allgemein blich, vor allem im engeren Sin-ne zur Bezeichnung der Gruppe von professionellen Wanderlehrern, die als die Sophisten in die Philosophiegeschichte eingegangen sind.

    || 47 Vgl. etwa Plat. Soph. 253e254a. 48 Vgl. von Arnim 1898, 18: Bei Platon [] werden die Begriffe und in scharfem Gegensatze zu einander ausgebildet: wendet er ausschlielich an fr die Vertreter der von ihm bekmpften Richtung des Unterrichtswesens, ist das Schlag-wort fr sein eigenes Ideal in Lehre und Leben. Diese Umprgung der Ausdrcke hat Epoche gemacht. Vgl. auch 66 f. 49 Vgl. Tell 2011, 7 (trapped in Platonic categories), 22. 50 Aischin. 1,173. Auch Platon soll von Lysias und Aischines als bezeichnet worden sein (Aristid. or. 46 311,11 f. [DK 79 1]).

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  • Terminologie | 17

    hnlich weit wie der Begriff des war auch der des bzw. der .51 A.-H. Chroust schreibt: the term philosopher was originally used in a very large sense, referring to anyone who had received a liberal and all-encompassing education (), as well as to a man of wide scientific learning and erudition.52 Der Begriff war also keineswegs auf diejenigen be-schrnkt, die ihr Leben gnzlich dem Geistigen widmeten, sondern bezeichnete allgemein ein Streben nach Weisheit, das sich durchaus mit einem praktischen Wirken in einem anderen Bereich besonders im politischen Leben verbinden konnte. Er bezieht sich im 5. und 4. Jahrhundert auch noch nicht auf eine abge-grenzte Gruppe. Die engere Bedeutung, die der Begriff heute noch hat, geht im Wesentlichen auf Platon zurck.53 In Anlehnung an die Gestalt des Sokrates definierte er den als jemanden, der das Streben nach Weisheit zum Mittelpunkt seines gesamten Handelns und Seins macht. Die Philosophie wird zur spezifischen Lebensform, die sich vom praktischen Leben etwa des Politi-kers fundamental unterscheidet.54 Fr Platon handelt es sich bei den (wahren) Philosophen um eine abgeschlossene Gemeinschaft, zu der Sophisten und Rhetoriklehrer keinen Zutritt haben. Seine Inanspruchnahme des Philosophie-Begriffs fr das eigene Denken und Wirken zeigt zugleich, dass dieser im Ge-gensatz zum vornehmlich positiv konnotiert war.

    Platons Verstndnis der Philosophie hat einen prgenden Einfluss sowohl auf Aristoteles55 als auch die hellenistischen Philosophenschulen gehabt, der auch fr die heutige Verwendung des Terminus bestimmend bleibt. Fr die Rekonstruktion des zeitgenssischen Diskurses haben die Begriffe und dagegen nur einen begrenzten Wert. Zum einen handelt es sich vornehmlich um eine positive Eigenbezeichnung, die Platon und andere fr sich in Anspruch nahmen. Das platonische Philosophie-Konzept ist daher nicht notwendig reprsentativ fr den allgemeinen Sprachgebrauch, in dem der Be-griff nur eine Bezeichnung unter mehreren fr die modernen Weisheitslehrer und auch inhaltlich keineswegs genau bestimmt und abgegrenzt war. Zum an-

    || 51 Zur Verwendung und Entwicklung der Begriffe , und bis auf Aristoteles vgl. von Arnim 1898, 17 f.; Chroust 1947, 1947; Malingrey 1961, 2961; Renaud 2000, Sp. 862; Frede 2008, 523526; Schur 2013, 2741. 52 Chroust 1947, 22. 53 Zum platonischen Philosophie-Begriff vgl. Chroust 1947, 3036; Malingrey 1961, 4655; Schur 2013. 54 Zu Platons Konzeptualisierung der philosophischen Lebensform vgl. Korhonen 1997, 5558; Scholz 1998, 73121; Niehues-Prbsting 2004, 156166; Schur 2013. 55 Zum aristotelischen Philosophie-Begriff vgl. Chroust 1947, 3647; Malingrey 1961, 5661; Frede 2008.

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  • 18 | Einleitung

    deren war der Philosophie-Begriff auch unter den Weisheitslehrern selbst durchaus umstritten und Platon nicht der einzige, der sein Wirken in diesem Sinne verstanden wissen wollte. Auch Isokrates hat sein Konzept einer ethisch orientierten und intellektuell fundierten rhetorischen Bildung mit diesem Wort bezeichnet.56 Was ein Philosoph ist und was zur Philosophie gehrt, war ein Gegenstand der Diskussion eben weil der Begriff noch nicht auf seine sptere und moderne Bedeutung festgelegt war.57

    Da die antike Terminologie fr unseren Untersuchungsgegenstand also kei-neswegs einheitlich und eindeutig ist, soll im Folgenden ein deskriptiver ber-blick ber das neue geistige Bildungswesen gegeben werden, um dessen zeitge-nssische Wahrnehmung es in dieser Arbeit geht.

    1.4 Die Etablierung des geistigen Bildungswesens in Athen

    Athen erlebte im 5. Jahrhundert v. Chr. die Entwicklung zur radikalen Demo-kratie und einen bedeutenden Zuwachs an auenpolitischer Macht.58 Damit einher ging ein Aufschwung des ffentlichen Lebens und insbesondere der Kultur.59 Die Hegemoniestellung im Seebund, der Einfluss, das Ansehen und nicht zuletzt auch die Einnahmen, die damit verbunden waren, haben dabei sicher eine wichtige Rolle gespielt.60 Doch konnte die Stadt ihre Stellung als eines der bedeutendsten kulturellen Zentren der griechischen Welt auch im 4. Jahrhundert und darber hinaus behaupten, als es machtpolitisch gesehen bereits wieder bergab ging. Ein wichtiger Aspekt des kulturellen Aufschwungs war nicht zuletzt die Etablierung eines neuen geistigen Bildungswesens seit der zweiten Hlfte des 5. Jahrhunderts.61 Einen guten wenn auch idealisierenden

    || 56 Vgl. Isok. 4,10: ; 3,1; 13,21; 15,183186. hnlich auch [Aristot.] Rhet. Alex. ep. 12: [] . Zu Isokrates Verwendung des Begriffs vgl. Malingrey 1961, 4246; Beck 1964, 276 f.; Norlin 1966, XXVIXXVIII; Marrou 1981, 128; Eucken 1983, 1418; Poulakos 1997, 69; Bhme 2009, 2125; Schur 2013, 3841. 57 Zum Gegensatz zwischen Platon und Isokrates in dieser Frage vgl. Ries 1959. 58 berblicksartig dazu Thuk. 1,89118; [Aristot.] Ath. Pol. 2328; Ober 1989, 75 ff.; Bleicken 1995, 78 ff. 59 Zur Bedeutung Athens als kulturelles Zentrum in klassischer Zeit vgl. Ostwald 1992 (zu Philosophie, Rhetorik und Wissenschaft: 338351). 60 Vgl. Ostwald 1992, 306312. 61 Einen guten berblick zum athenischen Bildungswesen im 5. und 4. Jahrhundert bieten von Arnim 1898, 472; Beck 1964; Lynch 1972, 3267; Marrou 1981, 83143.

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  • Die Etablierung des geistigen Bildungswesens in Athen | 19

    Eindruck des traditionellen Unterrichtsangebots fr die aristokratische Jugend vermittelt eine bekannte Stelle in Platons Dialog Protagoras:

    Hernach, wenn sie [die Eltern] ihn [den Knaben] in die Schule schicken, schrfen sie dem Lehrer weit dringender ein, fr die Sittsamkeit der Kinder zu sorgen, als fr ihr Lesen und ihr Spiel auf der Kithara. [ Und] auch wenn die Kinder nun Schreiben und Lesen gelernt haben und auch das Geschriebene schon verstehen wie vorher den Ton, so geben sie ih-nen auf den Bnkchen die Gedichte der trefflichsten Dichter zu lesen und lassen sie sie auswendig lernen, in denen viele Zurechtweisungen enthalten sind und Erluterungen, auch Lob und Verherrlichung alter trefflicher Mnner, damit der Knabe sie bewundernd nachahme und sich bestrebe, auch ein solcher zu werden. Die Musikmeister () ebenso sehen auf Sittsamkeit []. berdies, wenn sie nun die Kithara zu spielen gelernt haben, lehren diese sie wiederum anderer vortrefflicher Dichter, nmlich der liederdich-tenden, Gedichte [] und arbeiten dahin, Rhythmus und Harmonie den Seelen der Kinder gelufig zu machen []. berdies schicken sie sie noch zum Meister der Leibesbungen ( ).62

    Vor diesem Hintergrund reprsentierte die Bildung, die mit Naturphilosophen und Sophisten in Athen ihren Einzug hielt, nicht nur ein neues Weltbild, son-dern auch ein neues Unterrichtsangebot. Geistige Studien, die ber die bisheri-ge Elementarbildung hinausgingen, nahmen nun einen sehr viel greren Stel-lenwert ein, als dies bisher der Fall gewesen war. Es entstand ein hheres geistiges Bildungswesen.63

    || 62 Plat. Prot. 325e326c (bersetzung Schleiermacher/Hofmann): , , , , . , , , , , , , , . , , . Zum Elementarunterricht vgl. Beck 1964, 72141; Lynch 1972, 3237; Marrou 1981, 6981; Baumgarten 2006. 63 Zu dieser Entwicklung vgl. Lynch 1972, 3867; Finley 1980, 96 f. Lynch verwendet the term secondary schools [] to distinguish all of the various advanced schools (i.e. rhetorical, so-

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  • 20 | Einleitung

    Wohl der erste Naturphilosoph, der sich in Athen niederlie, war Anaxago-ras von Klazomenai. Er stammte aus der ionischen Heimat der Naturphiloso-phie, in der so bedeutende Figuren wie Thales, Anaximander und Anaximenes gewirkt hatten, und kam vermutlich um 456 v. Chr. nach Athen.64 Wie seine Vorgnger hatte er nicht nur eine grundlegende Lehre zu bieten, wie der Kos-mos entstanden war, woraus er bestand und nach welchen Prinzipien er funkti-onierte, sondern auch eine Reihe von konkreten Theorien zum Wesen und den Ursachen einzelner Erscheinungen in der natrlichen Welt. Am bekanntesten und am konflikttrchtigsten war seine Lehre ber die Himmelskrper, bei denen es sich fr ihn nicht, wie man allgemein annahm, um Gtter handelte, sondern um Steinmassen, die sich aufgrund von rational erklrbaren Ursachen durch den Kosmos bewegten.65 All dies wie auch seine Kosmoslehre waren weitgehend spekulativ: Wer wissen wollte, was es mit der Welt und ihren Erscheinungen wirklich auf sich hatte, konnte sich nicht auf das verlassen, was er sah66 oder was die Griechen bisher geglaubt hatten,67 sondern musste der Einsicht des Denkens folgen entweder seinem eigenen oder dem des Anaxagoras (den man in der Antike nach seiner berhmtesten Theorie auch nannte68). Dass er in Athen eine Schule im eigentlichen Sinne betrieben hat, ist nicht anzuneh-men. Dennoch war er in der Stadt kein Unbekannter, stand in Kontakt zu fh-renden Persnlichkeiten, wie etwa Perikles,69 und hatte wohl auch einige Sch-

    || phistical, philosophical, etc.) from an elementary school which taught mousik and gumnastik to children (65; vgl. 64: schools of higher learing). 64 Die wichtigste Quelle ist Diog. Laert. 2,7 (wobei der Text dahingehend zu emendieren ist, dass Anaxagoras nicht 20, sondern etwa 40 Jahre alt war, als er seine Ttigkeit als philosophi-scher Lehrer in Athen aufnahm). Zur Datierung von Anaxagoras Athen-Aufenthalt vgl. Derenne 1930, 13; Mansfeld 1979, 3965; Gemelli 2010, 104106, 131; Dreler 2010, 6468 (mit weiterer Literatur). 65 Einen berblick dazu bietet Hippol. Ref. 1,8,610 (DK 59A42). 66 Vgl. etwa Sext. Emp. Pyrrh. Hyp. 1,33 (DK 59A97), wonach Anaxagoras der Tatsache, dass Schnee wei ist, entgegnete, Schnee sei verfestigtes Wasser, Wasser aber sei schwarz, also sei Schnee schwarz (bersetzung Gemelli; , , ). 67 Vgl. etwa DK 59B17: Vom Entstehen und Vergehen haben die Griechen keine richtige Meinung; denn kein Ding entsteht oder vergeht, sondern es mischt sich aus vorhandenen Dingen und trennt sich wieder (bersetzung Gemelli; , ). 68 Vgl. Timon ap. Diog. Laert. 2,6; Plut. Per. 4,4; Suda s.v. (DK 59A3). 69 Zu Anaxagoras Verbindung zu Perikles vgl. Plat. Alk. I 118c; Phaidr. 270a; ep. II 311a; Isok. 15,235; [Demosth.] 61,45; Cic. Brut. 44; de orat. 3,138; Plut. Per. 4,4; Diog. Laert. 2,1214. Ob

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  • Die Etablierung des geistigen Bildungswesens in Athen | 21

    ler.70 Nach Gemelli richtete er sich mit Vortrgen an ein gelehrtes Laienpubli-kum,71 und auch Jahrzehnte nach seinem Tod, zur Zeit des Sokrates-Prozesses, war sein Buch in Athen noch allgemein erhltlich.72

    Ein Schler des Anaxagoras soll der Athener Archelaos gewesen sein.73 Er war jedoch nicht nur an Naturphilosophie interessiert, sondern beschftigte sich auch mit ethischen Fragen und soll als einer der ersten den Gegensatz von Nomos und Physis ins philosophische Denken eingefhrt haben.74 Umgekehrt interessierten sich auch die Sophisten, fr die diese begriffliche Antithese eine wichtige Rolle spielte, fr die Lehren ihrer Vorgnger ber die Natur und den Kosmos wenn sie auch auf diesem Gebiet wenig Neues beizutragen hatten.75 Dies zeigt, dass die Grenzen zwischen Naturphilosophen, Sophisten und spter den sokratischen Philosophen keineswegs streng zu ziehen sind. Auch Sokra-tes, dem gemeinhin die anthropologische Wende der griechischen Philosophie zugeschrieben wird,76 soll sich zumindest in seiner Jugend mit den Theorien der Naturphilosophen beschftigt haben.77 Nach mehreren Quellen war er sogar ein Schler des Archelaos. Wenn die Nachricht authentisch ist, muss dahinter jedoch ursprnglich nicht mehr als ein Bekanntschaftsverhltnis oder ein intel-lektueller Austausch gestanden haben.78

    || Anaxagoras tatschlich einen so prgenden Einfluss auf Perikles gehabt hat, wie es die Quellen behaupten, kann allerdings mit Stadter (1991, 120122) bezweifelt werden. 70 In den Dissoi Logoi, einem sophistischen Text aus dem 4. Jahrhundert, ist mit Blick auf die Vergangenheit von die Rede, die als Lehrgemeinschaft mit Sophisten und Pythagoreern verglichen werden (6,8). Zu Schlern des Anaxagoras vgl. auch Athen. 5,220b; Aristot. Meteor. 345a25: . 71 Gemelli 2010, 108110. 72 Vgl. Plat. Apol. 26d. 73 Vgl. Diog. Laert. 2,16 und die in DK 59A7 versammelten Quellen. 74 Vgl. Diog. Laert. 2,16. 75 Zu den naturphilosophischen Interessen der Sophisten vgl. Capelle 1912, 434436; Ostwald 1992, 354 f.; Meister 2010, 137139. 76 Vgl. Aristot. Part. An. 642a2831; Cic. Tusc. 5,10; Guthrie 1969, 417425; Vander Waerdt 1994, 48 f. 77 Xen. Mem. 4,7,4 f.; Plat. Phaid. 96a99d; Diog. Laert. 2,45; vgl. Heitsch 2002, 65 f.; Althoff 2007, 118 f.; Vander Waerdt 1994 (der jedoch wohl den Quellenwert der aristophanischen Wolken in Bezug auf den jungen Sokrates zu hoch veranschlagt). 78 Vgl. etwa Diog. Laert. 2,16; 19; 23; Sext. Emp. 9,360. Eine kritische Durchsicht der antiken berlieferung zu dieser Frage bietet Woodbury 1971, der zu dem Schluss kommt, dass the teacher-pupil relationship between Archelaus and Socrates that is regularly accepted in the ancient tradition is a doxographic construction of the school of Aristotle in the fourth century (309) was freilich eine Bekanntschaft zwischen beiden nicht ausschliet.

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  • 22 | Einleitung

    Wie Sokrates galt das Hauptinteresse der Sophisten dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft.79 Die Frage nach den Mglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis die sie von den lteren Vorsokratikern geerbt hatten fhrte mehrere unter ihnen zu einem epistemologischen Relativismus, wonach eine ber die jeweiligen Erscheinungen hinausgehende Wahrheit nicht zu erfassen sei.80 Der Gegensatz von Nomos und Physis bezog sich in erster Linie auf soziale Normen und Institutionen: Diese gehrten dem Bereich des Nomos an, waren also von Menschen gemacht und konnten damit keine absolute Geltung bean-spruchen.81 Hier zeigt sich der berhmte sophistische Relativismus. Ob gngige soziale Normen deshalb nicht mehr befolgt werden mussten oder ob diese zwar von Menschen, aber eben aus gutem Grund gemacht worden waren und gerade aus dieser Erkenntnis heraus zu gelten hatten, war dabei unter den Sophisten durchaus umstritten.82 berhaupt handelte es sich bei den Sophisten um keine homogene Gruppe, die ein einheitliches Weltbild vertreten htte. Merkmale, die mehr oder minder auf alle von ihnen zutrafen, sind jedoch die Beschftigung mit Sprache und Rhetorik und ihr Auftreten als bezahlte Lehrer.83 Dabei bilde-ten sie noch keine festen Schulen, sondern reisten als Wanderlehrer von Stadt zu Stadt.84 Athen war somit zwar ein Ort, an dem sie einen nachhaltigen Ein-druck hinterlieen,85 jedoch keineswegs ihre einzige Wirkungssttte. Dennoch trugen sie wesentlich zur Etablierung eines geistigen Bildungswesens in der Stadt bei.86 Vieles von dem, was sie lehrten, war an der Praxis orientiert87 und richtete sich an und erreichte ein breites Publikum.88 Ihr Wirken bereitete

    || 79 Zum Lehrangebot der Sophisten vgl. Beck 1964, 147187; Marrou 1981, 83102. 80 Fr diese Position stehen vor allem Protagoras (vgl. Plat. Tht. 151e152a; Sext. Emp. 7,60) und Gorgias (zu dessen Schrift ber das Nichtseiende vgl. [Aristot.] MXG 979a11980b21; Sext. Emp. Math. 7,6587). Vgl. Meister 2010, 4654. 81 Zum Gegensatz von und im Denken der Sophisten vgl. allg. Guthrie 1969, 55134; Dodds 1970, 95 f.; Taureck 1995, 2933; Long 2005, 419421; Schrder 2005, 214222; Meister 2010, 83101. 82 Einen guten berblick zu den unterschiedlichen Positionen der Sophisten in dieser Frage gibt Guthrie 1969, 55134; vgl. auch Martin 1976, 148151, 160 f. 83 Zu den gemeinsamen Merkmalen der Sophisten vgl. Guthrie 1969, 3551; Martin 1976, 145154; Wallace 1998, 203208; Rubel 2000, 51 f.; Narcy 2001, Sp. 724; Meister 2010, 3744. 84 Vgl. Marrou 1981, 8688; Meister 2010, 4144. Zur Bedeutung des Reisens fr die Sophisten vgl. auch Tell 2011, 9397. 85 Zum Einfluss der Sophisten auf den zeitgenssischen Diskurs vgl. Ostwald 1992, 351363. 86 Vgl. in diesem Sinne Lynch 1972, 3846. 87 Vgl. Scholz 2006, 43. 88 Die ffentlichkeitswirkung der Sophisten wird besonders von Tenbruck 1976, 6374, be-tont.

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  • Die Etablierung des geistigen Bildungswesens in Athen | 23

    den Boden fr die festen Bildungssttten, die Rhetoriklehrer und Philosophen seit Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Athen begrndeten.

    Die ersten Rhetorikschulen erffneten in den 390er Jahren Isokrates und Alkidamas.89 Wenig spter folgte die Grndung der platonischen Akademie.90 Das Bildungskonzept ersterer stand in der Tradition der Sophisten und war darauf ausgerichtet, die Schler auf den Erfolg im praktischen Leben vorzube-reiten. Besonders in den politischen Institutionen des demokratischen Athens war die Beherrschung der Rhetorik dafr eine essenzielle Voraussetzung. Alkidamas und andere Rhetoriklehrer seines Schlages wie wohl auch viele ihrer Schler sahen in ihr vor allem ein wirkungsvolles Instrument, um die eigene Position zu behaupten.91 Isokrates hielt es sich dagegen zugute, dass die Beschftigung mit Reden in seiner Schule zugleich der Vermittlung von ethi-schen Normen und Werten diente und dass er selbst und die Redner, die er ausbildete, der Stadt und berhaupt ganz Griechenland wertvolle Ratgeber seien. Ein solches Studium der Rhetorik war ein Weg zur Weisheit und bean-spruchte daher auch den Titel fr sich.

    Aus heutiger platonisch geprgter Sicht erscheint es als ausgemacht, dass ein Rhetoriklehrer wie Isokrates kein Philosoph war. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen waren die Unterschiede zwischen Rhetoriklehrern und Philo-sophen jedoch weniger deutlich. Wie schon von Arnim festgestellt hat, waren fr die Zeitgenossen, die weniger das innere geistige Wesen dieser Bestrebun-gen, als ihre praktische Bedeutung beachteten, [] nicht nur Sokrates und Pro-tagoras, sondern auch Platon und Isokrates Mnner derselben Berufsklasse.92 In der Denkerschule der aristophanischen Wolken sind Rhetorik, Naturphiloso-phie und sophistische Ideen gleichermaen zu Hause. Die Rhetorik war sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht ein wichtiger Wirkungsbereich der Sophisten,93 denen man deswegen einen Platz in der Geschichte der Philosophie

    || 89 Zur Schulgrndung des Isokrates vgl. Norlin 1962, XX; Lynch 1972, 5154; Eucken 1983, 5; Bhme 2009, 7 f. 90 Die Grndung der Akademie wird allgemein ins Jahr 388/87 datiert; vgl. Beck 1964, 227; Lynch 1972, 47; Marrou 1981, 107. Zum Schulbetrieb in der platonischen Akademie vgl. Beck, 227239; Baltes 1993; Niehues-Prbsting 2004, 106115. Zur Lehrttigkeit der kleinen Sokrati-ker (Antisthenes, Aristipp et al.) vgl. auch von Arnim 1898, 2037; Lynch, 4851; Niehues-Prbsting, 101103. 91 Vgl. Alkid. Soph. 9 f. 92 Von Arnim 1898, 20. Weiter: Fr die Eltern, die auf die geistige Ausbildung ihrer Shne bedacht waren, stand die platonische Akademie neben den zahllosen anderen als ein nur durch seinen Lehrplan unterschiedenes Erziehungsinstitut. 93 Vgl. Eisenhut 1974, 1425; Martin 1976, 147 f.; Kennedy 1994, 1721, 26, 3035; Rapp 2002, 194197, 204207; Meister 2010, 6073, 7880.

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  • 24 | Einleitung

    dennoch nicht absprechen mchte. Die Trennung zwischen Philosophie und Rhetorik war vielmehr erst das Ergebnis einer lngeren Entwicklung, die we-sentlich durch die Auseinandersetzung zwischen dem isokratischen Bildungs-konzept und dem von Platon und Aristoteles vertretenen befrdert wurde.94 Cicero spricht spter von

    zwei verschiedenen Familien [nmlich den Nachfolgern Aristoteles einerseits, denen des Isokrates andererseits], deren eine sich zwar der Philosophie zuwandte, aber in nicht ge-ringem Mae auch den rhetorischen Knsten ihre Aufmerksamkeit widmete, whrend die andere wirklich gnzlich durch Studium und Lehre der Beredsamkeit in Anspruch ge-nommen war.95

    Auch Cicero sieht also zumindest von philosophischer Seite aus durchaus gemeinsame Interessen bei beiden Familien. Schlielich hatten sptere Philo-sophen noch Wesentliches zum Studium der Rhetorik beizutragen,96 und auch Platon und Aristoteles standen ihr keineswegs generell ablehnend gegenber.

    Platon entwickelte zwar seinen Begriff der gerade auch in Ab-grenzung von der sophistischen Rhetorik seiner Zeit.97 Whrend es dem Redner nur darum ginge, mglichst effektiv zu berzeugen, sei der Philosoph an der Erkenntnis der Wahrheit interessiert.98 Sein Instrument ist nicht die Rhetorik, sondern die Dialektik.99 Zugleich hat Platon jedoch in Abgrenzung zu den So-phisten (besonders im Phaidros) das Gegenbild einer positiven Rhetorik entwi-ckelt, die sich nicht auf das nur scheinbar berzeugende, sondern die Kenntnis

    || 94 Vgl. von Arnim 1898, 6372; Wilcox 1943, 115 Anm. 9; Kennedy 1994, 49; Yunis 1996, 16 f.; Scholz 2006, 44. Gillis Position (1969, 328), Isokrates Inanspruchnahme des -Begriffs (in der Sophisten-Rede) sei a radical departure from past tradition, wherein philosophers were distinguished from rhetoricians, und dass damit is coming to mean something much broader than in the past, erscheint mir als verfehlt. Vielmehr ent-spricht Isokrates weite Verwendung des Begriffes dem traditionellen Sprachgebrauch, wh-rend der vor allem von Platon vertretene eng umgrenzte Philosophie-Begriff und die damit einhergehende strikte Trennung von der Rhetorik fr die Zukunft und bis heute bestimmend werden sollten. 95 Cic. Inv. 2,8 (eigene bersetzung): duabus diversis sicuti familiis, quarum altera cum versaretur in philosophia, nonnullam rhetoricae quoque artis sibi curam assumebat, altera vero omnis in dicendi erat studio et praeceptione occupata. Ganz hnlich Quintilian (Inst. 3,1,13), der anstatt von Familien von getrennten Wegen spricht. 96 Vgl. etwa Quint. Inst. 3,1,15 sowie das Kapitel zur hellenistischen Rhetorik in Kennedy 1994, 81101. 97 Dies geschieht vor allem im Gorgias. 98 Vgl. etwa Plat. Gorg. 454e455a; 458e; 459bc; Phaidr. 260ad; 272d273c. Zur Kritik an zeitgenssischen Rhetorik-Theorien vgl. auch Phaidr. 266d269d. 99 Zur Unterscheidung von Rhetorik und Dialektik vgl. Plat. Gorg. 448d; 471d.

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  • Die Etablierung des geistigen Bildungswesens in Athen | 25

    der Wahrheit sttzen sollte.100 Platons Kritik richtet sich nicht gegen die Rheto-rik an sich, sondern gegen den negativen Gebrauch, den die meisten von ihr machten.101 So ist Niehues-Prbsting ohne Zweifel zuzustimmen, wenn er schreibt:

    Das alte Vorurteil der Unvereinbarkeit von Philosophie und Rhetorik beruht auf einem Missverstndnis der Rhetorikkritik Platons. Sein Kampf gegen die Sophistik ist nicht einer gegen, sondern einer um die Rhetorik; sie den Sophisten zu entreien und in die Philoso-phie zu integrieren ist Platons Absicht.102

    Als Aufgabe dieser fr die Philosophie in Anspruch genommenen Rhetorik be-zeichnet Platon die , die Leitung der Seele.103 Sie dient dem platoni-schen Philosophen dazu, den noch Unerfahrenen zur Erkenntnis der Ideenwelt zu lenken. Das eigentliche Instrument dieser Erkenntnis ist die Dialektik, doch erfllt die Rhetorik eine zwar nachgeordnete, aber wichtige protreptische und pdagogische Funktion.

    Wie Platon interessierte sich auch Aristoteles fr die Rhetorik. Neben den um 355 v. Chr. entstandenen Vorlesungen ber die Rhetorik104 hat er sich in meh-reren heute fast gnzlich verlorenen Schriften schon frh damit auseinanderge-setzt.105 Genau wie Platon trennt er zwischen der Rhetorik und der Dialektik.106

    || 100 Vgl. Phaidr. 262ac; 273de; 277bc. Zur Entwicklung eines positiven, philosophisch fundierten Rhetorik-Konzepts im Phaidros vgl. Yunis 1996, 172210; Tulli 2003, Sp. 973 f.; Schur 2013, 271278. 101 So heit es im Phaidros, da das Redenschreiben an sich nichts Hliches ist ( ), sondern dessen Charakter ganz vom Gebrauch abhngt, den man davon macht (258d; bersetzung Schleiermacher/Kurz). Dies ist brigens auch das Argument des Gorgias im Gorgias (456c457c; vgl. 461a). 102 Niehues-Prbsting 2004, 53 (Hervorhebungen im Original). 103 Phaidr. 261ae: [] (261a); vgl. 271c. hnlich auch schon Charm. 157a. Die Mglichkeit eines positiven Gebrauchs der Rhetorik, der sich von dem der kritisierten Sophisten unterscheidet, wird aber auch schon im Gorgias angedeutet: [] , , (454e) vgl. in diesem Sinne 504de; 527c. Die Wirkung der Rede auf die Seele beschreibt auch Gorgias (DK82 B11, 814), wobei er in erster Linie das damit verbundene Potenzial, zu berreden und zu tuschen hervorhebt: (14). Zum Konzept der Rede als Heilmittel () fr die Seele vgl. auch Gorg. Hel. 14; Aischyl. Prom. 380; Isok. 8,39 f.; de Romilly 1975, 14. 104 Zur aristotelischen Rhetorik vgl. Eisenhut 1974, 2937; Kennedy 1994, 5463; Rapp 2002. 105 Die entsprechenden Fragmente sind Rose 6869, 125141; vgl. Kennedy 1994, 5254; Rapp 2002, 224235; Tulli 2003, Sp. 974 f. Zu Aristoteles Beschftigung mit der Rhetorik (als Reaktion auf den Erfolg des Isokrates) vgl. auch Cic. Tusc. 1,7; Orat. 3,141; Quint. Inst. 3,1,14; Clarke 1971, 68.

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  • 26 | Einleitung

    Die Dialektik ist das Mittel der (auch methodisch) fundierten philosophischen Erkenntnis. Die Rhetorik dagegen ist die Fhigkeit, bei jeder Sache das mgli-cherweise berzeugende zu betrachten.107 Ihr Einsatzgebiet ist die Kommuni-kation im nicht-philosophischen Kontext. Sie arbeitet dabei zumeist nicht mit festem Wissen, sondern Wahrscheinlichkeiten, also dem, was die meisten Men-schen fr wahr oder plausibel halten108 wobei eine solche Argumentation weder falsch noch unmoralisch sein muss und sich der Wahrheit durchaus annhern kann.109 Daher kann die Rhetorik durchaus ntzlich sein, wenn es etwa darum geht, Wahrheit und Gerechtigkeit ( ) vor Ge-richt zu ihrem Recht zu verhelfen,110 oder auch wenn der Philosoph sich be-mht, Nicht-Philosophen von seinem Standpunkt zu berzeugen.111

    Umgekehrt war man auch in der anderen Familie, bei den Rhetoriklehrern, gegenber der Philosophie keineswegs abgeneigt. Fr Isokrates war die Philo-sophie kein Streben zur hheren Welt der Ideen (wie fr Platon) oder ein kei-nem hheren Zweck unterworfenes Studium (wie fr Aristoteles), sondern eine geistige Bildung, die dem Reden und Handeln, also der praktischen Lebens-fhrung dient.112 Isokrates die Bezeichnung als Philosoph abzusprechen, wrde ein Philosophiekonzept voraussetzen, das sich an das platonische anschliet, fr die klassische Zeit aber nicht als vorherrschend angenommen werden kann.113 Seine Inanspruchnahme des Begriffs ist keine Anmaung, sondern Ausdruck des zeitgenssischen Sprachgebrauchs.114 Die Rhetorik des Isokrates,

    || 106 Aristot. Rhet. 1354a1; 1355b817. Zu den Unterschieden zwischen Dialektik und Rhetorik vgl. Rapp 2002, 273276. 107 Aristot. Rhet. 1355b25f (bersetzung Rapp): ; vgl. auch 1355b10 f.; 1359b1317. 108 Das Gegenstck zum Syllogismus in der Dialektik ist in der Rhetorik das Enthymem (Aristot. Rhet. 1356a35b6; vgl. 1355a8). Whrend jener ein philosophisch valider Beweis ist (1357b5 f.), werden diese aus Wahrscheinlichkeiten und Indizien gebildet (1357a31 f.: ). Vgl. Kennedy 1994, 58; Krapinger 2007, 206 Anm. 13. 109 Aristot. Rhet. 1355a1418. Der Syllogismus ermglicht es, die Wahrheit zu erkennen, das Enthymem zu sehen, was der Wahrheit nahekommt. 110 Aristot. Rhet. 1355a2124. 111 Aristot. Rhet. 1355a2429. 112 Isok. 15,266: . Vgl. 9,77; 10,5; 12,30; 15,244; ep. 5,4. 113 Vgl. Lynch 1972, 63 f.: To call one philosophical schools and the other mere rhetorical schools as if there were no essential similarity between them is to foster a rather extreme form of the Platonic viewpoint. [] All the secondary schools were of the same general type. They were concerned with paideia of a more advanced kind and were competing for the same stu-dents (64). 114 Vgl. von Arnim 1898, 67; Eucken 1983, 17 f.

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  • Die Etablierung des geistigen Bildungswesens in Athen | 27

    die ihm zugleich als Medium der Reflexion115 und der (auch ethischen) Beleh-rung galt, lsst sich durchaus als philosophisch charakterisieren.

    Daneben gab es auch Menschen, die sich als Logographen und Redelehrer professionell ausschlielich mit der praktischen Anwendung der Rhetorik be-schftigten. Doch selbst hier lag der Weg zur richtigen Philosophie oft nicht weit. So finden sich bei dem Rhetoriklehrer Alkidamas Gedanken von philoso-phischem Inhalt wie etwa die von der sophistischen --Antithese geprgte Feststellung, dass die Natur niemanden zum Sklaven gemacht hat,116 oder seine berlegungen zur Funktion der Schrift, die an Platons Schriftkritik im Phaidros erinnern.117 berhaupt sind fr ihn offensichtlich, wie fr Isokrates, die Begriffe und mehr oder minder deckungsgleich.118 Ent-deckungen dieser Art lassen sich auch in der sogenannten Rhetorik fr Alexan-der machen, die einen Eindruck vermittelt, wie ein gngiges Rhetorik-Handbuch im spteren 4. Jahrhundert v. Chr. ausgesehen hat.119 Der Autor greift zum Beispiel die Unterscheidung von geschriebenem und ungeschriebenem Recht auf: Das Gesetz () sei eine allgemeine bereinkunft der Polis, die schriftlich festlegt, wie jedwedes zu tun ist, whrend es sich bei dem Gerech-ten um allgemein anerkannte Normen handele, die auch ohne Verschriftli-chung Geltung htten.120 Zu einer solchen Sicht finden sich Parallelen bei eini-gen Sophisten, die die Gesetze als menschliche Konvention definiert haben,121

    || 115 Isok. 3,8 (wiederholt in 15,256). 116 Alkid. fr. 1 Muir; vgl. Aristot. Rhet. 1373b18. 117 Alkid. Soph. 27 f.; vgl. auch. 15; 34. So seien geschriebene nur und der mndlichen Reden, und nur das gesprochene Wort sei lebendig und beseelt (). Vgl. Plat. Phaidr. 276a: [], , . Auerdem lobt Alkidamas in fr. 4 und 24 (Muir) den Nutzen der fr die Polis. (fr. 24 Muir = Aristot. 1406b11 f.) ist wohl mit Rapp und Muir als Bollwerk der Gesetze zu bersetzen und nicht wie Krapinger gegen die Gesetze. Im Sinne der zweiten Deutung vgl. aber Meister 2010, 92. 118 Alkid. Soph. 2; 15. 119 Die Schrift ist (wegen ihres spter hinzugefgten Proms) im aristotelischen Corpus ber-liefert worden und wird heute allgemein dem Rhetor und Historiker Anaximenes von Lampsakos zugeschrieben; vgl. Kennedy 1994, 4951; Weienberger 2001; Rapp 2002, 211: Die Rhetorik fr Alexander reprsentiert den Stand der Rhetorik, den Aristoteles vorgefunden ha-ben muss. 120 Rhet. Alex. 1,79 (bersetzung Hoffmeister/Knebel): []. , . Vgl. auch. 2,13 f. 121 So etwa Hippias (Xen. Mem. 4,4,13), Antiphon (DK 87B44, fr. B col. 1), Thrasymachos (Plat. Pol. 338e) und Kallikles (Plat. Pol. 483bc). Vgl. auch DK88 B25, Z. 5 f. (Sisyphos-Fragment); Plat. Pol. 359a; [Dem.] 25,16; Meister 2010, 116119.

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  • 28 | Einleitung

    aber auch bei Aristoteles, der ebenfalls zwischen den auf bereinkunft basie-renden Gesetzen der jeweiligen Poleis und ungeschriebenen, an sich geltenden und allgemein anerkannten Gesetzen unterscheidet.122 Wie der kurze berblick zur Entwicklung des geistigen Bildungswesens in Athen gezeigt hat, sind die Grenzen zwischen Rhetoriklehrern, Sophisten und Philosophen sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf den zeitgenssischen Sprachgebrauch keineswegs streng zu ziehen.123 Das Thema der Arbeit lsst sich daher schwerlich auf einen einheitlichen (antiken oder modernen) Begriff brin-gen, sondern ist inhaltlich zu beschreiben und abzugrenzen. Fr die Art von geistigen Studien, deren zeitgenssischer Wahrnehmung sie sich widmet, las-sen sich drei wesentliche gemeinsame Merkmale benennen: Erstens haben wir es mit einem professionellen und im 4. Jahrhundert auch institutionalisierten Unterricht zu tun, der sich an ein breites Publikum richtete und eben dadurch ffentlich wirksam wurde. Zweitens handelte es sich um ein Bildungsangebot, das ber die bisherige Elementarbildung Lesen und Schreiben, die Beschfti-gung mit den Dichtern, musische und sportliche bungen hinausging und vor allem auf die Ausbildung des Intellekts abzielte.124 Und drittens hielten damit auch vllig neue Felder und Themen Einzug ins athenische Bildungswesen dies galt fr die Theorien der Naturphilosophen, das gesellschaftliche wie epi-stemologische Denken der Sophisten, die theoretische wie praktische Beschfti-gung mit der Rhetorik (als systematisch betriebenes Unterrichtsfach), das meta-physische Denken Platons und die enzyklopdischen Studien des Peripatos gleichermaen.

    1.5 Aufbau der Arbeit

    Wie die Vertreter geistiger Bildung in Athen keine homogene Gruppe bildeten, so fanden sich auch im kritischen Diskurs ganz unterschiedliche, zum Teil wi-dersprchliche Kritikpunkte, die sich wiederum auf ganz unterschiedliche Be-reiche und Facetten des modernen Bildungswesens bezogen. Zwar konnten diese Facetten etwa in den Wolken in einer Figur, dem philosophischen Lehrer, der alle Bereiche des neuen Denkens gleichermaen reprsentierte, zusammenflieen. Dennoch ist es fr die vorliegende Untersuchung unumgng-

    || 122 Vgl. Aristot. Rhet. 1373b118; Ostwald 1973; Thomas 2005, 52 f.; Long 2005, 423. 123 Vgl. Azoulay 2007, 177 f. 124 Vgl. Lynch 1972, 63 f.

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  • Aufbau der Arbeit | 29

    lich, einzelne Themen des kritischen Diskurses voneinander zu unterscheiden, da auch die Kritik sich zumeist nicht auf die Philosophen oder die moderne Bildung im Allgemeinen bezog, sondern auf ganz bestimmte Arten und Aspekte geistiger Studien.

    Die Einteilung der Arbeit folgt dabei nicht primr der Binnengliederung des geistigen Bildungswesens etwa in Naturphilosophen, Sophisten, Rhetoriklehrer und die Philosophen der sokratischen Tradition. Schlielich waren die Grenzen hier, wie bereits bemerkt, noch keineswegs starr gezogen, zumal nicht aus der Auensicht derer, die die Weisheitslehrer verschiedener Couleur insgesamt kritisch betrachteten. Auch interessierten sich Auenste-hende nicht fr alle Bereiche des philosophischen Denkens gleichermaen: So manches, was den Philosophen (und den heutigen Philosophiehistorikern) als zentral erschien, hat der zeitgenssische nicht-philosophische Diskurs entwe-der nur als sinnlose Spekulation oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Die Gliederung der Arbeit geht daher nicht von der Eigenwahrnehmung der Philo-sophen aus, sondern rekonstruiert in drei Kapiteln drei wesentliche Themen, die zusammengenommen ein reprsentatives Bild des philosophie- und bildungs-kritischen Diskurses in Athen ergeben:

    Das erste Kapitel behandelt die Macht und die Einsatzmglichkeiten der Rede. Im Vordergrund steht die in den Quellen immer wieder thematisierte Befrchtung, dass der gebte Redner seine zumeist durch Bildung erworbe-nen Fhigkeiten zum eigenen Vorteil gebrauchen, seinen Mitbrgern vor Ge-richt schaden oder die Entscheidungen der Volksversammlung in seinem Sinne beeinflussen wrde. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der attischen De-mokratie stellte sich vor allem die Frage, wie in deren Entscheidungsprozessen, fr die die Rede eine zentrale Rolle spielte, richtige, gerechte und gemeinwohl-orientierte Entscheidungen getroffen werden konnten. Der Vorsprung an Wis-sen und Knnen, den die Redner gegenber dem versammelten Volk besaen, war ein notwendiger Faktor im demokratischen Verfahren und zugleich eine potenzielle Gefahr. Das Ziel war es folglich, die Macht der Rhetorik im Sinne des Gemeinwohls einzubinden und zu kontrollieren. Inwiefern dies mglich war und gelang, soll in diesem Kapitel ebenfalls untersucht werden. Daneben war die Macht der Rede auch ein wichtiges Thema des philosophiekritischen Dis-kurses. Zwar hatten die Philosophen zumeist keine politischen Ambitionen, doch war die Kunst des Argumentierens und berzeugens, die sie etwa in ihren Streitgesprchen gebrauchten, dem Knnen der Redner in mancherlei Hinsicht durchaus vergleichbar. Auch die Sprachbeherrschung der Philosophen konnte als potenzielle Gefahr erscheinen, wenn sie dazu diente, geltende Wahrheiten, Normen und Werte berzeugend und damit erfolgreich in Frage zu stellen.

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    Das zweite Kapitel beschftigt sich mit der zeitgenssischen Diskussion zum Sinn und Nutzen philosophische Bildung. Viele sahen die Philosophen als komische Auenseiter, die mit sinnlosen Studien ihre Zeit verschwendeten. Welchen Nutzen hatten die Schler und das Gemeinwesen insgesamt von sol-chen Beschftigungen? Standen sie einer ernsthaften Ausbildung und der akti-ven Bewhrung im praktischen Leben nicht vielmehr entgegen? Zugleich wurde befrchtet, dass die Philosophen als Fremde und gesellschaftliche Randfigu-ren die jugendlichen Schler ihrem angestammten sozialen Umfeld entfrem-deten. Das Auenseitertum, die Weltfremdheit und die (angebliche) Nutzlosig-keit der Philosophen waren gngige Topoi der attischen Komdie. Doch auch die Philosophen selbst haben sich wiederholt mit dem Vorwurf auseinanderge-setzt. Die entscheidende Frage war dabei, an welchem Kriterium der Wert und Nutzen von Bildung gemessen werden sollte. War diese immer auf einen ue-ren Nutzen und hier primr das ffentliche Leben zu beziehen, oder stellte das Streben nach Erkenntnis wie etwa Platon und Aristoteles meinten einen Wert an sich dar, der ber jeder praktischen Anwendbarkeit stand? Das dritte Kapitel schlielich beschftigt sich mit der Asebie-Problematik, die besonders im ausgehenden 5. Jahrhundert eine wesentliche Rolle in der zeitge-nssischen Auseinandersetzung um die Philosophie spielte. Zwar war das phi-losophische Denken an sich keineswegs antireligis, doch bildete sich schon bald eine Kluft zwischen dem gngigen religisen Weltbild und den Ansichten der Philosophen in diesem Bereich. Die Kritik richtete sich dabei in erster Linie gegen zwei Typen: zum einen den Naturphilosophen, der die Erscheinungen der Natur und des Himmels auf natrliche Weise erklrte und dabei fr die Gtter keinen Platz mehr hatte; zum anderen den sophistischen Zweifler, der nur noch an das glaubte, was er auch sah, und alles andere und so auch die Gtter radikal in Frage stellte. Beides galt den Athenern als Form der , unter welchen Begriff nicht nur eine gnzliche Leugnung der Gtter fiel, son-dern gleichermaen der mangelnde Respekt gegenber allem Gttlichen, den man in den allzu forschen Theorien der Philosophen zu erkennen meinte. Das Thema Gottlosigkeit war besonders konflikttrchtig und fhrte seit dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu mehreren Asebie-Verfahren. Zwar scheint die Auseinandersetzung im 4. Jahrhundert an Schrfe verloren zu haben, doch erwachte der Topos des gottlosen Philosophen wenn auch als weitgehend inhaltsleere Hlle in einer Reihe von primr politisch motivierten Prozessen gegen Philosophen im letzten Drittel des Jahrhunderts noch einmal zu neuem Leben.

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