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NOMOS ISSN 0946-7165 2/2004 11. Jahrgang Heft 2 Dezember 2004 Hrsg. im Auftrag der Sektion Internationale Politik der DVPW Zeitschrift für Internationale Beziehungen Aus dem Inhalt Sieglinde Gstöhl/Robert Kaiser Vernetztes Regieren in der globalen Handelspolitik Zur Rolle internationaler Standards in der Welthandelsorganisation Steffi Franke Politische Räume und nationale Identität Der Mitteleuropadiskurs in der Tschechischen Republik Heidrun Zinecker Regime-Hybridität in Entwicklungsländern Leistungen und Grenzen der neueren Transitionsforschung Christoph Weller Beobachtungen wissenschaftlicher Selbstkontrolle Qualität, Schwächen und die Zukunft des Peer Review-Verfahrens Geburtstagssymposium Zehn Jahre Zeitschrift für Internationale Beziehungen

ZCOV ZIB 2/2004 · 173 Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11. Jg. (2004) Heft 2, S. 173-177 Gunther Hellmann/Harald Müller Editorial Die Publikation des letzten Heftes der

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NOMOS

ISSN 0946-7165

2/200411. JahrgangHeft 2Dezember 2004

Hrsg. im Auftrag der SektionInternationalePolitik der DVPW

Zeitschrift für Internationale Beziehungen

Aus dem Inhalt

Sieglinde Gstöhl/Robert KaiserVernetztes Regieren in der globalen Handelspolitik Zur Rolle internationaler Standards in derWelthandelsorganisation

Steffi FrankePolitische Räume und nationale IdentitätDer Mitteleuropadiskurs in der Tschechischen Republik

Heidrun ZineckerRegime-Hybridität in EntwicklungsländernLeistungen und Grenzen der neueren Transitionsforschung

Christoph WellerBeobachtungen wissenschaftlicher SelbstkontrolleQualität, Schwächen und die Zukunft des Peer Review-Verfahrens

Geburtstagssymposium

Zehn Jahre Zeitschrift für Internationale Beziehungen

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2/2

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11:2

Alles, was Sie überEuropa wissen müssen.

Jahrbuch der Europäischen Integration 2003/2004Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. WernerWeidenfeld, Centrum für angewandtePolitikforschung und Prof. Dr. WolfgangWessels, Jean Monnet Lehrstuhl an derUniversität Köln2004, 524 S., brosch., 49,– €,ISBN 3-8329-0968-0

Das Jahrbuch der Europäischen Integrationdes Instituts für Europäische Politik (Berlin)dokumentiert und bilanziert seit 1980 zeit-nah und detailliert den europäischen Inte-grationsprozess. Entstanden ist eine einzig-artige Dokumentation der europäischenZeitgeschichte.Das aktuelle Jahrbuch führt diese Traditionfort. In über 70 Beiträgen zeichnen die Auto-rinnen und Autoren die europapolitischenEreignisse des Berichtszeitraums 2003/2004nach.Schwerpunkte des Jahrbuchs: Die Erweite-rung zu einer EU der 25 und mehr Mitglied-staaten und die Europäische Verfassung.

Bitte bestellen Sie bei Ihrer

Buchhandlung oder bei:

Nomos Verlagsgesellschaft

76520 Baden-Baden

Telefon 0 72 21/21 04-37/-38

Telefax 0 72 21/21 04-43

[email protected]

www.nomos.de

Nomos

F. Algieri · D. Allen · J. Alner · F.-L. Altmann · H.-J. Axt · E. Barbé · P. Becker · P. Bender · S.B i e r l i n gB. Böttcher · A. Busche · W. Deffaa · J. Deimel · F. Deloche-Gaudez · U. Diedrichs · R. Döhrn Ch. Franck · A. U. Gabanyi · C. Giering · M. Grosse Hüttmann · Ch. Gusy · V. Handl · I.H a r t w i gM. Hirsch · A. Huckstorf · B. Hüttemann · A. Inotai · J. Janning · M. Jopp · F. Kainer · I. Kempe W. Kösters · A. Krasovec · B. Laffan · D. Lajh · G. Lakatos · K.-O. Lang · K. Lárischová · F.Laursen Ch. Lequesne · R. Lindahl · I. Linsenmann · B. Lippert · Ch. Lippert · P. Luif · S. Magiera· R. Maruhn A. Maurer · W. van Meurs · T. Middendorf · J. Monar · M. Rosário de Moraes Vaz · B.van Mourik P.-Ch. Müller-Graff · F. Neugart · F. Neuhann · M. Niedobitek · V. Nienhaus · U.Nuscheler · Th. Petersen · A. Pijpers · K. Raik · E. Regelsberger · M. Roth · S. Sandawi · Ch. S.Schewe J. Schmidt · S. Schmidt · O. Schmuck · M. Selmayr · G. Seufert · M. Smith · J. Stehn· I. Tannous K. Toepel · R. Trautmann · J. Turek · G. Umbach · G. Unser · P. M. Wagner · W.Weidenfeld · E. Werner · S. Weske · W. Wessels · P. Zervakis

Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.)

Jahrbuch derEuropäischen Integration2003 / 2004

Nomos

ZIB 2/2004

INHALT

Gunther Hellmann/Harald Müller

Editorial

.................................................................................................................. 173

AUFSÄTZE

Sieglinde Gstöhl/Robert Kaiser

Vernetztes Regieren in der globalen Handelspolitik

Zur Rolle internationaler Standards in der Welthandelsorganisation ..................... 179

Steffi Franke

Politische Räume und nationale Identität

Der Mitteleuropadiskurs in der Tschechischen Republik ....................................... 203

Heidrun Zinecker

Regime-Hybridität in Entwicklungsländern

Leistungen und Grenzen der neueren Transitionsforschung ................................... 239

GEBURTSTAGSSYMPOSIUM

Zehn Jahre

Zeitschrift für Internationale Beziehungen

Harald Müller/Gunther Hellmann

Einleitung: Zehn Jahre

Zeitschrift für Internationale Beziehungen

Was wir aus den Geburtstagsgrüßen lernen ............................................................ 273

Mathias Albert

Zehn Jahre ZIB: Erfolg und erfolgreiches Scheitern

........................................ 281

Thomas Risse

We Did Much Better!

Warum es (auch) »auf amerikanisch« sein musste ................................................. 287

Christoph Scherrer

»Armut und Entwicklung« in der ZIB = Fehlanzeige?

...................................... 293

Hartmut Elsenhans

Konstruktivismus, Kooperation, Industrieländer – IB

...................................... 301

Jürgen Rüland

Theoriediskurs auf hohem Niveau

Mit eurozentrischer Schieflage? .............................................................................. 307

Reinhard Wolf

Macht und Recht in der ZIB

............................................................................... 313

ZU_ZIB_2_2004 Seite 171 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Friedrich Kratochwil

Kompetenz und Relevanz in der Politikforschung

Das erste Jahrzehnt der ZIB .................................................................................... 321

Christopher Daase

Ein Jahrzehnt ZIB

Themen und Anathemen in der friedens- und sicherheitspolitischen Forschung ... 325

Thomas Gehring

Internationale Institutionen,

Global Governance

und Steuerungsfragen

........ 333

Frank Schimmelfennig

Lost in Translation?

Zehn Jahre ZIB und die Europaforschung .............................................................. 341

Tanja A. Börzel

Europäisches Regieren

Policy matters! ........................................................................................................ 347

Hanns W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder

Die ZIB als Forum der deutschen IB?

Eine kritische Bestandsaufnahme ........................................................................... 357

FORUM

Christoph Weller

Beobachtungen wissenschaftlicher Selbstkontrolle

Qualität, Schwächen und die Zukunft des

Peer Review

-Verfahrens ...................... 365

CURRICULARES

Volker Rittberger/Fariborz Zelli

Die Internationalisierung der Lehre an deutschen Universitäten

Anforderungen an die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen ............................................................................ 395

TAGUNGSBERICHT

Harald Bluhm/Anna Geis

Den Krieg überdenken

Kriegstheorien und Kriegsbegriffe in der Kontroverse – ein Tagungsbericht ........ 419

Neuerscheinungen

................................................................................................. 429

Mitteilungen der Sektion

...................................................................................... 433

Abstracts

................................................................................................................ 439

Autorinnen und Autoren dieses Heftes

............................................................... 443

Jahresregister 2004

............................................................................................... 447

Beilagenhinweis:

Dieser Ausgabe liegen zwei Prospekte der Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wir bitten freundlichst um Beachtung.

ZU_ZIB_2_2004IVZ.fm Seite 172 Montag, 22. November 2004 8:42 08

173

Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 173-177

Gunther Hellmann/Harald Müller

Editorial

Die Publikation des letzten Heftes der ZIB unter Frankfurter Regie fällt mit einemersten runden Geburtstag zusammen: Die ZIB ist in diesem Jahr zehn Jahre altgeworden. Für die Herausgeber war dies ein willkommener Anlass, eine Zwischen-bilanz zu ziehen. Wir haben Kolleginnen und Kollegen eingeladen, zusammen mituns offen und kritisch über Erreichtes und Nicht-Erreichtes nachzudenken und Vor-schläge für Verbesserungen zu entwickeln. Die Resultate dieser ersten Runde derSelbstreflexion finden sich in einem »Geburtstagssymposium« in diesem Heft. Dasolche Reflexionen immer nur einen Ausschnitt liefern können und die

Community

derjenigen, die die ZIB zu dem gemacht haben, was sie heute auszeichnet, weit grö-ßer ist als die Zahl der hier vertretenen Gratulanten, kann dieses Symposium nureine erste Einladung zu einer fortzuführenden Diskussion sein. Zusammen mit dernachfolgenden Redaktion würden wir uns daher freuen, wenn möglichst viele Lese-rinnen und Leser, Autorinnen und Autoren sowie Gutachterinnen und Gutachter die-sen Einstieg aufgreifen und uns ihrerseits mitteilen würden, wie sie das Geleisteteder ersten (und die Perspektiven für die nächsten) zehn Jahre beurteilen. In welcherForm dieser Austausch den Lesern der ZIB zugänglich gemacht werden soll, ist imMoment noch Gegenstand interner Überlegungen, zu denen im nächsten Heft andieser Stelle mehr gesagt werden soll.

Zum Abschluss der Frankfurter Zeit wollen wir kurz Revue passieren lassen, waswir uns vorgenommen hatten und was wir (in unserer Selbstwahrnehmung) erreichtbzw. (noch) nicht erreicht haben. Unser großer Startvorteil war, dass wir weit bes-sere Startvoraussetzungen hatten als beispielsweise die rot-grüne Regierung nachdem Regierungswechsel 1998. Während Schröder und Fischer »zwar nicht allesanders, aber vieles besser« machen wollten, hatten wir den Vorteil, dass wir ange-sichts der großen Leistungen unserer Vorgänger »auf Konsolidierung sowie denbehutsamen Ausbau des Erreichten«

1

setzen konnten. Wir glauben, dass wir dieBreite der in der ZIB behandelten Themen und Zugänge beibehalten, an manchenStellen sogar ausbauen konnten.

Zur Konsolidierung ist sicherlich zu rechnen, dass wir die von unseren Bremer Vor-gängern eingeführte Rubrik »Curriculares« erfolgreich etablieren konnten. Seit Heft2/2001 ist in nahezu jedem Heft ein längerer Beitrag in dieser neuen Rubrik erschie-nen. Zu einem Zeitpunkt, da die Lehre an den deutschen Universitäten aufgrund derBologna-Beschlüsse der europäischen Wissenschaftsminister einem rapiden Wandelunterliegt, ist es zunehmend wichtig, den Austausch über Fragen der Lehre zu fördern.

1 Hellmann, Gunther/Müller, Harald 2002: Editorial, in: Zeitschrift für InternationaleBeziehungen 9: 1, 5.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 173 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Editorial

174

Zugleich war unser Ziel aber auch, die ZIB noch weiter zu öffnen und neueAkzente in der Außendarstellung zu setzen. Das Symposium zu den Folgen der Ter-roranschläge des 11. September 2001 im letzten Heft ist ein Ergebnis dieser Bemü-hungen. Wir halten es für wichtig, den möglichst unmittelbaren Dialog konkurrie-render Sichtweisen zu fördern und auch tagesaktuellen Entwicklungen einen Platz inder ZIB einzuräumen. Die positive Resonanz in der

Community

scheint uns hierauch Recht zu geben.

Angesichts der zunehmend verschwimmenden disziplinären Grenzen – und auchdas zeigen die Beiträge des Symposiums zum 11.9. – ist es darüber hinaus wichtig,die Nachbardisziplinen der IB verstärkt in der ZIB zum Zuge kommen zu lassen, umneue Fragen, Herangehensweisen, aber auch Lösungsansätze vorzustellen und zudiskutieren. Diesen Ansatz wollten wir mit der Einführung der Rubrik der »Grenz-gänger« erreichen, zu der sich – nach einem etwas zögerlichen Beginn – mittler-weile eine ganze Reihe origineller Beiträge angesammelt haben (von denen sich imMoment noch einige im Begutachtungsverfahren befinden).

Die

Zeitschrift für Internationale Beziehungen

soll das prinzipielle Kommunikati-onsorgan der deutschen

Community

sein. Das kann ihr aber nur dann gelingen, wennsie auch die aktuellen Entwicklungen widerspiegelt. Darum war es uns wichtig,Berichte von wissenschaftlichen Tagungen wieder regelmäßig in der ZIB zu publi-zieren. Auch hier zeigen uns die Rückmeldungen zu den seit letztem Jahr regelmä-ßig veröffentlichten Berichten (siehe Harald Bluhm und Anna Geis in diesem Heft),dass alle Beteiligten in der topischen Zusammenfassung der Ergebnisse solcherTagungen einen Vorteil sehen: Die Leserinnen der ZIB erhalten frühzeitig Einblickin neueste Forschungstrends, den Organisatoren der entsprechenden Veranstaltun-gen dienen die Berichte als Selbstvergewisserung über die erzielten Ergebnisse undden Autorinnen als frühzeitige Werbemöglichkeit gegenüber der

Community

imHinblick auf aktuelle Arbeiten.

Über die Dokumentation der Kommunikation

innerhalb

der

Community

hinauswollten wir auch die Kommunikation der ZIB

mit

der

Community

verbessern. DieEinführung des elektronischen ZIB-

Newsletter

, der

vor Erscheinen jeder Ausgabe indeutscher und englischer Sprache an derzeit insgesamt knapp 1400 Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland verschickt wird, ist diesemZiel gewidmet. Gerade die positiven Rückmeldungen aus dem Ausland machendeutlich, dass dieser Schritt lange überfällig war.

Quo Vadis ZIB?

Die Konsolidierung des durch unsere Vorgänger Erreichten erscheint uns recht gutgelungen. Inwieweit unsere behutsamen Neuerungen Früchte tragen, werden erst dienächsten Jahre erweisen. Aber positive Ansätze lassen sich in der Binnenperspek-tive bereits erkennen. Erstmals seit langer Zeit ist die Zahl der Manuskripteinrei-chungen in den letzten zwei Jahren stark angestiegen. Während in den vorange-gangenen Jahren die Zahl der Manuskripte pro Jahr bei durchschnittlich 25 lag,waren es 2003 bereits 34 – und auch das aktuelle Jahr lässt eine ähnliche Summe

ZU_ZIB_2_2004 Seite 174 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Editorial

175

ZIB 2/2004

erwarten. Ein weiteres Indiz, dass uns die Konsolidierung des Erreichten, aber auchdie Erweiterung gelungen ist, sind die stetig wachsenden Abonnentenzahlen, dieimplizit ja auch die Zustimmung zum Profil der ZIB ausdrücken. Dass diese Steige-rung zu einem erheblichen Maße durch den Nachwuchs gestellt wird, mag auch miteinem anderen erfreulichen Charakteristikum der ZIB zusammenhängen, der Tat-sache, dass rund 60 Prozent der Autorinnen/Autoren, deren Manuskripte in der ZIBveröffentlicht wurden, dem wissenschaftlichen Nachwuchs angehören (definiert alsalle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, unterhalb des Privatdozentenstatus,vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: ZIB-Veröffentlichungen nach Status, Geschlecht und Herkunft der Autorinnen und Autoren

Gewiss wäre es wünschenswert, wenn auch vermehrt »etablierte« Kolleginnenund Kollegen den bereits früher an dieser Stelle ergangenen Aufrufen nachkommenund Manuskripte einreichen würden. Wir betrachten es allerdings auch nicht nur alsNachteil, dass die ZIB in wesentlichen Hinsichten zu einem Forum innovativer For-schung aus dem Nachwuchs geworden ist, denn die Handschrift der »Etablierteren«bleibt zumindest an der Stelle der Gutachter deutlich bemerkbar und ist (dies zeigt u.a. der Beitrag von Christoph Weller in diesem Heft) auch ein ganz wesentlicher Teildes Projekts ZIB. Wie jeder, der einmal ein Gutachten geschrieben hat, weiß undwie auch die

Peer Review

-Forschung zeigt, ist das Begutachtungswesen (mit allenseinen Vor- und Nachteilen) ein wesentlicher Bestandteil der wissenschaftlichenKommunikation. Bei der ZIB zeigt sich dies u. a. in einem außerordentlich großenEngagement der rund 350 Fachkolleginnen und -kollegen. Zugleich ist hier wieauch bei den Publikationen der Anteil der Wissenschaftlerinnen hervorzuheben,denn während ihr Anteil am

Review-Panel

lediglich 21,1 Prozent beträgt, lag die

Jahrgang Nachwuchsquote Frauenquote Auslandsquote1994

77,8% 11,1% 11,1%

1995

63,2% 10,5% 15,8%

1996

60,0% 9,5% 20,0%

1997

73,3% 26,7% 26,7%

1998

81,3% 31,3% 50,0%

1999

42,9% 14,3% 28,6%

2000

50,0% 13,6% 9,1%

2001

66,7% 26,7% 6,7%

2002

71,4% 21,4% 14,3%

2003

69,6% 26,1% 13,0%

2004

32,4% 16,7% 13,5%

Quote gesamt 59,6% 18,3% 17,8%

ZU_ZIB_2_2004 Seite 175 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Editorial

176

Zahl der in den vergangenen drei Jahren tatsächlich zum Einsatz gekommenen Gut-achterinnen immer deutlich höher (zwischen 25 und 30 Prozent), d. h. dass Wissen-schaftlerinnen einen überproportionalen Input in die innerwissenschaftliche (seltenmit besonderen Karrierepluspunkten versehene) Kommunikation haben.

Das Geburtstagssymposium, die Untersuchung von Christoph Weller und ersteÜberlegungen der Redaktion legen es nahe, vor diesem Hintergrund auch über mög-liche Veränderungen nachzudenken. Der Beirat der ZIB wie auch die Herausgeber(alt und neu) werden sich daher im kommenden Jahr intensiv mit diesen Fragenbefassen und darüber nachdenken müssen, ob (und ggf. welche) Veränderungen imBegutachtungsverfahren vorzunehmen sind. Unter anderem wird dabei zu prüfensein, wie einige strukturelle Probleme von begutachteten Zeitschriften (z. B. hin-sichtlich Innovationshemmnissen) in ihren negativen Auswirkungen gemildert wer-den können.

Zusammenfassend meinen wir, mit der Frankfurter Bilanz alles in allem zufriedensein zu können. Daran haben natürlich die Leserinnen und Leser (darunter vor allemjene mit Abonnements!), die Autorinnen und Autoren sowie die Gutachterinnen undGutachter wesentlichen Anteil (dies schließt im übrigen auch die jeweils rund 200ausgewählten Mitglieder des

Review-Panels

der ZIB ein, die für jedes Heftes die ausihrer Sicht wichtigsten Neuerscheinungen ihres Fachgebietes benennen). Darüberhinaus haben natürlich unsere Mitstreiter in Frankfurt wesentlichen Anteil amGeleisteten. An erster Stelle ist hier Nicole Deitelhoff zu nennen, die die ZIB ausden erfahrenen Händen von Christoph Weller übernommen hat. Alle, die das Innen-leben einer Fachzeitschrift kennen, wissen, was es heißt, das Alltagsgeschäft zubewältigen, sprich: Gutachter, Autorinnen und Herausgeber genauso freundlich wiebestimmt an die Einhaltung von Terminen zu erinnern und schlechte wie auch guteNachrichten in angemessener Form zu übermitteln (um nur einige der Herausforde-rungen zu nennen). Nicole Deitelhoff hat diese Gratwanderungen in eindrucksvollerWeise gemeistert und sich bei allen Beteiligten großen Respekt und Anerkennungverschafft. Falls die ZIB in ihrer Frankfurter Zeit den ereichten hohen Standardunserer Vorgänger nicht nur halten, sondern auch ausbauen konnte, dann ist dieszum größten Teil das Verdienst von Nicole. Auch sie hatte natürlich Unterstützung.Zu nennen ist hier insbesondere Marcus Janz, der seine journalistische Erfahrung inden unterschiedlichsten Phasen der Produktion der ZIB einbrachte.

Unser Dank gilt nicht zuletzt dem Nomos-Verlag und seinen Mitarbeitern, insbe-sondere Klaus Letzgus, Andreas Beierwaltes und Tanja Schmidt. Dass die ZIB inden ersten zehn Jahren ihres Bestehens nicht nur zu einem Vorreiter unter den pro-fessionellen Fachzeitschriften im Felde der Sozialwissenschaften, sondern auch zueinem Aushängeschild für den Verlag geworden ist, zeigt, dass zu einem solchenErfolg immer mindestens zwei Akteursgruppen gehören: Fachwissenschaftler undprofessionelle Verleger. Uns allen ist bewusst, dass anspruchsvolle Fachzeitschrif-ten nicht zu den Rennern an den Kiosken gehören. Umso mehr freut es uns, dass wirdie Abonnenten-Zahlen der ZIB seit 2000 stetig erhöhen konnten – und dies obwohlsich der Markt sehr deutlich in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Die ZIBbefindet sich damit auf dem richtigen Weg, sie trägt sich aber noch nicht allein.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 176 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Editorial

177

ZIB 2/2004

Ohne die großzügige direkte Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemein-schaft sowie die (nicht minder wichtige direkte wie indirekte) Unterstützung vonEinrichtungen, die die jeweilige Redaktion aufnehmen (in den letzten drei Jahrendie Johann Wolfgang Goethe-Universität und die Hessische Stiftung Friedens- undKonfliktforschung, HSFK) würden die Existenzsorgen weit größer sein, als sie esderzeit sind. Auch ihnen gilt daher unser herzlicher Dank.

Wir hoffen, dass sich diese erfolgreiche Zusammenarbeit trotz der anhaltendschwierigen Rahmenbedingungen auch in Zukunft fortsetzen lässt und sind sicher,dass die nachfolgende Redaktion alles dafür tun wird, ihren Beitrag hierzu zu leisten.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 177 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

ZU_ZIB_2_2004 Seite 178 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

179

Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 179-202

Sieglinde Gstöhl/Robert Kaiser

Vernetztes Regieren in der globalen Handelspolitik

Zur Rolle internationaler Standards in der Welthandelsorganisation

Nicht-tarifäre Handelshemmnisse und insbesondere Standards haben in den letztenJahren in der globalen Handelspolitik erheblich an Bedeutung gewonnen. DieserBeitrag geht der Frage nach, inwiefern sich die Welthandelsorganisation (WTO) überdie negative, marktschaffende Integration hinaus mit Standards als einer Form dermarktregulierenden, positiven Integration befasst und welche Konsequenzen sichdaraus ergeben. Die WTO selbst setzt keine eigenen Standards, »importiert« dieseaber von anderen internationalen Gremien und Abkommen entweder durchQuerverweis in einzelnen WTO-Verträgen oder durch die Berücksichtigung solcherStandards in ihren Streitschlichtungsverfahren. Bei dieser neuen Form vernetztenRegierens können die WTO-Mitgliedsstaaten in der Regel zwar ihre nationalenProduktstandards auf importierte Güter anwenden, nicht aber ihre Vorschriften überProduktionsverfahren. Dieser »doppelte Standard« ist auf die institutionelle Strukturder WTO und die divergierenden Interessen ihrer Mitgliedsstaaten zurückzuführenund dürfte auf absehbare Zeit erhalten bleiben.

1. Handel und der Schutz von Umwelt, Arbeitskräften und VerbraucherInnen

1

Mit der starken Zunahme des globalen Handels hat sich die Notwendigkeit erhöht,auf multilateraler Ebene umfassendere Regelungen über Produkte und Produktions-verfahren zu treffen. Die Welthandelsorganisation (WTO) ist unter Druck geraten,bei der Liberalisierung des Welthandels stärker auf Verbraucher-, Umwelt- undArbeitsschutzstandards sowie geistige Eigentumsrechte Rücksicht zu nehmen.Dabei steht die WTO vor dem Problem, dass durch die Berücksichtigung legitimerSchutzinteressen in diesen Bereichen neue nicht-tarifäre Handelshemmnisse entste-hen können. Sie befindet sich gewissermaßen an einer Schnittstelle der »Regulie-rungsprozesse der Marktöffnung und der Marktkorrektur« (Gehring 2002: 118):Während sich das alte

General Agreement on Tariffs and Trade

(GATT) fast aus-schließlich mit dem marktschaffenden Abbau von Handelsrestriktionen im Sinnenegativer Integration befasste, lässt die WTO im Bereich der technischen Standardsund des Schutzes von Gesundheit und geistigem Eigentum Ansätze positiver, markt-korrigierender Integration erkennen. Diese gehen über die Gewährung von Handels-konzessionen hinaus, indem sie die Mitgliedsstaaten verpflichten, bestimmteMaßnahmen zu ergreifen, die auch innenpolitische Reformen beinhalten können.

1 Für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung bedanken wir uns bei den Gutach-terInnen der ZIB sowie bei den TeilnehmerInnen der Tagung »Global Economic Gover-nance« der DVPW-Sektion Internationale Politik vom 10. bis 12. April 2003 inArnoldshain.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 179 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Aufsätze

180

Die Bedeutung von handelsrelevanten Standards für den grenzüberschreitendenAustausch von Waren und Dienstleistungen ist beachtlich – nach einer Schätzung derOECD (1998: 4, 10) sind annähernd 80 Prozent des Welthandels von Standards undanderen technischen Regulierungen betroffen. Standards sind ein

Governance

-Phäno-men par excellence, da sie typischerweise akteurs- und ebenenübergreifende Netz-werke einschließen (Abbott/Snidal 2001: 361f; vgl. auch Nadvi/Wältring 2002: 9f).

2

Die WTO ist somit Teil eines

Governance

-Prozesses, in dem verschiedene öffentlicheund/oder private Akteure von der lokalen bis zur globalen Ebene den internationalenHandel und damit zusammenhängende Fragen von Standards kooperativ regeln.

Standards sind allgemein akzeptierte Kriterien, mit denen die Performanz von Pro-dukten und Dienstleistungen, ihre technischen und physikalischen Charakteristikaund/oder die Prozesse und die Bedingungen, unter denen sie hergestellt oder geliefertworden sind, bewertet werden können (Nadvi/Wältring 2002: 6). Sie beziehen sich aufeine Vielzahl von Anwendungsbereichen wie etwa technische, Gesundheits- oderSicherheitsnormen, und sie gewährleisten ein Minimum an Qualität, Information oderKompatibilität. Die Festlegung von Standards hat entweder das Ziel, negative Exter-nalitäten

(insbesondere die Gefährdung der Gesundheit oder der Umwelt) zubegrenzen, oder die Funktionsfähigkeit technischer Systeme (bei der Definition vonKriterien für deren Schnittstellen) sicherzustellen (Genschel 1995: 25). Im Hinblickauf ihre Verbindlichkeit müssen zwei Arten von Standards unterschieden werden: frei-willige und regulative Standards. In der Regel werden freiwillige Standards zumeistvon privatwirtschaftlichen Akteuren oder Nichtregierungsorganisationen gesetzt, wäh-rend regulative Standards verbindlich sind und durch öffentliche Akteure im nationa-len oder internationalen Recht verankert werden.

3

Eine Vielzahl zunächst freiwilligerStandards ist mit der Zeit in regulative Standards übergegangen.

4

Seit Mitte der1980er-Jahre hat zudem eine weitere Unterscheidung zwischen Produktstandards undVerfahrensstandards (bzw. Standards über Prozess- und Produktionsmethoden) anBedeutung gewonnen. Während etwa arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen ein typi-

2 Im Gegensatz zu Regelungen über Gesundheitsschutz und Lebensmittelsicherheit sindQualitätsmanagementstandards wie etwa ISO 9000 freiwillige Vereinbarungen und wer-den in erster Linie von privaten Akteuren angewendet. Die Bandbreite von Umwelt- undSozialstandards reicht von unternehmerischen Verhaltenskodizes (z. B. Reebok) undbranchenspezifischen Ökokennzeichen (z. B. Eco-tex) bis hin zu Standards, die inKooperation von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Unternehmen entwickeltwerden (z. B. Rugmark), sowie dreiseitig vereinbarten sozialen Mindeststandards (z. B.SA 8000), die darauf abzielen, den Regelungen der Internationalen Arbeitsorganisation(ILO) stärkeres politisches Gewicht zu verleihen.

3 Natürlich können auch private Akteure an der Definition regulativer Standards beteiligtsein (z. B. in einer

public-private partnership

) und öffentliche Akteure freiwillige Stan-dards formulieren (z. B. im

Global Compact

der UNO). Freiwillige Standards könnenzudem auch wie nicht-tarifäre Handelshemmnisse wirken, etwa wenn KonsumentInnenihre Entscheidungen an spezifischen Gütesiegeln oder an der Kompatibilität von Pro-dukten ausrichten oder wenn im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder von Ver-sicherungen die Einhaltung freiwilliger Standards verlangt wird (Sykes 1995: 13-15).

4 Nadvi und Wältring (2002) zeichnen die unterschiedlichen Entwicklungspfade verschie-dener Generationen von globalen Standards (Qualitätsmanagement-, Umwelt- und Sozi-alstandards) nach.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 180 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Sieglinde Gstöhl/Robert Kaiser: Vernetztes Regieren in der globalen Handelspolitik

181

ZIB 2/2004

sches Beispiel für Verfahrensstandards sind, können Umweltschutzregulierungensowohl Produkte als auch Produktionsprozesse betreffen.

In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, wie und mit welchen Folgen dieWTO in Bezug auf Standards neue Formen vernetzten Regierens entwickelt hat.

5

Trotz zunehmender Relevanz hat die Literatur dem mit der Formulierung, Anwen-dung und Durchsetzung von Standards befassten

Governance

-Prozess bisher relativwenig Aufmerksamkeit geschenkt, wobei im Gegensatz zu einigen wirtschafts- undrechtswissenschaftlichen Studien politikwissenschaftliche Analysen »praktischnicht existieren« (Mattli 2001: 331f).

6

Wir zeigen, dass die WTO, anstatt eigeneStandards zu setzen, zwei Strategien – den Import externer (d. h. von anderen Insti-tutionen gesetzten) Standards durch Querverweis oder durch Fallentscheid – entwi-ckelt hat, um eine Berücksichtigung von handelsrelevanten Standards zugewährleisten. Dabei zeichnet sich das Welthandelsrecht durch eine unterschiedli-che Behandlung von Produkt- und Verfahrensstandards aus: Während die Mitglieds-staaten der WTO Produktstandards gleichermaßen auf inländische wie aufimportierte Güter anwenden dürfen, bleibt die Reichweite von Verfahrensstandardsin der Regel auf den nationalen Raum begrenzt.

7

Dies bedeutet, dass der WTO-Grundsatz der Nichtdiskriminierung sich lediglich auf die Produktbeschaffenheitbezieht, nicht aber darauf, wie solche Produkte hergestellt worden sind. Wir argu-mentieren, dass sich die unterschiedliche Behandlung von Produkt- und Verfahrens-standards auf den institutionellen Kontext der WTO und die divergierendenInteressen der Mitgliedsstaaten zurückführen lässt und deshalb auch weiterhin erhal-ten bleiben dürfte. Diese beiden Aspekte haben auch zur Folge, dass eine Kodifizie-rung von Verfahrensstandards in den WTO-Verträgen unwahrscheinlich ist:Einerseits werden Beschlüsse in der WTO praktisch immer im Konsens gefasst, sodass institutionelle Vetopositionen existieren, die eine positive Integration nichterwarten lassen;8 andererseits wird die Verankerung von Verfahrensstandards im

5 Unter vernetztem Regieren verstehen wir generell akteurs- und ebenenübergreifendesHandeln öffentlicher Akteure durch die Einbindung von internationalen Institutionen oderprivaten Akteuren aus Wirtschaft und/oder Zivilgesellschaft und die Verbindung vonlokaler, nationaler, regionaler und/oder globaler Ebene. Besonders ausgeprägt ist vernetz-tes Regieren bei globalen Politiknetzwerken zu beobachten (vgl. Benner et al. 2001).

6 Es gibt lediglich einige wenige sektorspezifische Untersuchungen über institutionellenWandel in der Standardisierung, so etwa für den Bereich der Informationstechnologie(Genschel 1995) und der Handelspolitik (Gehring 2002).

7 Die Unterscheidung von Produkt- und Verfahrensstandards wurde erstmals 1991 durchdas GATT-Streitschlichtungsverfahren Tuna/Dolphin bestätigt. Der entsprechende Pa-nelbericht, der offiziell jedoch nie angenommen wurde, kam zu dem Ergebnis, dass dieVereinigten Staaten von Amerika die Einfuhr von mexikanischem Thunfisch nichtunterbinden durften, nur weil die Fangmethode, also das Produktionsverfahren, nichtUS-amerikanischem Recht entsprach. Vielmehr seien die USA lediglich berechtigt, Vor-schriften über die Qualität oder den Inhalt importierter Thunfischprodukte durchzusetzen(GATT 1991). In den Folgejahren kam diese »Produkt-Prozess-Doktrin« in einigen wei-teren Fällen zur Anwendung (vgl. Hudec 2000).

8 Zürn (1997: 53-56) spricht von der kooperationshinderlichen Implementationslogikpositiver Regelungen, denn diese verlangen von den Regierungen, bestimmte Politikendurchzuführen und gesellschaftliche Akteure zu Verhaltensänderungen zu bewegen (mitder Möglichkeit des unfreiwilligen Regelbruchs), während sich die Staaten im Fallenegativer Integration nur auf eine Unterlassung verpflichten.

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Welthandelsrecht durch erheblich divergierende Interessen der Mitgliedsstaatenbehindert. Insbesondere Entwicklungsländer – welche die Mehrheit der WTO-Mit-glieder stellen – wehren sich gegen eine Kodifizierung von Umwelt- und Sozialstan-dards, weil eine solche Vertragsrevision über Querverweise hinaus als Grundlagefür künftige Entscheidungen der Streitschlichtungsorgane (dispute settlement body,DSB) dienen könnte. Sie befürchten dadurch nicht nur eine Einmischung in innereAngelegenheiten, sondern auch wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile.

Dass die Erfolgsaussichten positiver Integration in erheblichem Maße durch deninstitutionellen Kontext und die Interessenkonstellation der Akteure bestimmt wird,ist in Untersuchungen zur Europäischen Union (EU) bereits diskutiert worden.Danach ist eine Harmonisierung divergenter nationaler Regulierungen nur unterbestimmten institutionellen Bedingungen zu erwarten, die im Rahmen der WTOjedoch nicht gegeben sind (vgl. Abschnitte 4.1 und 4.2).

Im Folgenden führen wir diese Argumentation näher aus. Abschnitt 2 legt dar,inwieweit externe Standards bereits durch Querverweise in die WTO-AbkommenEingang gefunden haben, während Abschnitt 3 analysiert, in welchem Ausmaß ins-besondere international anerkannte Verfahrensstandards in den WTO-Streit-schlichtungsfällen berücksichtigt wurden. Abschnitt 4 diskutiert die Aussichten füreine Kodifizierung von Arbeits- und Umweltschutzstandards in den WTO-Verträ-gen, und Abschnitt 5 zieht einige Schlussfolgerungen für das Regieren in der WTO.

2. Der Import externer Standards durch Querverweis in den WTO-Abkommen

Die Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation können weiterhin unterschied-lichste nationale Standards anwenden, denn die Grundsätze der Meistbegünstigungund Inländerbehandlung verbieten lediglich die diskriminierende Handhabunggleichartiger Produkte durch das Importland.9 Das WTO-Recht verlangt von denStaaten nicht, nationale Standards zu setzen – wenn sie dies aber tun, will es sicher-stellen, dass diese nicht als unnötige Handelshemmnisse wirken. Nach Art. XXGATT sind Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung undGesundheit oder dem Schutz natürlicher Ressourcen dienen, sogar zulässig, solangesie keine verschleierte Handelsbeschränkung bzw. willkürliche oder ungerechtfer-tigte Diskriminierung zwischen Ländern, in denen gleiche Verhältnisse bestehen,darstellen (vgl. Puth 2003: 295-360).10

Da sich die Regelungen des Art. XX allerdings als nicht ausreichend erwiesenhaben, um eine Beeinträchtigung des Welthandels durch Umwelt-, Gesundheits-oder technische Standards und andere nicht-tarifäre Handelshemmnisse zu verhin-dern, wurden mit Gründung der Welthandelsorganisation 1995 einige Zusatzabkom-

9 Zur Frage, inwieweit für die Gleichartigkeit von eingeführten und einheimischen Pro-dukten im Rahmen der Inländerbehandlung (Art. III) auch nicht-produktbezogene Ver-fahrensstandards relevant sind oder nicht, vgl. Marceau und Trachtman (2002: 856-860)sowie Puth (2003: 230-276).

10 Überdies erlaubt Art. XXI GATT Maßnahmen im Falle wesentlicher Sicherheitsinteressen.Ähnliche Vorschriften finden sich in Art. XIV und XIVbis GATS (General Agreement onTrade in Services) und in Art. 27 TRIPs (Trade-Related Intellectual Property Rights).

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men geschlossen.11 Die Abkommen über technische Handelshemmnisse (TBT)12

und über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicherMaßnahmen (SPS)13 beziehen sich auf Standards, die von anderen internationalenInstitutionen gesetzt wurden, und fordern die WTO-Mitgliedsstaaten zur Umsetzungin nationales Recht auf. Darüber hinaus verpflichtet das Abkommen über handelsbe-zogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPs)14 die WTO-Mitglieds-staaten direkt zur Anwendung internationaler Mindeststandards für Copyrights,Patente, geographische Herkunftsbezeichnungen usw. (vgl. Herrmann 2003).

2.1. Das TBT-Abkommen: Empfehlung internationaler technischer Standards

Eine erste Vereinbarung über technische Handelshemmnisse trat bereits 1980 mitAbschluss der Tokio-Runde in Kraft.15 Sie wurde 1995 durch das TBT-Abkommenersetzt, das – im Gegensatz zur Vorgängerregelung – für alle Mitgliedsstaaten derWTO verbindlich ist. Das TBT-Abkommen findet Anwendung auf technischeRegulierungen sowie auf Test- und Zertifizierungsverfahren, soweit sie nichtDienstleistungen betreffen oder in den Bereich gesundheitspolizeilicher und pflan-zenschutzrechtlicher Bestimmungen fallen. Es umfasst sowohl Produkt- als auchVerfahrensstandards.16 Obwohl das Abkommen das Recht der Mitgliedsstaatenanerkennt, nationale Standards zu setzen, die sie etwa zum Schutz für Konsumentenoder Umwelt für notwendig erachten, ermutigt es sie jedoch ausdrücklich, internati-onale Standards zu übernehmen (Art. 2.4). Diese Vorgabe betrifft nicht nur neueStandards, sondern auch bereits existierende, denn jede Vertragspartei hat dasRecht, einen anderen Mitgliedsstaat aufzufordern, die Ausarbeitung, Annahme oderAnwendung einer Regelung zu begründen (Art. 2.5). Hierbei gilt grundsätzlich, dassstaatliche Behörden keine technische Regelung in Kraft setzen dürfen, die den Han-del stärker als notwendig behindert. Darüber hinaus existiert ein Code of GoodPractice für die Vorbereitung, Annahme und Anwendung freiwilliger Standards,und die Regierungen haben geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Einhaltungdieses Kodexes nicht nur durch zentralstaatliche, sondern nach Möglichkeit auch

11 Primärrechtliche Definitionen von Verfahrensstandards sind in diesen Zusatzabkommenbisher höchst selten (so etwa im Hinblick auf die Durchführung von Patentschutzverfah-ren im TRIPs-Abkommen). In der Regel nehmen die Abkommen Querverweise auf Pro-duktstandards anderer internationaler Vereinbarungen vor, während eine weitergehendeBefassung mit Verfahrensstandards bisher vorwiegend den Streitschlichtungsverfahrender WTO vorbehalten war.

12 Agreement on Technical Barriers to Trade , ABl. 1994 L 336/86.13 Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures , ABl. 1994 L

336/40. 14 Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights , ABl. 1994 L 336/

213.15 Dieser nicht von allen GATT-Mitgliedsstaaten unterzeichnete Standards Code beinhal-

tete die Verpflichtung, international anerkannte Standards zu verwenden.16 Einige Entwicklungsländer vertraten die Auffassung, dass das TBT-Abkommen über-

haupt nicht auf Verfahrensstandards anzuwenden sei, während andere WTO-Mitgliederder Ansicht waren, dass nur produktbezogene Verfahrensstandards darunter fallen(Marceau/Trachtman 2002: 861f; Puth 2003: 209-219).

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durch lokale, nichtstaatliche und regionale Standardisierungsgremien zu gewährleis-ten. Das Gebot der Nichtdiskriminierung erstreckt sich auch auf Verfahren derKonformitätsbewertung, bei denen ebenfalls relevante, international vereinbarteEmpfehlungen und Richtlinien angewendet werden sollen.

Die Überwindung technischer Handelshemmnisse besitzt ferner eine bilateraleDimension durch die zunehmende Anzahl von Abkommen über die gegenseitigeAnerkennung von technischen Vorschriften und Verfahren der Konformitäts-bewertung (mutual recognition agreements, MRAs). Die Europäische Union bei-spielsweise hat MRAs u. a. mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Japan,Australien und der Schweiz geschlossen. Diese Abkommen betreffen in der Regelhandelsintensive Industriesektoren (z. B. Maschinenbau, Telekommunikationsend-geräte, pharmazeutische Produkte).

2.2. Das SPS-Abkommen: Primat wissenschaftlich abgesicherter Gesundheitsstandards

Gesundheitspolizeiliche oder pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen beinhalten ins-besondere Regelungen zum Schutz von Menschen, Pflanzen oder Tieren. Sie betref-fen in gleicher Weise aus- und inländische Produkte. Das SPS-Abkommen wurdeim Rahmen des Agrarabkommens ausgehandelt und ist lex specialis zum TBT-Abkommen. Es umfasst sowohl Produkt- als auch (produktbezogene) Verfahrens-standards, aber die vertragliche Definition lässt offen, ob nur regulative oder auchfreiwillige Standards betroffen sind (Sykes 1995: 82). Das Abkommen bezieht sichnur auf Regelungen des Gesundheitsschutzes im Inland und schließt Maßnahmen,die auf eine Standardisierung von Verfahrensstandards in den exportierenden Län-dern zielen, grundsätzlich aus (Marceau/Trachtman 2002: 862; Puth 2003: 206-209). Allerdings sind prozessbezogene Maßnahmen eines Importlandes erlaubt,welche die öffentliche Gesundheit auf seinem Territorium schützen sollen (z. B.Mindeststandards für ausländische Schlachthäuser oder Hygienevorschriften bei derHerstellung von Arzneimitteln). Die SPS-Verfahrensstandards haben in der Regelunmittelbaren Produktbezug, da sie sich vornehmlich auf mögliche Gesundheitsrisi-ken (einschließlich des Transports von Pflanzen und Tieren) beziehen, die vonimportierten Lebensmitteln ausgehen können.

Grundsätzlich dürfen nationale SPS-Standards den Handel nur so weit beschrän-ken, wie es zur Durchsetzung legitimer Schutzinteressen für Mensch und Umweltnotwendig ist. Nach dem SPS-Abkommen ist dieses Schutzinteresse aber nicht freidefinierbar, denn die Standards müssen auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhenund dürfen ohne eine ausreichende wissenschaftliche Begründung nicht aufrechter-halten werden.17 Sollte ein solcher wissenschaftlicher Beweis (noch) nicht vorlie-gen, ist es den WTO-Mitgliedsstaaten nach dem »Vorsorgeprinzip« (Art. 5.7)

17 Der Europäischen Union ist es in diesem Zusammenhang nicht gelungen, auch die Inte-ressen der KonsumentInnen und Tierschutzbestimmungen als Kriterien festzuschreiben(vgl. Skogstad 2001: 493). Diese können zwar Maßnahmen unter dem TBT-Abkommen,nicht aber unter dem SPS-Abkommen begründen.

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zumindest zeitweise erlaubt, handelsbeschränkende Maßnahmen auf der Basis rele-vanter Informationen, auch von internationalen Organisationen oder anderen Ver-tragsparteien, in Kraft zu setzen. Allerdings sind die Mitgliedsstaaten in dieserÜbergangszeit verpflichtet, weitere Informationen zu beschaffen, die eine objekti-vere Risikoeinschätzung erlauben.

Das SPS-Abkommen geht im Vergleich zum TBT-Abkommen einen Schritt wei-ter, indem es explizit die (unverbindlichen) Regelungen der folgenden drei Organi-sationen empfiehlt: die FAO-WHO Codex Alimentarius-Kommission für Lebens-mittelsicherheit in Rom, das Internationale Tierseuchenamt (Office International desEpizooties, OIE) in Paris und das FAO-Sekretariat der Internationalen Pflanzen-schutzkonvention (International Plant Protection Convention, IPPC) in Rom. Dieseinternationalen Standardisierungsgremien, die vielfach als die »drei Schwestern«bezeichnet werden, stellen einen Rahmen zur Verfügung, auf dessen Basis WTO-Mitgliedsstaaten ihre nationalen Regelungen entwickeln können. Sie besitzen Beob-achterstatus bei den Sitzungen des SPS-Ausschusses und können Expertisen inWTO-Streitschlichtungsverfahren geben. Die meisten WTO-Mitgliedsstaaten sindin den »drei Schwestern« aktiv; sie können sich bei der Setzung nationaler Stan-dards, aber auch auf andere internationale Organisationen oder Abkommen berufen,die allen WTO-Mitgliedern offen stehen. Die Standards anderer Mitgliedsstaatenmüssen als gleichwertig akzeptiert werden, sofern der exportierende Staat belegenkann, dass sie das gewünschte Schutzniveau gewährleisten. Diese Äquivalenzrege-lung schwächt den Druck ab, die Standards der »drei Schwestern« zu übernehmen,anstatt beispielsweise höhere nationale Schutzniveaus anzustreben.

Somit bleibt die Übernahme international vereinbarter Standards für die Mit-gliedsstaaten zwar grundsätzlich freiwillig, aber das SPS-Abkommen verleiht ihneneinen neuen Status, denn die einzige Rechtfertigung, diese Standards nicht zu ver-wenden, sind wissenschaftliche Argumente, die auf einer geeigneten Risikoein-schätzung beruhen.18 Im Gegensatz hierzu können Mitgliedsstaaten im Regelungs-bereich des TBT-Abkommens internationale Standards aus anderen Gründen alspotenziellen Gesundheitsrisiken (z. B. fundamentale technische Probleme oder geo-graphische Faktoren) für nicht ausreichend erklären.

2.3. Das TRIPs-Abkommen: verbindliche Mindeststandards für geistige Eigentumsrechte

Das TRIPs-Abkommen setzt Mindeststandards zum globalen Schutz geistigerEigentumsrechte wie Urheberrechte, Schutzvorschriften für geographische Her-kunftsbezeichnungen, Markenschutz, Geschmacks- und Gebrauchsmuster, Halblei-tertopographien und Patente. Das Abkommen inkorporiert die Revidierte BernerÜbereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und der Kunst sowie die Pari-ser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, die dadurch für

18 Marceau und Trachtman (2002: 838) argumentieren, dass die »drei Schwestern« durchdas SPS-Abkommen als »Quasi-Gesetzgeber« für internationale Standards auftreten, dabei ihren Regelungen eine WTO-Konformität unterstellt werden kann.

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alle WTO-Mitgliedsstaaten verbindlich werden. Ferner umfasst das TRIPs-Abkom-men sämtliche Verträge, die auf der Ebene der World Intellectual Property Organi-zation (WIPO) geschlossen wurden, sowie Regelungen für den Schutz vonSoftware, Datenbanken und Musikaufnahmen. Durch den expliziten Bezug auf diein den WIPO-Verträgen entwickelten Normen geht das TRIPs-Abkommen über dieTBT- und SPS-Abkommen hinaus.

Das TRIPs-Abkommen berührt sowohl Produkt- als auch Verfahrensstandards,denn die Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte betrifft direkt die Produktionspro-zesse. Es sieht beispielsweise vor, dass die Mitgliedsstaaten in allen technologischenBereichen Patentschutz für Erfindungen sowohl für Produkte als auch für Verfahrengewähren. In Bezug auf den Patentschutz geht das TRIPs-Abkommen erheblichüber das durch die Pariser Verbandsübereinkunft gesetzte Schutzniveau hinaus(Hoekman/Kostecki 2001: 287-290; Sell 2002). Es verlangt zum Beispiel höhereMindeststandards für die Dauer des Patentschutzes für Produkte, die einer Marktzu-lassung durch öffentliche Genehmigungsbehörden bedürfen (z. B. Medikamente).Das Abkommen definiert aber auch Ausnahmen, nach denen Mitgliedsstaaten einenPatentschutz verweigern können.

2.4. Unterschiedliches Ausmaß der Querverweise auf Standards

Auch wenn die Welthandelsorganisation keine eigenen Standards setzt, nutzt siedoch in einem Prozess zunehmender Vernetzung die entsprechenden Aktivitätenspezialisierter internationaler Gremien. Nach Scharpf (1996a: 116-121) sind die pro-dukt- oder mobilitätsbezogenen Standards eher den marktschaffenden Maßnahmenzuzurechnen, während die produktions- oder standortbezogenen Standards funktio-nal gesehen eher marktkorrigierend wirken. Die WTO-Zusatzabkommen verstärkendie Dynamik der positiven Integration, indem sie Anreize zur Übernahme internati-onaler Standards durch die Mitgliedsstaaten schaffen oder ihre gegenseitige Aner-kennung fördern (Marceau/Trachtman 2002: 878).19 Dadurch erhöht sich der Druckauf niedrig regulierte Staaten, ihre nationalen Standards anzuheben, während sichdie Vorreiter-Staaten bei der Definition höherer Schutzniveaus neuen institutionel-len Hürden gegenüber sehen. Unter dem TBT-Abkommen müssen nationale Stan-dardisierungsgremien vorliegende wissenschaftliche Informationen zumindestberücksichtigen, während das SPS-Abkommen eine wissenschaftliche Begründungfür höhere Standards zwingend voraussetzt. Einzig das TRIPs-Abkommen über-nimmt direkt externe Mindeststandards und macht sie explizit zu WTO-Recht. DieTragweite der Querverweise auf externe Standards variiert somit zwischen denWTO-Zusatzabkommen. Diese Bestimmungen haben einige Streitschlichtungsver-

19 Gehring (2002: 129f) spricht von einem »Harmonisierungsdruck« im TBT- und SPS-Abkommen, allerdings erscheint uns ein Druck zur Regulierung auf dem Niveau interna-tionaler Mindeststandards treffender. Der positiven Integration in der WTO sind ansatz-weise folgende Abkommen zuzurechnen: das TBT-, SPS-, TRIPs-, GATS- sowieTRIMs-Abkommen (Agreement on Trade-Related Investment Measures , ABl. 1994 L336/100) und das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (ABl.1994 L 336/156).

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fahren nach sich gezogen und damit die Herausbildung eines WTO-Fallrechts überdie Anwendung solcher Standards begünstigt.

3. Die Auslegung externer Standards in WTO-Fallentscheidungen

Die Gründung der Welthandelsorganisation hat zu einer erheblichen Stärkung desStreitschlichtungssystems geführt, die insbesondere durch eine Verkürzung der Ver-fahren und die Streichung des mitgliedsstaatlichen Vetorechts erreicht wurde. Dabeihaben in jüngerer Vergangenheit externe Verfahrensstandards vereinzelt Eingang indas WTO-Fallrecht erlangt.20 Im Folgenden werden einige für die Ausbreitung vonStandards relevante Fälle, die verschiedene WTO-Abkommen sowie Umweltab-kommen betreffen, kurz vorgestellt.

3.1. Der »Sardinen-Fall«

Im September 2002 entschied die DSB-Berufungsinstanz zugunsten Perus, dass dieEU-Verordnung 2136/89 einen Verstoß gegen Art. 2.4 des TBT-Abkommens dar-stelle, weil sie den Import und Vertrieb von konservierten Sardinen nur dann zuließ,wenn diese Produkte ausschließlich aus der Gattung der Sardina pilchardus Wal-baum gewonnen wurden (WTO 2002). Fischprodukte anderer Sardinengattungenkonnten danach in der EU nur vertrieben werden, sofern sie nicht die Handelsbe-zeichnung »Sardinen« trugen. Gegen diese Regelung konnte Peru jedoch geltendmachen, dass ein Standard des Codex Alimentarius aus dem Jahre 1978 über konser-vierte Sardinen (Codex STAN 94) auch Produkte der Gattung Sardinops sagaxsagax auflistet, die vor allem im östlichen pazifischen Ozean beheimat ist. Insofernwar die EU-Regelung nicht konform mit einem international vereinbarten Standard,den das TBT-Abkommen indirekt empfiehlt.

3.2. Der »Hormon-Rindfleisch-Fall«

Der »Hormon-Rindfleisch-Fall« von 1998 belegt auf eindrucksvolle Weise, welcheAnforderungen das SPS-Abkommen im Hinblick auf die Notwendigkeit der wissen-schaftlichen Begründung gesundheitlicher Schutzvorschriften stellt. 1986 beantrag-ten die Vereinigten Staaten bei der Codex Alimentarius-Kommission eine Entschei-dung über die Sicherheit der Verwendung von Hormonen bei der Rinderaufzucht.Eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten lehnte deren Nutzung ab, obwohl der entspre-chende wissenschaftliche Ausschuss die Nutzung für unbedenklich hielt. Als dieKommission 1995 erneut mit dem Fall konfrontiert wurde, revidierte sie jedoch dieseEntscheidung und befürwortete den Einsatz von Hormonen.21 Auf dieser Basis wehr-

20 Dabei kann es sich um Standards handeln, die durch ausdrücklichen Verweis in denWTO-Zusatzabkommen bereits »importiert« wurden, oder um Standards aus nicht expli-zit erwähnten internationalen Abkommen, etwa aus dem Umweltbereich.

21 Im Gegensatz dazu kam der wissenschaftliche Veterinärausschuss der EU zum Ergebnis,dass es wissenschaftliche Beweise dafür gäbe, dass Wachstumshormone die Bildung vonTumoren begünstigten.

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ten sich die USA und Kanada bei der WTO gegen den von der Europäischen Unionverfügten Einfuhrstopp von Rindern, die mittels Hormoneinsatz aufgezogen wurden.Die DSB-Berufungsinstanz folgte ihrer Auffassung, obwohl der Einsatz von Hormo-nen bei der Rinderzucht auch innerhalb der EU verboten war (WTO 1998a). Da fünfder sechs fraglichen Wachstumshormone durch den Codex Alimentarius für unbe-denklich eingestuft wurden und die EU für die Krebs erzeugende Wirkung des sechs-ten Hormons keinen hinreichenden wissenschaftlichen Beweis vorlegen konnte,wurde die Nicht-Anwendung der Codex-Empfehlungen als eine Verletzung des SPS-Abkommens bewertet. Weil die Union die Einfuhr hormonbehandelter Rindfleisch-produkte jedoch weiterhin ablehnte, durften die USA und Kanada ihre Zollsätze aufausgewählte europäische Produkte erhöhen (Skogstad 2001). In Reaktion darauferließ die EU im Oktober 2003 auf der Grundlage einer neuen wissenschaftlichenRisikoeinschätzung eine Richtlinie über das Verbot von Wachstumshormonen.22

Diese Neuregelung ist nach Auffassung der Europäischen Kommission mit derWTO-Entscheidung konform (vgl. Europäische Kommission 2003).

3.3. Der »Shrimp/Turtle-Fall«

Ausgangspunkt der Streitschlichtungsentscheidung im »Shrimp/Turtle-Fall« wardas Importembargo der USA gegen Garnelenprodukte, die durch Fangmethodengewonnen wurden, bei denen es auch zur Tötung von Meeresschildkröten kam. EinUS-amerikanisches Gericht hatte 1996 geurteilt, dass das nationale Gesetz zumSchutz bedrohter Tierarten auch extraterritorial durchzusetzen sei. Malaysia, Thai-land, Indien und Pakistan klagten 1998 gegen das Embargo, das Einfuhren aus Län-dern verbot, die keine Spezialfanggeräte (turtle exclusion devices, TEDs) zumSchutz der Schildkröten verwendeten (Kelemen 2001: 637-639).

Obwohl die DSB-Berufungsinstanz auf mehrere multilaterale Umweltschutzab-kommen verwies, insbesondere das Washingtoner Artenschutzübereinkommen überden Handel mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten (CITES), um zu argumentieren,dass Meeresschildkröten in der Tat vom Aussterben bedroht seien, wurde das US-Embargo als ein Verstoß gegen Art. XX GATT gewertet. Allerdings räumte das Gre-mium zum ersten Mal ein, dass Maßnahmen zum Schutz erschöpflicher Ressourcenauch außerhalb nationaler Grenzen zulässig sein können. Die Vereinigten Staatenverloren den Fall nicht aufgrund des inhaltlichen Schutzzieles ihrer nationalen Rege-lung, sondern weil sie eine Ungleichbehandlung von WTO-Handelspartnern dadurchvorgenommen hatten, dass sie im Gegensatz zu den klagenden südostasiatischenLändern karibische Staaten beim Umrüsten der Fangmethoden technisch und finan-ziell unterstützten (vgl. WTO 1998b; Shaw/Schwartz 2002: 146-149).23

22 Danach bleiben fünf der sechs Wachstumshormone in der EU verboten, da für diesenach dem heutigen Stand der Wissenschaft keine verlässlichen Angaben über ihre karzi-nogene Wirkung gemacht werden können. Das sechste Hormon (Östradiol 17ß) wurdeals Krebs erregend eingestuft und für wenige Anwendungsfälle (z. B. veterinärmedizini-sche Behandlungen) noch bis September 2006 zugelassen.

23 Die Berufungsinstanz kam zum Ergebnis, dass die fragliche Maßnahme durchaus unterArt. XX(g) GATT (Erhalt erschöpflicher Naturschätze) begründet sein könnte, aber letzt-

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Der »Shrimp/Turtle-Fall« hat in mehrerlei Hinsicht eine neue Diskussion überUmweltschutzbelange in der Welthandelspolitik ausgelöst (vgl. Puth 2003: 77-84):Zunächst wurde erstmalig festgelegt, dass Verfahrensstandards zulässig sein kön-nen, wenn sie umweltpolitische Ziele verfolgen;24 zweitens wurde die Anwendungsolcher Regelungen auch über die nationalen Grenzen hinaus zugestanden, und drit-tens erlaubte die DSB-Berufungsinstanz die Berücksichtigung von unaufgefordertenExpertisen, den so genannten amicus curiae briefs, die von amerikanischenUmweltschutzorganisationen vorgelegt wurden. Dadurch erscheint es nun grund-sätzlich möglich, dass Stellungnahmen privater Interessengruppen in WTO-Streit-schlichtungsverfahren unter Umständen zugelassen werden (Kelemen 2001: 638).Demgegenüber bleibt aber auch nach dieser Entscheidung offen, inwieweit die Aus-nahmen des Art. XX(g) GATT als Grundlage für umweltpolitische Zielsetzungennationaler Regelungen dienen können.25

3.4. Der »Patentschutz-Fall«

Die Vereinigten Staaten klagten 1999 gegen eine Bestimmung des kanadischenPatentgesetzes von 1985, welches älteren Patenten eine kürzere Schutzdauergewährte als die im TRIPs-Abkommen vorgesehenen zwanzig Jahre. Die kanadi-sche Regierung vertrat die Auffassung, dass das TRIPs-Abkommen keinerückwirkende Anwendung auf Patente finden könne, die vor dessen Inkrafttreten fürKanada im Jahre 1996 anerkannt wurden. Das Berufungsverfahren bestätigte jedochdie Rechtsauffassung der USA, wonach allein die Tatsache maßgeblich sei, dass diePatente zu diesem Zeitpunkt noch gültig waren (vgl. WTO 2000). Kanada wurdesomit gezwungen, die TRIPs-Standards auch auf diejenigen Patente anzuwenden,bei denen nur ein Teil der Patentdauer betroffen war.

3.5. Öffnung für Verfahrensstandards im WTO-Fallrecht

Die neuen WTO-Streitschlichtungsregeln haben ohne Zweifel die Berücksichtigungvon (regulativen) Produkt- und Verfahrensstandards im multilateralen Handelsrechtgestärkt. In diesem institutionellen Kontext ergeben sich für die WTO-Mitglieds-staaten sowohl Handlungsspielräume als auch Einschränkungen bei der Anwendungvon Standards. Sofern sie wissenschaftlich begründet sind, können nationale Stan-dards zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt eingesetzt werden.Ohne diese wissenschaftliche Grundlage besteht jedoch die Gefahr, dass sie von

24 Entsprechende Maßnahmen müssen einem legitimen Schutzziel dienen, vernünftig aufdieses Ziel bezogen sein, in- und ausländische ProduzentInnen sowie solche unterschied-licher Länder vergleichbar behandeln, die Interessen betroffener Staaten gebührendberücksichtigen und ernsthafte Versuche mit Blick auf eine Verhandlungslösung unter-nehmen.

25 Fraglich bleibt etwa, ob sich die Entscheidung nur auf bedrohte Tierarten bezieht, die sichdurch Migration in den globalen Gemeinschaftsgütern auszeichnen (Hudec 2000: 188).

endlich gegen die Kriterien des allgemeinen Vorbehalts von Art. XX (willkürliche oderungerechtfertigte Diskriminierung zwischen Ländern bzw. verschleierte Handelsbe-schränkung) verstoße.

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Handelspartnern mittels des WTO-Streitschlichtungsverfahrens in Frage gestelltwerden. Die dargestellten Fälle zeigen exemplarisch die Existenz von Interessen-konflikten in Handelsstreitigkeiten auf, deren »quasi-supranationale« Lösung durch-aus die nationalen Souveränitätsrechte beschneiden kann. Die (begrenzte) Öffnungbezüglich Verfahrensstandards hat vor allem den Entscheidungsspielraum des DSBerweitert. Während der Antagonismus zwischen der Welthandelsordnung und bei-spielsweise Umweltregimen entschärft wird, ergibt sich aber auch neues Konfliktpo-tenzial, etwa bezüglich der (Auslegungs-)Kompetenzen oder durch die vermehrteAusnutzung produktionsbezogener Handelsbeschränkungen. Niedrigstandardländergewinnen ein zunehmendes Interesse daran, Einfluss auf die internationale Standar-disierung zu nehmen und sich an einschlägigen Gremien und Abkommen zu beteili-gen. In einer eher optimistischen Sicht geht Gehring (2002: 112, 135) davon aus,dass die Bestätigung internationaler Standards im WTO-Fallrecht deren Verbind-lichkeit erhöht und zur Anhebung des internationalen Schutzniveaus führt.

Auch wenn der »Shrimp/Turtle-Fall« eine Einbeziehung von Umweltinteressen indie WTO-Streitschlichtung befördert hat, sollte nach Ansicht von Jackson (2000:306f) Verhandlungslösungen der Vorzug gegeben werden. Neben den Querverwei-sen in den Zusatzabkommen und dem WTO-Fallrecht könnte somit eine dritte Säuleder internationalen Kooperation bei Standards hinzutreten. Mit anderen Worten: DieWTO-Vertragsparteien könnten in Zukunft Verfahrensstandards, insbesondere imBereich des Umweltschutzes, direkt in das multilaterale Handelsrecht einführen.

4. Aufnahme von Umwelt- und Arbeitsschutzstandards in die WTO-Abkommen?

Die Kodifizierung von umweltpolitischen oder sozialen Verfahrensstandards imRahmen des Welthandelsregimes wird in höchstem Maße kontrovers diskutiert.Wolffgang und Feuerhake (2002) etwa befürworten eine Einbeziehung von grundle-genden Arbeitsschutzstandards in die WTO aufgrund ihres Charakters als allge-meine Menschenrechte. Maskus (2002) hingegen argumentiert auf der Basisökonomischer Erwägungen, dass eine Aufnahme von Umweltschutzstandards auf-grund ihrer grenzüberschreitenden Effekte kaum begründbar und Arbeitsschutzstan-dards noch weniger wünschenswert seien. Rollo und Winters (2000) schließlichlehnen die Einbeziehung solcher Vorschriften aus grundsätzlichen Erwägungen ab,weil die WTO weder die technischen Voraussetzungen noch die politische Legitimi-tät habe, in diesen Bereichen tätig zu werden. Eine Kodifizierung wird somit vonden BefürworterInnen in Betracht gezogen, um die Wettbewerbsbedingungen imBereich der Arbeits- und Umweltschutzkosten anzugleichen oder um universalisti-sche Schutznormen durchzusetzen (vgl. Gehring 2002: 115-117). Dabei geht esweniger um Regelungslücken als um Umsetzungslücken, die durch die Aufnahmeeinschlägiger Bestimmungen in das Regelwerk der WTO mit ihrem sanktionsbe-wehrten Durchsetzungsmechanismus möglicherweise behoben werden könnten.

Die Umwelt- und Arbeitsschutzstandards unterscheiden sich in erheblicher Weisein Bezug auf ihre Eignung als Import beschränkende Maßnahmen. So könnte etwadie Anwendung einer Mindestlohnregelung des importierenden Staates auf das Her-

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kunftsland mit Blick auf die dortigen wirtschaftlichen Bedingungen unangemessensein. Die Diskussion konzentriert sich deshalb vornehmlich auf einen Kernbestandinternational anerkannter Mindeststandards (so genannter core labor standards).Allerdings besteht auf globaler Ebene kein Konsens über die relevanten Rechte, ins-besondere in Bezug auf akzeptable Arbeitsbedingungen und das Mindestalter für dieBeschäftigung von Kindern (Leary 1996: 215f). In ihrer Erklärung zu den funda-mentalen Prinzipien und Rechten am Arbeitsplatz hat die Internationale Arbeitsor-ganisation auf der Grundlage ihrer wichtigsten und am breitesten anerkanntenKonventionen vier ArbeitnehmerInnengrundrechte definiert: die Organisationsfrei-heit, das Verbot von Zwangsarbeit und von Diskriminierung am Arbeitsplatz sowiedie Abschaffung von Kinderarbeit (ILO 1998). Danach haben alle Mitgliedsstaatendie Verpflichtung, diese Grundrechte zu gewähren, selbst wenn sie die betroffenensieben ILO-Konventionen nicht ratifiziert haben. Die WTO betrachtet die ILO alsdie zuständige Organisation zur Definition und Anwendung dieser Standards, dennsie verfügt über die notwendige Expertise und über eine tripartistische Struktur, inder die wichtigsten stakeholders (Gewerkschaften, Unternehmen und Regierungen)vertreten sind.

Die Welthandelsorganisation wird durch ihre institutionelle Struktur und durchdie unterschiedlichen Interessen ihrer Mitgliedsstaaten daran gehindert, ihre eigenenUmwelt- und Sozialstandards im Sinne positiver Integration zu definieren.

4.1. Hinderliche institutionelle Struktur der WTO

Mit Gründung der WTO haben institutionelle Faktoren aufgrund einer Vielzahlneuer Mitgliedsstaaten und der Aufnahme zusätzlicher, oft kontroverser Themenbe-reiche mit höherer Verbindlichkeit erheblich an Bedeutung gewonnen. Obwohl dasWTO-Abkommen in Art. IX eine Reihe von Mehrheitsentscheidungsregeln vor-sieht, gibt es in der Organisation praktisch keine Erfahrung mit Abstimmungen – einUmstand, den Cottier und Takenoshita (2003: 177-179) auf das eklatante Missver-hältnis zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern hinsichtlich ihrer Anteilean den Budgetbeiträgen sowie dem Bruttoinlandsprodukt einerseits und den Stimm-rechten andererseits zurückführen.26 Auch wenn Entscheidungen im Rahmen derWTO somit grundsätzlich nach dem Konsensprinzip27 getroffen werden, lassen sichdie dort stattfindenden Verhandlungen entweder als »rechtsbasiert« oder »machtba-siert« differenzieren. Steinberg (2002: 341) definiert rechtsbasierte Verhandlungenals eine Situation, in der die Mitgliedsstaaten Verfahrensregeln ernst nehmen und

26 Cottier und Takenoshita (2003) schlagen für die WTO (mit Ausnahme der Handelsrun-den) ein Modell gewichteter Stimmrechte vor, um künftig die Blockade Recht setzenderReaktionen der WTO-Mitgliedsstaaten auf Streitschlichtungsentscheidungen (in Formverbindlicher Auslegungen oder Anpassungen der Verträge) zu verhindern.

27 Ein Konsens ist erzielt, wenn kein anwesender Mitgliedsstaat Widerspruch einlegt.Abstimmungen werden selten durchgeführt, können aber anberaumt werden, wenn keinKonsens erreicht wird. Nach Steinberg (2002: 365) hält sich das Konsensprinzip, weil esgrößeren Handelsmächten Legitimität und Informationen über die politischen Präferen-zen kleinerer Staaten verschafft.

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danach streben, einen Konsens über mehr oder weniger symmetrische Markt-öffnungsvereinbarungen zu erzielen. In machtbasierten Verhandlungen hingegenvertrauen die Mitgliedsstaaten auf ihre Wirtschaftskraft (vor allem ihr Markt- undHandelsvolumen), um Verhandlungsergebnisse zu erzielen, die asymmetrischenCharakter besitzen. Danach werden neue Verhandlungsrunden aufgrund von rechts-basierten Verhandlungen lanciert, aber ihr Abschluss und der (informelle) Prozessder Agenda-Setzung dazwischen sind zumeist durch machtbasierte Verhandlungengeprägt. Mit anderen Worten: »Mächtige« Staaten können bei Verhandlungen überweitere Liberalisierungsschritte oder die Aufnahme neuer Staaten auf ihr ökonomi-sches Gewicht und ihre Marktgröße vertrauen.

Geht es hingegen um Vertragsrevisionen mit dem Ziel der Ausweitung desRechtsbestandes (etwa im Sinne einer positiven Integration), wird man stärker vonrechtsbasierten Verhandlungen ausgehen müssen, weil hier jeder Mitgliedsstaatunabhängig von seiner ökonomischen Bedeutung ein Vetorecht ausüben kann. Einer»unsichtbaren Stimmengewichtung« stehen neben Meinungsverschiedenheiten (vgl.Abschnitt 4.2)28 auch die Ermächtigung neuer Akteure wie China oder die zuneh-mende Bildung von Koalitionen zwischen Entwicklungsländern entgegen (vgl. Kai-ser 2002; Steinberg 2002).29 Die Einbeziehung von Umwelt- und Arbeitsschutzstan-dards würde eine Änderung des Vertragsrechts der WTO (z. B. eine Modifizierungdes Art. XX GATT) notwendig machen und damit einen Konsens in rechtsbasiertenVerhandlungen erfordern.

Untersuchungen über die Entwicklung der europäischen Integration habengezeigt, dass positive Integration institutionell sehr viel schwieriger zu erreichen istals negative Integration, insbesondere wenn Einstimmigkeit erforderlich ist (u. a.Scharpf 1996b; 1999: 47-80; Weiler 1981). Scharpf (1996a) konstatiert deshalb fürdie EU eine Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration: Der Verlustnationaler Handlungsfähigkeiten infolge der Beseitigung von Handels- und Wettbe-werbshindernissen wird wegen der hohen Konsenserfordernisse im Ministerrat oftnicht durch eine europäische Politik kompensiert.

Der Übertragbarkeit von Scharpfs Argumentation sind jedoch aufgrund bedeuten-der Unterschiede zwischen Europäischer Union und Welthandelsorganisation Gren-zen gesetzt.30 Erstens kann in der WTO die Integration nicht durch supranationaleOrgane vorangetrieben werden: Während die WTO handelshemmende nationaleRegelungen lediglich ächten kann, kann die EU mit Hilfe des Initiativrechts der

28 Dabei geht es keineswegs nur um Interessenkonflikte zwischen Industriestaaten undEntwicklungsländern, sondern auch zwischen den großen Handelsmächten, insbeson-dere zwischen der EU und den USA.

29 Von Seiten der Entwicklungsländer wird in der WTO zunehmend eine prozeduraleReform gefordert, um mehr Transparenz in die Verhandlungen zu bringen. Im traditio-nellen green room-Prozess beispielsweise, in dem eine kleine Anzahl selbst ernanntereinflussreicher Mitgliedsstaaten eine Vorverständigung sucht, die dann dem Plenum zurendgültigen Beschlussfassung präsentiert wird, bleiben die meisten ärmeren Länder aus-geschlossen.

30 In seiner Kritik an Scharpfs These hat Zürn (1997) am Beispiel internationaler Umwelt-regime gezeigt, dass positive, marktkorrigierende Regelungen jenseits des Nationalstaatsgleichwohl möglich sind, wenn sie bestimmte institutionelle Anforderungen erfüllen.

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Europäischen Kommission neue Regelungen vorschlagen. Die Union setzt imGegensatz zur WTO, die auf externe Quellen zurückgreifen muss, eigene harmoni-sierte Standards oder Mindeststandards und verlangt bei nationalen Standards diegegenseitige Anerkennung.31 Ihre Entscheidungen sind letztendlich verbindlich unddurchsetzbar, ihre Rechtsetzung profitiert vom Prinzip der direkten Anwendbarkeitund vom Vorrang des europäischen vor nationalem Recht. Betroffene Unternehmenkönnen bei Nichtzulassung ihrer Produkte auf dem Binnenmarkt vor nationalenGerichten klagen, und die Europäische Kommission kann Vertragsverletzungsver-fahren gegen säumige Mitgliedsstaaten einleiten, während in der WTO nur Mit-gliedsstaaten beim DSB Beschwerde einreichen dürfen und die Sanktionsmöglich-keiten sich auf die Genehmigung von Gegenmaßnahmen beschränken. ImUnterschied zum Europäischen Gerichtshof kann der DSB auch nicht auf Schützen-hilfe von nationalen Gerichten zählen.32

Zweitens besitzt die WTO aufgrund ihres begrenzten Zuständigkeitsbereichs undder Heterogenität ihrer Mitgliedsstaaten erheblich ungünstigere Bedingungen fürumfassende Koppelgeschäfte oder Ausgleichszahlungen für die Verluste der potenzi-ellen Verlierer. Abgesehen von den supranationalen Institutionen und Entscheidungs-mechanismen fehlt auch die Möglichkeit der frühzeitigen Auslotung »mehrheitsfähi-ger Lösungen« in einem weit verzweigten Ausschusswesen. Der Einigungsdruck inden multilateralen Verhandlungen ist geringer, und die Transaktionskosten der Mit-gliedsstaaten sind beträchtlich höher als in der EU. In den Welthandelsrunden müs-sen Verhandlungspakete geschnürt werden, die allen Beteiligten spezifische Koope-rationsgewinne (aber nicht unbedingt Kompensationen) bieten. Dabei wird dieAgenda nicht vom WTO-Sekretariat, sondern von den großen Handelsmächtenbestimmt. Allerdings kann negative Integration aufgrund des Prinzips der Meistbe-günstigung auch mittels bilateraler Vereinbarungen voranschreiten, während positiveIntegration die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten benötigt. Trotzdem macht vorallem der bestehende Streitschlichtungsmechanismus die Verlagerung von marktkor-rigierenden Standards in die WTO für einige Industriestaaten und insbesondere nicht-staatliche Akteure attraktiv.33

31 Gibt es für ein Produkt keine harmonisierten Gemeinschaftsregelungen (oder einen Min-deststandard), müssen die EU-Mitgliedsstaaten gemäß dem Prinzip der gegenseitigenAnerkennung die Vermarktung aller Produkte zulassen, die rechtmäßig in einem anderenMitgliedsstaat hergestellt und/oder auf den Markt gebracht wurden, es sei denn, ein Mit-gliedsstaat verfügt über einen wissenschaftlich-technischen Nachweis, dass die Ware diemenschliche Gesundheit, die Sicherheit oder die Umwelt gefährdet oder gegen anderezwingende Gründe des Allgemeininteresses verstößt.

32 BefürworterInnen einer Konstitutionalisierung der WTO, die mit Blick auf die Entwick-lung der EU vor allem auf die Rechtsprechung vertrauen, kritisieren den einseitigenFokus der WTO auf negative Integration und ProduzentInneninteressen und fordern denAusbau positiver Integration unter Berücksichtigung der langfristigen Interessen vonVerbraucherInnen und BürgerInnen (z. B. Petersmann 2000). Die Vergleichbarkeit vonEU und WTO ist jedoch aus den genannten Gründen fraglich. Ferner zeigen die Quer-verweise auf externe Standards, dass es bereits andere internationale Foren dafür gibt.

33 Nach Zangl (2001) wird eine effektive Normdurchsetzung in internationalen Organisa-tionen durch gut juridifizierte Streitbeilegungsverfahren mehr begünstigt als durch aus-gebaute Sanktionsmöglichkeiten und/oder leistungsfähige Verwaltungsapparate. Dabei

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4.2. Divergierende nationale Interessen der Mitgliedsstaaten

Im Bereich nicht-handelsbezogener Fragen ist die WTO widerstreitenden Kräftenausgesetzt: Einige Regierungen und private Akteure fordern die Ausweitung ihrerKompetenzen (z. B. hinsichtlich der Nutzung der Streitschlichtungsverfahren zurDurchsetzung von Verfahrensstandards), während andere in die gegensätzlicheRichtung argumentieren. Viele Nichtregierungsorganisationen wie Menschenrechts-aktivistInnen, Umweltschutz- oder Entwicklungsgruppen sowie einige Gewerk-schaften verlangen höhere Sozial- und Umweltstandards, die meisten Industriever-bände (und Regierungen) in den Entwicklungsländern hingegen lehnen dies ab. ImVorfeld der Ministerkonferenz von Singapur im Jahr 1996 setzten sich eine Reihevon BefürworterInnen nicht-produktbezogener Verfahrensstandards ohne Erfolg füreine Änderung des Art. XX GATT zur Berücksichtigung von Umweltschutzbelan-gen ein. Die Europäische Union gehörte zu diesen BefürworterInnen, während dieVereinigten Staaten, die einer Vielzahl multilateraler Umweltschutzabkommennicht beigetreten sind, eine Reform mit dem Hinweis ablehnten, die bisherigenWTO-Regeln stellten einen ausreichenden Rahmen zum Schutz der Umwelt dar.34

Nach 1996 stützten sich die USA entsprechend vor allem auf die WTO-Streit-schlichtungsverfahren, während sich die EU um eine stärkere Einbeziehung zivilge-sellschaftlicher Kräfte bemühte und eine Reihe politischer Deklarationen über Han-del und Umwelt verabschiedete (Jha 2002: 476).

Derzeit existieren etwa zweihundert multilaterale Umweltschutzabkommen, vondenen aber nur zwanzig handelsbezogene Bestimmungen enthalten. Die Staatenhaben sich in der Regel nicht auf diese Abkommen berufen, so dass bisher noch keineentsprechende Bestimmung Gegenstand eines Streitschlichtungsverfahrens gewordenist. Auf der Ministerkonferenz in Doha (WTO 2001) wurde vereinbart, die Beziehun-gen zwischen WTO-Regeln und Handelsbestimmungen in multilateralen Umwelt-schutzabkommen zu klären (z. B. CITES, das Montreal-Protokoll zum Schutz derOzonschicht, die Biodiversitätskonvention mit dem Cartagena-Protokoll über Biolo-gische Sicherheit oder die Klimarahmenkonvention mit dem Kyoto-Protokoll). DieseAbkommen enthalten u. a. Verbote betreffend die Herstellung oder den Handel mitbestimmten Schadstoffen (z. B. FCKW), Verringerungen von Emissionen (z. B. Koh-lendioxyd) oder internationale Ziele wie den Erhalt der biologischen Vielfalt.

Allerdings haben nicht alle WTO-Mitgliedsstaaten diese Umweltschutzabkom-men ratifiziert, so dass die Anwendung solcher Regelungen mit ökonomischenNachteilen in Drittstaaten und entsprechenden Gegenreaktionen in der WTO ver-bunden sein könnte.35 Hierdurch könnte der Druck zunehmen, die handelsbezoge-

34 Zu den unterschiedlichen Positionen in Bezug auf das Verhältnis der WTO zu multilate-ralen Umweltschutzabkommen siehe Motaal (2001: 1218-1226).

35 So haben die USA, neben anderen Staaten, im August 2003 ein Streitschlichtungsverfah-ren gegen die EU beantragt, in dem es um das europäische Zulassungsverfahren für gen-manipulierte Organismen (GMOs) in Lebensmitteln geht. Die USA sind aber nicht

ist im Fall der WTO allerdings zu berücksichtigen, dass die Streitparteien zu jedem Zeit-punkt des Verfahrens den Streitfall immer noch durch bilaterale Verhandlungen lösenund damit einen Beschluss des DSB verhindern können.

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nen Bestimmungen multilateraler Umweltschutzabkommen in das Welthandelsrechtaufzunehmen (Shaw/Schwartz 2002: 134-143; Sampson 2001). Weiterhin soll imRahmen der Doha-Runde eine Einigung über den Abbau von Handelsbarrieren fürUmweltgüter und -dienstleistungen (z. B. Luftfilter, Umweltverträglichkeitsprüfun-gen) sowie über die Anwendung von Öko-Siegeln erreicht werden. Während derfünften Ministerkonferenz in Cancún im September 2003 näherten sich die WTO-Mitgliedsstaaten in diesen Fragen jedoch nicht an.

Scharpf (1996a: 116-121) argumentiert mit Blick auf den europäischen Binnen-markt, dass bei der Harmonisierung von Produktstandards das gemeinsame wirt-schaftliche Interesse an europaweit einheitlichen Standards überwiege, während dieRegelung von Verfahrensstandards zum Schutz von Umwelt, VerbraucherInnenoder ArbeitnehmerInnen durch die Interessenkonflikte zwischen den ärmeren undreicheren EU-Mitgliedsstaaten angesichts des zunehmenden Standortwettbewerbserschwert werde. Höhere Verfahrensstandards bedeuteten höhere Produktionskostenund somit Wettbewerbsnachteile für Unternehmen aus niedrig regulierten Ländern.In Anlehnung an Scharpfs Beobachtung kann argumentiert werden, dass sich dieWTO-Mitgliedsstaaten aufgrund ihres unterschiedlichen Entwicklungsniveaus eherauf Produktstandards als auf Verfahrensstandards einigen können.36 Entscheidungs-blockaden sind in der größeren und heterogeneren WTO deshalb wahrscheinlicher.Überdies wird im Unterschied zur Europäischen Union die Überwindung mitglieds-staatlicher Interessengegensätze nicht durch supranationale Strukturen und Ent-scheidungsmechanismen erleichtert.

Die Konfliktlinie verläuft oft zwischen Industriestaaten, die weltweit hoheUmwelt- und Sozialstandards fordern, und Entwicklungsländern, die darin eine Ein-mischung in innenpolitische Angelegenheiten und eine verdeckte Marktabschottungsehen, z. B. wenn westliche Gewerkschaften höhere Standards in der Stahl- oderTextilindustrie fordern (Jha 2002: 475).37 Um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähigzu sein, müssen Entwicklungsländer nicht nur das Lohnniveau, sondern auch dieKosten des Umweltschutzes, des Sozialstaats und anderer staatlicher Auflagen nied-riger halten als ihre Konkurrenten an Standorten mit höherer Produktivität. Produkt-standards dienen insbesondere dazu, Schäden oder andere Probleme, die im Inlanddurch den Gebrauch oder Konsum von (heimischen oder importierten) Gütern ver-

36 Scharpf (1999: 75) unterscheidet neben ökonomischen auch ideologisch und institutio-nell bedingte Konflikte (z. B. aufgrund unterschiedlicher nationaler Wirtschaftstraditio-nen oder Implementationskapazitäten). Alle drei Konfliktarten können mit Inter-ventionsängsten und Souveränitätsvorbehalten verbunden sein.

37 Allerdings haben beispielsweise die USA und Kanada zunächst Regelungen über Öko-Siegel unterstützt, stellen diese aber nun mit Hinweis auf die Sicherheit ihrer Produkteund die hohen Kosten von Produkttests für den Bereich der GMOs in Frage. Gleichzeitigwurden Einwände von Entwicklungsländern gegen Öko-Siegel für Textilprodukte undSchuhe mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass in diesem Bereich auf die Präferenzenvon KonsumentInnen Rücksicht genommen werden müsse (Jha 2002: 474f).

Vertragspartei des Cartagena-Protokolls, das Bestimmungen über den Handel mit GMOsbeinhaltet, die auf den Schutz der Biodiversität und der menschlichen Gesundheit zielen.In einer ersten Stellungnahme gegenüber dem DSB im Juni 2004 betonte die EU, dassihre Zulassungsverfahren vollständig mit dem WTO-Recht kompatibel seien.

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ursacht werden könnten, zu verhindern. Die Auferlegung nationaler Verfahrensstan-dards auf ausländische Produkte hingegen betrifft negative Externalitäten (z. B.Umweltverschmutzung, inhumane Arbeitsbedingungen etc.), die nicht am Ort desKonsums oder Gebrauchs, sondern bei der Herstellung im Exportland entstehen.Eine Durchsetzung von Verfahrensstandards im Zuge eines Streitschlichtungsver-fahrens oder gar ein Festschreiben in WTO-Abkommen könnte die Souveränitäts-rechte der Mitgliedsstaaten bedrohen: Einerseits würde bei einer Kollision der in-und ausländischen Verfahrensstandards dem Exportland das Recht auf einen diskri-minierungsfreien Zugang zum Markt des Importlandes vorenthalten – andererseitswürde die Souveränität des Importlandes beeinträchtigt, wenn ihm das Recht aufAusschluss von Produkten verwehrt würde, deren Prozess- und Produktionsmetho-den es ablehnt.

Im Hinblick auf die Einbeziehung von Sozialstandards stellt sich die Situationerheblich komplizierter dar (vgl. Addo 2002). Arbeitsschutzstandards sind nichtGegenstand von WTO-Bestimmungen, mit Ausnahme von Art. XX(e) GATT, deres den Mitgliedsstaaten erlaubt, Gütern, die in Gefängnisarbeit produziert wordensind, den Marktzugang zu versagen. Die WTO-Abkommen bieten in Streitschlich-tungsverfahren keine Anknüpfungspunkte für eine weitergehende Interpretationzugunsten von Arbeitsschutzstandards. Eine WTO-Vereinbarung über soziale Min-deststandards beispielsweise könnte die Mitgliedsstaaten auffordern, alle Formender Kinder- und Zwangsarbeit zu unterbinden, Diskriminierungsverbote durchzuset-zen und das Recht der ArbeitnehmerInnen auf die Bildung von Interessenorganisati-onen und die kollektive Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zugarantieren, und ihnen erlauben, die Einfuhr von Gütern zu unterbinden, die untersolchen Bedingungen hergestellt wurden. Eine solche Sozialklausel hatten insbeson-dere Frankreich und die USA in den Abschlussverhandlungen der Uruguay-Runde1994 gefordert (Hoekman/Kostecki 2001: 449). Sie scheiterten jedoch mit dem Ver-such, eine Arbeitsgruppe über Arbeitsschutzrechte (mit Ausnahme von Mindestlöh-nen) zu etablieren. Der Vorschlag wurde zwei Jahre später auf der Ministerkonfe-renz von Singapur erneut durch die USA, Kanada und Frankreich (mitUnterstützung der Europäischen Union) und noch einmal durch die USA im Vorfeldder Konferenz von Seattle 1999 vorgebracht. In allen Fällen jedoch wurden dieseInitiativen von der Mehrheit der Entwicklungsländer als versteckter Protektionismusund Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten abgelehnt. Die Ministerkonferenzvon Doha 2001 bestätigte lediglich die Beschlüsse von Singapur, welche die ILO alszuständige Organisation benannten, und ermöglichte darüber hinaus eine Zusam-menarbeit der WTO mit anderen Institutionen wie der ILO-Arbeitsgruppe zur Sozi-alen Dimension der Globalisierung (WTO 2001). Die Internationale Arbeitsorgani-sation setzt auf Überzeugung anstelle von Handelssanktionen, um die von ihrgesetzten und überwachten Sozialstandards umzusetzen.

4.3. Alternativen zur Kodifizierung in den WTO-Abkommen

In Anbetracht des Konsensprinzips bei Vertragsrevisionen sowie der stark divergie-renden Interessen der Mitgliedsstaaten gibt es wenig Grund zur Annahme, dass eine

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Kodifizierung von Sozial- oder Umweltstandards im Welthandelsrecht in naherZukunft zu erwarten ist. Eine solche Regelung könnte überdies die Bemühungenanderer, mit Verfahrensstandards befasster internationaler Institutionen (etwa derILO oder der multilateralen Umweltschutzabkommen) unterminieren. Ignoriert dieWTO jedoch die Problematik, könnte es zu einer aggressiveren Anwendung von uni-lateralen Handelsmaßnahmen gegenüber Staaten mit niedrigeren Umwelt- oderArbeitsschutzstandards, zu einer geringeren Bereitschaft westlicher Industriestaatenzur Weiterführung liberaler Handelspolitiken oder zu mehr regionalen Integrations-schritten mit Zusatzabkommen in diesen Bereichen kommen (Anderson 2001: 245f).

Eine Alternative zum schwerfälligen Verfahren der Vertragsrevision könnte des-halb in dem Versuch liegen, höhere nationale Schutzniveaus (z. B. an Entwicklungs-hilfe gekoppelt) oder die Annahme freiwilliger Standards, insbesondere durchmultinationale Unternehmen, zu fördern. In letzterem Bereich existieren mittler-weile eine Vielzahl von Initiativen auf der Ebene einzelner Unternehmen oder Sek-toren wie etwa das Responsible Care-Programm der kanadisch-amerikanischenChemieindustrie, Fairtrade oder der ISO 14000-Standard für betriebliche Umwelt-managementsysteme (vgl. Nadvi/Wältring 2002: 23). Darüber hinaus setzen sichinsbesondere Nichtregierungsorganisationen für freiwillige Umwelt- und Sozialsie-gel ein oder organisieren KonsumentInnenboykotte (naming and shaming), um Pro-duzentInnen einen Anreiz zum Einsatz neuer Technologien zu geben. NeuereUntersuchungen weisen darauf hin, dass auch private und freiwillige Produkt- undVerfahrensstandards eine erhebliche Wirkung entfalten können, wenn sie von einerVielzahl anderer (nicht notwendiger Weise staatlicher) Akteure übernommen wer-den (vgl. Tamm Hallström 2004). Ihr Wert liegt in ihrer Überzeugungskraft, wobeiihre Diffusion vorwiegend durch die »Lernfähigkeit« von ProduzentInnen und Kon-sumentInnen bestimmt wird. Eine Überführung freiwilliger Standards, die sich vor-nehmlich an Unternehmen richten, in die WTO-Disziplin hingegen würde ihreÜberwachung durch die Mitgliedsstaaten erfordern (Salmon 2002).

Allerdings darf nicht unterschätzt werden, dass in den Entwicklungsländern in derRegel die institutionelle und technische Infrastruktur (insbesondere bezüglich Stan-dardisierungs- und Akkreditierungsorganisationen) fehlt, um die Konformität ihrerProdukte nachweisen zu können. Folglich können freiwillige Standards nur danneine Alternative zur öffentlichen Regulierung werden, wenn solche Kapazitätendurch die Entwicklungsländer selbst, durch privatwirtschaftliches Engagement und/oder im Rahmen der WTO-Programme zur technischen Unterstützung geschaffenwerden. Selbst wenn jedoch die Entwicklungsländer die Kapazitäten zur Anwen-dung freiwilliger Standards besäßen, wäre noch wenig erreicht, solange solche Pro-dukte in den Industriestaaten vergleichsweise geringe Marktanteile erreichen.38

Die erfolgreiche Umsetzung von handelsrelevanten Produkt- und Verfahrensstan-dards kann somit alternativ zur Kodifizierung im WTO-Recht durch zwei Strategien

38 Salmon (2002) weist darauf hin, dass – mit Ausnahme einiger Produkte wie Waschmitteloder Papier – selbst in »umweltfreundlichen« Ländern wie Skandinavien und Deutsch-land der durchschnittliche Marktanteil von Produkten mit Öko-Labels lediglich bei etwa1 bis 5 Prozent liegt.

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begünstigt werden: einerseits durch ein capacity building im Sinne eines Ausbausder Fähigkeiten schwächerer Staaten, die gesteckten Ziele zu erreichen, und ande-rerseits durch Lernprozesse (concern building), die das Verständnis für die Notwen-digkeit höherer Standards fördern (vgl. Zürn 1997: 57-61).

5. Fazit: Vor- und Nachteile vernetzten Regierens in der WTO

Die Formulierung, Überwachung und Anwendung von Standards ist ein gutes Bei-spiel für akteurs- und ebenenübergreifende Global Governance, an der auch dieWelthandelsorganisation teilnimmt. Eine internationale Harmonisierung von Stan-dards wäre für eine konsensorientierte, intergouvernementale Organisation mit 147heterogenen Mitgliedsstaaten eine kaum lösbare Aufgabe. Deshalb wird die WTO indiesem Bereich (mit Ausnahme bestimmter Eigentumsrechte) nicht unmittelbarregulierend tätig, sondern folgt der Standardsetzung anderer Akteure. Der Grundsatzder Nichtdiskriminierung gilt als eingehalten, sofern ein Staat auf international ver-einbarte Standards zurückgreift und diese in nicht-diskriminierender Weise anwen-det. Der Mechanismus vernetzten Regierens, der diese Standards in das Welthan-delsrecht einführt, beruht auf zwei »Importtechniken«: dem Querverweis in WTO-Abkommen in Bezug auf (freiwillige und regulative) Produktstandards und derjuristischen Auslegung der Bindungskraft regulativer Verfahrensstandards durch dieStreitschlichtungsorgane in Fallentscheidungen. Beide Techniken verknüpfen dieArbeit der WTO mit spezialisierten Gremien und Abkommen im Bereich der Stan-dardisierung. Dabei ist es jedoch zur Etablierung eines »doppelten Standards«gekommen: Während die WTO-Mitgliedsstaaten ihre Produktstandards in gleicherWeise auf heimische wie auf ausländische Produkte anwenden können, dürfen sieVerfahrensstandards in der Regel nur im Inland durchsetzen. Im »Shrimp/Turtle-Fall« von 1998 hat die WTO jedoch erstmals signalisiert, dass eine extraterritorialeAnwendung nationaler Standards unter Umständen im Rahmen von Art. XX GATTzulässig sein kann, auch wenn die Produktcharakteristika nicht berührt werden. DieBefürchtungen von Entwicklungsländern, dass dieser Fall auch die Tür geöffnethabe für die Verhängung von Importbeschränkungen aufgrund von Arbeitsbedin-gungen, ist jedoch unbegründet, da Art. XX GATT keine Regelung über Arbeits-schutzstandards enthält.

Hudec (2000: 189f) erwartet trotz der weitgehenden Anerkennung der »Produkt-Prozess-Doktrin« in den kommenden Jahren neue Kontroversen über diese Unter-scheidung aufgrund der Diskussionen um Umwelt- und Sozialstandards. Auch Howseund Regan (2000: 252) vertreten die Auffassung, dass die WTO-Rechtsprechung dieUnterscheidung von Produkt- und Verfahrensstandards nicht lange unangetastet lassenwird. Puth (2003: 363) geht noch einen Schritt weiter und erklärt die Doktrin bereitsnach der Erschütterung durch den »Shrimp/Turtle-Fall« für gescheitert, da nicht-pro-duktbezogene TREMs (trade-related environmental measures) nicht a priori WTO-rechtswidrig seien. Er geht davon aus, dass das Konzept der nachhaltigen Entwicklungu. a. in der Präambel des WTO-Übereinkommens anerkannt wurde und somit die Aus-legung des gesamten Welthandelsrechts leitet. Unsere Analyse zeigt allerdings, dass

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die Chancen zur Überwindung dieses »doppelten Standards« gering sind. Der»Shrimp/Turtle-Fall« ließ ihn trotz der Neubewertung im Hinblick auf umweltpoliti-sche Ausnahmen gemäß Art. XX GATT unangetastet. Neben den institutionellen Hin-dernissen sind die Interessen der Mitgliedsstaaten derart unterschiedlich, dassVertragsänderungen in diesem Bereich als äußerst unwahrscheinlich gelten müssen.

Der »doppelte Standard« bringt im Institutionengefüge der WTO aber auch Vor-teile. Die Unterscheidung zwischen Produkt- und Verfahrensstandards bietet eineeinfache Regel: Die Herstellung eines ausländischen Produkts spielt sich im Export-land ab und untersteht nicht der entsprechenden Jurisdiktion des importierendenStaates, während eingeführte Waren inländischen Produktstandards genügen müs-sen. Die Zuständigkeit ist somit territorial aufgeteilt und relativ transparent. Folglicherschwert sie den Missbrauch von Verfahrensstandards zu protektionistischen Zwe-cken. Die Produkt-Prozess-Doktrin entspricht der auf der Theorie der komparativenKostenvorteile beruhenden Welthandelsordnung, und sie vermeidet die Problemeder extraterritorialen Wirkung und des Unilateralismus sowie die Gefahr einerUnterhöhlung der Welthandelsordnung – etwa durch die Ausweitung von Umwelt-zu Sozial-, Menschenrechts- und anderen Verfahrensstandards (vgl. Puth 2003: 72-77). Darüber hinaus wird der politische Entscheidungsprozess in der WTO durchdas outsourcing der Standardsetzung entlastet: Einerseits erlaubt der Import externerStandards dem Konsenserfordernis bei Vertragsänderungen zu entgehen (bzw. gege-benenfalls später noch selbst zu regulieren) und Regelungskonflikte mit andereninternationalen Regimen zu vermeiden, und andererseits genießen dadurch techni-sche ExpertInnen anstelle von HandelsexpertInnen und wissenschaftliche Expertiseanstelle von Partikularinteressen den Vorrang (Marceau/Trachtman 2002: 840).

Vernetztes Regieren in der Welthandelspolitik bedeutet folglich, dass sich durchden Import externer Standards die Transparenz des WTO-Regelwerks erhöht, derStellenwert wissenschaftlicher Expertise steigt und Regelungskonflikte mit anderenRegimen reduziert werden können. Dadurch wird der politische Entscheidungspro-zess in der WTO tendenziell entlastet und die Handelspolitik versachlicht. DasRegieren in der WTO wird durch die Vernetzung wahrscheinlich effektiver (imSinne einer erhöhten Problemlösungsfähigkeit), aber nicht unbedingt legitimer (imSinne der Partizipation am politischen Entscheidungsprozess).39 Die Effektivität derWTO kann sich erhöhen, da sie von der Arbeitsteilung mit internationalen Standar-disierungsorganisationen profitieren und handelsrelevante Probleme (z. B. Zielkon-flikte zwischen Freihandel und Umweltschutz) einer Lösung zuführen kann. Wie derImport externer Standards langfristig die Höhe des internationalen Schutzniveausbeeinflussen wird, ist jedoch nicht mit Sicherheit zu sagen, da sich sowohl die nied-rig als auch die hoch regulierten Länder auf die internationalen Mindeststandards zubewegen könnten.40 Während jedoch der Import von Standards die WTO einerseitsvor der Kritik über deren Zustandekommen schützt, besteht andererseits die Gefahr,

39 Scharpf (1999: 16-28) unterscheidet zwischen input-orientierter Legitimität (Herrschaftdurch das Volk) und output-orientierter Legitimität bzw. Effektivität (Herrschaft für dasVolk).

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zusammen mit den externen Standards auch die mit ihrer Entstehung behaftetenLegitimitätsprobleme zu übernehmen (vgl. Gehring 2002: 132f). Die Auswirkungenauf die (Input-)Legitimität bleiben somit umstritten, denn die Transparenz derBeschlussfassung mancher Standardisierungsgremien und die Repräsentativität derbeteiligten Akteure ist in mancher Hinsicht zweifelhaft.41 Allerdings dreht sich dieLegitimitätsdebatte in der WTO – im Gegensatz zur Europäischen Union (Scharpf1996a: 122) – vor allem um negative Integration, insbesondere wenn nationaleRegelungen als illegal eingestuft und dadurch Schutzstandards gesenkt werden. Fürinternationale Wirtschaftsorganisationen wie die WTO gilt Scharpfs (1996a) für dieEU gemachte Beobachtung einer Asymmetrie zwischen negativer und positiver Inte-gration – trotz beschränkter Vergleichbarkeit – noch deutlicher, denn sie können denVerlust nationaler Handlungsfähigkeiten infolge der Beseitigung von Handelshin-dernissen wegen der hohen institutionellen Anforderungen und der Interessenhetero-genität noch weniger durch eine gemeinsame Politik kompensieren. Sie habenjedoch die Möglichkeit, durch eine stärkere Vernetzung ihres Regierens etwasEffektivität (und vielleicht auch Legitimität) zurückzugewinnen.

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40 Nicht auszuschließen ist, dass dank der großzügigeren Auslegung des DSB in Bezug aufVerfahrensstandards Anreize zur Erhöhung des Schutzniveaus gesetzt werden, währendbeim Querverweis auf Produktstandards in den WTO-Zusatzabkommen »die Gefahreiner Senkung des weltweiten Schutzniveaus« (Gehring 2002: 133) besteht, wenn diesezu Höchststandards werden.

41 Dies betrifft sowohl die Auswahl der vertretenen privaten Akteure als auch den fakti-schen Ausschluss vieler Entwicklungsländer.

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203Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 203-238

Steffi Franke

Politische Räume und nationale IdentitätDer Mitteleuropadiskurs in der Tschechischen Republik

Politische Räume unterliegen immer wieder starken Wandlungen. Sie beschreibendabei nicht nur geographische oder strategische Koordinaten, sie stellen auch Legiti-mationsressourcen zur Verfügung. Der Artikel untersucht den Zusammenhang zwi-schen der Bestimmung identitärer Muster und politisch-kultureller Zielvorstellungeneinerseits und der politisch-räumlichen Verortung andererseits am Beispiel des aktu-ellen Mitteleuropadiskurses der politischen Eliten in der Tschechischen Republik. DieAnalyse zeigt, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neue Räume für die Mobili-sierung von Legitimationsressourcen diskursiv verfügbar sind und eingesetzt werden.»Mitteleuropa« mag für die kulturelle Standortbestimmung der Tschechischen Repu-blik in wissenschaftlichen und intellektuellen Diskussionen weiterhin eine große Rollespielen, für den Diskurs der politischen Eliten lässt sich eine solche Bedeutung nichtmehr feststellen. Die Zuordnung zum Westen insgesamt und die Selbstwahrnehmungals kleiner Staat sind als die zentralen diskursiven Muster rekonstruierbar, die politi-schen Raum und nationale Identität miteinander verknüpfen.

1. Einleitung

Politische Räume unterliegen immer wieder starken Wandlungen. Seit dem Fall desEisernen Vorhangs sind besonders in Europa kulturelle und politische Räume in Flussgeraten. Die Verunsicherung und Neubestimmung der europäischen Grenzen nach1989/1991 und im Zuge der EU-Osterweiterung führten vor allem in den ostmitteleu-ropäischen Staaten zu einer verstärkten Thematisierung nationaler Identität imZusammenhang mit der politisch-räumlichen Verortung des Gemeinwesens. DieFrage nach dem Ort der Nation in Europa und den daran geknüpften politisch-kultu-rellen Legitimationsmustern sowie den prospektiven politischen Wert- und Zielvor-stellungen wurde neu gestellt. Räume beschreiben dabei nicht nur geographische oderstrategische Koordinaten, sie stellen auch Legitimationsressourcen zur Verfügung.Das soll im Folgenden am Beispiel der Tschechischen Republik verdeutlicht werden.

Für den ostmitteleuropäischen Raum lässt sich der Zusammenhang zwischen derBestimmung identitärer Muster, politisch-kultureller Zielvorstellungen und der poli-tisch-räumlichen Verortung besonders gut am Beispiel des Mitteleuropadiskursesuntersuchen. Der Mitteleuropabegriff hat besonders nach dem Zweiten Weltkriegnie nur einen geographischen Raum beschrieben, sondern immer auch eine gesell-schaftliche, politische und kulturelle Vision. Das Reden über Mitteleuropa warbesonders nach dem Zweiten Weltkrieg immer auch ein Reden über die nationaleund politische Verortung des jeweilig als Mitteleuropa bestimmten Raums (vgl. u. a.LeRider 1994: 7-9). Mitteleuropa wird als politischer Begriff, als »Metapher sehrunterschiedlicher, zum Teil ausgesprochen widersprüchlicher, Zielvorstellungen«

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204

(Jaworski 1988: 530) verwendet. Mitteleuropa als »mentaler Raum« (Schultz 1997:12), als Erfahrungsraum, als imaginäre Zone, die nicht so sehr geographisch wiepolitisch und kulturell definiert wird, lässt in dieser Begriffsverwendung denZusammenhang zur politischen Kultur der Region als nahe liegend erscheinen. Dievielfältigen historischen Traditionen des Begriffs – von der Naumannschen Prägungals deutsche Einflusszone, über die kakanische Tradition der Habsburger Doppel-monarchie, die Masaryksche Vision einer Zone der kleinen, demokratischen Staatenzwischen Deutschland und Russland und die in den Achtzigerjahren des 20. Jahr-hunderts entstehende Diskussion ostmitteleuropäischer Intellektueller, die auch überden Eisernen Vorhang hinweg Wirkung zeigte – lassen den Begriff schillern.1 In denum ihn gruppierten Diskursen überlagern sich eine Vielzahl politischer, kultureller,nationaler und europäischer Diskurse.

Nach der Wende 1989 ist ein rapider Verlust der Attraktivität des Mitteleuropabe-griffs konstatiert worden,2 ein Trend, der sich bis heute fortsetzt, was seine Geltungals politisches Identifikationspotenzial betrifft. Demgegenüber steht eine bleibendeAttraktivität des Begriffes in der akademischen Diskussion: Der Begriff Ostmittel-europa bezeichnet in der politikwissenschaftlichen und historischen Forschungeinen eigenen Forschungsraum, zu dem man die Zahl der Konferenzen und Publika-tionen kaum noch überschauen kann. Ein Beispiel dafür ist etwa die erneute Heraus-gabe von Karl Schlögels Aufsatz »Die Mitte liegt ostwärts« (Schlögel 1986), der fürdie deutsche Diskussion der Achtzigerjahre prägend war, im Jahr 2002 zusammenmit anderen Aufsätzen (Schlögel 2002).

Gerade die hohe Wandlungsfähigkeit des Diskurses und sein Charakter als Kreu-zungspunkt unterschiedlicher Normen- und Politikdiskurse machen seine Untersu-chung interessant für Studien, die Kontinuitäten und Wandel sowie die Herausbil-dung und Wirkung politischer Identitäten über den nationalen Raum hinausuntersuchen wollen. Ausgehend von ihm lassen sich die politisch-räumliche Veror-tung eines Gemeinwesens und die daran geknüpften politisch-kulturellen Musteranalysieren. Weil der Diskurs über Mitteleuropa immer auch ein Diskurs übereuropäische Identität und Werte war und ist, gewinnt seine Untersuchung auch vordem Hintergrund der Diskussion um eine europäische Identität, um die GrenzenEuropas, um die Konstitution eines Kerneuropas und vor dem Hintergrund des Kon-flikts zwischen den »alten« EU-Mitgliedern und den Beitrittsländern über dieGestaltung des europäischen Projekts Relevanz. Die Rekonstruktion des diskursivenNetzes, d. h. die Verankerung zentraler politisch-kultureller Begriffe wie Demokra-tie, Menschenrechte, Souveränität oder Gerechtigkeit in den spezifischen Europa-Semantiken, kann dabei Aufschluss über die Quellen von Missverständnissen zwi-schen den »alten« EU-Mitgliedern und den Beitrittsländern geben. Zwar werden inbeiden Diskursgruppen (wenn man einmal vereinfachend zwischen den Europa-Dis-

1 Vgl. neben vielen anderen Hadler (1996); Jaworski (1992, 1988); Krüger (1992); LeRi-der (1994); Schmidt (2001); Weimer (1992); Jäger (1988).

2 Neumann (2001: 210-218); Weimer (1992: 350-352); Konrád (1990: 34-36); Dubin(2002: 1592); Todorova (2001: 224-230); Delanty (1996: 93, 103); Pollack (1990);Lewis (1990: 16); Okey (1992: 132f); Rupnik (1990: 275).

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Steffi Franke: Politische Räume und nationale Identität

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kursen der Beitrittsländer und denen der bisherigen Mitgliedsländer unterscheidet)ähnliche oder gleiche Begriffe verwendet, sie sind aber in unterschiedlichen »Dis-kursnetzen« verankert, die mit der Aktivierung eines Begriffes unterschiedlicheAssoziations- und Argumentationsketten in Schwingung versetzen. Die Kenntnisdieser Netze kann dazu beitragen, voreilige Schlüsse über die EU-Freundlichkeitoder EU-Tauglichkeit der Beitrittsländer zu vermeiden und einen differenzierterenDialog zu ermöglichen.

Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, am Beispiel des aktuellen Mitteleuropa-diskurses der politischen Elite3 in der Tschechischen Republik den Zusammenhangzwischen der Ausformung politischer Kultur4 und der politisch-räumlichen Veror-tung eines Gemeinwesens zu untersuchen. Dabei muss auch der Diskurskontextbeachtet werden: sowohl nicht-diskursive Faktoren wie die Entwicklung der Bei-trittsverhandlungen, das politische System Tschechiens etc. als auch diskursiveKontexte, also andere Diskurse. Das wichtigste Element für den heutigen Raum-Diskurs in der Tschechischen Republik ist für diese Untersuchung der Mitteleuropa-diskurs der Achtzigerjahre. In diesem Zeitraum entfaltet der Diskurs eine neue Qua-lität und Quantität, weil hier auch als Folge des KSZE-Prozesses und der Entstehungdissidentischer Bewegungen wie der Charta 77 in der Tschechoslowakei zeitlichund thematisch gebündelt versucht wurde, über ostmitteleuropäische Ländergrenzenhinweg auch für den Westen wahrnehmbar und im Westen weitergeführt über denBegriff Mitteleuropa Gegenkonzepte zur bestehenden politischen Ordnung Europaszu entwickeln. Die damaligen Gegeneliten waren im Zuge des Elitenwechsels nach1989 an der Ausformung einer neuen politischen Identität beteiligt. Der Diskurs derAchtzigerjahre ist insofern ein wichtiger Vorläufer für die politisch-kulturellen Dis-kurse nach dem Zusammenbruch der Ostblocks.

Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich die übergeordnete Fragestellung, wiesich die politische Kultur der Tschechischen Republik– untersucht am Beispiel derpolitischen Eliten – im Zusammenhang mit der politisch-räumlichen Verortung des

3 Die in dieser Arbeit als politische Elite bezeichnete Gruppe ist eine Machtelite im Sinnevon gewählten Entscheidungsträgern des politischen Gemeinwesens. Indem sie als Trägereines politisch-kulturellen Diskurses verstanden wird, kann sie gleichzeitig als Wertelitegelten. Als politische Elite werden hier vor allem die Inhaber zentraler politischer Ämter– Präsident, Ministerpräsident, Außenminister und Parlamentsabgeordnete – bezeichnet.Zu den Mitgliedern dieser Gruppe gehören dabei auch die politischen Parteien, insofernsie den dominanten politischen Diskurs in der Tschechischen Republik maßgeblich beein-flussen können. Dies trifft für die Kommunistská Strana Česka a Moravy (Kommunisti-sche Partei Böhmens und Mährens, KSČM) nur teilweise zu – sie wird deshalb hier nichtberücksichtigt. Sie kann zwar auf eine Wählerzustimmung verweisen, die stabil bei circa13% und darüber liegt, sie wird allerdings – zumindest für den untersuchten Zeitraum –im politischen Willensbildungsprozess marginalisiert. Inwiefern sich dies nach der jüng-sten Regierungskrise im Juni 2004 ändert, bleibt abzuwarten.

4 Politische Kultur wird hier als Diskurs über die Gestaltung der kollektiven bzw. nationa-len Identität eines Gemeinwesens, bezogen auf politische Inhalte und Vorstellungen,verstanden. Um den konstruktivistischen und prozesshaften Charakter dieses Phänomenszu betonen, soll im Folgenden von politisch-kulturellen Mustern gesprochen werden –auch, um der umfangreichen politikwissenschaftlichen Diskussion um das Konzept derPolitischen Kultur nicht noch eine weitere Dimension hinzuzufügen.

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206

Landes gestaltet. Diese Frage lässt sich in weitere Einzelaspekte aufschlüsseln.Dazu zählt (1) die Frage nach dem politisch-kulturellen Raum, die in die Bestand-teile »Raum«, »Geschichte«, »politische Problembereiche« sowie »politische Ziel-vorstellungen« aufgegliedert wird, die einzeln innerhalb des Diskurses auf ihrenBezug zur räumlichen Einordnung hin untersucht werden:

(1) Wie wird im Zusammenhang mit der europa- und außenpolitischen Verortungder Tschechischen Republik der Begriff »Mitteleuropa« verwendet? Wie werdender gemeinsame Raum, eine gemeinsame Geschichte, sowie die mit dem Raum-begriff »Mitteleuropa« verknüpften politischen Probleme und Zielvorstellungenkonzipiert?

Die oben beschriebene Bedeutung des Mitteleuropadiskurses der Achtzigerjahreführt zum nächsten Aspekt, dem des möglichen Wandels des Diskurses. Daher mussauch gefragt werden, (2) in welchem Maße sich der Mitteleuropadiskurs seit denAchtzigerjahren gewandelt hat, inwiefern Brüche zu verzeichnen sind und wie dieVeränderungen gedeutet werden können:

(2) Welche diskursiven Muster werden in den Achtzigerjahren in den Zusammen-hang »Mitteleuropa« gestellt, also als Bestandteile einer »mitteleuropäischenIdentität« formuliert, und wie werden diese Muster im aktuellen Diskurs kontex-tualisiert, also welchen Räumen werden die gleichen inhaltlichen Muster nunzugeordnet?

Der dritte Einzelaspekt ist schließlich (3) die Frage nach der Beziehung zwischendem Mitteleuropadiskurs und seinem Kontext. Dabei sollen keine interpretatori-schen Hierarchisierungen vorgenommen werden, d. h. das eine nicht aus dem ande-ren erklärt oder gegenseitig relativiert, sondern das Zusammenspiel dieser unter-schiedlichen Dimensionen aufgezeigt werden. So soll der Blick für die Komplexitätder politischen und diskursiven Neuorientierung nach 1989 geschärft werden:

(3) Wie vollzieht sich die Gestaltung des Diskurses im Zusammenhang mit diskursi-ven und nicht-diskursiven Kontextfaktoren, also anderen Diskursen und poli-tisch-institutionellen Faktoren?

2. Methode und Analyseraster

Methodisch orientiert sich die Arbeit an der Diskurstheorie5 nach Foucault (1991,1981) und deren Weiterentwicklung durch Jürgen Link.6 An diese Positionierung

5 Die Diskussion der Diskurstheorie und die Anwendung ihrer Methoden ist mittlerweilezu einem festen Bestandteil der Disziplin Internationale Beziehungen geworden. Deswe-gen wird hier weitestgehend auf eine nochmalige Darstellung und Erörterung diesertheoretischen Vorentscheidung und dieses Untersuchungsprogramms verzichtet.

6 Vgl. Link (1999, 1993, 1992, 1986a, 1986b, 1983a, 1983b, 1982).

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sind bestimmte Auffassungen zum Macht-, Subjekt- und Wahrheitsbegriff geknüpft,die diese Größen als durch Diskurse konstituiert und nicht ihnen vorgeordnetbegreift. Die Rekonstruktion dieser Konstitutionsprozesse soll deren Strukturen undMechanismen offen legen und kann diese so einer kritischen Betrachtung zugäng-lich machen. Im Anschluss an Foucault hat Jürgen Link eine Begrifflichkeit entwi-ckelt, die zwischen Spezialdiskursen und dem diese Diskurse integrierendenInterdiskurs unterscheidet. Dieser Interdiskurs, der sich vor allem auf dem Gebietdes Journalismus und der Populärwissenschaft abspielt, ist von den Elementen derebenfalls von Link konzipierten Kollektivsymbolik geprägt. Kollektivsymbolezeichnen sich durch ihre »hohe kulturelle Reproduktions-Kapazität« (Link 1982: 6)aus, sie lassen sich zur Vermittlung von Sinn in verschiedenen Kontexten neu aktua-lisieren und paraphrasieren. Sie sind an der Konstruktion von Alltagsmythen betei-ligt, über die wiederum die Regelhaftigkeit der Aussagen des Interdiskursesbestimmt wird (Link 1982: 6-8). Durch die Verknüpfung verschiedener Diskursbe-reiche erzeugt das System der Kollektivsymbole eine gesellschaftliche Totalität, eswirkt als Grundlage für die Erzeugung einer kollektiven gesellschaftlichen Identität,aber auch einer Identität im Sinn einer »subjektiven aufrüstung« (Link 1982: 15,Kleinschreibung im Original). Der Mitteleuropadiskurs kann als Form eines solchenInterdiskurses verstanden werden. Die im Rahmen dieser Studie herausgearbeitetendiskursiven Semantiken können in der Begrifflichkeit Links als Kollektivsemanti-ken bezeichnet werden. Damit versucht diese Studie dem u. a. von Rainer Hülsse(2003: 215) festgestellten Problem zu entgehen, dass diskursanalytische Arbeitenhäufig auf der Oberfläche der Texte verharrten, die Sinnproduktion durch die inihnen wirksamen Semantiken aber nicht erfassen würden. Ein solche Oberflächlich-keit diskursanalytischer Arbeiten kann dann entstehen, wenn Diskursanalyse alsInhaltsanalyse missverstanden wird.

Eine ebenfalls von Hülsse (2003: 216) beklagte Unzulänglichkeit der Diskursana-lyse ist ihre methodische Vagheit. Das konkrete diskursanalytische Vorgehen mussjeweils für den Untersuchungsgegenstand präzisiert und nachvollziehbar gestaltetwerden. Für die vorliegende Studie – deren Ziel die Erforschung des Zusammen-hangs zwischen der Konstituierung politisch-kultureller Wertmuster und nationalerIdentität auf der einen Seite und der politisch-räumlichen Verortung auf der anderenSeite ist – ist dies mit der Einbeziehung von Forschungen zur nationalen und kollek-tiven Identität7 umgesetzt worden. Für die Untersuchung wird daher ein Analyseras-ter zugrunde gelegt, das sowohl (1) Diskursstruktur, (2) Diskurskontext und (3) Dis-kursdynamik mit einbezieht (vgl. detailliert dazu Franke 2003).

7 Vgl. Anderson (1988: 15); Binder et al. (2001: 9); Assmann/Friese (1998: 12); Eisen-stadt (1996: 21); Wodak et al. (1998: 71-73); Krause (1997: 55-57).

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Abbildung. 1: Die Analyse nationaler DiskurseD

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(1) Die Diskursstruktur besitzt wiederum drei Dimensionen: die inhaltliche(Objekte und Begriffe), die Strategiedimension8 und die Dimension der Subjekt-oder Sprecherpositionen.9 Die inhaltliche Dimension der Diskursstruktur ist noch-mals in vier Themenfelder gegliedert: (a) die Konstruktion des gemeinsamen Rau-mes,10 (b) die Konstituierung einer gemeinsamen politischen Geschichte,11 (c) dieDefinition politischer Probleme12 und (d) die Setzung politischer Tugenden, der Ent-wurf normativer Perspektiven und politischer (Zukunfts-)Szenarien.13 Für dieRekonstruktion der Diskursstruktur – das Kernstück der Analyse – ist nach Häu-figkeiten und Verteilungen von Begriffen und Objekten zu fragen und nach denangewandten Strategien, die diese Begriffe miteinander in Beziehung setzen. Diesist in den Zusammenhang zu stellen mit den Sprecherpositionen, von denen aus dieAussagen in den Diskurs eingebracht werden.

(2) Zur Analyse der Diskursstruktur tritt die Analyse des Diskurskontextes (Diaz-Bone 1999: 133): Dies meint einerseits andere Diskurse und diskursive Ereignisse,mit denen der untersuchte Diskurs in Zusammenhang steht (diskursiver Kontext),andererseits aber auch nichtdiskursive Phänomene wie Naturereignisse, Todesfälle,aber auch die Separation von Staaten, Regierungswechsel und Neuwahlen oder dieSetzung von Beitrittsdaten für die Kandidaten der Osterweiterung (nicht-diskursiverKontext). Der Mitteleuropadiskurs der Achtzigerjahre bildet den wichtigstenBestandteil des diskursiven Kontextes.14 Seine Diskursstruktur und vor allem seine

8 Diskursstrategien beziehen sich auf die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten derVerknüpfung von Argumenten und können u. a. in konstruktive, bewahrende, rechtferti-gende, transformatorische und demontierende Strategien differenziert werden.

9 Die Frage nach den Sprecherpositionen lässt sich so reformulieren: Handelt es sich umeinen Text, der von der Position der politischen Opposition oder des Regierungslagersher gesprochen ist, aus dem Kontext welcher politischen Partei heraus, in welchem insti-tutionellen Rahmen, vor dem Hintergrund welcher anderen diskursiven und nicht-dis-kursiven Ereignisse?

10 Hier wurde nach geographischen Zuschreibungen im engeren Sinn gesucht und nachIndikatoren, an denen solche geographischen Grenzen festgemacht und begründet wer-den.

11 Das Augenmerk lag auf historischen Ereignissen, Figuren und Strukturen und die Artund Weise, wie diese miteinander in Zusammenhang gebracht werden (als Erfolgs- oderVerfallsgeschichte beispielsweise).

12 Hier haben Krisen, innere und äußere Feinde, Anomalien und Defizite interessiert, diefür das vorgestellte politische Gemeinwesen wahrgenommen werden.

13 Das heißt: Wertvorstellungen, Zukunftsperspektiven und normative Entwürfe des politi-schen Gemeinwesens.

14 Die Gegeneliten der sozialistischen Zeit haben besonders zu Anfang der Transformati-onsperiode eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung des politischen Systems und derAusformung politisch-kultureller Muster gespielt. Zwar wurden die ehemaligen Dissi-denten in Tschechien bald von pragmatischen (Wirtschafts-)Reformern verdrängt, abermit dem ehemaligen Staatspräsidenten Havel, dem Senatspräsidenten Pithart und demAußenminister Kavan saßen für lange Zeit Vertreter der Dissidentenelite an für die poli-tisch-kulturellen Elitendiskurse entscheidenden Stellen. Besonders seit der Regierungs-übernahme der Sozialdemokraten haben verstärkt ehemalige dissidentische Kreisewieder Zutritt zur politischen Gestaltung gefunden. Dieser Elitenwandel kann als einScharnier gelten, über den der Diskurs der Achtzigerjahre bis heute hin fortwirken kann(von Beyme 1994: 175-177; Srubar 1998: 30-32; Schneider 1995: 7f; Stammen 1993:22).

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Inhalts- und Strategiedimension sollen im aktuellen Diskurs über Mitteleuropanachverfolgt werden. Dazu wird zuerst die Diskursstruktur des Mitteleuropa-Dis-kurses der Achtzigerjahre analysiert, bevor anschließend der aktuelle Diskurs unter-sucht wird.

(3) Als drittes wichtiges Element des Analyserasters ist die Dynamik des Diskur-ses zu untersuchen (Diaz-Bone 1999: 133). Die Konstitution nationaler Identität istWandlungsprozessen unterworfen und realisiert sich instabil und im Zusammen-hang mit der jeweiligen historischen Situation unterschiedlich. Also darf auch dieDiskursanalyse nicht in einer Momentaufnahme verharren, sondern muss sich dersich ändernden Gestalt des Diskurses über die Analyse eines längeren Zeitraumsannähern und dabei auch den Vergleich mit älteren diskursiven Konstellationensuchen, die sich thematisch dem gleichen Diskursstrang zuordnen lassen. Die Dis-kursdynamik wird dabei vor allem im Vergleich des Mitteleuropadiskurses derAchtzigerjahre mit dem aktuellen Mitteleuropadiskurs deutlich werden, aber auch inBezug auf die Entwicklungen innerhalb des aktuellen Mitteleuropadiskurses.

Dieses Analyseraster erlaubt es, einzelne Konstellationen innerhalb der Strukturund zwischen Struktur und Kontext herauszuarbeiten, die eine genauere Charakteri-sierung tschechischer politisch-kultureller Muster vor dem Hintergrund nationalerDiskurse und unter Umständen Prognosen über eine weitere Entwicklung diesesDiskurses erlauben. Aus Platzgründen werde ich mich im Rahmen dieses Aufsatzesprimär auf die Diskursstruktur und die Diskursdynamik konzentrieren. Der diskur-sive Kontext wird vor allem in Form des Diskurses der Achtzigerjahre behandeltwerden. Am Beispiel der Konstruktion des gemeinsames Raumes – also einemAspekt der inhaltlichen Dimension der Diskursstruktur – werde ich hier einen Teilder Analyse detailliert zeigen. Im Abschnitt 3.1 wird dabei dieser Aspekt für denDiskurs der Achtzigerjahre als wichtiger Teil des Diskurskontextes untersucht undanschließend die Raum-Dimension für den aktuellen Mitteleuropadiskurs analysiert(3.2). Dabei werden auch Präzisierungen in Bezug auf die Sprecherpositionen vor-genommen und abschließend der Vergleich zum Diskurs der Achtzigerjahre gezo-gen, um zu Aussagen über die Diskursdynamik zu gelangen.

Für die verbleibenden inhaltlichen Dimensionen der Diskursstruktur (Geschichte,politische Problembereiche und politische Zielvorstellungen) wird im Abschnitt 3.3ein zusammenfassender Überblick geliefert. Der nicht-diskursive Diskurskontextkann aus Platzgründen ebenfalls nur am Rand berücksichtigt werden.

Nach der Entwicklung des Analyserasters ist die Frage nach der Abgrenzung deszu untersuchenden Diskurses zu stellen: »Die Diskursanalyse beginnt mit einemIdentifikationsproblem, das sich methodologisch als die Konstruktion eines Text-korpusses reformulieren lässt« (Diaz-Bone 1999: 127). In dieser Arbeit wird derDiskurs thematisch über seine Organisation um den Begriff Mitteleuropa und insti-tutionell identifiziert, indem Aussagen der politischen Institutionen Ministerpräsi-dent, Außenminister, Präsident, Parlament und der politischen Parteien untersuchtwerden. In dem hier untersuchten Fall zieht die institutionelle Beschränkung eineEingrenzung der betroffenen Ebenen nach sich: In den Datenkorpus aufgenommenwerden politische Reden und Stellungnahmen der politischen Elite der Tschechi-

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schen Republik, die sich meist im politisch-institutionellen Rahmen – also demtschechischen Parlament, dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat, demMinisterrat u. ä. – ansiedeln, aber auch in Zeitungen, im Fernsehen oder im Internetpubliziert sein können. Für die Analyse des aktuellen Mitteleuropadiskurses in dertschechischen Politik sind 105 Dokumente ausgewertet worden, davon können 100den einzelnen Verfassungsinstitutionen Parlament, Regierung, Präsident undAußenminister zugeordnet werden, weitere fünf Dokumente sind im engeren Sinneparteipolitischen Ursprungs, dabei vor allem programmatische Grundlagen dereuropa- und außenpolitischen Positionen der einzelnen Parteien. Der Zeitraumumfasst dreieinhalb Jahre, einsetzend mit dem Jahresbeginn 2000, und endet im Juni2003.15 Die Herkunft der untersuchten Diskurselemente aus außenpolitischen Bezü-gen ist insofern sinnvoll, da diese Arbeit den Zusammenhang politisch-kulturellerMuster und außenpolitisch-räumlicher Verortung untersuchen will. Die Konstituie-rung einer nationalen Identität vollzieht sich natürlich auch und nicht zuletzt ininnenpolitischen Bezügen; die Herstellung politisch-räumlicher Zusammenhänge,die hier besonders interessiert, wird aber vor allem in außenpolitischen Diskursen –die ja auch nach innen vermittelt werden müssen – thematisiert.

Ausgewählt wurden die einzelnen diskursiven Elemente vor allem aus der vomtschechischen Außenministerium monatlich herausgegeben Reihe »Zahraničnípolitka České Republiky – dokumenty« (»Dokumente zur Außenpolitik der Tsche-chischen Republik«).16 Innerhalb des oben genannten Zeitraumes und aus dieser

15 Da die »Ära Klaus« in der politikwissenschaftlichen Forschung intensiv berücksichtigtwurde (vgl. Hofmann 1998; Martinsen 1994; Saxonberg 1999; Schneider 1997), ist essinnvoll, mit der ersten sozialdemokratischen Regierung (Miloš Zeman) einzusetzen,auch weil sich die Rahmenbedingungen durch die rasant näher rückende Osterweiterungder EU und die nun gefallene Erweiterungsentscheidung wesentlich geändert haben. Inden Jahren seit 2000 liegen darüber hinaus für die Entwicklung der tschechischen poli-tisch-räumlichen Verortung wichtige Ereignisse bzw. solche, für die vermutet werdenkann, dass sie auf eine solche Verortung wesentliche Auswirkungen gehabt haben. Zunennen sind hierbei die Verabschiedung des Vertrages von Nizza, die Anschläge auf dasWorld Trade Center in New York am 11. September 2001, der Krieg in Afghanistan unddie Diskussion um eine Beteiligung daran, die »Jahrhundertflut« im Sommer 2002, dieMitteleuropa als Katastrophengebiet auf der Landkarte wiedererstehen ließ, der NATO-Gipfel in Prag im November 2002, die Entscheidung des EU-Gipfels in Kopenhagen imDezember 2002 über die Aufnahme von zehn Beitrittskandidaten im Mai 2004, darunterauch Tschechien, das anschließende Beitrittsreferendum in Tschechien im Juni 2003 unddie vorausgehende Kampagne und nicht zuletzt der Krieg gegen den Irak, die Formierungder so genannten Koalition der Willigen und die innereuropäischen Unstimmigkeitenüber die Irak-Politik und das transatlantische Verhältnis. Innerhalb dieses Zeitraumes sinddarüber hinaus zwei verschiedene sozialdemokratische Regierungen (Zeman und Špidla)im Amt, deren Politikstil und Handlungsfähigkeit sich voneinander unterscheiden.

16 Die Publikationsreihe des tschechischen Außenministeriums ist dabei besonders für dieUntersuchung des dominanten Diskurses geeignet, wird an dieser Stelle doch bereitsüber die Auswahl der Elemente, die veröffentlicht werden, eine bestimmte Form dertschechischen außenpolitischen Repräsentation und Deutung angeboten, die eng an diefür den hier untersuchten Diskurs zentralen Sprecherpositionen geknüpft ist. Mit demRückgriff auf diese Publikationsreihe ist also zu einem großen Maß abgesichert, die fürden dominanten außenpolitischen Diskurs der Tschechischen Republik zentralen undrepräsentativen Elemente vorzufinden. Die Dokumentensprache ist tschechisch, im Textangeführte Belegstellen werden in der Übersetzung der Autorin zitiert.

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Grundgesamtheit wurden nach einer Sichtung diejenigen Elemente ausgewählt, diesich besonders um europapolitisch relevante Themen, mitteleuropäische Konfliktla-gen17 sowie um das transatlantische Verhältnis, die Globalisierungsproblematik undum Ereignisse und Anlässe18 gruppieren, die für die Entfaltung eines nationalenSelbstverständnisses besonders wichtig sein können.19

Für die Analyse des Mitteleuropadiskurses der Achtzigerjahre wurden Texte her-angezogen, die von polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Oppositio-nellen teils im Exil, teils im Samizdat und Tamizdat20 im Verlauf der Achtzigerjahreveröffentlich wurden.21 Bei der Auswahl konnte ich mich auf die zahlreichen Editio-nen und Forschungen zu diesem Diskurs stützen und diese Texte nochmals einer kri-tischen Sichtung unterziehen.

3. Analyse des Raumdiskurses

Die Darstellung der Analyseergebnisse muss zunächst mit der Untersuchung derDiskursstruktur beginnen. Die Diskursstruktur besteht, wie oben erläutert, insgesamtaus vier Teilen (Konstruktion des gemeinsamen Raumes, der gemeinsamenGeschichte, relevanter Probleme und entsprechender Zielvorstellungen). Hier solldie Konstruktion des gemeinsamen Raumes im Diskurs der Achtzigerjahre (als Teildes Diskurskontextes) und im aktuellen Diskurs genauer betrachtet werden. Darananschließend werden zusammenfassend die Ergebnisse für das gesamte Analyseras-ter präsentiert.

17 Wie die deutsch-tschechischen Beziehungen, der Streit um das AKW Temelin, dieregionale Zusammenarbeit in der Visegrád-Gruppe, die Kooperation mit anderen Bei-trittskandidaten oder die Mitgliedschaft in der NATO.

18 Etwa der Nationalfeiertag, Jubiläen wie der 150. Geburtstag von T. G. Masaryk und dieNeujahrsansprachen des Präsidenten.

19 Dem lag jeweils die Annahme zugrunde, dass im Rahmen der entsprechenden Themenund Anlässe die diskursive Formulierung eines politisch-räumlichen Selbstverständnis-ses besonders wahrscheinlich ist, ohne eine unzulässige Einschränkung auf nur mitteleu-ropa-relevante diskursive Elemente vorzunehmen, um den Stellenwert der Mitteleuropa-Verortung in der übergreifenden politisch-räumlichen diskursiven Formierung bestim-men zu können. Um einer Verzerrung bei der Auswahl anhand der Themen vorzubeu-gen, habe ich mich an den politischen Themenkatalogen orientiert, die sich in denübergreifenden Dokumenten wie den Regierungserklärungen abzeichneten. Orientiertam Stellenwert der dort thematisierten Problemfelder wurde die Auswahl in den Doku-menty vorgenommen. Darüber hinaus interessiert hier vor allem die politisch-räumlicheEinordnung von Themen, das Agenda-setting, selbst erst in zweiter Linie. Bei der Aus-wahl wurde jeweils darauf geachtet, dass die einzelnen Sprecher in der Stichprobe inähnlichen Proportionen vertreten sind wie in der Grundgesamtheit der gesichteten Ele-mente aus der Dokumentenreihe. Nicht in die Analyse einbezogen wurden die zahlrei-chen dort veröffentlichten Interviews in Presse und Rundfunk, um einheitlicheTextgattungen vorliegen zu haben.

20 Veröffentlichungen im Ausland bzw. im Exil, die häufig in den jeweiligen Exilsprachen,meist englisch oder französisch erschienen sind. Deswegen wird für die Analyse desDiskurses der Achtzigerjahre sowohl in englisch, französisch und deutsch zitiert werden.

21 Es sind dabei eine ganze Reihe von Aufsätzen und Monographien untersucht worden. ImFolgenden werden nur die direkt als Belegstellen herangezogenen nachgewiesen.

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3.1. Die Konstruktion des gemeinsamen Raumes im Diskurs der Achtzigerjahre

Es lassen sich drei grundsätzliche Kennzeichen dieses Diskurses über die Konstitu-tion des Raumes erkennen: seine kulturelle Aufladung (1), seine geographischeBestimmung (2) und seine Struktur als Region kleiner und mittlerer Staaten (3).

(1) Eine wesentliche Spezifik der Mitteleuropadiskussion der Achtzigerjahre istes, den mitteleuropäischen Raum weniger geographisch als kulturell-politisch zukonstituieren. Die weiteren inhaltlichen Kennzeichen des Raumes,22 sind dabei imweiteren Sinne ebenfalls in der Raumkonstruktion inbegriffen: »Central Europe ishardly a geographical notion. […] The ways of feeling and thinking of its inhabi-tants must thus suffice for drawing mental lines which seem to be more durable thanthe borders of the states« (Miłosz 1986b: 101). »I think that Central Europe is an actof faith, a project, let us say, even a utopia, but my reasons for adopting it are quiterealistic« (Miłosz 1986b: 107). Ob jemand Mitteleuropäer ist oder nicht, sei eineFrage der Weltanschauung, der Einstellung (Konrád 1985: 189): »In Central Europeone person is a Central European, another is not. One thought of mine is CentralEuropean, another is not. We have to rise above ourselves a little in order to be Cen-tral European« (Konrád 1986: 114). Der mitteleuropäische Raum wird also durchPersonen konstituiert, die einer gewissen Weltanschauung Ausdruck geben, sie inihrem Handeln umsetzen und damit den mitteleuropäischen Raum, der während derBlockkonfrontation eigentlich nicht existierte und durch sie vollends zerstört wor-den zu sein scheint, doch ins Leben rufen.

Eine solche Raum- und Weltdeutung funktioniert als Verhaltensregulativ, dasbestimmte Handlungsmuster stimulieren und andere verhindern soll. Sie ist außer-dem prinzipiell offen und anschlussfähig an andere Muster, soweit den implizitenVerhaltensregeln gefolgt wird. Zur Erlangung der mitteleuropäischen »Staatsange-hörigkeit« – oder anders: für den Beitritt zur mitteleuropäischen Glaubensgemein-schaft – ist vor allem die Annahme bestimmter Überzeugungen und Grundwertenotwendig. Das »Eschaton« des Bekenntnisses zu Mitteleuropa ist ein blockfreies,demokratisches Europa der souveränen Nationalstaaten, das gelobte Land und – miteinigen Abstrichen – »der Westen«. Eine solche Deutung des Mitteleuroparaumes,d. h. seine Emanzipation von geographischen und politischen Grenzen, ermöglichtseine Deutung als westlichen Raum – also sozusagen als »Vorhof des Paradieses« –entgegen den realpolitischen Vorgaben der globalen Situation.

Dieses Paradoxon ist implizit im Diskurs selbst reflektiert, indem die mitteleuro-päische Identität – oder Staatsangehörigkeit – als Anomalie, als Irrationalität undWiderspruch in sich gedeutet wird: »A Central European is something not quite nor-mal« (Konrád 1986: 115). Die Mitteleuropadeutung soll die Widersprüche integrie-ren und macht dabei den Widerspruch zum leitenden Prinzip:

»We are all unresolved, still pending questions, ›popular democrats‹, which means nei-ther one nor the other, but something else. We are not liberal democrats and we are notSoviet communists; we are not even social democrats. That would be too rational for us,

22 Seine Geschichte, die an ihn geknüpften Problembeschreibungen und politischen Ziel-vorstellungen.

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we are much crazier than that. […] The truth is, we became sneaky – it would do us goodto be treated like human beings for a change« (Konrád 1982: 12).

Die Teilung Europas in Ost und West versagt die Zugänge zu den Ressourcen fürdie Konstituierung einer explizit westlich orientierten mitteleuropäischen Identität.Das Paradoxon, den Widerspruch zur gegebenen Situation zur Quelle einer alsunmöglich wahrgenommenen mitteleuropäischen Identität zu erheben, zerschlägtden gordischen Knoten nur für eine begrenzte Zeit: Die Aufhebung der sowjetischenDominanz über den mitteleuropäischen Raum wie auch der Blockkonfrontation unddie Demokratisierung dieses Teils von Europa sind die Voraussetzungen dafür, dasempfundene Paradoxon zu lösen, den Zustand der – wie oben beschrieben – norma-tiv konzipierten Normalität wiederherzustellen, die als künstlich wahrgenommenepolitische Konstruktion der Blockkonfrontation wieder aufzuheben (Konrád 1985:187) und Realität und Empfinden wieder in Einklang zu bringen. Wenn man dieseWiderspruchs-Identität so deutet, stellt sich die Frage, was mit einer solchen Identi-tät geschehen würde, wenn die Mitteleuropäer denn nun einmal als »human beings«behandelt werden würden, also in den Westen »zurückkehren« dürften: In dieserSituation würde die mitteleuropäische Identität, wie sie in den Achtzigerjahren ent-worfen worden ist, ihre Legitimität einbüßen, sie hätte ihre Aufgabe als Auffangla-ger heimatlos gewordener Identitäten erfüllt. Das »Niemandsland« (Kiss 1989: 115)Mitteleuropa müsste seine Zugehörigkeit realpolitisch definieren und wäre kein Nie-mandsland mehr.

»One may submit the thesis that we are moving toward a pluralistic, multicentered worldwithout a clear-cut North-South or East-West axis. Then the name ›East-Central Europe‹would receive a new legitimacy as a certain cultural unit, placed in the Eastern orbit byforce of arms but maintaining its own identity« (Mi łosz 1982: 10).

Also würde die Pluralisierung der Mächtedichotomie den künstlichen Status derRegion deutlich machen, doch selbst unter diesen Bedingungen scheint ihre Identitätvor allem negativ bestimmt zu sein: durch den gewaltsamen Ausschluss vom Wes-ten. Der mitteleuropäische Raum scheint seine Bedeutung vor allem als Kompensa-tionsressource für identitäre Verunsicherungen, Ausgrenzungen und Minderwertig-keitskomplexe unter Beweis stellen zu müssen.

Dieses Paradoxon Mitteleuropa, das die Ungerechtigkeit des weltpolitischenZustandes verdeutlicht, wird aber diskursiv nicht nur in einer Opferrhetorik oderViktimisierungsstrategie23 angeklagt, sondern durchaus prospektiv formuliert: Mit-teleuropa als Konzeption verunsichere das Klischee der Ost-West-Dichotomie, dasfür sein Verschwinden verantwortlich ist (Konrád 1986: 120), es sei eine kulturelleGegenhypothese gegen das bestehende System (Konrád 1986: 115). Diese Funktionnimmt es für Gesamteuropa wahr und kann so zur Brücke24 bei der Vermittlung desOst-West-Konflikts werden (Konrád 1986: 121). So sind die Quellen für eine neue,

23 Diese Diskursstrategie findet sich vor allem bei der Konstruktion einer gemeinsamenGeschichte. Die Geschichte wird dabei als wirkmächtiges Subjekt gedeutet, dem dasSchicksal der mitteleuropäischen Völker ausgeliefert ist.

24 Dies ist sowohl in den historischen, aber auch im aktuellen Diskurs über Mitteleuropaein häufig verwendetes Bild für diesen Raum.

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positiv zu formulierende mitteleuropäische Identität in dieser Brücken- und Avant-gardefunktion angelegt; diese auf die Zukunft gerichtete Dimension des Mitteleu-ropabegriffs ist aber im Vergleich zu seiner Kompensationsfunktion eher geringausgebildet.

(2) Auch wenn Mitteleuropa hier als weltanschaulicher, imaginärer Raum konzi-piert und damit tendenziell offen für Erweiterungen ist, bezieht er sich auch im Dis-kurs der Achtzigerjahre auf eine geographisch bestimmte Region. Diese ist aller-dings vor allem an ihren Grenzen sehr vage. Beschrieben werden kann allerdingseine Art mitteleuropäischer Kernzone. Zum einen ist bei der Bestimmung des kon-kreten geographischen Raumes eine Orientierung an den ehemaligen habsburgi-schen Gebieten zu beobachten, andererseits sind die Konzeptionen des Gründerva-ters der tschechoslowakischen Republik, Tomaš Garrigue Masaryk, wichtigeAnknüpfungspunkte für die ostmitteleuropäische Diskussion der Achtzigerjahre(vgl. Hejdánek 1989: 87-91; Szporluk 1982: 30-32). Zum einen gilt das für Masa-ryks Verständnis von der ständig voranzutreibenden Demokratisierung Europas,andererseits aber auch für die konkrete Abgrenzung des Raumes.

So wird vor allem von Milan Kundera die Abgrenzung von Russland bzw. derSowjetunion radikalisiert: Mitteleuropa sei die »östliche Grenze des Westens«(Kundera 1986: 135) und deshalb besonders sensibel für die »russische Gefahr«.Russland wird als eigene Zivilisation wahrgenommen, die in sich geschlossen ihrenspezifischen Gesetzen folge. Sie gehöre eindeutig nicht mehr zu Europa (Kundera1986: 136). Dabei wiederholt Kundera beinahe wörtlich die Formulierung Masa-ryks: Mitteleuropa sei »eine unbestimmte Zone kleiner Nationen zwischen Russlandund Deutschland« (Kundera 1986: 141).25

Eine doppelte Distanzierung vom Westen wie vom Osten, die sich auch und vorallem in der Bestimmung der für den Raum kennzeichnenden Probleme und politi-schen Zielvorstellungen wieder findet,26 lässt sich auch für die räumliche Verortungrekonstruieren: Europa als Ganzes müsse sich durchaus auch von der Nachahmungder amerikanischen Zivilisation schützen, um seine eigene Identität zu retten (Sper-ber 1986: 131f). Auch Miłosz äußert Skepsis gegenüber dem Westen, die auf der all-gemeineren Problematisierung der Ost-West-Teilung basiert:

»[…] let us confront the facts and say that neither had the old religious frontier betweenCatholicism and Orthodoxy been a very precise indicator, nor were these countries, situ-ated between Germany and Russia, pure-bred Western. […] The present ambiguous atti-tude towards the capitalist West is nothing new« (Mi łosz 1986b: 108).

Eine solche Argumentation reagiert einerseits auf den ungesicherten Status Mittel-europas in seiner Zugehörigkeit zum Westen, andererseits sichert sie eine gewisseFlexibilität durch die nicht eindeutig vorgenommene Zuordnung. Kulturelle Indika-

25 Diesen Abgrenzungsgestus wiederholen auch andere Autoren, so u. a. Czesław Miłosz(1986a: 145-147) und Ludvík Vaculík (1989: 168-170).

26 Dies zeigt sich besonders für die in den Achtzigerjahren entworfenen Zivilgesellschafts-vorstellungen und den von Konrád geprägten und Havel weiterentwickelten Begriff derAntipolitik. Diese Vorstellungen sind nicht deckungsgleich mit westlichen Zivilgesell-schaftsvorstellungen und werden von diesen abgegrenzt.

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toren wie die Verbreitung bestimmter Religionen und Konfessionen als Abgren-zungskriterien des Raumes werden an dieser Stelle abgelehnt27 – allerdings wirdhier auch gegen eine Grenzziehung protestiert, die die Mitte Europas zum Nie-mandsland machen würde. Dass die kulturelle Abgrenzung zwischen Ost und Westdamit prinzipiell verworfen wird, kann nicht behauptet werden.

Bei den Abgrenzungen, die zur Konstituierung des mitteleuropäischen Raumesvorgenommen werden, ist die Festlegung der unmittelbaren Westgrenze relativ ein-deutig: Deutschland gehört in dem hier untersuchten Diskurs der Achtzigerjahrenicht zu Mitteleuropa. Mitteleuropa ist der Raum zwischen Deutschland und Russ-land, der allerdings von diesen beiden Mächten wesentlich in seinem Schicksalbestimmt ist.28 Diese Abgrenzung folgt einerseits in Reaktion auf die nationalsozia-listische Pervertierung der deutschen Mitteleuropakonzeptionen des 19. und 20.Jahrhunderts, die mitverantwortlich für die Zerstörung des mitteleuropäischen Rau-mes ist, andererseits ist der Status Deutschlands im Ost-West-Konflikt sehr spezi-fisch. Dabei könnte die DDR sehr wohl zum mitteleuropäischen Raum gerechnetwerden, der östlich des Eisernen Vorhangs liegt und von der gemeinsamen Erfah-rung der sowjetischen Hegemonie gekennzeichnet ist. Darüber, warum sie diskursivausgeschlossen wird, können verschiedene Vermutungen angestellt werden.29 Alsnächstliegende Erklärung erscheint die Spezifik des deutsch-deutschen Verhältnis-ses. Eine Emanzipation der DDR von der sowjetischen Hegemonie hätte aller Wahr-

27 Dagegen hat Jenö Szücs (1994: 13-18, 90-94) auf eben solchen politisch-kulturellenIndikatoren die Theorie der drei historischen Regionen Europas entwickelt.

28 In der polnischen Diskussion äußert sich diese Ambivalenz – einerseits Skepsis und Dis-tanz gegenüber Ost- und Westdeutschland, andererseits die Wahrnehmung Deutschlandsinsgesamt als zentraler Akteur in Mitteleuropa – u. a. darin, dass zum mitteleuropäischenRaum die DDR geographisch häufig mit hinzugezählt wird, bei der Rede über tatsächli-che Kooperation in Mitteleuropa und eine mitteleuropäische Identität aber meist nurPolen, die Tschechoslowakei und Ungarn genannt werden (vgl. Rautenberg 1991: 16;Krasiński 1991: 53, 56; Osmańczyk 1991a: 69, 1991b: 78f; Jałowiecki 1991: 124).

29 Egbert Jahn vermutet als Gründe für die Ausgrenzung der DDR aus Mitteleuropa u. a.die »Abneigung gegen den lange Zeit sich besonders sowjetfreundlich gebenden, über-eifrigen Kommunismus der DDR-Führung, gegen das unrebellische Verhalten der DDR-Bevölkerung seit 1953, gegen die Wiederbelebung preußisch-deutschen Geschichtsbe-wusstseins in der DDR, gegen die bürokratisch-ökonomische Effizienz der DDR-Gesell-schaft, gegen die unverarbeitete nationalsozialistische Vergangenheit der DDR-Deutschen, aber auch die perspektivische Erwartung, daß eines Tages sich die DDR-Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland anschließen werde« (Jahn 1990: 434).Von diesen Vermutungen sind einige weniger, andere mehr plausibel. So ist es beispiels-weise zu bezweifeln, dass die Politik der DDR-Führung und die systemischen Eigen-schaften des DDR-Sozialismus ausschlaggebend für die Ausgrenzung der DDR und dieNicht-Kommunikation mit DDR-Oppositionellen über eine gemeinsame mitteleuropäi-sche Identität gewesen sein können. Tschechische Oppositionelle haben polnischenIntellektuellen nicht das Verhalten ihrer Führung zum Vorwurf gemacht, 1968 mit in dieTschechoslowakei einmarschiert zu sein, ebenso wenig wie polnische Oppositionelleihren tschechoslowakischen Pendants wegen der Erstarrung und Reformunfreudigkeitihrer Führung die Kommunikation verweigerten oder ungarischen Oppositionellen Ver-führbarkeit durch den so genannten Gulasch-Kommunismus Kádárscher Prägung vor-hielten.

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scheinlichkeit nach andere Konsequenzen gehabt als für den Rest des Ostblock:nämlich die Wiedervereinigung.30

Die Ausgrenzung vor allem des westlichen Deutschlands jedoch scheint unter denBedingungen der Ost-West-Konfrontation plausibel: Die Bundesrepublik hatte ihrenStatus als westliches Land durch die Zuordnung zur westlichen Seite des EisernenVorhangs mit einer konsequenten Westintegrationspolitik gefestigt und bestätigt.Darüber hinaus waren die Erfahrungen mit den Deutschen im Osten hochgradig pro-blematisch gewesen. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Ermor-dung der – auch deutschsprachigen – Juden Mitteleuropas besiegelte sozusagen auchdas Ende des alten mitteleuropäischen Gefüges. Hier konnte nicht mehr an vergan-gene Traditionen angeknüpft werden, zu unterschiedlich waren die Erinnerungen.

Dass diese Vertreibung – aus der Region und aus dem Gedächtnis – nicht ohneFolgen für die Konzipierung einer mitteleuropäischen Identität blieb, zeigt sich u. a.an den Überlegungen György Konráds:

»Zu Mitteleuropa gehört eigentlich auch das deutsche Volk, das mehrere Male verge-bens versuchte, die umliegenden Völker zu unterwerfen, während die eigene Selbstbe-stimmung chronisch krank war. Dieser Größenwahn des deutschen Reichs führte dazu,daß es heute kein Mitteleuropa gibt und daß sich die Kontakte zwischen unseren Völkernauf einer niedrigeren Stufe bewegen als vor hundert Jahren« (Konrád 1985: 186).

Zur mitteleuropäischen Kernzone gehörten in den Achtzigerjahren meist folgendeLänder: die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn (Havel 1990: 151; Kundera 1986:133); Miłosz bezieht meist außerdem Litauen und Estland (Miłosz 1982: 11) sowieTeile Jugoslawiens mit ein (Miłosz 1986b: 101).

Die Abgrenzungen des Raumes werden, wie in den vorgehenden Abschnittenbeschrieben, wesentlich über historische und kulturelle Muster vollzogen. Dabeiwird zum einen der Westen insgesamt vom Osten differenziert und u. a. religiösebzw. konfessionelle Muster aktiviert (Kołakowski 1986: 37-39, 46f), der Westeninsgesamt aber auch als Region mit gemeinsamer Geschichte und Kultur dem Ostengegenüber gestellt (vgl. u. a. Kundera 1982: 18). Innerhalb des Westens wird dannaber auch eine mitteleuropäische Kultur von einer westeuropäischen, französischgeprägten unterschieden: Kundera (1986: 139) stellt das irrationale gegen das ratio-

30 Bezogen auf die Reformfähigkeit und den Reformweg des realsozialistischen Regimesin der DDR äußerte ein polnischer Autor 1989: »Man sollte auch daran denken, daß dieDDR hier eine ambivalente Stellung einnimmt, da sie gewissermaßen eine Hintertürbesitzt, mit der sie aufgrund ihrer besonderen Beziehungen zur BRD mit der ökonomi-schen Welt Europas in Verbindung steht. Der politische Status quo kann deswegen in derDDR ziemlich lange aufrecht erhalten werden dank der Hilfe der BRD« ( Jałowiecki1991: 124). Die Wiedervereinigung hätte aber die DDR aus dem gemeinsamen Erfah-rungsraum mit den ostmitteleuropäischen Ländern herausgenommen, was die verschie-denen Transformationserfahrungen und der andere Weg der ehemaligen DDR in die EUletztendlich gezeigt haben. Ausschlaggebend für die Ausgrenzung der DDR warensicher im Wesentlichen die Inkompatibilität der historischen Erfahrungen, die für dieKonzeption des gemeinsamen mitteleuropäischen Raumes zentral sind: Die DDR konnteweder auf eine längere Tradition der Dominierung durch andere Großmächte zurückbli-cken, noch auf einen ähnlichen Nationenwerdungsprozess wie die ostmitteleuropäischenLänder; Erfahrungen, die für die konstruierte mitteleuropäische Identität prägend waren.Die DDR war und blieb ein deutscher Staat

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nale Element, die »sichtbaren« Künste gegen die Philosophie und den musikalisch-künstlerischen Fokus gegen den der Literatur und trennt damit die mitteleuropäischevon der französisch-aufklärerischen Tradition. Zdeněk Mlynař (1988: 48f) formu-liert als Kennzeichen einer mitteleuropäischen Kultur die nicht unproblematischeNationalitätenvielfalt des Raumes, die rechtsstaatliche Tradition der Machtaus-übung, die kompromissorientierte Tradition der politischen Entscheidungsfindungund den Bezug zum Westen als Quelle der Wertorientierung. Die Vielfalt sei einwesentliches Merkmal des Raumes, aber auch sein Status als Raum, in dem östlicheund westliche Kultur miteinander kollidieren (Konrád 1982: 12).

Die Abgrenzung des mitteleuropäischen Raumes nach Osten ist also stabiler alsnach Westen; Mitteleuropa als Teilregion wird dem Westen zugeordnet, auf keinenFall jedoch dem Osten. Die trotzdem vollzogene Distanzierung vom Westen ist dieGrundlage für ein eigenes Selbstbewusstsein und ist die offensive Wendung desProblems der Ausgrenzung Mitteleuropas aus dem westlichen politischen Bereich.

(3) Ein wichtiges geopolitisches, aber auch kulturelles Kennzeichen, das für die-sen Raum diskursiv in Anspruch genommen wird, ist seine Struktur, die vor allemaus kleinen und mittleren Nationen besteht. Daraus folgen u. a. die Erfahrungen derständigen Bedrohung und Unterdrückung, aber auch eine besondere Potenz zur poli-tischen und gesellschaftlichen Problemlösung und kulturellen Kreativität.31 DieExistenz kleiner Nationen sei immer in Frage gestellt, die mitteleuropäischen Völ-ker seien also auch keine Eroberer, sondern »Opfer und Außenseiter« (Kundera1986: 141).32 Eine kleine Nation zu sein bedeute aber auch »a greater obligation tolearn« (Konrád 1986: 112). Dieses argumentative Muster verdeutlicht einmal mehr,dass der Mitteleuropabegriff als Beschreibung und Kompensation von Bedrohungs-erfahrungen, Niederlagen und Unzulänglichkeiten verwendet wird, der gleichzeitigoffensiv zur positiven Begründung eines eigenen Selbstbewusstseins verwendetwerden kann. Die Position als kleine und mittlere Staaten wird sich auch nach demEnde der Blockkonfrontation nicht ändern, es ist also naheliegend, dass dieses dis-kursive Muster zur Begründung von Identität und zur Beschreibung von Interessen-konstellationen auch weiterhin genutzt wird.

3.2. Die Konstruktion des gemeinsamen Raumes im aktuellen Diskurs

Die oben beschriebenen Kennzeichen dieser Diskursdimension lassen sich in verän-derter Form neben neuen Aspekten auch im aktuellen Diskurs wieder finden.

31 Vgl. Dubin (2002: 1589); Konrád (1986: 112); Kundera (1986: 140-142).32 Aus der Geschichte Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei lassen sich eine Reihe

von Gegenbeispielen zu dieser Opferrolle finden. Für Polen ließe sich der Konflikt mitder Tschechoslowakei um das Teschener Land nennen, bei dem der polnische Staat alsNutznießer des Münchner Abkommens 1938 sich dieses Gebiet auf Kosten der Tsche-choslowakei einverleibte (vgl. u. a. Broszat 1972: 250); Davies (2000: 116f). Die Land-nahme in der frühen Siedlungsgeschichte Ungarns wäre ein weiteres Beispiel (vgl. u. a.Hoensch 1991: 15-17). Für die tschechische Geschichte ist aus deutscher Perspektivesicher die Vertreibung der Sudetendeutschen das eindrucksvollste Exempel für»Täterschaft« (vgl. u. a. Seibt 1995: 351-353; Kuhn 1981; Zimmermann 1999).

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(1) Der Raum Mitteleuropa bzw. die zentrale Lage der Tschechischen Republik istim aktuellen Diskurs im Vergleich zu den Achtzigerjahren stärker geopolitisch bzw.geostrategisch und sicherheitspolitisch konnotiert und weniger normativ-inhaltlichgefüllt. So ist für Havel Mitteleuropa immer »ein Kreuzpunkt verschiedener Strömeund Machtinteressen« (Havel 2001a: 2) gewesen, und für Außenminister Kavanergeben sich »auf der Grundlage [der] historischen Erfahrungen und geographischenPosition in der Mitte Europas für die Integration Europas« (Kavan/Fischer 2001: 31)die gemeinsamen Interessen der mitteleuropäischen Länder.

Für die Abgrenzung und Kennzeichnung des Raumes zeigen sich folgende Mus-ter: Mitteleuropa ist eine Region kleiner und mittlerer Staaten, die durch gemein-same historische Erfahrungen, besonders durch die gemeinsame Vergangenheit imSystem des Ostblocks, aber auch durch die Bedrohungserfahrungen durch größereeuropäische Mächte gekennzeichnet sind.33 Die Lage »in der Mitte Europas« wirddabei einerseits als neuralgischer Punkt, als Kreuzpunkt von Konflikten oftmalsauch kriegerischer Art, beschrieben, aber auch als besondere Ressource charakteri-siert: Zu den mitteleuropäischen postsozialistischen Staaten zu gehören ist gleichbe-deutend mit dem Vorhandensein guter Transformationsvoraussetzungen, alsogünstiger infrastruktureller und wirtschaftlicher Verknüpfungen, einem hohenPotenzial für die wirtschaftliche Entwicklung und damit auch mit einer hohenAttraktivität als Beitrittsländer für die EU.34 Insofern wird die Tschechische Repub-lik als mitteleuropäisches Land gekennzeichnet, präzisiert wird das aber vor allemdurch die Wendung »im Herzen Europas« (Havel 2001a: 2, 2002e: 8, 2002b: 4;Kavan 2002: 42; Špidla 2002: 19). Damit wird weniger der Raum als ein gemeinsa-mer thematisiert, sondern die exponierte Lage eines einzelnen Landes herausgestri-chen. Tschechien wird zwar nur in die Mitte Europas verlegt und nicht mit ihrgleichgesetzt, aber die Herzmetapher wird sehr eng mit Tschechien selbst in Verbin-dung gebracht. Dabei lassen sich über diese Metapher vielseitige positiveVerknüpfungen finden: Das Herz ist Motor und Zentrum des Organismus »Europa«,aber auch der neuralgische und verletzliche Punkt, an dem die Arterien und Venenzusammenlaufen und von dort den Körper versorgen; es ist sensibel und mitunterproblematisch, weil es auch anfällig für Fehlfunktionen und Krankheiten sein kann– Herzrhythmusstörungen können den ganzen Körper lahm legen. Und dabei ist beidieser Assoziationskette noch nicht der Bildbereich angesprochen, der Herz undEmotionalität miteinander verknüpft. Insofern ist also die Herzmetapher etwasanders gelagert als die Rede von der Mitte: Sie ist vielfältiger und unterstreichtgleichzeitig stärker die unverzichtbaren Fähigkeiten und die positive Exponierungdes als Mitte bezeichneten Objekts. Das Bild von der Mitte oder der Brücke wardagegen im Diskurs der Achtzigerjahre dominanter.

33 Havel (2001c: 2f); Havel/Klestil (2002: 2); Kavan (2000f; 2001e: 41); Špidla et al.(2002: 8).

34 Kavan (2002: 41 f, 2001a: 52, 2001d: 26f, 2001e: 41); Rycheltský (2002: 15); Zeman(2001: 17). Diese Deutung Mitteleuropas als Vor- oder Zwischenraum zu Westeuropafindet sich auch im Mitteleuropadiskurs der Achtzigerjahre.

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Dieser Betonung der exponierten Stellung der Tschechischen Republik entsprichtdas Bestreben, innerhalb der Gruppe der Kandidatenländer als eigenständig wahrge-nommen zu werden, also die Europäische Kommission dazu anzuhalten, innerhalbdieser Gruppe Differenzierungen vorzunehmen. Die regionale Kooperation in Mit-teleuropa, beispielsweise innerhalb der Visegrád-Gruppe, wird meist als Sprungbrettin die EU und als Instrument für eine bessere Vorbereitung des Beitritts gesehen(Havel/Klestil 2002: 2f; Kavan 2000b: 17; Gemeinsame Erklärung 2000: 7f). Diepositiven mitteleuropäischen Merkmale, zusammengefasst als »die Mitte« oder »dasHerz«, werden im tschechischen Diskurs stark auf die Tschechische Republik selbstfokussiert: Tschechien liegt in diesem Sinne in der Mitte der Mitte.

Diese Mittellage wiederum ist aber doppelgesichtig: Sie ist nicht nur Segen undAngebot, sondern auch eine Art von Fluch und Verpflichtung, denn in einer solchenMittellage muss der Anschluss an den großen Zusammenhang gefunden werden, istdas Beschreiten von Sonderwegen ausgeschlossen. Die Tschechische Republik istgleichsam zur Integration in den Westen und zum EU-Beitritt verurteilt.35 Der Bei-tritt sei zwar teuer und die Vorteile weniger greifbar und klar, aber die Kandidaten-länder »haben keine wirkliche Alternative zum Beitritt zur EU« (Klaus 2000a: 2).Ein Nichtbeitritt würde aus dem Herzen Europas dessen Peripherie machen – nurdurch die Beteiligung an der europäischen Integration sei garantiert, dass Tsche-chien wie die übrigen Beitrittsländer »nicht am Rande oder hinten zurück bleibt undin kein Vakuum gerät« (Klaus 2000a: 2). Ein Nichtbeitritt würde zur »Abschiebungder Tschechischen Republik in die Peripherie der europäischen Entwicklung undparadoxerweise zu einer verminderten Bedeutung der Tschechischen Republik fürdie transatlantischen Partner, vor allem den USA« (Kavan 2001a: 56) führen. Damitdas Herz schlagen kann, muss es an den Blutkreislauf angeschlossen sein. DieseVerflechtung von Herz und Körper, also Tschechien und Europa, das wechselseitigeAufeinanderangewiesensein sind in der Herzmetapher im Vergleich zu dem Bild derMitte eher angelegt. Gleichzeitig wird deutlich: Beim Beitritt zur EU, also derZuordnung zum westeuropäischen Raum, steht die politisch-kulturelle Zuordnungim Vordergrund. Mitteleuropa als Raum an sich besitzt nicht genügend Attraktivität,um sich allein auf ihn zu beziehen. Mitteleuropa als mentaler Raum wird nun aus-schließlich gelesen als Teil des gesamt- bzw. westeuropäischen Gefüges. Diesergrößere Raum wird nun zur Quelle von Bedeutung und Wichtigkeit, er entscheidetüber die Stellung und Wahrnehmung Tschechiens in der Welt und die Zugehörigkeitzu ihm kann bestimmte Defizite der Tschechischen Republik kompensieren.

(2) Die geographische Abgrenzung vollzieht sich relativ klar: Der Raum wird vorallem nach Osten und Südosten abgegrenzt und dem Balkan sowie den östlichenNachbarn wie der Ukraine und Russland gegenübergestellt.36 Vor allem der Balkan– konkret: das ehemalige Jugoslawien – ist das Gegenbild zum stabilen, prosperie-renden Mitteleuropa. Dort sind Demokratisierung und wirtschaftliche Prosperität

35 Kavan (2001a: 56); Klaus (2002: 6, 2000a: 2); Špidla (2003: 29); Rychetský (2002: 15).36 Gemeinsame Erklärung (2002: 26); Kavan (2001c: 14f, 2000a, 2000c); Havel (2002c:

2f, 2001a: 4f, 2001b: 3, 6-8, 10f); Dienstbier (2002: 37).

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noch längst nicht sicher auf den Weg gebracht, und hier können Erfahrungen aus dererfolgreichen mitteleuropäischen Transformation weiter gegeben werden (Kavan2001c: 14f; Havel 2001a: 4-6; Dienstbier 2002: 37).

Diese Abgrenzung ist eben nicht nur geographisch-räumlich verortet, sondernauch kulturell-räumlich. Dies wird an der oben beschriebenen Abgrenzung zuJugoslawien deutlich, aber vor allem auch bei der Abgrenzung zu Russland. Beson-ders Havel (2001a: 5) entwickelt in der Position des Präsidenten ein eigenes Voka-bular, um die Abgrenzungen zu begründen und greift dabei auf die HuntingtonscheThesen von verschiedenen Zivilisationen zurück. Er wendet diese Vorstellung aller-dings positiv: Die verschiedenen so genannten zivilisatorischen Kreise37 habenjeweils eigene, abgegrenzte Identitäten, die ihnen eine stabile Grundlage für eineproduktive Zusammenarbeit bieten. Die wiederholte Rede von kulturell-politischenRäumen, die in sich konsistent sein müssen, und das Bestreben, sich einem dieserKreise zuzuordnen, spiegeln eine Suche nach Sicherheit und Unterstützung bei dereigenen Entwicklung. Die kleineren regionalen Zusammenhänge wie eine mitteleu-ropäische Region können diese Ressourcen offensichtlich nicht mehr zur Verfügungstellen, die Bezugsgröße muss also erweitert werden.38

Österreich und Deutschland werden dabei durchaus als dem mitteleuropäischenRaum zugehörig thematisiert (Kavan/Fischer 2001: 30f; Kavan 2000g: 27; Havel/Klestil 2002: 2), vor allem im Kontext von Konflikten wie um die Beneš-Dekreteund das Atomkraftwerk (AKW) Temelin, aber auch als Teilhaber an einem gemein-samen Erbe, vor allem in Bezug auf Österreich. Die Vorteile, die man sich von einerguten Kooperation mit Deutschland erhofft, werden dabei durchaus als mitteleuro-päische Potenziale begriffen (Kavan/Fischer 2001: 30f).

Als zum mitteleuropäischen Raum zugehörig werden neben Österreich undDeutschland auch Polen, Ungarn, Slowenien und die Slowakei genannt. Oftmalssind die Beziehungen zwischen diesen Staaten allerdings durch Konflikte geprägt –nicht nur zum westlichen und südlichen Nachbar, sondern beispielsweise auch zuPolen und Slowenien, die häufig als Konkurrenz wahrgenommen werden. Die heuti-gen »Spannungsgemeinschaften« (Hatschikjan 1995: 12) in Mitteleuropa ent-wickeln sich vor allem entlang der Konfliktlinien groß – klein, EU-Mitglied –Nicht-Mitglied und entlang der Konfliktlinie, die auf großer geographischer Näheund Verflechtung basiert.

(3) Die räumliche Zuordnung wird im aktuellen Diskurs von der Region Mitteleu-ropa auf größere Räume ausgeweitet. Die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa wird mitder Zugehörigkeit zu Gesamteuropa und vor allem zum Westen insgesamt gleichge-setzt. Als Musterländer der Transformation und als »Noch-nicht-EU-Staaten«

37 Euroamerikanischer Kreis, Russland, Indien, Afrika sowie die islamische Welt (vgl.Havel 2001a: 4).

38 Ein ähnliches Bestreben, politisch-kulturelle Räume voneinander abzugrenzen, findetsich bereits in dem Diskurs der Achtzigerjahre, hier allerdings bezogen auf den europäi-schen, nicht den globalen Bereich. Jenö Szücs’ Thesen von den drei historischen Regio-nen Europas stellen für solche Argumentationen in den Achtzigerjahren den wichtigstenBezugspunkt dar.

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besteht für Ostmitteleuropa zwar weiterhin ein Übergangsstatus, aber dieser ist miteinem sicheren Kandidatenstatus verbunden, der sich durch eine mitteleuropäischeKooperation noch stützen lässt, in der gemeinsame Interessen zusammengeführtwerden können und eine gemeinsame starke Position in den Verhandlungen mit derEU gefunden werden kann. Das gemeinsame historische Erbe, aber auch diegemeinsame Problemlage, die sich u. a. in der Umweltkatastrophe der »Jahrhundert-flut« des Sommers 2002 materialisierte, bieten dafür eine gemeinsame Grundlage.Wesentlich ist dabei der Status als Gruppe von kleinen und mittleren Ländern,39 derAnschlussmöglichkeiten für Kooperationen innerhalb der erweiterten Union bie-tet.40 Für die Tschechische Republik ist festzustellen, dass dieses Muster zunehmendund durch alle Sprecherpositionen hindurch häufig verwendet wird, vor allem imZusammenhang mit der Frage nach dem Schutz des nationalen Interesses und dernationalen Identität in einer erweiterten Union. Der Status als kleines Land in Ver-bindung mit den Unterdrückungserfahrungen im Ostblock resultiert in einer beson-deren Sensibilität gegenüber den suprastaatlichen Begrenzungen, die durch die EUausgeübt werden könnten.41 Die Selbstwahrnehmung als kleiner Staat ist dabei engmit der Formulierung politisch-kultureller Prinzipien nach innen wie nach außenverbunden: Solidarität, Subsidiarität, Kooperationsbereitschaft und Verflechtung.Die Rede über die eigene Kleinheit ist die explizite Artikulation eines Marginalitäts-gefühls, mit der auf diese Weise gleichzeitig offensiv umgegangen wird. So über-nimmt diese Rhetorik in gewisser Weise Funktionen, die der Mitteleuropa-Diskursin den Achtzigerjahren erfüllte: die Artikulation und Kompensation von Marginali-tätserfahrungen. Beide Formulierungsmuster von Marginalität – das paradoxe Mit-teleuropa in den Achtzigerjahren und der kleine Staat heute – sind dabei gleichzeitigmit einer offensiven Formulierung von Ansprüchen und Erwartungshaltungen ver-bunden: In den Achtzigerjahren war es der Rückschluss auf die besondereLösungskompetenz gesamteuropäischer Probleme und der Ruf nach erhöhter Auf-

39 Für Slowenien haben Šabič und Brglez (2002: 80) den Zusammenhang zwischen demStatus als kleines Land und dem Diskurs über nationale Identität im Kontext der EU-Erweiterung untersucht und festgestellt, dass das Motiv der Kleinheit keine unabhängigeVariable in diesem Zusammenhang ist. Für die Tschechische Republik trifft diese Beob-achtung so nicht zu.

40 So fand im September 2003 in Prag ein Treffen von 15 Staaten aus der erweitertenUnion statt, darunter Österreich und Tschechien, die aus Anlass der anstehenden Regie-rungskonferenz zum EU-Verfassungsentwurf eine gemeinsame Verhandlungspositionfinden wollten, um die Interessen der kleinen und mittleren Länder, die sich in dem Ent-wurf schlecht vertreten sahen, geltend zu machen und in dieser Koalition den Großenentgegenzusetzen. Hier eröffnen sich also neue Konfliktlinien, die die EU bzw. Europanicht mehr unbedingt von Ost nach West teilen oder in neu und alt, sondern in klein undgroß. Solche Konfliktlinien werden sicher nicht statisch bestehen bleiben, sondern jenach Problemlage flexibel aktiviert werden. Das mitteleuropäische Arrangement fasstdabei die Konfliktlinie klein – groß und alt – neu bzw. konsolidiertes Land – Transfor-mationsland zusammen und bietet dabei mehr Kooperationsmöglichkeiten, aber aucherhöhten Konkurrenzdruck. Deutlich wird aber in jedem Fall, dass Mitteleuropa als Kon-stellation durchlässig wird und sich unter pragmatischen Gesichtspunkten formiert undsomit weniger als »Schicksalsgemeinschaft« begriffen wird.

41 Havel (2001d: 4, 2002a: 3); Svoboda (2003: 33f); Kavan/Fischer (2001: 31); Kavan(2001e: 41, 2000a: 44, 2000f: 15f); Klaus (2002: 6); Pithart (2002: 18); Špidla (2003: 28f).

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merksamkeit des Westens, heute sind es die Betonung des nationalen Eigeninteres-ses und die Rede von der Verpflichtung des Westens, die Osterweiterung voranzu-treiben. Diese schon für den Diskurs der Achtzigerjahre festgestellte Kombinationvon Hybris und Minderwertigkeit42 lässt dabei die Argumentation nach außen hinund wieder sprunghaft und inkonsistent erscheinen, sie basiert aber auf demselbendiskursiven Muster: der Marginalitätsfurcht.

Zentral für die politisch-räumliche und somit auch politisch-kulturelle Verortungist der wiederum häufige Rückgriff auf größere politisch-räumliche Kontexte, diemeist mit dem Schlagwort der Globalisierung und den mit ihr verbundenen Proble-men gekennzeichnet werden. Innerhalb eines solchen globalen, stark interdependen-ten und häufig als bedrohlich wahrgenommenen Kontextes erscheint die Verortungin kleineren, aber leistungsfähigen politischen Räumen als Schutzvorkehrung. Meistwird dieser Schutz von Seiten starker westlicher Bündnisse erwartet, aber auch ineiner spezifischen mitteleuropäischen Identität gesucht. Dabei werden diese größe-ren politisch-räumlichen Kontexte, die im Begriff der Globalisierung zusammenge-fasst werden, als vielschichtig, fluide und somit weniger greifbar wahrgenommenund sind ebenso zwiespältig wie die Zuordnung zum mitteleuropäischen Raum ansich: Einerseits wird die Zugehörigkeit zu größeren Räumen und das Vorhandenseinanderer Räume oder »Zivilisationskreise« (Havel 2001a: 4) als Chance und Erweite-rung der eigenen Möglichkeiten begriffen, zumal die Zugehörigkeit zur Europäi-schen Union und zum Westen insgesamt – repräsentiert auch durch die NATO –auch als Schutz eigener Interessen, der eigenen Sicherheit und der eigenen Identitätfungieren kann, andererseits sind die globalen politisch-räumlichen Entwicklungendurch ihre Komplexität und Nicht-Kontrollierbarkeit als bedrohlich konnotiert.43

Diesen Doppelcharakter besitzt vor allem die Europäische Union: Zu ihr zu gehö-ren ist einerseits die institutionelle Affirmation der Westlichkeit der TschechischenRepublik und Motor weiterer positiver wirtschaftlicher und politischer Entwicklun-gen, andererseits ist es die Zugehörigkeit zu einer starken, übergeordneten Institu-tion, deren Kompetenzen bedrohlich für die Verwirklichung der eigenen nationalenInteressen wirken können. Diesen bedrohlichen Tendenzen werden diskursiv dieSchlagworte der »europäischen Solidarität«, der »Subsidiarität« und der »Vielfalt«entgegengesetzt,44 Eigenschaften, die eine gerechte EU besitzen müsse und die fürden Schutz der angemessenen Souveränität der Tschechischen Republik garantierenkönnen.

42 Dass dieses Schwanken für die heutige tschechische Außenpolitik immer noch gilt,behauptet der ehemalige tschechoslowakische Außenminister (1990-1992) Jiří Dienst-bier: »Ein interessanter Aspekt unserer Politik ist die Tatsache, dass sie oszilliert zwi-schen einem gewissen Größenwahn und Minderwertigkeit. Auf der einen Seite sind wirdavon überzeugt, dass wir schwach und klein sind, an anderer Stelle prahlen wir damit,dass wir die besten sind, besser als unsere Nachbarn« (Pachta/Špok 2002).

43 Havel (2000: 2f, 2001a: 2, 2002f: 3, 2002d: 2); Kavan (2002: 42, 2001b: 57, 2001e: 41,2000d: 16); Außenministerium der Tschechischen Republik (2000: 23); Zaoralek (2002:12f); Klaus (2002b: 6f); Zeman/Miller (2002: 26-28).

44 Svoboda (2003: 33); Kavan (2001d: 31, 2001a: 55); Rychetský (2002: 15); Havel(2002e: 8).

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So wie also kleinere regionale Bezüge wie Mitteleuropa im Diskurs nicht als diegeeigneten Quellen von Bedeutung und Identität erscheinen, so entfalten groß-räumliche Zusammenhänge wie die »globale Welt« aufgrund ihrer Nichtkontrollier-barkeit eine gewisse Bedrohlichkeit. Das Ziel der politisch-kulturellen Verortung istund bleibt »der Westen«.

Diese Raumkonzeption zieht sich im Prinzip gleichmäßig durch alle Sprecherpo-sitionen hindurch, wobei für die Regierung und den Außenminister eine stärkereBetonung des erfolgreichen Verlaufs der Transformation einerseits und der beson-deren Lage als kleines Land andererseits festgestellt werden kann. Das positiveImage der Mitteleuropazugehörigkeit kommt hier also besonders zum Tragen, sozu-sagen als Eintrittskarte in den Westen. Am Beispiel der Selbstwahrnehmung alskleines Land wird der Zusammenhang zwischen der politisch-räumlichen Verortungund der Formulierung politisch-kultureller Präferenzen im innen- wie im außenpoli-tischen Bereich besonders deutlich: Mit dieser Selbstwahrnehmung wird eine beson-dere Sensibilität für die Verwirklichung einer gerechten europäischen Ordnung ent-wickelt,45 die durch die Gleichbehandlung ihrer Mitgliedsstaaten, die Umsetzungdes Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzips und die Respektierung einer europäi-schen Vielfalt garantiert werden soll.

Hier sind Diskurskontext und Diskursstruktur eng miteinander verknüpft: DerStatus als Transformationsland und die damit verknüpften Probleme finden sich imDiskurs wieder, indem die »Fakten« als nicht-diskursive Kontextfaktoren wie wirt-schaftliche Lage, politische Stabilität oder der Stand der Beitrittsverhandlungeninterpretiert und Deutungen für den Status als postsozialistisches, ostmitteleuropäi-sches Transformationsland angeboten werden. Politisch-kulturelle Wirksamkeit ent-falten vor diesem Hintergrund vor allem die diskursive Selbstwahrnehmung als»kleines Land« einerseits und die Verortung als Teil des Westens andererseits. Kon-textuelle Probleme – etwa wirtschaftliche Krisen oder stockende Beitrittsverhand-lungen – können vor dem Hintergrund des hier beschriebenen Raumdiskurses ent-lastend gedeutet werden: als globale oder gesamteuropäische Phänomene, an denenauch gesamteuropäisch gearbeitet werden muss.

Ebenfalls bei diesen beiden Sprecherpositionen, insbesondere aber auch bei denübrigen, spielt der Doppelcharakter des globalen Kontextes als Chance und Bedro-hung eine zentrale Rolle. Eine Isolierung aus den westlichen Kontexten wird alsnicht wünschenswert und gefährlich für die Existenz des tschechischen Staatesangesehen, obwohl gleichzeitig die Lasten und Gefahren einer solchen Integrationimmer wieder thematisiert werden. Weniger defensiv sind die Konsequenzen, diesich für die Sprecherposition des Präsidenten aus der globalen und europäischenräumlichen Konstellation ergeben: Hier wird vor allem die Verantwortungsdimen-sion, die potenziellen Chancen und die Bereicherung durch den internationalenKontext betont. Hier zeigen sich ebenfalls die Verflechtungen von Diskurskontext –hier im Sinne anderer Diskurse – und Diskursstruktur: Die diskursive Deutung von

45 Kavan (2000f: 15f); Zaoralek (2002: 12f); Špidla (2003: 28); Zeman/Verheugen (2002:22); Zeman/Miller (2002: 26f).

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Zivilgesellschaft und die entsprechende Tradition, in der die Person Havel steht,legen eine entsprechende Positionierung des Präsidenten nahe.46

Der Mitteleuropadiskurs hat damit an einigen markanten Stellen wesentliche Ver-änderungen im Vergleich zum Begriff der Achtzigerjahre durchlaufen. Wurde derStatus Mitteleuropas damals als Anomalie, als paradoxer Zustand im Niemandslandzwischen den Blöcken des künstlich geteilten Europas begriffen, so ist er jetzt ein-deutig positiv konnotiert als Raum der sich positiv entwickelnden Transformations-länder. Sein Status ist nun kein imaginärer mehr, sondern ein realer und durch dieDifferenzierung der Beitrittskandidaten durch die EU sozusagen auch institutionelllegitimiert. Zum Teil erhalten geblieben ist sein Charakter als »Vorhof« zum Wes-ten, zumindest solange die Länder Ostmitteleuropas noch nicht vollwertige Mitglie-der der EU sind. Dieser Vorhof-Charakter verliert aber mit der NATO-Erweiterungund mit dem näher rückenden EU-Beitritt an Bedeutung. Das spiegelt sich auch inder veränderten geographisch-räumlichen Fassung des Begriffs, denn zunehmendwerden auch die in den Achtzigerjahren ausgeschlossenen Länder Deutschland undÖsterreich als mitteleuropäische begriffen und der Raum damit geographisch erwei-tert. Dabei wirkt die Integration dieser beiden westlichen Staaten in den mitteleuro-päischen Raum als Aufwertung dieses Raumes insgesamt, der nun berechtigterWeise als zum Westen zugehörig begriffen werden kann.

Die Existenz als Mitteleuropäer wurde in den Achtzigerjahren vor allem als »Welt-anschauung« oder als Glaubensgemeinschaft definiert. Dieses Muster setzt sich teil-weise bis heute fort, wenn die mitteleuropäische Identität als Wertegemeinschaftgefasst wird. Diese Wertegemeinschaft ist, wie auch in den Achtzigerjahren, an denWesten gebunden, für den aktuellen Diskurs kann dabei beinahe eine Deckungs-gleichheit mit dem Westen konstatiert werden. Der frühere Diskurs hat die politisch-kulturelle Bezugnahme auf den Westen sozusagen vorbereitet, der Zugriff auf denWesten ist mit dem Fall des Eisernen Vorhangs nun auch argumentativ plausibel zumachen und muss nicht mehr in den Bereich des Imaginären verwiesen werden.

Die in den Achtzigerjahren zu beobachtende doppelte Distanzierung vom Ostenwie vom Westen ist heute weitestgehend einer Identifikation mit dem Westen gewi-chen. Dabei wird der Westen aber als transatlantische Gesamtheit beschrieben,deren Teil die EU ebenso wie die NATO-Staaten und vor allem die USA sind(Havel 2001b: 3-8). Die Integration in beide Organisationen sind gleichberechtigteZiele. Zwischen den verschiedenen institutionellen Gruppen des Westens wird keinKonflikt gesehen. Wenn solche Konflikte auftauchen, wie aus Anlass des Irak-Krie-ges, werden sie als eklatante Bedrohung der eigenen Integrität wahrgenommen,denn dort, wo zwei mächtige Gruppen miteinander in Konflikt geraten, sind die leid-tragenden Dritten die neuen, kleinen und mittleren Staaten der Mitte. Eine Distan-zierung vom Westen findet allerdings im Kontext der EU-Verhandlungen statt,wenn die Interessen der Beitrittskandidaten mit denen der EU kollidieren. Dann

46 Havel, als Teil der Dissidentenelite, war bereits in den Achtzigerjahren ein führenderVertreter einer Zivilgesellschafts- und Antipolitikvision, die sich bis heute in seinemEintreten für eine demokratische politische Kultur und seine Warnungen vor den Gefah-ren einer entarteten Industrie- und Konsumgesellschaft wieder finden lässt.

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werden mitteleuropäische Allianzen in Anspruch genommen, um der eigenen Posi-tion zur Durchsetzung zu verhelfen. Diese Distanzierungen sind dann aber nichtinhaltlich-normativer Art, sondern auf pragmatisch-politische Erwägungenzurückzuführen, und sind damit auch eigentlich keine Distanzierungen mehr, son-dern »normale« Interessenkonflikte.

Bereits in den Achtzigerjahren wurde im Kontext der Mitteleuropa-Diskussionder Status als kleines oder mittleres Land thematisiert. Dieses Muster gewinnt nunzunehmend an Bedeutung und übernimmt teilweise die Funktion aus dem früherenMitteleuropadiskurs, die Schwäche und Opferrolle der mitteleuropäischen Staatenzu symbolisieren. Die Rede von der Kleinheit Tschechiens ist dabei anschlussfähigfür eine Reihe von politischen Deutungs- und Handlungsmustern sowie politisch-kulturellen Prinzipien.

Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass die Zuordnung zu Mitteleuropa für dieBestimmung der politisch-kulturellen Muster der tschechischen nationalen Identitätnur eine untergeordnete Rolle spielt und nur im Kontext der Zugehörigkeit zumWesten und zu Gesamteuropa gedacht wird. Diese politisch-kulturellen Räume sindes auch, die als Orientierungspunkte für die Formulierung von politisch-kulturellenMustern gelten und hier die größte Bedeutung für die tschechische politisch-räumliche Verortung besitzen. Die Bezugnahme auf den spezifischen, sich vomOsten und Westen abgrenzenden, sozusagen »tragischen« Raum Mitteleuropa istdem direkten Rückgriff auf den Westen und größere globale Kontexte gewichen undwird durch die Selbstwahrnehmung als kleines Land als Artikulation von Marginali-tät und gleichzeitig Ansatzpunkt für deren Kompensation fast völlig ersetzt. Dabeierhalten die größeren globalen Zusammenhänge einen Doppelcharakter als Bedro-hung und Chance und rücken ins Zentrum des Diskurses der tschechischen poli-tisch-räumlichen Verortung.

Mit diesen Ergebnissen lassen sich nun die eingangs aufgeworfenen Fragen wie-der aufgreifen.

3.3. Die außen- und europapolitische Verortung der Tschechischen Republik in Mitteleuropa und die Konzeption eines gemeinsamen Raumes, einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsamer Problembereiche und Wertvorstellungen

In ihrer Deutlichkeit ist die Beobachtung nicht zu übertreffen, dass die politisch-räumliche Verortung in Mitteleuropa für den aktuellen Diskurs der politischen Eli-ten der Tschechischen Republik im Wesentlichen eine deutlich untergeordnete Rollespielt. Für die vier Kategorien der inhaltlichen Dimension der Diskursstruktur erge-ben sich folgende Tatbestände:

Der mitteleuropäische Raum ist vor allem geopolitisch und weniger normativgefüllt. Er wird konzipiert als Region kleiner und mittlerer Staaten, d. h. vor allemerfolgreicher postsozialistischer Transformationsländer sowie Deutschland undÖsterreich. Er ist deutlich nach Süden (gegenüber dem Balkan) und Osten (gegen-über Russland) abgegrenzt. Er ist die Mitte, das Herz Europas, sein neuralgischerPunkt. Gleichzeitig als Bestandteil und Antichambre Westeuropas gedeutet, ist dieZugehörigkeit zu Mitteleuropa mit der Zugehörigkeit zum Westen gleichgesetzt.

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Mitteleuropa ist nur noch als Teilregion des Westen zu denken, nicht als Niemands-land zwischen Ost und West.

Eine gemeinsame mitteleuropäische Geschichte wird einerseits als reichhaltig undintegrativ beschrieben, andererseits als Geschichte von Bedrohung und Unterdrü-ckung, aber auch als Erfolgsgeschichte, in der die Unterdrückung überwunden unddas Ziel der Zugehörigkeit zum Westen erfüllt wird. Sie fungiert dabei einerseitsmeist als Rahmen für die Deutung der nationalen Geschichte, andererseits wird siekonsequent als Teil einer gesamteuropäischen Geschichte konzipiert. Die Bedeutungvon Geschichte als diskursives Thema ist konstant hoch. Sie ist zum Objekt von Deu-tung geworden, dessen sich die Nationen gestaltend bemächtigen. Die historischeKontextualisierung kann dabei sowohl angewendet werden als Strategie, um Themenaus dem Diskurs zu verbannen – à la »Was vorbei ist, ist vorbei« –, als auch als Stra-tegie der Aufwertung von Ereignissen, Zielvorstellung und Konfliktlagen.

Politische Probleme werden zum überwiegenden Teil nicht in einen mitteleuropäi-schen, sondern in einen europapolitischen, westlichen oder globalen Kontext einge-ordnet. Als explizit mitteleuropäische Probleme können dabei aber die Diskussionum die Beneš-Dekrete, die Zwangsarbeiterentschädigung und das AKW Temelin alsspezifische Nachbarschaftskonflikte gelten. Aber auch hier orientieren sich die ent-sprechenden Problemlösungsstrategien an einem gesamteuropäischen Rahmen. DerProzess des Beitritts und die Angst vor dem Status als Europa zweiter Klasse werdenebenfalls zumindest teilweise als spezifisch mitteleuropäische Problembereichegedeutet. Die Demokratisierungs- und Stabilisierungsprobleme Südosteuropas wer-den konsequent aus dem mitteleuropäischen Raum verwiesen und somit ex negativoein positiv aufgeladener mitteleuropäischer Raum konzipiert.

Für den Bereich der Definition gemeinsamer Zielvorstellungen und normativerGrundprinzipien erfolgt die Zuordnung fast gar nicht über die Verortung in Mittel-europa. Lediglich das Ziel eines schnellen Beitritts zu EU und NATO wird alsgemeinsame mitteleuropäische Perspektive formuliert und in diesem Zusammen-hang die Kooperation in dieser Region als fruchtbar angesehen.

3.3.1. Verschiebungen und Verdrängungen diskursiver Muster zwischen dem Mitteleuropadiskurs der Achtzigerjahre und dem aktuellen Diskurs über Mitteleuropa

Dazu können zwei wesentliche Ergebnisse festgehalten werden:

Die Eröffnung neuer Räume

Die politisch-räumliche Verortung der Tschechischen Republik hat sich vom mittel-europäischen Raum verschoben hin zu größeren räumlichen Zusammenhängen, wieEuropa und dem Westen insgesamt. Die inhaltlichen Muster und argumentativenStrategien des Mitteleuropadiskurses der Achtzigerjahre werden nun in andereräumliche Kontexte integriert. Mitteleuropa als mentaler Raum hat heute für dieBestimmung politisch-kultureller Muster lediglich marginale Bedeutung, er wirdnur noch gelesen als Teil des gesamt- bzw. vor allem westeuropäischen Gefüges.Dieser größere Raum wird nun zur Quelle von Bedeutung und Wichtigkeit, er ent-

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scheidet über die Stellung und Wahrnehmung Tschechiens in der Welt und dieZugehörigkeit zu ihm kann bestimmte Defizite der Tschechischen Republik kom-pensieren. Die politisch-räumliche Verortung geschieht innerhalb eines größereneuropäischen Kontextes entlang spezifischer interessenpolitischer Schnittstellen, derKonfliktlinien klein vs. groß, EU-Mitglied vs. Nicht-Mitglied, Transformationslandvs. konsolidierte westliche Demokratie, EU-skeptisch bzw. -kritisch vs. integrati-onsfreundlich.

Für die Tschechische Republik wird das Verhältnis zu Deutschland und auch zuÖsterreich nach der Wende 1989 und der Trennung von der Slowakei 1992/1993(wieder) zu einem mitteleuropäischen Thema. In den mitteleuropäischen Raum denerfolgreichen Nachbarn mit einzubeziehen wertet den Raum und eben auch die mit-teleuropäische Identität der Tschechischen Republik selbst darüber hinaus wesent-lich auf. Ein mitteleuropäischer Raum als Zone der europäischen Entwicklungsstaa-ten ist dagegen nicht sehr attraktiv.

Der Mitteleuropabegriff hat in den Achtzigerjahren einerseits die Zuordnung zumWesten und andererseits die Stärkung nationaler Muster geleistet. Vor diesem Hin-tergrund kann als Ursache für den Verfall seiner Bedeutung das Freiwerden neuerpolitischer Räume gesehen werden, die nun für die Legitimierung und Stützungnationaler, westlich-orientierter Identitätsmuster zur Verfügung stehen: Solange diediskursiven und politisch-kontextuellen Barrieren bestanden, die eine direkte Zuord-nung zum Westen verhinderten, konnte der Mitteleuropabegriff seine Rolle in derÜberbrückung dieser Kluft erfüllen, quasi als Hilfskonstruktion, als eilig und ener-gisch zusammengezimmerte Holzbrücke über den Styx, der das Reich des Todesvom Reich des Lebens trennt, die einen Weg aus dem Osten in den Westen bahnte.Jetzt, da dieser Styx seinen Verlauf geändert hat – spätestens seitdem die Beitritts-kriterien für die Osterweiterung festgelegt wurden und die hier relevanten LänderOstmitteleuropas in den Kandidatenstatus erhoben wurden, aber auch spätestens seitder NATO-Osterweiterung – und er eben nicht mehr durch die Mitte Europas fließt,ist der Bezug auf den kulturellen und politischen Westen frei geworden und kanndiskursiv glaubhaft verwendet werden. Der frühere Diskurs hat die politisch-kultu-relle Bezugnahme auf den Westen vorbereitet, der Zugriff auf den Westen ist mitdem Fall des Eisernen Vorhangs nun auch argumentativ plausibel zu machen undmuss nicht mehr in den Bereich des Imaginären verwiesen werden. An dieser Stelleist also kein neues diskursives Muster entstanden, das ein anderes verdrängt hat,sondern es hat sich ein diskursives Muster in seiner Ausprägung gewandelt, ohneseine Grundstruktur, seinen normativen Kern zu verändern.

Für die diskursive Bestimmung politischer Probleme im Zusammenhang mit derräumlichen Verortung lässt sich zusammenfassend sagen, dass Mitteleuropa für dieVerortung und Definition der politischen Probleme erheblich an Bedeutung verlorenhat, auch wenn Themenbereiche wie die Zivilgesellschaftsproblematik oder dieeuropäische Reform angesprochen sind, die in dem Diskurskontext der Achtziger-jahre als spezifisch mitteleuropäische Konstellationen gedeutet worden sind.

Für die diskursive Definition politischer Ziele und Perspektiven sowie politischerTugenden haben sich im Vergleich zum Diskurs der Achtzigerjahre die größten Ver-

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schiebungen ergeben. Zwar tauchen die Normen und Muster der Demokratie, derRechtsstaatlichkeit, der Freiheit und Menschenrechte wieder auf, aber sie werdenzumeist in den Kontext des Westens insgesamt gestellt und nur noch sehr geringfügigaus der mitteleuropäischen Problemlage abgeleitet. So wie kleinere regionale Bezügewie Mitteleuropa im Diskurs nicht als die geeigneten Quellen von Bedeutung undIdentität erscheinen, so entfalten aber auch großräumliche Zusammenhänge wie die»globale Welt« aufgrund ihrer Nichtkontrollierbarkeit eine gewisse Bedrohlichkeit.Das Ziel der politisch-räumlichen Verortung bleibt der Westen bzw. Europa alsRaum mittlerer Größe.

Die Entfaltung neuer Muster

Ein wesentliches diskursives Muster, das im aktuellen Diskurs im Vergleich zu denAchtzigerjahren verstärkt auftritt, ist die Selbstwahrnehmung als kleiner Staat. Die-ses Muster und das ebenfalls verstärkt auftretende Muster des nationalen Eigeninte-resses sind komplementär aufeinander bezogen. Aus der geopolitischenWahrnehmung (kleiner Staat) werden politisch kulturelle Muster abgeleitet (Subsi-diarität, Solidarität), die der Sicherung des nationalstaatlichen Interesses dienen sol-len. Beide Muster waren im Diskurs der Achtzigerjahre bereits vorhanden, sie habensich nun zu den dominanten entwickelt.

Daneben fällt die neue Form der Rede über die Rolle der Geschichte auf. DieNationen werden nun als Subjekt ihrer eigenen Geschichte gedeutet, nicht mehr dieGeschichte als schicksalhafte Wirkmacht, der die Nationen machtlos gegenüber ste-hen. Auch diese Subjektwerdung ist dabei kein völlig neues diskursives Muster,sondern eines, das nun sozusagen zu seiner lange erwarteten Entfaltung gelangenkann: In den Achtzigerjahren waren bereits die Opposition und die Emanzipations-versuche der Gesellschaften in den sozialistischen Regimen als Ansätze zu dieserSubjektwerdung gedeutet worden. Nun, da diese Emanzipation erfolgreich abge-schlossen ist, ist es folgerichtig, dass die Geschichte nun tatsächlich nicht mehr alsder wirkmächtige Dämon erscheint. Dabei verschwindet auch die oben kurz ange-sprochene Viktimisierungsstrategie: Vom Opferstatus befreit haben die mitteleuro-päischen Nationen nun wieder die Verfügungsgewalt über ihr eigenes Schicksalerlangt. Damit wird nun auch stärker die Verantwortung für das eigene Handelnwieder den einzelnen Akteuren zugewiesen.

3.3.2. Der Wandel des Diskurses im Zusammenhang mit nicht-diskursiven Kontextfaktoren

Bei der untersuchten diskursiven Definition der politischen Probleme wird die Ver-flechtung mit dem Diskurskontext deutlich: Der Status als Transformationsland undals Beitrittskandidat sind die nichtdiskursiven Kontextfaktoren, die am stärksten dis-kursive Aufmerksamkeit erfahren und gedeutet werden. Innerhalb der jeweiligenProblembereiche verändern sich die thematischen Schwerpunkte nach tagespoliti-schen Vorgaben, aber auch im Zusammenhang mit anderen Diskursen.

Es ist zweitens zu beobachten, dass sich die Relevanz einer mitteleuropäischenKooperation und die Entwicklung von an sie gebundenen konkreten Politikinhalten

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und -prinzipien immer stärker reduzieren, je näher der EU-Beitritt rückt und je wei-ter die Integration in den Westen fortgeschritten ist.

Drittens variiert die Art des Raumes, auf den Bezug genommen wird, je nach politi-schem Lager: Die nationale Gewichtung kann eher Repräsentanten der ObčanskáDemokratická Strana (Bürgerliche demokratische Partei, ODS) zugeordnet werden,die europapolitische eher Vertretern der Česká Strana Socialné Demokracie (Tsche-chische sozialdemokratische Partei, ČSSD) und dem Präsidenten. Für die ČSSD-Ver-treter, in dem untersuchten Zeitabschnitt gleichzeitig auch der Regierung zuzuordnen,ist dabei zusätzlich zu beobachten, dass die europapolitische und europafreundlicheKontextualisierung gleichzeitig als Wahrnehmung des nationalen Interesses begrün-det wird und damit beide räumlichen Bezüge miteinander verwoben werden. Das istfür die Sprecherposition des Präsidenten weniger stark zu beobachten.

Differenziert man genauer nach parteipolitischen Positionen, so lässt sich für dieMehrheit der im Parlament vertretenen Parteien, für die ČSSD, die Unie Svobody(US) und die Křest’anská Demokartická Unie-Česká Strana Lidová (ChristlichDemokratische Union-Tschechische Volkspartei, KDU-ČSL), eine ähnliche Argu-mentation rekonstruieren (ČSSD 2001; KDU-ČSL 2002; US 2002). Die Spannungnationaler gegen europäische Interessen wird meist in Richtung »Chance Europa«aufgelöst, die EU entfaltet sowohl ihre Attraktivität als auch ihre Bedrohlichkeit alsübergeordnetes politisch-räumliches Gebilde. Die Situation Tschechiens als kleinerStaat in der Mitte Europas zieht sich ebenfalls als wichtiger Topos für die Begrün-dung politischer Präferenzen durch die Programme – bei den genannten Parteienausgeprägt als Befürwortung von Subsidiarität und Stärkung politischer Verantwort-lichkeit. Eine mitteleuropäische Zusammenarbeit erwähnt als einzige die KDU-ČSL. Trotz wirtschafts- und sozialpolitischer Präferenzen ist dieser Konsens stabilund wird einzig von der ODS (2001; Zahradil/ODS 2002) nicht geteilt. Mit ihrem»Manifest des tschechischen Eurorealismus«, in dem sie die Wahrung nationalerEigeninteressen in den Vordergrund rückte, harte Kritik an der EU übte und für eineEU der Nationalstaaten plädierte, die vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft seinsolle, sowie trotz eines prinzipiellen »Ja« zum Beitritt auch Alternativen skizzierte,entfachte sie 2001 eine hitzige Diskussion über die europapolitischen Orientierungder Tschechischen Republik. Die ODS unter Václav Klaus hatte bereits bis Mitteder Neunzigerjahre – solange sie noch auf das »tschechische Wirtschaftswunder«verweisen konnte – durch ihre Europaskepsis für Aufsehen gesorgt und damit auchden politisch-räumlichen Diskurs geprägt (Hudalla 2003). Mit dem Wechsel zureuropafreundlichen ČSSD Ende der Neunzigerjahre änderte sich dies grundlegend,nicht jedoch die euroskeptische Position der ODS. Allerdings finden sich auch beider ČSSD keine expliziten Bekenntnisse zu mitteleuropäischen Kooperationen,obgleich die unter Klaus stagnierende Visegrád-Kooperation verstärkt betriebenwurde. Ein wesentlicher Effekt der ODS-Position ist – auch vor dem Hintergrundder zentralen politischen Stellung, die die Partei bis 1998 einnahm und heute wiedereinzunehmen im Begriff ist –, dass jede Formulierung einer außenpolitischen undpolitisch-kulturellen Verortung den Topos vom »nationalen Eigeninteresse« als eineArt Beschwörungsformel beinhaltet – sowohl, um die eigene politische Glaubwür-

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digkeit zu bekräftigen, als auch, um Ängste vor der Zugehörigkeit zum Moloch EUentweder zu zerstreuen oder zu erzeugen, wie auch, um sich davon abgrenzend poli-tisch zu profilieren. Durch ihre im Vergleich zu den anderen Parteien relativ früherfolgte Entwicklung eigener europapolitischer Konzeptionen wurde sie zu einer ArtStichwortgeber für die folgenden Diskussionen, auf den die anderen Parteien reagie-ren mussten. Der europapolitische Konsens unter der ČSSD-Regierung kann sichdabei auch in Abgrenzung zum bürgerlichen Eurorealismus stabilisieren.

4. Schlussfolgerungen

Zur Beantwortung der eingangs formulierten Frage nach dem Zusammenhang zwi-schen der Formierung der politischen Kultur eines Landes und seiner politisch-räumlichen Verortung lassen sich hinsichtlich der vorliegenden Analyse zur Tsche-chischen Republik versuchsweise folgende Rückschlüsse formulieren:

Marginalitätskompensation und Mitteleuropa

Die politisch-räumliche Verortung der Achtzigerjahre, die über die Zuordnung zuMitteleuropa vollzogen wurde, leistete im wesentliche die Kompensation von Margi-nalitätserfahrungen und -befürchtungen. Der Ausschluss aus dem Westen bzw. ausEuropa, die wahrgenommene nationale und gesellschaftliche Entmündigung wurdeneinerseits der paradoxen Existenz Mitteleuropas zugeschrieben und erhielten damiteine Deutungsgrundlage, andererseits wurde diese Exklusion auch durch die Aufwer-tung dieses Raumes als »eigentlich Westen« abgefedert. Auch nach 1989 bis heutesteht der Slogan vom »Zurück nach Europa« im Kontext dieser Furcht vor der Margi-nalisierung. Die Wahrnehmung der eigenen Marginalität bezieht sich heute wie inden Achtzigerjahren auf den Ausschluss aus Europa. Sie wird in sich wandelndenKontexten an unterschiedlichen Konstellationen festgemacht: In den Achtzigerjahrenan der »Entführung« in den Ostblock durch die sowjetische Dominanz, nach 1989 ander noch nicht erreichten Mitgliedschaft in der EU und prospektiv an der befürchte-ten Benachteiligung kleiner und mittlerer Staaten innerhalb der EU.

Dabei wird heute die diskursive Behauptung einer mitteleuropäischen Identitätund eines spezifisch mitteleuropäischen Beitrages zur europäischen Integrationverknüpft mit dem Muster des nationalen Interesses. In diesem Kontext wird einspezifisches mitteleuropäisches Selbstbewusstsein entfaltet, das sich aus einergemeinsamen Geschichte speist und das die Beitrittskandidaten nicht nur als Bitt-steller der EU positioniert, sondern in der Osterweiterung durchaus eine Bereiche-rung für die Union sieht.

Marginalitätskompensation und die Rede vom kleinen Staat

Für den aktuellen Diskurs über die politisch-räumliche Verortung Tschechiens über-nimmt die Funktion der Marginalitätskompensation aber im Wesentlichen das dis-kursive Muster der Selbstwahrnehmung als kleiner Staat. Dieses Muster erlaubtgleichzeitig die Artikulation wie die Kompensation von Marginalitätserfahrungenund -befürchtungen. Beide Formulierungsmuster von Marginalität – das paradoxe

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Mitteleuropa in den Achtzigerjahren und der kleine Staat heute – sind nämlichjeweils zugleich mit einer offensiven Formulierung von Ansprüchen und Erwar-tungshaltungen verbunden: In den Achtzigerjahren war es der Rückschluss auf diebesondere Lösungskompetenz gesamteuropäischer Probleme und der Ruf nacherhöhter Aufmerksamkeit des Westens, heute sind es die Betonung des nationalenEigeninteresses und die Rede von der Verpflichtung des Westens, die Osterweite-rung voranzutreiben. Diese Konstellation hat bereits im Diskurs der Achtzigerjahrezu einer Gleichzeitigkeit von Hybris und Minderwertigkeitskomplexen geführt. Amdiskursiven Muster der Selbstwahrnehmung als kleiner Staat zeigt sich exempla-risch, wie räumliche Verortung und politisch-kulturelle Muster aufeinander bezogensind: Die Präferenz für Solidarität, Subsidiarität und Kooperationsbereitschaft alsStrukturmerkmale der räumlichen Bezüge, aber auch des eigenen politischenGemeinwesens wird aus der räumlichen Selbstwahrnehmung als kleiner Staat abge-leitet.

Transnationale Rahmung nationaler Deutungen

Bereits in den Achtzigerjahren waren nationale Argumentationsweisen ein immanen-ter Bestandteil des Mitteleuropadiskurses. Der damalige Diskurs kann zu großen Tei-len als Rahmen nationaler – nicht unbedingt nationalistischer im pejorativen Sinne –Diskurse interpretiert werden, als Ressource für Argumentationen, die auf die Rekon-struktion einer eigenen, nicht-kommunistischen nationalen Identität abzielt, auf dieReaktivierung eigener westlicher Traditionen, die einen Anschluss an den als pro-gressiv und attraktiv wahrgenommenen Raum des Westens ermöglichen sollen. Eskann also nicht zwischen einem transnationalen, antinationalistischen Mitteleuropa-diskurs einerseits und nationalistischen Identitätsdiskursen andererseits polarisiertwerden. Eine Deutung des Mitteleuropadiskurses der Achtzigerjahre als transnationa-ler Diskurs zur Aufwertung der nationalen Problematik kann erklären helfen, warumdie Orientierung auf diese Region zugunsten nationaler Orientierungen späterschwindet: Mitteleuropa als diskursive Hilfskonstruktion ist seit 1989 nicht mehrnötig, es stehen nationale, westliche und globale Muster direkt zur Verfügung, diezuvor über den Umweg Mitteleuropa erreicht werden mussten. So kann hier also keinBruch mit der Tradition der Achtzigerjahre behauptet werden.

Räume als Legitimationsressource

Die Kontextualisierung politischer Tugenden und Zielvorstellungen innerhalb einesgrößeren räumlichen Rahmens mobilisiert Legitimitätsressourcen und verstärkt denDurchsetzungsanspruch: Werden Zielvorstellungen nicht als singulär nationalstaat-liche, sondern als die einer gemeinsamen Region formuliert, gewinnen sie in derAuseinandersetzung mit konkurrierenden Zielvorstellungen an Gewicht. Insofernbesitzt die europapolitische Verortung der Tschechischen Republik für die Legiti-mierung innenpolitischer Reformvorhaben die größte Bedeutung, da das Thema derOsterweiterung innenpolitisch hohes Gewicht erlangt hat. Bezogen auf die Interes-senvertretung innerhalb der europäischen Union gewinnt die mitteleuropäische Koa-lition als Legitimationsressource durchaus mehr Relevanz. Damit wird eine

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mitteleuropäische Identität jedoch nicht aus sich selbst heraus entwickelt, sondern inden Kontext nationalstaatlicher Geltungsansprüche gestellt.

So wurden also nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neue Räume für die Mobili-sierung von Legitimationsressourcen verfügbar und diskursiv herangezogen. Fürden Mitteleuropadiskurs lässt sich der Zusammenhang zwischen der Bestimmungeiner nationalen Identität und der daran geknüpften politisch-kulturellen Musterbesonders deutlich zeigen. Die inhaltlichen und argumentativen Muster des Mittel-europadiskurses der Achtzigerjahre sind dabei nicht verschwunden, sondern werdennun in anderen Räumen kontextualisiert, die für die Plausibilisierung dieser Mustervor dem Hintergrund dominanter westlicher und europäischer Diskurse geeignetererscheinen. »Mitteleuropa« mag für die kulturelle Standortbestimmung der Tsche-chischen Republik sowie in wissenschaftlichen und intellektuellen Diskussionenweiterhin eine große Rolle spielen, für den Diskurs der politischen Eliten lässt sicheine solche große Bedeutung nun nicht mehr feststellen.

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239Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 239-272

Heidrun Zinecker

Regime-Hybridität in EntwicklungsländernLeistungen und Grenzen der neueren Transitionsforschung

Die gegenwärtige Transitionsforschung steht vor der Aufgabe, jene politischenRegime zu analysieren, die im Ergebnis beendeter, aber in Entwicklungsländernmehrheitlich unvollendeter Transitionen entstanden sind. Diese sind in der Grauzonezwischen Autoritarismus und Demokratie zu verorten. In dieser Zone nimmt –verstetigte – Regime-Hybridität den zentralen Stellenwert ein. Sie wird als einRegime-Typ verstanden, bei dem sich demokratische und nichtdemokratische – abernicht notwendigerweise autoritäre – Segmente verknüpfen. Eine solche Definition vonRegime-Hybridität ist nur dann herleitbar, wenn das politische Regime als über denStaat hinausgehend definiert und die Zivilgesellschaft einbezogen wird. Mit einerdarauf basierenden Checkliste wird am Beispiel Kolumbiens Regime-Hybriditätnachgewiesen und argumentiert, dass sich Regime-Hybridität in Entwicklungsländernauf eine unvollendete sozioökonomische Transformation von einer Rentenökonomiemit Marginalität zu einer über den Markt vergesellschafteten Ökonomie ohneMarginalität gründet. Um Demokratie zu erreichen, ist folglich eine Verzahnung vonpolitischer Transition und sozioökonomischer Transformation erforderlich.

1. Einleitung

Die Transitionsforschung steht vor einem Scheideweg, denn sie muss ihre Existenz-frage beantworten: Hat sie ihre Mission erfüllt, weil am Ende der dritten »Demokra-tisierungswelle« nahezu weltweit demokratische Regime etabliert sind undhöchstens noch deren Konsolidierung zu verfolgen ist? Oder ist ihr »Paradigma«beendet, weil es ihr verschlossen bleiben muss, dass und warum inEntwicklungsländern vielfach noch immer keine Demokratien bestehen? Die vorlie-gende Arbeit geht davon aus, dass die Transitionsforschung auch weiterhin eineExistenzberechtigung hat, vorausgesetzt sie reflektiert über die Größe und Versteti-gung dieser Differenz zwischen Norm und Realität.

Die Ansicht, dass die Debatte über die Transitionen zu mehr Demokratie nicht denRang einer selbstständigen Theorie besitzt (Nohlen/Thibaut 1994: 195), hat bis heuteAktualität. Mit Theoriepurismus ist den Transitionen nicht beizukommen, denn »eineinziger theoretischer Zugang allein, mag er noch so durch seine epistemologischeEleganz und Sparsamkeit beeindrucken, [kann] den Wechsel und Wandel politischerSysteme nicht erklären […]« (Merkel 1994: 321). Die an Theoriepurismus orientier-ten Autoren neigen dazu, sich gegen zuviel »störende« Empirie abzuschirmen,wodurch die Theorie zum inzestuösen Selbstzweck gerät. Dagegen kann ein gesteu-erter Theorieeklektizismus vor dem Hintergrund theoretisch verdichteter Ergebnissevon empirisch gesättigten area-studies die Balance von Empirie und Theorie erlau-ben. Transitionologen sind Grenzgänger, nicht nur weil sie Regimegrenzen markie-

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ren und deren Überschreitung erklären. Sie sind auch Grenzgänger zwischen denTheorieentwürfen, zwischen Empirie und Theorie, aber auch zwischen induktiverund deduktiver Theoriegenerierung. Nur wenn sie diese Verortung nüchtern aner-kennt und gleichzeitig ihre Grenzgänger-Position als eine Chance begreift, erfüllt dieTransitionsforschung im doppelten Sinne ihre Transitionsmission.

Die folgenden Überlegungen zu Regime-Hybridität beruhen auf einer Kombina-tion des politikwissenschaftlich-transitionsanalytischen mit dem politökonomisch-entwicklungstheoretischen Ansatz. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Transi-tion, will sie sich vollenden, gefordert ist, jene politischen »Hebel« zu etablieren, dieeine politische Partizipation auch der Unterschichten garantieren, um ihnen zuerlauben, sozioökonomische Umverteilung zu ihren Gunsten und zur Überwindungvon Marginalität durchzusetzen. Mit der Herausstellung einer solchen Hebelfunk-tion von Politik bzw. Demokratie für die sozioökonomische Entwicklung wird einSynergieeffekt angestrebt, mit dem das »Tor« zwischen Transitionsforschung undEntwicklungstheorie wieder1 – nun auf neue Weise – geöffnet und damit auch dieTransitionsforschung aus ihrer Stasis herausgeführt werden könnte.

Entsprechend der angelsächsischen Tradition bezeichne ich Transition als denWandel von einem politischen Regime zu einem anderen, idealiter von einerAutokratie zur Demokratie. Mit Transformation verbinde ich dagegen den sozioö-konomischen Wandel, in Entwicklungsländern idealiter von einer Rentenökonomie2

(mit Marginalität) zu einer über den Markt vergesellschafteten Ökonomie (ohneMarginalität). Gerade durch diese analytische Trennung können Verzahnungen vonErfolgen und Defiziten beider Prozesse deutlicher herausgestellt werden als in jenenArbeiten, die Transformation und Transition ineinander aufgehen lassen und aufdiese Weise quasi unkenntlich machen.

Der Aufsatz schließt dabei an die Diskussion um die für Entwicklungsländer typi-sche Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie an, die sich im Ergebnisbeendeter, aber bei weitem nicht vollendeter Transitionen etabliert hat. Im Zugeihrer »Ernüchterung nach der Gründerzeit« (Zinecker 1999) gewinnt in der Transiti-onsdebatte genau diese Tendenz an Gewicht, womit ihre einstige teleologische undbehavioristische Linearität zunehmend in Frage gestellt wird. Doch gerade die rea-listischeren, auf die Grauzone fokussierten Autoren betrachten Transition und derenResultate in der Regel in einem entwicklungstheoretisch »luftleeren« Raum. Dage-gen verfolgt dieser Aufsatz zwei Ziele: Erstens soll das im Rahmen der Grauzonen-Forschung noch wenig entwickelte Konzept der Regime-Hybridität in sich ausdiffe-

1 Die kritische Bewertung von Lipsets (1959) Position, bei der das »well-to-do« einerNation der Demokratie zugrunde gelegt wurde, woraus in der Interpretation nicht seltenverkürzt die These abgeleitet wurde, Modernisierung und Demokratisierung seien inerster Linie an ökonomische Performanz gebunden, zeitigte für die Transitionsdebatteeinen methodologisch verhängnisvollen Effekt: Mit der radikalen Abkehr von der Korre-lation zwischen ökonomischer Performanz und Politik wurde gewissermaßen die Bedeu-tung sozioökonomischer Präfiguration für Transitionsprozesse gleich mit über Bordgeworfen und vergessen, dass eine solche Präfiguration mit ökonomischer Performanznicht identisch ist.

2 Zur Definition von Rentenökonomie vgl. Abschnitt 3 dieses Aufsatzes.

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Heidrun Zinecker: Regime-Hybridität in Entwicklungsländern

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renziert, dynamisiert und operationalisiert werden. Dies geschieht, ohne dass bei derzugrunde gelegten Regime-Definition die politische in der sozioökonomischenDimension aufgelöst wird, wohl aber bei einer definitorischen Ausdehnung der poli-tischen Dimension vom Staat auf die Zivilgesellschaft. Zweitens wird geprüft, ob esstabile Zusammenhänge zwischen Regime-Hybridität und den in Rentenökonomienverwurzelten Entwicklungsdefiziten gibt.

Demokratisierung wird dabei weder lediglich als »Begleiterscheinung und Folgeder Durchkapitalisierung der Weltgesellschaft« (Tetzlaff 1996: 85) angesehen, dennDemokratisierung vollzieht sich – zumindest in einem bestimmten Maße – auchohne Durchkapitalisierung bzw. ohne die Abkehr von Rentenökonomie. Noch wirddavon ausgegangen, dass sie völlig losgelöst von marktwirtschaftlicher Vergesell-schaftung zum Erfolg gelangt. Denn ohne Rentenökonomie kapitalistisch aufzu-brechen, ist Demokratisierung nur bis zu einem bestimmten Punkt, demRegime-Hybrid, möglich. Bisherige, von Internationalem Währungsfond (IWF)und Weltbank intendierte Wirtschaftsliberalisierung und Privatisierung haben inder übergroßen Mehrheit der Entwicklungsländer keine über den Markt verge-sellschaftete Ökonomie und Durchkapitalisierung auf der Grundlage eines kräf-tigen, dynamischen und in der Investitionsgüterproduktion investierenden ein-heimischen Unternehmertums durchsetzen können. Vielmehr hat sichRentenökonomie – und dort, wo sie oligarchisch geprägt war, auch in ihrer olig-archischen Version – stabilisieren können.

Vor diesem Hintergrund lautet die zugrunde liegende Hypothese: Regime-Hyb-ride sind ein gegenwärtig für Entwicklungsländer charakteristischer, sich versteti-gender Typ politischer Regime. Neben demokratischen enthalten Regime-Hybridenichtdemokratische Segmente, die allerdings, anders als in der einschlägigen Litera-tur angenommen, nicht notwendig autoritär und dann nicht in erster Linie im Staat,sondern vor allem in der Zivilgesellschaft verankert sind. Es besteht ein Zusammen-hang zwischen Regime-Hybridität und Rentenökonomie (insbesondere oligarchi-scher Rentenökonomie) bzw. zwischen unvollendeter Transition zur Demokratieund unvollendeter Transformation zur marktwirtschaftlich vergesellschafteten Öko-nomie.

Diese Frage ist auch für die Internationalen Beziehungen relevant. Entwicklungs-politik als Teil einer globalen Strukturpolitik – ein exponiertes Thema der IB – solltesich auf präzise, realistische und differenzierte Bestimmungen von politischen Regi-men in Entwicklungsländern und ein klares Verständnis von deren (Hebel-)Funktionbei der Lösung sozioökonomischer Probleme stützen können, will sie z. B. beimbemerkenswerten Ziel der Armutshalbierung bis 2015 Erfolg haben. Wenn vieleEntwicklungsländer, anders als von der Transitionsforschung der »Gründerzeit«erwartet und von den IB bis heute immer wieder zugrunde gelegt, eben noch keineDemokratien etabliert haben, sondern in der Hälfte der Transition bei Regime-Hyb-ridität steckengeblieben sind, dann hat das natürlich auch Auswirkungen für dieErklärungskraft bisheriger IB-Konzepte: Eine transnationale Demokratie stündedann in noch weiterer Ferne als ohnehin. »Contagion« (Whitehead 1996: 5f) würdedann nicht Ansteckung von Demokratien als real gewordene Norm bedeuten,

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sondern von Regime-Hybriden und damit von Mediokrität. Die IB-Theorien desdemokratischen Friedens, die entsprechend dem Polity-Dataset auch solcheRegime als Demokratien behandeln, die bestenfalls Regime-Hybride sind, hät-ten ein Problem: Denn Kriege dieser Länder entsprängen dann nicht einerDemokratie und wären eben nicht Zeichen für eine Antinomie des demokrati-schen Friedens (Müller 2003), sondern schlicht dafür, dass ihre Kriegsneigungauf das weitgehende Fehlen von Demokratie zurückgeht. Zwar kann dieserAufsatz die notwendige Verzahnung von IB-Theorien und Transitionsforschungnicht selbst leisten, doch er will Bausteine eines kombinierten Entwicklungs-und Transitions-Modells liefern, das für eine global orientierte IB von Nutzensein könnte.

Der Aufsatz beginnt mit einer kritischen Reflexion der neueren Konzepte derTransitionsforschung zur Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie.Daran schließt sich die Konzeptionalisierung und Operationalisierung eines eigen-ständigen Regime-Hybrid-Begriffs an, dessen heuristischer Nutzen am Fall Kolum-bien exemplarisch plausibilisiert wird. Zum Schluss wird die Notwendigkeit einerVerzahnung von Demokratisierung und Entwicklung und folgerichtig auch vonDemokratisierungs- und Entwicklungsforschung begründet.

2. Die Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie

Die Idee der Grauzone ist in Ansätzen bereits von den »Klassikern« der Transitions-forschung, O’Donnell und Schmitter (1989: 9), vorgetragen worden, die als semide-mokratische Zwischenstufen die »dictablanda« (limitierter Autoritarismus) und die»democradura« (limitierte Demokratie) benannten. Wie die Bezeichnungen erken-nen lassen, tendieren aber in diesem Ansatz die Subtypen recht eindeutig in die eine(Diktatur) oder andere Richtung (Demokratie) und bieten wenig Raum dafür, dasszwischen diesen beiden Regime-Subtypen etwas regimetypologisch Intermediäresoder aber Neues entstehen kann.

Mit O’Donnells (1994) Begriff der »delegativen Demokratie« begann eineMode der »Demokratien mit Adjektiven«. Sie sollte einerseits für Schadensbe-grenzung des früher überbordenden Optimismus sorgen (indem ein »pessimisti-sches« Adjektiv vorangestellt wird, kann das »optimistische« Substantiv geret-tet werden). Andererseits zeugte sie aber nur von der Sackgasse, in die dieTransitionsforschung, die einst mit so viel dichotomischer Eindeutigkeit ange-treten war, nun zu geraten drohte. Nachdem einst gefeiert wurde, dass Latein-amerika (mit der Ausnahme von Kuba) rundum demokratisch geworden sei, wurdennunmehr mit Argentinien, Brasilien, Peru, Ecuador und Bolivien auch viele der rela-tiv »guten Schüler« der Demokratisierung mit dem einschränkenden Regime-Adjek-tiv »delegativ« belegt. Inzwischen konstatieren dieselben Autoren mit Argentinien,Bolivien, Brasilien, Uruguay, Costa Rica und, mit Abstrichen, Chile sogar nur nochhöchstens sechs Demokratien in Lateinamerika und dies, obwohl sich diese Autorenauf minimale, weil prozedurale Kriterien beschränken (O’Donnell 2001: 600).Einige der »Klassiker« der Transitionsforschung kommen gar (für Lateinamerika

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und die Karibik) zum Schluss, dass »[…] it is premature and indeed misleading totalk about ›consolidating‹ democratic governance […]. In most nations, effectivedemocratic governance is still incipient, inchoate, fragile, highly uneven, incom-plete, and often contradicted« (Lowenthal/Domínguez 1996: 6f).

Methodologisch zeigte sich diese »Ernüchterung nach der Gründerzeit« darin,dass im Rahmen einer noch weitergehenden Minimierung des demokratischenAnspruches entweder weniger bzw. (noch) geringer dimensionierte Kriterien ange-setzt wurden, etwa wenn Alvarez et al. (1996: 18-20) selbst von den DahlschenDemokratie-Kriterien nur noch »contestation« übrigließen und sich mit Schum-peters (1950: 397) Minimalkriterium »Wahlregime« zufrieden gaben. Oder esoffenbarte sich dadurch, dass der Kategorie »Demokratie« Adjektive vorangestelltwurden, die ihre Bedeutung einschränken, um durch »diminished subtypes«(Collier/Levitsky 1997) der Realität näher zu kommen oder zumindest diesenAnschein zu erwecken. Zu solchen »verminderten Subtypen« zählen nach Ansichteinschlägiger Transitionsforscher »limited democracy«, »electoral democracy«,»delegative democracy«, »controlled democracy«, »tutelary democracy«, »guideddemocracy«, »protected democracy«, »facade democracy«, »low intensive demo-cracy«, »counterinsurgency-democracy«, »illiberal democracy« und viele mehr.

Bei der Bildung »verminderter Subtypen« wird von der Spezifik der Demokratieals einer »radial category« im Unterschied zum Autoritarismus als einer »classicalcategory« ausgegangen (Collier/Mahon 1993; Collier/Levitsky 1997). Währenddie Hinzufügung eines (sekundären) Prädikats – z. B. des Attributs »büro-kratisch« – zur primären Kategorie »Autoritarismus« deren Extension verrin-gere, so habe die Addition eines (sekundären) Prädikats zur primären Kategorie»Demokratie« – z. B. des Attributs »formal« – eine Vergrößerung ihrer Exten-sion zur Folge. Bei den »classical categories« sei folglich das Problem des»conceptual stretching« durch Streichung des Attributs, bei den »radial catego-ries« hingegen durch Hinzufügung zu vermeiden (Collier/Mahon 1993: 852).

Jedoch reflektieren nicht alle diese »Demokratien mit Adjektiven« auch tatsäch-lich »verminderte Subtypen« von Demokratien. Der Radius des im Fall der »radia-len« Kategorie Demokratie grundsätzlich möglichen »conceptual stretching« istnicht unendlich. Er endet dort, wo das Adjektiv einen Antagonismus zum Substantiv»Demokratie« impliziert. Zwar stehen etwa »limited democracy«, aber auch»defekte Demokratie« durchaus für solche »verminderten Subtypen«, nicht aber»counterinsurgency-democracy« oder »illiberal democracy«. Eine illiberale Demo-kratie – liberale Demokratie ist im 20. Jahrhundert zum Synonym für Demokratiegeworden (Peeler 1998: XI) – gibt es genauso wenig wie »kaltes Feuer«. In ähnli-cher Weise würde dies für »violente« oder »ausschließende Demokratien« gel-ten oder, um das Argument zur Absurdität zu führen, für »autoritäre Demokra-tien«. Die Adjektive »illiberal«, »counterinsurgency«, »violent« oder auch»ausschließend« bezeichnen Grundkriterien eines Regimes, die von definitori-scher Relevanz sind und deshalb genauso den Wirkungsbereich des Substantivsin Frage stellen. Umgekehrt sind sie aber nicht ausreichend, um das Antonymzu Demokratie, den Autoritarismus, definitorisch abzusichern.

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Die Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie ist unbestreitbar. Jedochbesitzt sie eine größere Dimension und Verstetigung als es ihre »Erfinder« anneh-men und ist typologisch reichhaltiger: Weder reduziert sich das Nicht-Demokrati-sche in ihr auf Restbestände des überkommenen Autoritarismus noch gilt für jedenihrer Fälle, dass die Dimension des Nicht-Demokratischen so gering bemessen ist,dass sie als ein »verminderter Subtyp« einer im Großen und Ganzen doch gegebe-nen Demokratie durchgehen kann.

2.1. Das Konzept der defekten Demokratie

Innerhalb der Bestrebungen, der nicht-demokratischen Not mit den Tugenden»verminderter Subtypen« von Demokratie zu begegnen, waren die Verfechterdes Konzepts der »defekten Demokratie« (Merkel 1999; Merkel/Croissant 2000)am kritischsten und innovativsten. Mit dem Adjektiv »defekt« können dieseAutoren einerseits all jenes Unbehagen auffangen, das sie bei der Analyse derrealen Transitionsergebnisse befällt, müssen aber andererseits ihre einstige opti-mistische Grundstimmung auch nicht ganz verlassen, denn nach ihnen sind esja noch immer Demokratien.3

Aber welche und wie viele Defekte darf eine Demokratie haben, um noch Demo-kratie zu sein? Anders gefragt, ist ein schrottreifes Vehikel, dem die Räder, derMotor, das Lenkrad – kurz: alles, was ein Auto ausmacht – fehlen, noch ein Autooder eben nur eine fahruntüchtige Karosserie? Wie viel darf ausfallen, so dass esnoch ein Auto ist und ein fahrtüchtiges dazu: die Räder, der Motor oder nur dasLenkrad? Ich behaupte: Ist Demokratie in ihren konstitutiven Bestandteilen nichtetabliert, gebricht es ihr also an den »Rädern« oder dem »Motor«, ist es keine, selbstwenn sie noch ein »Lenkrad« – sprich: ein universelles Wahlregime – haben sollte.Mehr noch, Demokratien sind es nur, wenn sie auch realiter und nicht nur im Ver-fassungstext bestehen und wenn sie zudem »fahrtüchtig« sind, also ihr »Motor«funktionierende Dichtungen und ihre »Reifen« keine defekten Ventile haben. »Krat-zer auf ihrer Motorhaube«, eine »defekte Klimaanlage« oder ein »kaputtesRadio« schmälern ihren Wert als Demokratie allerdings nicht.

Das von Wolfgang Merkel und Kollegen eingeführte Konzept der »defektenDemokratie« steht für eine illiberale und nicht-rechtsstaatliche Demokratie(Merkel/Croissant 2000: 5f). Hier würde folglich die Kritik des »kalten Feuers«gelten. Würde das Adjektiv »defekt« hingegen neutraler gefasst, hätte es wie-derum keine andere Bedeutung als »limited democracy« – es sind Defekte,welche die Demokratie limitieren – und wäre, ohne Konkretisierung, inhaltlichunverbindlich. Natürlich hinge es auch von der Definition von Demokratie ab,welche Bedeutung und Beschränkung das Adjektiv »defekt« hat. Eine maxima-

3 Ob und inwieweit »defekte Demokratien« Demokratien sind, dazu besteht unter derenTheoretikern keine einheitliche Meinung: Croissant und Thiery heben sogar kursiv her-vor: »Defekte Demokratien sind Demokratien« (Croissant/Thiery 2000: 95, Hervorh.dort). Puhle schreibt hingegen: »Es sollte jedoch kein Zweifel daran bleiben, daß diese›defekten Demokratien‹ bei genauem Hinsehen keine Demokratien sind, sondern For-men autoritärer oder autoritär durchsetzter Herrschaft« (Puhle 1999: 121).

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listisch als Volksherrschaft definierte Demokratie würde einen Anspruch aufeine solche Totalität erheben, dass kein Defekt hintergehbar und jedes realexistierende Regime nur ein einziger Defekt wäre. Aber auch eine minimalis-tisch als »contestation« definierte Demokratie könnte sich keinen Defekt leis-ten, weil dann selbst die minimalsten Kriterien für Demokratie nicht mehrerfüllt wären. Folglich könnten nur nicht maximal und nicht minimal definierteDemokratien Defekte aufweisen, um noch als solche gelten zu können. Indemes zu Recht zusätzlich zu Dahls (1989) Kriterien die Gewaltenkontrolle desRechtsstaats und die gesicherten Grundrechte einbezieht (Merkel 1999: 364),geht das Konzept der »defekten Demokratie« in seinem Anspruch über dieDahlschen Polyarchie-Kriterien hinaus und ist auch systematischer konzipiertals die anderen »Demokratien mit Adjektiven«. Doch wird hier am Ende nur das»universelle Wahlrecht« als definierendes und unhintergehbares Merkmal benannt.4

Die anderen Merkmale, auch »Teilregime« genannt (politische Teilhaberechte,bürgerliche Freiheitsrechte, horizontale Gewaltenkontrolle und effektive Regie-rungsgewalt), sind lediglich konnotativ und für die Typologisierung als Demokratieoder Nicht-Demokratie folglich hintergehbar.

Zwar gibt es durchaus Demokratien, die mit – für ihre Existenz zu verschmer-zenden und für die Definition folglich hintergehbaren – Defekten behaftet sind, also»defekte Demokratien«, die dieses Konzept korrekt widerspiegeln. Solche »defek-ten Demokratien« wären nach meinem Verständnis aber nur dann vorzufinden,wenn lediglich einzelne Subkriterien nicht erfüllt, alle Grundkriterien aber alsunhintergehbar gegeben wären. In jedem Fall ist es methodologisch verhängnisvoll,wenn das Konzept der »defekten Demokratie« in der Weise generalisiert wird, dassdarunter von vornherein jegliches Regime, das nicht mehr alle konstitutiven Krite-rien für Autoritarismus und noch nicht alle für Demokratie erfüllt, subsumiert unddamit der gesamte Regime-Bereich der Grauzone zwischen Autoritarismus undDemokratie gefüllt werden soll. Natürlich sind viele der im Ergebnis der dritten»Demokratisierungswelle« etablierten Regime keine Demokratien, aber sie sindauch keine Autoritarismen. Da sie angesichts ihrer Verstetigung auch nicht zu denschnell vergänglichen Übergangserscheinungen zu zählen sind, bedürfen sie einesKonzepts, das ihren typologisch selbstständigen Regime-Status reflektieren kann.

»Defekte Demokratien«, für die, anders als es ihre »Erfinder« annehmen, alleGrund-, wenngleich nicht alle Subkriterien für Demokratie zutreffen müssen,decken nicht die gesamte Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie ab,sondern nur den unmittelbar an die Demokratien anschließenden Teil. Regime-Hyb-ride entbehren im Unterschied zu den »defekten Demokratien« nicht nur Subkrite-

4 In anderen, z. T. von denselben Autoren verfassten Artikeln ist das Wahlregime schonnicht mehr das einzig unhintergehbare Kriterium – auch Pressefreiheit wäre es z. B. –,aber es gilt als »herausgehoben«, wobei nicht gesagt wird inwiefern (Croissant/Thiery2000: 97). In der neuesten Publikation zur »defekten Demokratie« wird zwar wieder nurdem Wahlregime der Status eines definierenden Merkmals zugewiesen, dieser wirdjedoch insofern etwas relativiert, als nach Ansicht der Autoren Wahlen zur Sicherungihrer demokratischen Funktion einer bestimmten Einbettung in die anderen politischenTeilregime bedürfen (Merkel et al. 2003: 66f).

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rien, sondern auch Grundkriterien für Demokratie. Sie schließen in ihrem Ausdeh-nungsbereich auf der einen Seite an die »defekten Demokratien« und auf deranderen Seite an den »competetive authoritarianism« (Levitsky/Way 2002) anund sind in sich weitaus heterogener als ihre beiden Anschlussbereiche.

2.2. Das Konzept der Regime-Hybridität

Nimmt man Autoren aus, die durch eine vergleichende Merkmalsanalyse die Grau-zone zwischen Autoritarismus und Demokratie zwar ausdifferenzieren wollen, dabeiaber die endgültige terminologische Bestimmung des realpolitisch gegebenenRegimes schuldig bleiben (Krennerich 1999: 13), sind unter den »Abweichlern« vonder These der »verminderten Subtypen« jene zu nennen, die zwischen Autoritaris-mus und Demokratie Mischtypen bzw. Hybride ausmachen. Verhallte der Verweisauf »autoritäre Enklaven« (Garretón 1991: 47) innerhalb der durch Transition eta-blierten Demokratien anfangs noch als ein »einsamer Ruf in der Wüste«, so eröff-nete er nun die Sicht darauf, dass demokratische und nichtdemokratische Elementeinnerhalb ein und desselben Regimes koexistieren können, wovon einige – bis heutejedoch nur sehr wenige – Autoren schließlich den Schritt zur Konstatierung vonRegime-Hybriden unternahmen (Karl 1995; Malloy 1988: 257; Rüb 2002; Erd-mann 2002; Diamond 2002: 21). Gleichwohl ist diese Idee bislang nicht odernur sehr unvollständig konzeptualisiert worden.

Ausdrücklich hat die Idee eines Regime-Hybrids als erste Karl (1995) und zwar fürZentralamerika (mit Ausnahme Costa Ricas) Mitte der Neunzigerjahre in den Mittel-punkt gestellt und »some middle ›hybrid‹ terrain« (Karl 1995: 73) benannt, das Ele-mente des Autoritarismus und der Demokratie kombiniere und der »democradura«ähnlich sei. Dabei verweist Karl auf das Problem, das auftritt, wenn das im Ergebnisder Transition entstehende Regime mit oligarchischer Herrschaft und mit einer regie-renden »neuen Rechten« zusammenfällt bzw. wenn – wie ich das ausdrücken würde– ein Regimewechsel nicht mit einem antioligarchischen Pfadwechsel einhergeht undfolglich über einen Hybrid nicht hinausgehen kann. Doch auch Karl hat die Idee nichtweiter konzeptualisiert.

Pionierarbeit in dieser Hinsicht hat Rüb (2002) geleistet, der ein Konzept hyb-rider Regime als eigenständigen und dauerhaften sowie, im Unterschied zu Erd-mann (2002: 323), als in seinem Allgemeinheitsgrad über bestimmte Regionenhinausgehenden Regimetyp entwickelt hat. Rüb bemüht sich, sowohl für autori-täre als auch für demokratische Regime definitorische Minima zu bestimmenund somit den dazwischen liegenden Regime-Hybrid konzeptionell »einzukrei-sen«. Die definitorischen Minima der Demokratie werden bei Rüb im Wesentli-chen durch jene Merkmale gestellt, die von Merkel/Croissant (2000) als nur konno-tative Merkmale definiert werden. Für die definitorischen Minima desAutoritarismus nennt Rüb (2002: 103-105) die Linzschen Merkmale (ein-geschränkter politischer Pluralismus, politische Legitimation durch Mentalitätenstatt durch Ideologie, Passivierung der Bevölkerung statt ihrer Mobilisierung und»formally ill-defined limits«). Unter diesen Merkmalen hebt er den »exzessivenExekutionalismus« hervor, der im Kriterium »formally ill-defined limits«, das heißt

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einer schwach ausgeprägten horizontalen Kontrolle der Exekutive durch Gewalten-teilung, »aufgehoben« sei. Ein Regime-Hybrid ist für Rüb (2002: 114) eine ganzbestimmte, dichotomische Merkmalskombination von je zwei definitorischen Merk-malen: für Demokratie (freie/faire Wahlen und Herrschaft durch Recht) und fürAutoritarismus (»formally ill-defined« Herrschaftsstruktur und nicht – durch Recht– begrenzter Herrschaftszugang).

Rübs Anerkennung von Regime-Hybriden als eigenständigem Regimetypermöglicht, die Transition zur Demokratie als widersprüchlichen, progressie-rend-retardierenden, länger dauernden, ja unvollendeten Prozess – und nicht alseinen einmaligen Akt – zu begreifen. Jedoch verflacht Rüb die von ihm entwi-ckelte Kategorie von Regime-Hybriden, indem er – seiner »binären Logik einerTypologie« (Rüb 2002: 114) geschuldet – die alte Dichotomie von Autoritaris-mus und Demokratie beibehält. Rüb weist zwar völlig zu Recht den Gedankenvon sich, dass Regime-Hybride nur schnell vergängliche Übergangserscheinun-gen sind, aber letztlich ist er in seiner Definition doch teleologisch: Für ihn istder Weg vom Autoritarismus zur Demokratie zwar durch den Hybrid in seinerMitte unterbrochen, aber es gibt für ihn gleichzeitig keine Verzweigungen,Nebenwege oder gar parallele Schneisen, die in sehr verschieden zusammenge-setzten Regime-Hybriden gerinnen können. Es sind nur Verzahnungen dieser altenund neuen Segmente, die das neue Regime kennzeichnen. Dabei verkennt er, dasszur Hybridität auch mit der genannten Binarität unbestimmbare Segmente gehörenkönnen, die zwar nichtdemokratischer, aber auch nichtautoritärer Natur sind undoftmals erst im Prozess der Transition neu entstehen.

Meine Position korrespondiert mit Einsichten der zwar zur gleichen Zeitgeführten, aber von der Regime-Forschung oftmals ignorierten kultur- bzw. geis-teswissenschaftlichen Hybriditätsdiskussion (García Canclini 1990; Brunner1988; Schneider 1997; Bronfen/Marius 1997), die Hybride weniger dichoto-misch auffasst. Von dieser Diskussion kann die Anregung übernommen werden,dass die Hybrid-Komponenten beim »Zusammentreffen« in der Transitionweder notwendigerweise unverändert bleiben noch verschwinden. Sie assimi-lieren sich auch nicht notwendigerweise und werden nicht völlig – in einer Syn-these – aufgehoben. Widersprüche zwischen ursprünglich konträren Segmentenwerden vielmehr »eingeschrieben« und »ausgehandelt«. Dabei entsteht nichtnur eine Mischung konstanter konträrer Segmente, sondern auch die Segmenteselbst ändern sich, und in der neuen Mischung kommen ihrerseits neue Misch-Segmente auf. Es ergeben sich Hybride im Hybrid. Das bedeutet für die Diskus-sion politischer Regime, dass mit der Kategorie »Hybrid« nicht das Verhältnisvon Form und Inhalt bzw. von formaler und substanzieller Demokratie gemeintsein kann, in dem die Demokratie nur die formale Hülle eines nicht-demokratischenInhalts wäre, sondern eine Ineinander-Schachtelung von demokratischen und nicht-demokratischen Inhalten. Selbst in autoritären Regimen können demokratische Seg-mente eingeschlossen sein (etwa Wahlen in Diktaturen), und auch in demokrati-schen Regimen können nichtdemokratische Segmente präsent sein (etwa diedefizitäre Gewaltenteilung im Präsidentialismus).

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Dieses Konzept hat auch seine praxeologische Bedeutung: Es ist z. B. ein Unter-schied, ob in Friedensverhandlungen nur die Ausräumung hintergehbarer Defektevon Demokratie ohne Transition oder, weil so genannte Defekte den Mechanismus»Demokratie« gänzlich außer Kraft setzen und also nicht hintergehbar sind, die Über-windung eines Regime-Hybrids und die Transition zu einer Demokratie auszuhan-deln sind. Der Verhandlungskompromiss besäße jeweils eine völlig unterschiedlicheTiefe. Werden nichtdemokratische Segmente zu eng definiert, weil sie mit autoritä-ren Segmenten gleichgesetzt werden, und deshalb andere nichtdemokratische Seg-mente nicht erkannt, dann wäre schnell der euphorische Schluss bei der Hand, nicht-demokratische Segmente seien gar nicht auffindbar. Würden nichtdemokratischeSegmente zu weit definiert, dann fielen alle schon erreichten demokratischen Errun-genschaften in nichtdemokratische »Löcher« hinein. Würde beispielsweise dieGewalttätigkeit eines Regimes als ein solches nichtdemokratisches »Loch« bzw. alsein solcher nichtdemokratischer Vetofaktor betrachtet, der sämtliche demokratischeVerfahren außer Kraft zu setzen vermag, dann würden sich zwar allein durch seinenAusschluss alle anderen demokratischen Merkmale quasi automatisch wiederherstel-len, umgekehrt hieße dies aber, dass bis dahin überhaupt kein demokratischer Hand-lungsspielraum gegeben wäre. Würde die Erfüllung der Polyarchie-Kriterien oder desWahlregimes konstatiert und als ein demokratischer »Cumulus« angesehen, der allesandere überstrahlt, dann wäre hingegen in manchen Fällen noch nicht einmal Friedenfür die Etablierung von Demokratien notwendig.

Meine These, dass Regimesegmente auch dann nichtdemokratisch sein können,wenn sie nichtautoritär sind, stützt sich auf die definitorische Einbeziehung derZivilgesellschaft in das politische Regime. Wenn Zivilgesellschaft politisch ist(Brysk 2000; Chandhoke 2001), dann ist sie auch notwendig Teil des politischenRegimes, und das politische Regime geht damit über den Staat hinaus. Denn eserfasst auch die (zivilgesellschaftlichen) Beziehungen zwischen den politischaktiven Bürgern untereinander, die bestehen, ohne dass diese eine Verbindungzum Staat eingehen, auch wenn der Staat immer eine Verbindung mit ihneneingeht. Wenn ich Zivilgesellschaft als Bestandteil des politischen Regimesfasse und gleichzeitig jeglicher Norm entkleide, weil ich sie bereichslogisch-analytisch und nicht normativ definiere,5 ergibt sich, dass Zivilgesellschaft gegenü-ber dem konkreten Typus des Regimes offen sein muss. Zivilgesellschaft kann alsodemokratisch, aber auch nichtdemokratisch sein.

Die meisten der Regimesegmente ragen entweder in die Zivilgesellschaft hineinoder verorten sich sogar in ihr. Einige Regimesegmente reflektieren zwar tatsächlich

5 Der Mainstream nutzt bei der Definition von Zivilgesellschaft entweder eine handlungs-logisch-normative Perspektive, indem er sie als einen kollektiven »good guy« bestimmt,oder eine bereichslogisch-normative Perspektive, indem er sie als Raum in der Gesell-schaft definiert, der per se frei von allem »Unreinen« (Nicht-Zivilisierten/Nicht-Demo-kratischen) ist. Ich dagegen gehe von einer bereichslogisch-analytischen Perspektiveaus, d. h. von einem normativ nicht gesetzten Verständnis von Zivilgesellschaft, dasdiese als einen aus den Interaktionen von Akteuren geronnenen normativ-neutralenstrukturellen Raum betrachtet, in dem das Handeln der Akteure aufgehoben ist und dersich analytisch, d. h. über eine logische Zergliederung, erschließt.

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»nur« den Demokratiegehalt des Staates; dieser kann sich aber seinerseits nur übersein Hineinwirken in die Zivilgesellschaft durchsetzen: Eine effektive Regierungsge-walt gibt es z. B. nur, wenn es in der Zivilgesellschaft keine Gewaltvetoakteure gibt.Politische Freiheiten (Rede- und Organisationsfreiheit) verwirklichen sich erst in derZivilgesellschaft. Selbst ein Wahlregime funktioniert nicht, wenn die Zivilgesell-schaft davon keinen Gebrauch macht. Rechtsstaatlichkeit ist allein schon dann nichtgegeben, wenn – ihrerseits der Zivilgesellschaft entstammende – nichtstaatlicheGewaltakteure ohne strafrechtliche Ahndung die nicht bewaffnete Zivilgesellschaftmassakrieren können. Einzig die horizontale Verantwortlichkeit wäre eine rein staat-liche Angelegenheit. Andere Regimesegmente sind sogar unmittelbar in der Zivilge-sellschaft verankert: In nichtautoritären Regimen geht das Gros der Gewaltakte vonnichtstaatlichen, in der Zivilgesellschaft beheimateten Akteuren aus. Zivilisiertheiteines politischen Regimes setzt deshalb Zivilisiertheit der Zivilgesellschaft voraus.Über das Wahlregime hinausgehende politische Inklusion impliziert die Autonomieder Zivilgesellschaft von Staat, Ökonomie und Familie.

Regime-Hybride bilden den zentralen Raum in der Grauzone zwischen Auto-ritarismus und Demokratie. Sie enthalten eine Vielzahl von Segmenten, dieentweder demokratisch oder autoritär oder aber keines von beidem sind. Ein solchvielschichtiger und eigenständiger Regime-Typ kann jedoch nur dann theoretischabgeleitet werden, wenn die – als politischer und normativ nicht konnotierter Raumverstandene – Zivilgesellschaft in den Regime-Begriff miteinbezogen wird.

Diese Überlegungen lassen sich in Form einer Checkliste zur Bestimmung derdemokratischen und nichtdemokratischen Segmente systematisieren.

2.3. Checkliste zur Bestimmung von Regimesegmenten

Regimerealität bzw. Regimesegmente sind nur dann klar messbar, wenn fixe undnicht volatile Kriterien vorliegen, mit denen sie verglichen und mit deren Hilfe dasRegime dann typologisch bestimmt werden kann. Es sind dafür Grundkriterien zunennen, die ihrerseits in Subkriterien aufzuschlüsseln sind, die wiederum um derVerifizierbarkeit willen als Alternativfragen formuliert sein müssen, welche eine ein-deutig positive oder negative Antwort erwarten lassen. Diese Aufschlüsselung derGrundkriterien in Subkriterien habe ich an anderer Stelle vorgenommen (Zinecker2002: 32-35), kann sie aber aus Platzgründen hier nicht anführen. Beim Grundkrite-rium »(Nicht-)Polyarchie« sind das beispielsweise die bekannten, von Robert Dahl(1989: 221) aufgeführten sieben Kriterien. Von den Alternativfragen nach den Sub-kriterien muss die Mehrheit affirmativ beantwortet werden können, und es darf keinSubkriterium eine Vetostellung besitzen, damit das jeweilige Grundkriterium fürDemokratie als erfüllt gelten kann. Die Regimebestimmung nach dieser Checklistegeht im Unterschied zum Polity-Dataset und auch zu Freedom House über das Krite-rium der Polyarchie hinaus und bewertet Regime folglich kritischer. Die Grundkrite-rien für (Nicht-)Demokratie lauten:

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A (Nicht-)Zivilherrschaft

Ausschluss militärherrschaftlicher Regime-Segmente und Herstellung eines zivil-herrschaftlichen Regimes (bei Nichterfüllung: militärherrschaftlich-autoritäresRegime): Ist die Militärherrschaft durch Zivilherrschaft abgelöst, d. h., steht dieArmee unter ziviler Kontrolle?

B (Nicht-)Polyarchie

Ausschluss zivilherrschaftlicher autoritärer Regime-Segmente durch die Grundle-gung der polyarchischen Regime-Segmente bzw. eines demokratisch-repräsentati-ven Regimes (bei Nichterfüllung: zivilherrschaftlich-autoritäres Regime): IstAutoritarismus durch Polyarchie abgelöst?

Bis einschließlich dieser beiden Segmente, so sie in der nichtdemokratischen Ver-sion existieren, reicht der »Arm« des Autoritarismus. Die nächsten drei Segmentespiegeln in ihrer nichtdemokratischen Version nicht notwendig Autoritarismus wider,sondern können auch für eine nichtautoritäre Form von Nichtdemokratie stehen.

C (Nicht-)Rechtsstaatlichkeit

Ausschluss illiberaler bzw. nichtrechtsstaatlicher Regime-Segmente durch dieGrundlegung von Rechtsstaatlichkeit (bei Nichterfüllung: illiberales Regime):Besteht Rechtsstaatlichkeit?

D (Nicht-)Zivilisiertheit

Ausschluss violenter nichtstaatlicher Regime-Segmente durch Herstellung desstaatlichen Gewaltmonopols (bei Nichterfüllung: violentes Regime): Übt derStaat das Gewaltmonopol über sein gesamtes Territorium und alle seine Bürgeraus, so dass nichtstaatliche Gewalt nicht prominent vorkommt?

E Politische Exklusion/Inklusion

Ausschluss politisch exklusiver Regime-Segmente und Ermöglichung der unbe-schränkten und gewaltfreien Partizipation aller – auch der alternativen – verfas-sungskonformen politischen Kräfte, d. h. Ermöglichung eines demokratisch-partizipativen Regimes und einer autonomen Zivilgesellschaft (bei Nichterfül-lung: exklusives Regime): Ist politische Inklusion gewährleistet?

Der Punkt E dieser Checkliste (politische Exklusion/Inklusion) bildet das Scharnierzur – in den Regimebegriff nicht eingehenden – ökonomischen Exklusion/Inklusionund damit zum Problem der Entwicklung bzw. der sozioökonomischen Transforma-tion. Demokratie ist in diesem Modell also zwangsläufig ein zivilherrschaftliches,nicht-autoritäres, d. h. polyarchisches bzw. demokratisch-repräsentatives, sowierechtsstaatliches, zivilisiertes (nicht-violentes) und einschließendes Regime. Adjektivewie »militärherrschaftlich«, »autoritär«, »violent« oder »ausschließend« erweiternnicht die Kategorie »Demokratie« als Form »verminderter Subtypen«: Sie stehen imGegensatz zu ihr. Um zur Vollendung einer Transition und zur Etablierung einerDemokratie zu gelangen, müssen alle genannten Grundkriterien A–E erfüllt sein. Istdas eine oder andere der Subkriterien nicht garantiert, so muss überprüft werden, ob

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dadurch schon das ihm übergeordnete, definitorisch relevante Grundkriterium inFrage gestellt ist oder ob damit tatsächlich nur ein für die Kategorie »Demokratie«noch zu verschmerzender »Defekt« gemeint ist. Erst wenn die definitorisch relevantenGrundkriterien A und B erfüllt sind, kann das autoritäre Regime als abgesetzt und –mindestens – als durch einen Regime-Hybrid ersetzt gelten. Damit wäre die Phase derLiberalisierung vollzogen. Und frühestens wenn auch den Grundkriterien C, D, und EGenüge getan ist, kann der Regime-Hybrid als durch ein demokratisches Regimeabgelöst betrachtet werden. Damit wäre die Phase der Demokratisierung vollzogenund die Transition vollendet. Die Totalität des Regime-Charakters ergibt sich nicht ausder bloßen Addition der fünf Segmente bzw. aus dem von ihnen gebildeten Durch-schnitt; denn A und B besitzen eine höhere Wertigkeit als C, D und E. Werden schonA und/oder B nicht erfüllt, ist die Analyse der anderen Segmente unnötig, weil defini-torisch irrelevant. Die Grundkriterien A bis E stehen dabei nicht notwendigerweise füreigenständige, d. h. nacheinander ablaufende Sequenzen, wohl aber für eigenständigeKriterien. Genauso wenig fallen sie in der Regel vollständig zu einer Sequenz zusam-men. Im Idealtypus der »Liberalisierung« überlappen sich A und B, und im Idealtypusder »Demokratisierung« überlappen sich C, D und E. Das Grundkriterium D besitztdabei einen Sonderstatus, da es nur für Regime relevant ist, die innerer – nichtstaatli-cher – Violenz ausgesetzt sind. Die Übergänge zwischen A, B, C, D und E sind inso-fern fließend, als vorangegangene Hauptkriterien jeweils den Spielraum für die fol-genden öffnen. Das Grundkriterium E bildet in seiner demokratischen Version – alspolitische Inklusion – jenen Spielraum, der die Barrieren für Partizipation beseitigtund zum anderen zur ökonomischen Inklusion führen kann. Die Relevanz dieserCheckliste zeigt sich in der Anwendung auf das gegenwärtige politische RegimeKolumbiens.

3. Regime-Hybridität in Kolumbien

Kolumbien kann nicht im Kontext der dritten »Demokratisierungswelle« genanntwerden. Doch auch dieses Land hat seine Transition gehabt: Wie auch Costa Ricaund Venezuela war Kolumbien Ort einer in der zweiten »Demokratisierungswelle«positionierten Transition, wobei im kolumbianischen Fall in deren Ergebnis die ver-gleichsweise »weiche« und kurzzeitige Militärdiktatur von 1953 bis 1957 unterGeneral Gustavo Rojas Pinilla abgelöst und mit der für Kolumbien zuvor typischenZivilherrschaft restauriert wurde. Doch diese Transition, die von 1956 bis 1958währte und als Transition zur Frente Nacional6 bekannt wurde, kann nur als halbvollendet gelten, denn sie hat lediglich die Ablösung der Militärherrschaft bewirkt,aber noch keine Etablierung eines demokratischen Regimes. Dass diese Transitionauf einem ausschließenden Elitenpakt beruhte und zwischen Liberalisierung und

6 Das Post-Transitions-Regime basierte auf dem zwischen Liberaler und KonservativerPartei ausgehandelten Pakt der Frente Nacional, der die Grundzüge des Regierungssy-stems von 1958 bis 1974, also für mindestens sechzehn Jahre, bestimmen sollte. Dieselassen sich so resümieren: (1) Das System der Frente Nacional löste die Militärherrschaft

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Demokratisierung steckenblieb, war ursächlich dafür, dass sich jener Konflikt»Guerrilla versus Staat« verfestigen konnte, dessen Verregelung bis heute nichtgelungen ist. Der im Ergebnis dieser Transition etablierte Regime-Hybrid gewährtbis heute nicht den nötigen Handlungsspielraum für Frieden.

1990/1991 hat es angesichts dieser Sackgasse mit einer Verfassunggebenden Ver-sammlung und der Erarbeitung einer neuen Verfassung einen zweiten Transitions-versuch gegeben, der aber, anders als sein Vorläufer, ein Versuch geblieben ist undnicht an das Niveau einer Transition – nicht einmal einer »halben« – heranreichte.Dieser zweite Versuch wurde gestartet, nachdem Mitte der Achtzigerjahre nach län-gerer Zeit erstmals wieder eine Mobilisierung der Unter- und Mittelschichten statt-gefunden und die Drogengewalt, auch »Narkoterrorismus« genannt, Raum gegriffenund dafür gesorgt hatte, dass eine Vielzahl neuer Gewaltakteure die Szene betratund sich spektakulärer Politikermorde schuldig machte. Der daraufhin in Angriffgenommene Transitionsversuch, der als Erarbeitung einer neuen Verfassung umge-setzt wurde, sollte zum einen die Mobilisierung »von unten« kanalisieren sowie eineDemobilisierung der Guerrilla ermöglichen und zum anderen der DrogengewaltEinhalt gebieten. Aber historisch war er in erster Linie vor die Aufgabe gestellt, denvon der Frente Nacional institutionalisierten »bipartidismo«7 auch in seinem infor-mellen Fortwirken zu beenden und den Regime-Hybrid zur Demokratie zu »verbes-sern«. Obwohl dieser Transitionsversuch mit der Zusammensetzung der Verfas-

7 »Bipartidismo« bedeutet mehr als nur Zwei-Parteien-System, auch mehr als nur domi-nantes Zwei-Parteien-System. Es steht für ein ausschließendes Zwei-Parteien-Systemder Liberalen und der Konservativen Partei.

ab und stand für Zivilherrschaft. (2) Die Präsidentschaftskandidaten mussten alternierendvon der Liberalen und der Konservativen Partei gestellt werden. Diese Regelung solltebis 1974 gelten. (3) Der für vier Jahre gewählte Präsident musste bei der Ernennung derMinister, der Gouverneure und anderer wichtiger Verwaltungsposten die Parität zwi-schen beiden Parteien respektieren: Jeder Partei standen sechs Ministerposten zu, eindreizehnter, »neutraler« Kabinettsposten, der des Kriegsministers, wurde in Absprachemit der Armee besetzt. Demokratietheoretisch werden die genannten Regelungen, imVolksmund »milimetrismo« genannt, in der Regel der »Konkordanzdemokratie«, »Pro-porzdemokratie« oder auch »Verhandlungsdemokratie« (im Unterschied zur Konkur-renz- oder Mehrheitsdemokratie) zugeordnet. In Kolumbien handelte es sich also um einbesonders rigides Konkordanzregime, weil es auf die Initiative der Konservativen Partei,die angesichts ihrer Minorität ein besonderes Misstrauen hegte, sogar in der Verfassungverankert wurde, aber vor allem, weil die Minderheitspartei durch die Paritäts- und Alter-nations-Prinzipien mit überproportionalen Einflusschancen begünstigt wurde. Zudemwar dies ein Konkordanzregime, das mit einem präsidentialistischen Regierungssystemeinherging – eine Möglichkeit, die von den Theoretikern der Konkordanzdemokratiezwar nicht ausgeschlossen, aber für weniger günstig gehalten wird. Die einer Konkor-danzdemokratie vorausgesetzte allgemeine Problemlösungs- oder Gemeinwohlorientie-rung im Sinne der Bereitschaft zur gemeinsamen Suche nach der insgesamt bestenLösung unter (zumindest vorläufiger) Hintanstellung von Verteilungsfragen war nichtgegeben. Folglich ergab sich die für einen solchen Fall zu erwartende geringe Handlungs-und Innovationsfähigkeit des Regimes, die dessen demokratischen Impetus wesentlichbeschränkte. Dies führte zur Selbstblockade des Regimes, das deshalb unfähig sein mus-ste, politischen Wettbewerb zuzulassen sowie nichtstaatliche Gewalt zu beherrschen. DasKonkordanzregime wurde auch deshalb besonders rigide gehandhabt, weil in ihm mit derElite allein eben nicht alle relevanten Segmente und schon gar nicht alle (früheren)Gewaltsegmente repräsentiert waren, wie dies für eine Konkordanzdemokratie vorausge-setzt wird: Die Guerrilla blieb draußen. Aus all diesen Gründen handelte es sich inKolumbien zwar um ein Konkordanzregime, aber nicht um eine Konkordanzdemokratie.

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sunggebenden Versammlung solche Hoffnungen weckte8 und Demokratisierungdurchaus beförderte, sollte er an diesen Ansprüchen scheitern, denn der seit derFrente Nacional bestehende Regime-Hybrid konnte damit nicht abgelöst werden.Gleichwohl bewirkte der Verfassungswandel einen Demokratisierungsschub.Jedoch reichte der dadurch geschaffene Handlungsspielraum nur aus, die schwachenGuerrillas zu demobilisieren. Um den gesamten Konfliktverregelungsprozess, alsoauch mit den starken Guerrillas, erfolgreich beschließen zu können, war die Dimen-sion dieses Demokratisierungsschubs nicht ausreichend.

Kolumbiens gegenwärtiges politisches Regime wird in der offiziellen Wertung,etwa von kolumbianischer Regierungsseite, als rundum demokratisch bezeichnet,während die Linke schon einmal zu einer Einschätzung wie »autoritarismo con ras-gos fascistas«9 gelangt. Aber auch in der wissenschaftlichen Analyse reicht dasSpektrum von »second in the Western Hemisphere only to the United States […] inmaintaining uninterruptedly a democratic, liberal, bourgeois political system« (Sanin1989: XVI) bis zur »dictadura constitucional« (Pizarro 1993: 143). In der einschlägi-gen Literatur dominiert jedoch die – m. E. der Wahrheit am nächsten kommende –mittlere Wertung als »Semidemokratie«. Das Problem des Terminus »Semidemo-kratie« besteht aber darin, dass er wenig Raum für Präzision lässt: Es wird nichtgesagt, was »halbe Demokratie« bedeutet und wodurch die andere, nichtdemokrati-sche »Hälfte« charakterisiert ist. Mit dem Konzept des Regime-Hybrids und den dar-gestellten Grundkriterien lässt sich dies dagegen präzisieren.

3.1. A – (Nicht-)Zivilherrschaft

Die Armee untersteht in Kolumbien zwar grundsätzlich den zivilen Regierungsge-walten, ohne jedoch sämtliche Vorrechte verloren zu haben. Sie ließ es gegenüber

8 Die Wähler konnten sich frei für 70 von insgesamt 778 Kandidaten für die Konstituanteentscheiden. Sie trafen eine nichttraditionelle Wahl und öffneten damit ein einzigartiges»window of opportunity«: Es war mit der Alianza Democrática M-19 (AD M-19) eine ehemalige Guerrilla, die mit Abstand die höchste Stimmenzahl (27%) und 19 Sitzeerhielt. Ihr folgte das Movimiento de Salvación Nacional (MSN) mit 15% und elf Sitzen.In der Verfassunggebenden Versammlung waren auch politische (UP), ethnische undreligiöse Minderheiten und die anderen schwachen, inzwischen demobilisierten Guerril-las wie der Ejército Popular de Liberación/Esperanza Paz y Libertad (EPL) mit Stimm-recht sowie der Partido Revolucionario de los Trabajadores (PRT) und der MovimientoArmado Quintín Lame (MAQL) ohne Stimmrecht vertreten. Insgesamt handelte es sichum zehn verschiedene »Sektoren«, von denen keiner über eine absolute Mehrheit ver-fügte, so dass die unterschiedlichsten, wechselnden transitorischen Koalitionen einge-gangen werden mussten und die Suche nach Konsens dominierte, die aber schwierigwar. In den konkreten Auseinandersetzungen innerhalb der Konstituante kristallisiertensich zwei Blöcke heraus – der von AD M-19, MSN, den ethnischen und religiösen Mino-ritäten und Ex-Guerrillas einerseits sowie der der Liberalen und (Sozial-)KonservativenPartei andererseits, wobei der erste der stärkere war und seine Gemeinsamkeit vornehm-lich aus dem Kampf gegen den Klientelismus der traditionellen Parteien beziehen wollte.Diese Kräfteverhältnisse in der Konstituante kehrten die traditionelle Konstellation inder Legislative, in der die beiden traditionellen Parteien immer die übergroße Mehrheitbesessen hatten, völlig um.

9 »Autoritarismus mit faschistischen Zügen«; so in der Kommunistischen WochenzeitungVoz, 14.–20. August 2002: 8.

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der zivilen Exekutive immer wieder, insbesondere in Friedensprozessen, auf Kraft-proben bzw. Boykottversuche staatlicher Politik ankommen und nimmt bis heutevor allem in einzelnen Landesregionen Funktionen der schlecht ausgebildeten undnicht überall präsenten Polizei10 wahr, so dass sie für die Bevölkerung vielfach über-haupt der einzige staatliche Ansprechpartner ist. Im Zuge der Militärreformen von1991 sind die Vorrechte der Armee bis zu dem Punkt eingeschränkt worden, dassein Zivilist zum Verteidigungsminister benannt und die Bestimmungen des Ausnah-mezustandes restriktiver gefasst wurden. Laut Verfassung übernimmt die Armeejedoch auch in »normalen Zeiten« Funktionen der zivilen Judikative, ganz zuschweigen von ihren Sonderrechten während eines Ausnahmezustands. Militärge-richtsbarkeit ist nicht nur auf typische Militärdelikte beschränkt, sondern beziehtsich auf alle Straftaten von Angehörigen der Streitkräfte, die im Dienst begangenwerden. Dadurch kann eine Verurteilung von Soldaten und Polizisten durch diezivile Gerichtsbarkeit auch dann verhindert werden, wenn diese die Menschenrechteverletzt haben.

Zu Beginn der Achtzigerjahre vollzog sich aufseiten des Staates ein Wandel von»legalen« Repressionsmechanismen zur staatlichen Kriminalität. Es gibt ausrei-chend dokumentierte Evidenz, dass auch nach dieser Zäsur Armee- und Polizeian-gehörige in hunderten Fällen erheblicher Menschenrechtsverletzungen (politischeMorde, Verschwindenlassen, Massaker, Folter) schuldig geworden sind, ohne in derübergroßen Mehrheit dafür bestraft worden zu sein.11 In den meisten dieser Fällewaren die Urheber der Menschenrechtsverletzungen Armeeangehörige, die mit denparamilitares (paramilitärische Organisationen) kooperierten oder ihnen ange-hörten. 1999 ist in einer 21-seitigen Liste nachgewiesen worden, dass die Verbin-dungen der Armee zu den paramilitares nicht gekappt sind.12 Auch die autodefensas(Selbstverteidigungstruppen), Cooperativas Comunitarias de Vigilancia Rural(CONVIVIR), die »limpieza social« (soziale Säuberung) und die vom gegenwärti-gen Präsident Alvaro Uribe eingesetzten bäuerlichen Bürgerwehren und Informan-tennetzwerke (red de cooperantes; im Volksmund: »sapos«, Kröten) genossen bzw.genießen nachweislich die Unterstützung von Armee und Polizei. Während desimmer wieder erhobenen Ausnahmezustands gibt es keine Gewaltenteilung zwi-schen Exekutive und Legislative, die Regierung besitzt die Allmacht. Der Kongresshat keine Befugnis, den Ausnahmezustand aufzuheben. Da dies von der Verfassungso vorgesehen ist, eröffnet die legale Norm einen Handlungsspielraum, der die Ver-letzung der Menschenrechte und auch die Militarisierung der Gesellschaft sanktio-niert. Er verschafft den Sicherheitskräften, in Sonderheit der Armee, ein außeror-

10 In 95% der corregimientos und in 10% der Munizipien gibt es keine Polizeipräsenz(Rangel Suárez 1999: 39).

11 Vgl. das aufsehenerregende, 580-seitige und 350 Fälle dokumentierende, von mehrereninternationalen Menschenrechts-NGOs herausgegebene Buch der Organización MundialContra la Tortura (1992).

12 Hans R. Blumenthal schreibt: »Von fast allen gesellschaftlichen Gruppen werden jegli-che Verbindungen zu Paramilitärs geleugnet, man gibt sich indigniert und spricht vonkriminellen Organisationen. Privat wird jedoch ohne Scheu über die Notwendigkeit ihrerUnterstützung gesprochen« (Blumenthal 2001: 151).

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dentlich starkes Gewicht. Doch diese Militarisierungstendenzen zeugen nicht voneiner militärherrschaftlich-putschistischen Autonomisierungsambition der Armeegegenüber den zivilen »Gewalten«. Sie werden vielmehr im Wesentlichen im Ein-klang mit der Zivilherrschaft vollzogen, die sich aber ihrerseits militarisiert undautoritarisiert. Anders gesagt: Obgleich oder weil sie (insbesondere unter PräsidentUribe) wichtige Kompetenzen von Polizei und Justiz an sich gezogen hat, benötigtdie Armee, um ihre Ambitionen zu verwirklichen, noch immer keineMilitärherrschaft.

Es gibt also eine Vielzahl von der Armee zu verantwortende nicht-demokratische– darunter auch einige autoritäre – Regimesubsegmente, die allerdings noch immerweit davon entfernt sind, Militärherrschaft zu konstituieren, gerade weil sie sichbesonders gut in die Zivilherrschaft einbinden. Das schließt nicht aus, dass das auchunter dem gegenwärtigen Präsidenten Alvaro Uribe weiterbestehende Regime-Grundkriterium »Zivilherrschaft« verstärkt Züge von Militärherrschaft angenom-men hat.

3.2. B – (Nicht-)Polyarchie

Für Kolumbien ist eine sogar im Vergleich zu Europa ausgesprochen frühe Einfüh-rung geheimer Wahlen (1853) zu konstatieren, wenngleich deren Legitimität im 19.Jahrhundert de facto immer wieder dadurch beschädigt wurde, dass die beiden rele-vanten Parteien die Ergebnisse der Wahlen in Bürgerkriegen »korrigierten«. 1936erhielten alle Männer das Wahlrecht, da von nun ab Eigentum und Lese- bzw.Schreibfähigkeit nicht mehr Voraussetzung einer Wahlteilnahme waren. Ab 1954durften auch Frauen wählen, und die Wahlen wurden insofern universell.

Zwischen 1953 und 1958 unter der Diktatur von General Rojas Pinilla gab eskeine gewählten Regierungsgewalten. Danach sind mit 1958, 1968, 1974 und 1986vier Zäsuren zu konstatieren, die auf der prozeduralen Ebene auf dem Wege zu einerPolyarchie relevant waren: 1958 fanden erstmals überhaupt wieder Wahlen statt.Doch das von Alternieren und Parität gekennzeichnete Konkordanz-System derFrente Nacional sah freien elektoralen Wettbewerb nicht vor. Das Zwei-Parteien-System war im Kontext der Frente Nacional zu einem faktischen Ein-Parteien-Sys-tem »zusammengepresst«, das andere Parteien nicht hinein ließ. Mit der Verfas-sungsreform von 1968 und dem Artikel 120 wurde die Paritäts-Regel für Kabinettund Administrationen auch für die Zeit nach 1974, bis 1978, und zwar bis hin zurlokalen Ebene, als »permanente Koalition« (Latorre Rueda 1986: 126) fixiert. Siewar nun nicht mehr nur transitorisches, sondern sogar konstitutionelles Prinzip, sodass politischer Wettbewerb überdies konstitutionell blockiert wurde. Damit war dieVerlängerung des Konkordanz-Systems von einer Frente Nacional im engen Sinnezu einer Frente Nacional im weiten Sinne verankert, weil entgegen derursprünglichen Festlegung noch einige ihrer Regeln virulent blieben, so beispiels-weise die, dass die Verliererpartei gleichberechtigt an der Regierung, u. a. ihrenÄmtern, beteiligt wurde. Noch nach 1974 war der Präsident verpflichtet, der zweit-stärksten Partei Posten in seinem Kabinett anzubieten. Diese Frente Nacional imweiten Sinne sollte von 1974 bis 1986 andauern. 1986 begann dann Präsident Virgi-

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lio Barco das Schema »Regierung – Opposition« zu praktizieren, indem er derunterlegenen – in diesem Fall Konservativen – Partei eine klare Oppositionsrollegewährte, womit nun auch die Frente Nacional im weiten Sinne außer Kraft gesetztwurde. Damit war wenigstens zwischen den beiden traditionellen Parteien Wettbe-werb hergestellt.

Während der Frente Nacional, ob im engen oder im weiten Sinne, konnte, wie zusehen war, in keiner Weise von einem demokratisch-repräsentativen Regime ausge-gangen werden, denn das Regime entsprach den entscheidenden Polyarchie-Krite-rien nicht. Wahlen degenerierten zum Referendum schon gefasster Beschlüsse.Doch auch noch danach wirkte der ausschließende »bipartidismo« der Liberalen undKonservativen Partei fort, nunmehr als informale und hegemoniale Institution.13 Mitder Annahme der neuen Verfassung von 1991 wurde zwar konstitutionell das Zwei-Parteien-System aufgelöst, aber auch dies, ohne dass die repräsentative Demokratievoll funktionierte (Murillo 1997: 2). Das lag an der fehlenden politischen Repräsen-tationskraft der Parteien, der Kompensation durch Klientelismus und der Unfähig-keit der Repräsentierten, ihre Repräsentanten zu kontrollieren. Gleichzeitig nahmendie Fähigkeit der traditionellen Parteien zur Mobilisierung des Wahlvolkes und dieWahlbeteiligung drastisch ab.

Als Paradoxon ist festzustellen, dass sich in Kolumbien einerseits legale Politikauf Wahlen konzentriert – die großen Parteien sind Wahlparteien – andererseits aberWahlen bis heute nur unzureichend die Wahl zwischen tatsächlichen politischenAlternativen ermöglichen. Das Wahlregime ist also nicht vollständig demokratischbzw. kompetitiv:14 Die Beziehungen der traditionellen Parteien zum Wahlvolkbeschränken sich auf die Wahlen der Legislative oder der Exekutive. Die Langzeit-wirkungen des früher gesetzlich verankerten »bipartidismo« und die Gewalt gegen-über der legalen Opposition – so verlor allein die linksdemokratische UniónPatriótica (UP) 3500 ihrer Mitglieder durch politische Gewalt – dezimieren dieRepräsentationskraft des politischen Regimes. Einerseits hat sich durch die Vorherr-schaft der beiden traditionellen Parteien und durch die Lebensgefahr, der die Reprä-sentanten alternativer Politik unterliegen, keine »dritte Kraft« Zugang zu den Regie-rungsgewalten schaffen können. Die Guerrilla – einst als illegale Alternative zumbipartidismo entstanden – ist nicht legal, und die von den beiden traditionellen Par-teien Unabhängigen agieren ohne politisch-programmatische Identität. Inwieweitdie 2000 gebildete Frente Social y Político bzw. der Polo Democrático Indepen-diente auf längere Zeit die Rolle einer gewichtigen alternativen Kraft zu spielen ver-mögen, bleibt abzuwarten. Andererseits hat die Fähigkeit der traditionellen Parteienzur Mobilisierung des Wahlvolkes extrem abgenommen, so dass die Wahlenthal-tung hoch ist. In einigen Kommunen konnten zwischen 1997 und 2000 überhauptkeine Wahlen stattfinden. Erst ab 1988 bzw. 1991 durften Bürgermeister und Gou-

13 Stimmten während der Frente Nacional bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer rund93% für die beiden Parteien, waren es auch danach – bis 1990 – noch 90,9%. (Hoskin1998: 56).

14 Eine kritische und äußerst fundierte Analyse des kolumbianischen Wahl- und Parteien-systems, auf die ich hier zuvörderst zurückgreife, findet sich in Helfrich-Bernal (2002).

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verneure vom Volk gewählt werden. Somit trifft das Polyarchie-Subkriterium der»elected officials« erst ab diesem Zeitpunkt auf alle – zentralen wie nunmehr auchdezentralen – politischen Ebenen zu. Wahlbetrug findet in Kolumbien immer wiederstatt. Und der Gleichheitsgrundsatz ist allein schon durch die fortwährende Ein-schüchterung durch drohende Gewalt beeinträchtigt. Drogengelder, Medien undKlientelismus manipulieren die Wahlen. Das Verhältniswahlsystem ohne Sperrklau-sel ermöglicht zwar eine enorme Parteienproliferation und -atomisierung, jedocherschwert es gleichzeitig, dass sich aus dem letztlich noch immer bipartidistischgepolten Parteienamalgam eine gegenüber den beiden traditionellen Parteien starkealternative Partei herauskristallisieren kann. Im Unterschied etwa zu den USA wärediese in Kolumbien jedoch notwendig, um mit den Unterschichten auch dem Grosder Bevölkerung ein politisches Sprachrohr zu verschaffen, das anderenfalls eineGuerrilla für sich beansprucht.

Das heißt, dass die demokratische Repräsentation beeinträchtigt ist und wesentli-che Polyarchie-Subkriterien angreifbar sind. Dieses Segment ist in sich hybrid. DieInfragestellung dieser demokratischen Subkriterien bedeutet zwar, dass auch autori-täre (Sub-)Merkmale bestehen, aber noch kein Autoritarismus als Regime-Typ, daweder die Mehrzahl der Subkriterien autoritär ist, noch ein einziges so relevant, dasses gegenüber den anderen eine Vetomacht besäße.

3.3. C – (Nicht-)Rechtsstaatlichkeit

Die Unabhängigkeit der Justiz war zur Zeit der Frente Nacional nicht und danach,auch noch nach der Annahme der Verfassung von 1991, nur unvollständig gegeben:Während der Frente Nacional war die Judikative – wie die Legislative – je zurHälfte zwischen Liberalen und Konservativen aufgeteilt. Die Richterschaft durfte zuihren Lebzeiten nicht abgesetzt werden. Aufgrund der fehlenden Kontrolle konntesie sich selbst ergänzen, und tat dies über einen »juristischen Klientelismus«, beidem Partei-, Familien- und Freundschaftsbande in den Mittelpunkt des Selektions-prozesses gestellt wurden. Die Justiz war bis Ende der Achtziger-/Anfang der Neun-zigerjahre nicht nur finanziell von der Exekutive abhängig – sie besaß keineFinanzautonomie –, auch ihre Struktur und territoriale Verteilung wurden durch dieExekutive bestimmt. Dies änderte sich mit der neuen Verfassung, mit der diese Auf-gaben dem Consejo Superior de la Judicatura, einem formal unabhängigen Gre-mium, übertragen wurden. Doch auch dessen Unabhängigkeit blieb beschränkt: DerConsejo legt die Kandidatenlisten für die Wahl der Richter vor. Die Verfassungs-richter werden aber vom Senat aus Listen gewählt, die der Präsident, der ObersteGerichtshof und der Staatsrat zusammenstellen. Das mit der Verfassung von 1991eingeführte Verfassungsgericht hat seine Aufgabe, Legislative und Exekutive zukontrollieren, sehr ernst genommen, so dass die beiden anderen Gewalten dies sogarals Bedrohung wahrnehmen und dem Verfassungsgericht Kompetenzüberschreitungund »activismo judicial« (Gaviria Díaz 2000) vorwerfen. Mit der Einführung desInnenministeriums, des Rechnungshofes, der Generalanwaltschaft, dem General-staatsanwalt und des Ombudsmannes wurden zusätzliche Organe zur Sicherung derGrundrechte, darunter der individuellen Abwehrrechte, geschaffen. Zum Schutz der

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Grundrechte wurde auch die »acción de tutela«15 eingeführt, mit der die Bürger dieMöglichkeit besitzen, auf normalem Rechtsweg ihre Rechte einzuklagen, was dieMacht der Judikative stärkt. Kurzum: Die Verfassung von 1991 hat Beträchtlichesfür die Unabhängigkeit der Justiz geleistet.

Doch gerade angesichts der von der neuen Verfassung gesetzten demokratischenNormen klaffen heute Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit ganz beson-ders auseinander. Zum einen beschneidet der Staat eigenhändig die Rechtsstaatlich-keit, wenn er Ausnahmezustand sowie Sicherheitsdekrete verhängt und die Militär-gerichtsbarkeit ausweitet. Zum anderen konkurrieren und kollidieren informelleRechts- und Normensysteme – nichtstaatliche Gewaltakteure etablieren in den vonihnen kontrollierten Territorien eigene Rechtssysteme, die sie auch formalisieren –mit den staatlichen. Sie verweben sich aber auch mit ihnen, so dass in der Bevölke-rung besonders auf dem Land Unsicherheit entsteht, wer in ihren Rechtsfragen undin ihrer Region überhaupt Ansprechpartner ist.

Laut Schätzungen des Justizministeriums benötigten die Gerichte rund 9,2 Jahre,um ihre Aktenberge abzuarbeiten. Dennoch stellte der Justizhaushalt 2000, obwohlgestiegen, nur 1,43% des Staatshaushaltes, wohingegen dem Verteidigungsbudgetrund 4% zugewiesen wurden.16 Der Zugang zur Justiz ist der Verfassung nach zwarfür alle gleich, doch vor allem die Kosten der Rechtsinanspruchnahme, die man-gelnde Effizienz und die Korruptheit der Justiz, die das Vertrauen der Bevölkerungin sie beträchtlich schmälern, stehen dem entgegen. Die Straflosigkeit beträgt über90%.17 Dies liegt vornehmlich an mangelnden Ressourcen und entsprechenderÜberforderung bei einem Übermaß an Kriminalität bzw. an mangelnder Ausbildungund Effizienz der Justizorgane. Oftmals ist Straflosigkeit aber auch ein Zeichen fürImmunität, etwa wenn verhindert wird, dass Staatsdiener oder Drogenhändler fürbegangene Menschenrechtsverletzungen oder andere Delikte juristisch zur Verant-wortung gezogen werden. Dabei bemisst Straflosigkeit lediglich das Verhältnis vonAnzeigen zu Verurteilungen, nicht das Verhältnis von tatsächlichen Delikten zuVerurteilungen. Es bleibt im Dunkeln, wie viele Delikte aus Furcht oder mangeln-dem Vertrauen gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden. Ein solch hohes Maß anStraflosigkeit allein schließt bereits Rechtsstaatlichkeit aus. 90% der Strafprozessewerden blockiert, weil es keinen Verteidiger gibt. Das gilt auch für Tötungsdelikte(Montoya Moncada 1997). Angesichts der Ermordung von Juristen, darunter meh-rere Justizminister, ist es nicht selten die pure Angst, die eine korrekte Behandlungvon Strafsachen verhindert. Juristen sind von Gewalt proportional stärker bedrohtals andere Bevölkerungsgruppen, weswegen gerade sie sich auch überproportionalbewaffnen (Rubio 1999: 213f). Die Richter folgen dem Prinzip der »jueces sin

15 Damit sind Verfassungsbeschwerden bzw. Grundrechtsklagen zum Schutz der Grund-rechte gemeint, d. h. Mechanismen eines schnellen juristischen Schutzes zur Sicherungindividueller und kollektiver Rechte gegenüber den öffentlichen Institutionen, die grei-fen sollen, wenn diese Rechte durch den Staat verletzt werden.

16 Soweit nicht anders vermerkt, wurden diese Angaben übernommen von Helfrich-Bernal(2001).

17 Vgl. Caja de Heramientas 48, Juli 1997: 1.

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rostro« (Richter ohne Gesicht), nach dem die Richter aus Angst bei der Ausübungihres Berufs ihr Gesicht verhüllen.

Bei der Rechtsstaatlichkeit, die von den Transitionsforschern zunehmend alsDemokratie-Kriterium definiert wird, gibt es die in dieser Aufzählung bislanggrößte Differenz zwischen Norm und Wirklichkeit. Privatjustiz sucht hier, staatlichverursachte Rechtlosigkeit zu substituieren. Kolumbien ist kein Rechtsstaat und seinRegime in dieser Hinsicht illiberal.

3.4. D – (Nicht-)Zivilisiertheit

Dass das politische Regime in Kolumbien ein violentes und kein zivilisiertes ist,wird von niemandem bestritten. Kolumbien befindet sich mit 78 (1994) bzw. 75(1996) Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner an erster respektive zweiter Stellelateinamerikanischer und auch weltweiter Gewaltstatistiken (Montenegro/Posada2001: 1).18 Zum Vergleich: In den USA kamen 1996 auf dieselbe Einwohnerzahlzehn Tötungsdelikte. Allein in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts sind inKolumbien mehr als 250.000 Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben. Die»plomonía«, der Tod durch die Pistolenkugel, ist in Kolumbien die häufigste Todes-ursache bei jungen Männern zwischen 15 und 45 Jahren. Alle 15 Minuten kommt inKolumbien ein Mensch gewaltsam zu Tode. Mehr als zwei Millionen Vertriebenesind zur Zeit auf der Flucht vor der Gewalt. 13% aller Tötungsdelikte sind politischmotiviert – das sind neun Tötungsdelikte pro Tag;19 die anderen 87% gehen auf dasKonto der gewaltförmigen Delinquenz (Comisión 1996: 3). Die Gewalt kostet denStaat inzwischen 11,4% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die privaten Haushaltegeben für Sicherheitsvorkehrungen weitere 2% des BIP aus. Aufgrund der Gewaltsanken die Privatinvestitionen um 65%, was 1999 4,1% des BIP ausmachte.20 DerStaat ist violenter Konfliktpol im innerstaatlichen Krieg und überschreitet in derGewaltausübung – genauso wie die paramilitares durch ihre Massaker und dieGuerrilla durch ihre Entführungen – immer wieder die vom humanitärenVölkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung gesetzten Grenzen. Aufgrund seinesVersagens als Gewaltmonopolist zeichnet er durch »Unterlassen« auch für nichtpo-litisch motivierte Tötungsdelikte nichtstaatlicher Akteure mitverantwortlich. DieZivilgesellschaft ist von einem Geflecht vielfältiger nichtstaatlicher Gewaltakteure(Guerrillas, paramilitares, städtische Milizen, rurale autodefensas, sicarios, Prota-gonisten der sozialen Säuberung, Banden etc.) geprägt. Ihr nichtkämpfender undunter der Gewalt nur leidender Teil hat sich nicht in der Weise autonomisiert, dass

18 Spätestens 1996 hat der Spitzenplatz nicht nur der lateinamerikanischen, sondern derweltweiten »Champions’ League der Gewalt« gewechselt: Mit 156 Tötungsdelikten pro100.000 Einwohner hat das kleine El Salvador Kolumbien um Längen geschlagen, woauf dieselbe Einwohnerzahl »nur« 75 derartige Todesfälle kamen (vgl. El Tiempo,10.8.1997).

19 Davon sind drei dem Konflikt »Guerrilla vs. Armee« (einschließlich der darunter leiden-den Zivilbevölkerung) geschuldet, vier bis fünf beziehen sich auf ermordete Aktivistender Gewerkschafts-, Bauern- und Menschenrechtsbewegung und ein Toter ist Opfer der»limpieza social«.

20 Vgl. zu diesen Angaben Dinero, 7.4.2000: 21.

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er die gesamte Zivilgesellschaft zu einem friedensstiftenden kollektiven Akteurhätte profilieren können.

Von der kolumbianischen Zivilherrschaft insgesamt kann weder gesagt werden,dass sie den Staat – wie im demokratischen Idealfall – kollektiv in einem Fließ-gleichgewicht abstützt, noch dass sie eine demokratische und zivilisierte Alternativezu ihm ist. Das Mandato Ciudádano por la Vida y la Paz, das mit einer »Pädagogikdes Friedens« die Zivilgesellschaft zu einem friedliebenden »ethisch-politischenSubjekt« erziehen wollte,21 ist gescheitert. Eigene Vorschläge, wie der Konfliktver-regelungsprozess konkret befördert werden könnte, sind von ihm nicht ergangen.Angesichts des Bestrebens, aktive Neutralität gegenüber den Konfliktseiten undderen Positionen zu wahren und über eine »Pädagogik des Friedens« an deren Moralzu appellieren, konnte das Mandato dies auch nicht leisten. Seine »Neutralität« hates verhindert, das Trennende beider Konfliktparteien klar herauszustellen, um essomit überwinden zu können. Die Asamblea Permanente de la Sociedad Civil ist einwichtiger, aber kein entscheidender politischer Faktor. Das schließt nicht aus, dasses einen nichtkämpfenden Teil der Zivilgesellschaft und darunter auch einen gewalt-abstinenten Teil gibt, der in den Gewaltkonflikten nur Opfer und nie Täter ist, alsonur unter ihnen leidet und deshalb das größte Interesse an deren Ende hat.

Die Violenz des kolumbianischen Regimes hat nur zu geringerem Teil autoritäre,vom Staat zu verantwortende Züge und ist deshalb als besonders gewichtiges undselbstständiges, weil nichtdemokratisches, aber auch nichtautoritäres, Regimeseg-ment zu nennen.

3.5. E – Politische Exklusion/Inklusion

Der ausschließende Charakter des kolumbianischen politischen Regimes liegt darinbegründet, dass ihm mit dem Pakt zur Frente Nacional ein ausschließender, nurinnerhalb der Elite geschlossener Pakt vorausgegangen war und dass damit oligar-chische Herrschaft nicht abgesetzt, sondern restauriert wurde. Die Frente Nacionalhatte ihr Ziel erreicht, über eine Beschränkung des Wettbewerbs auf ein Ringen umPosten und Einfluss zwischen beiden traditionellen Parteien die Gesellschaft zudepolitisieren (Hoskin 1998: 54). Die traditionellen Parteien waren weder imstande,die Bevölkerung zu mobilisieren noch zwischen Gesellschaft und Staat zu mediati-sieren. Beides führte zu einem Absinken und zu einer Deinstitutionalisierung derpolitischen Partizipation (Santamaría/Silva Luján 1984: 38), auch wenn sich derVerfassungstext von 1991 sogar am Leitbild einer partizipativen Demokratie orien-tiert. Spätestens seitdem sind die Exklusions-Merkmale nicht mehr in autoritärenWahlmechanismen oder in undemokratischen Verfassungsartikeln verankert, son-dern in tradierten politischen – informellen – Präfigurationen: in der Unfähigkeit desParteiensystems, sich selbst demokratisch zu organisieren und erfolgreich zwischenStaat und Zivilgesellschaft zu mediatisieren, und in den exkludierenden informellenPolitikmustern wie Klientelismus und Korruption.

21 Das Credo vom Mandato por la Vida y la Paz lässt sich exemplarisch und theoretisch»unterfüttert« nachlesen bei Sandoval Moreno (1998: 71-79).

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Exklusion speist sich aber auch daraus, dass die Deoligarchisierung in Kolumbiennoch nicht vollendet ist. Hier vollzieht sich ein bis heute nicht abgeschlossenerÜbergang von der traditionellen Kaffee-Oligarchie zu einem neuen Typ einer öko-nomischen Elite. Rentendeterminierte Aneignungsformen, die zudem nicht nur einerBranche eigen sind – Kaffee, Erdöl und Kohle, aber auch Smaragde, Nickel,Schnittblumen und Drogen – werden komplementiert durch eine kapitalbestimmteIndustrieproduktion, darunter »joint ventures« mit US-amerikanischen Unterneh-men, aber auch durch einheimische oligopolistische Kapitalgruppen. Ökonomischist das oligarchische Modell also nicht vollständig aufgebrochen, doch der Wandelder ökonomischen Elite geht tendenziell darüber hinaus. Sie ist in ihrer Gesamtheitnicht mehr Oligarchie, aber auch nicht Staatsklasse oder Bourgeoisie, besitzt aberoligarchische Komponenten, ob in der Viehwirtschaft oder im Kaffee-Sektor. Poli-tisch ist der heute informelle »bipartidismo« das Symbol für die Persistenz oligar-chischer Herrschaft (Zinecker 2002: 178-209). Der Staat ist in Kolumbien »rela-tively fragmented and penetrable by private interests« (Hartlyn 1985: 125), undzwischen ihm und der ökonomischen Elite existieren Verbindungen, die in vielemmit einer »katholischen Ehe« gleichgesetzt werden können (Palacios 1983: 307).

Das kolumbianische politische Regime ist aufgrund der informellen, die oligarchi-sche Elite restaurierenden Langzeitwirkungen der Frente Nacional und der Unvollen-dung der – politische wie ökonomische Dimensionen besitzenden – Deoligarchisierungausschließend. »Deautoritarisierung« allein ohne vollständige Deoligarchisierung führtnoch nicht zu Demokratie. Deoligarchisierung steht für den Nexus zwischen politi-scher, in die Regime-Definition eingehender, und ökonomischer, nicht in sie eingehen-der, aber der Vollendung der Transition vorausgesetzter Inklusion.

3.6. Zusammenschau von Kolumbiens Regimesegmenten

Im heutigen politischen Regime in Kolumbien ist also das Grundkriterium A inzwei, besonders entscheidenden Subkriterien (Absetzung der militärischen Herr-schaft und Absetzung der Prärogative der Armee) erfüllt. Es handelt sich um einzivilherrschaftliches Regime mit einzelnen, zum Teil von der Armee zu verantwor-tenden autoritären Merkmalen, die sich aber noch nicht zu militärisch-autoritärenEnklaven und schon gar nicht zu Militärherrschaft verfestigt haben. Innerhalb desGrundkriteriums B sind viele Subsegmente nicht polyarchisch, und Polyarchie istvor allem dadurch angreifbar, dass die Bürger bei ihrer Nutzung mit politisch alter-nativen Zwecken Gefahr laufen, ihr Leben zu verlieren. Diese Gefahr geht aber nurzu einem geringen Teil vom Staat aus, und das Regimesegment kann daher nicht alsautoritär bezeichnet werden. Dieses Grundkriterium ist »in sich« hybrid und folglichnur halb erfüllt. Das Grundkriterium C ist nahezu in Gänze nicht gewährleistet; eshandelt sich folglich um ein illiberales, weil nicht-rechtsstaatliches Regime. DasGrundkriterium D ist überhaupt nicht garantiert, so dass das Regime als nichtzivili-siert zu bezeichnen ist. Das Grundkriterium E ist im Wesentlichen unerfüllt. Es han-delt sich daher um ein politisch exklusives Regime.

Würde man, wie die Urheber des Konzepts der »defekten Demokratie«, nur die»Beschädigung« des Kriteriums »universelles Wahlrecht« als nicht hintergehbares

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Kriterium für Demokratie bzw. als einen so großen Defekt ansehen, dass damitDemokratie in Frage gestellt wäre, dann wäre Kolumbien, in dem ein solches Wahl-regime im Großen und Ganzen gewährleistet ist, zweifellos eine Demokratie. Dochbei jedem darüber hinausgehenden Anspruch an eine Demokratiedefinition ist es indiesem Fall ausgesprochen problematisch, die von mir benannten Defizite lediglichals konnotativ und nicht als definitorisch zentral für Demokratie anzusehen. DerStellenwert und die Dimension der hier aufgeführten nichtdemokratischen Regime-segmente lässt Zweifel daran entstehen, dass es sich dabei um zu vernachlässigende,weil Demokratie nur vermindernde und nicht infrage stellende Defekte handelt:Dass in Kolumbien zivilherrschaftliche, aber insbesondere aufgrund fehlenderRechtsstaatlichkeit und einzelner nicht garantierter Polyarchie-Merkmale illiberale,darüber hinaus violente und ausschließende Regime mit einzelnen, zum Teil sogarvon der Armee zu verantwortenden autoritären Merkmalen zusammenfallen, stehtfür einen geradezu klassischen Regime-Hybrid.

Diese Verschränkung demokratischer und nichtdemokratischer Segmente lässtsich am besten an einem fiktiven Beispiel aus dem kolumbianischen Alltag nach-zeichnen:

Für Pablo García in Putumayo etwa, dem von seiner Regierung und diversenDemokratie-Indizes immer wieder bedeutet wird, er lebe in einer »richtigen« Demo-kratie, zeigt sich die Hybridität »seines« politischen Regimes darin, dass er sowohldemokratische als auch nichtdemokratische Räume um sich hat. Das lässt ihn zwareinerseits freier sein als etwa seinen Vater, der unter General Rojas Pinilla noch dieErfahrung einer Militärdiktatur gemacht hat. Andererseits hat die Sache aber immerdann, wenn Pablo seine Freiheit ausprobieren will, einen Haken: Für Pablo machenzwar Zivilisten die Landespolitik, und auch die politischen Geschicke seines Dorfesleiten Zivilisten. Doch wenn der Ausnahmezustand verkündet wird oder wenn sichder Bürgermeister von Guerrilla und/oder paramilitares bedroht sieht und flieht,kann sich das ganz schnell ändern. Dann bestimmen wieder Uniformen die Amtsstu-ben. Daran, dass das Kokafeld, seine einzige Einnahmequelle, mit Pestizidenbestreut wird und darüber immer wieder gepanzerte Armeehubschrauber kreisen, istPablo ohnehin gewöhnt. Aber Pablo könnte ja in Wahlen deutlich machen, dass erlieber einen solchen Präsidenten sähe, der der Armee die Besprühung seines Feldesversagt. Und er besitzt tatsächlich die Auswahl zwischen zig Parteien. Vielleicht hater ja Glück, und der Weg zur Wahlurne ist nicht weit, und er braucht keinen Bus,dessen Nutzung ihn teurer käme als ein Tagesverdienst. Glücklich im Wahllokalangekommen sollte er sich jedoch genau überlegen, ob er sein Kreuzchen hinter einevon den traditionellen Parteien verschiedene politische Kraft setzt – würde sie zustark, könnte es sein, dass ihre Kandidaten das nicht überleben. Würde Pablo selbstfür eine dieser Parteien aktiv werden, könnten die paramilitares denken, dass er einGuerrilla-Sympathisant sei, was dann auch für ihn nichts Gutes bedeutete. Sollteseine Sympathie jedoch einer traditionellen Partei gelten und er mit ihr gar einenbeständigen Kontakt wünschen, so wäre ihm zu raten, dies in alter klientelistischerManier unter Anbietung des einen oder anderen Dienstes zu tun. Auf keinen Falldürfte er erwarten, dass es eine kontinuierliche Parteiarbeit gibt, an der er als ein

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gleichberechtigtes Mitglied regelmäßig und selbstbestimmt teilhaben könnte. Natür-lich kann Pablo, wenn er von paramilitares, Guerrilla oder auch Kriminellenbedroht wird, die Justiz zur Strafverfolgung anrufen. Aber er muss fest damit rech-nen, dass es entweder Jahre dauert, bis sein Fall bearbeitet wird, oder dass diesergänzlich der Straflosigkeit anheimfällt. Wenn Pablo denn lesen könnte, wenn dieJournalisten keine Angst vor der Publikation der Wahrheit haben müssten, wenn alle– auch die alternativen – Zeitungen sein Dorf erreichten und wenn schließlich Pablodas Geld für einen Zeitungskauf abzweigen könnte, verfügte er über die Möglich-keit, Informationsfreiheit zu genießen. Aber er hat ja in jedem Fall das Fernsehen –dem Anzapfen zentraler Strommasten sei Dank – bei dem er sowieso davon ver-schont bleibt, hören zu müssen, das nicht alles Demokratie ist, was ihn umgibt.Natürlich könnte Pablo, etwa wenn er sein Kokafeld und damit seine Existenzgrund-lage verlöre, in die Guerrilla gehen. Da hätte er wenigstens sein Auskommen. Dortwürde er nun aber genau die umgekehrte – allerdings ebenso einseitige – Erfahrungmachen: Er würde hören, dass alles, aber auch alles, was ihn umgibt, das Gegenteilvon Demokratie sei. Nach demokratischen Handlungsspielräumen zu fragen, sowürde ihm erklärt, wäre unsinnig, denn das gesamte Regime sei autoritär, ja faschis-tisch. Aber auch das irritierte Pablo, denn er kann ja unter verschiedenen politischenOptionen wählen, gewählt werden, sich organisieren, alternative Informationenbekommen, sich ohne die Furcht vor einer Bestrafung – zumindest durch den Staat –zu allen politischen Angelegenheiten äußern usw. usf., wenn die Sache nicht jeneHaken hätte… und damit begänne die Geschichte von vorn.

In die trockene Sprache der Demokratisierungsforschung übersetzt, spiegeln Pab-los realer ambivalenter politischer Kontext und sein Problem, sich weder für dieSicht der Regierung – das kolumbianische Regime sei rundum demokratisch – nochfür die der Guerrilla – es sei rundum nichtdemokratisch – entscheiden zu können,ein reales Regime-Phänomen wider. Dieses kann mit dem Begriff »Hybrid« am bes-ten eingefangen werden.

Das hier »durchgespielte« kolumbianische Beispiel eines Regime-Hybrids ist keinAusnahmefall. Auch für das heutige El Salvador habe ich Regime-Hybridität nach-gewiesen (Zinecker 2004), für Guatemala ist Ähnliches gezeigt worden (Jonas2000: 18f). Diese beiden gegenwärtigen zentralamerikanischen Beispiele allein zei-gen schon, dass es – anders als man es möglicherweise vor dem kolumbianischenHintergrund annehmen könnte – für Regime-Hybridität keine notwendige Voraus-setzung ist, dass sich ein Land im Kriegszustand befindet.

Regime-Hybridität ist, so vermute ich, in den von Rentenökonomien gekenn-zeichneten Transitionsländern des Südens und Ostens nicht nur ein sich verstetigen-des, sondern auch ein sich universalisierendes Phänomen. Zwar muss ich den ent-sprechenden empirischen Beweis für die Richtigkeit dieser Vermutung hier schuldigbleiben, aber der theoretische Zusammenhang zwischen Rentenökonomie undRegime-Hybridität soll dennoch angedeutet werden.

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4. Demokratisierung und Entwicklung

Renten, die Definitionsgrundlage von Rentenökonomien, sind ein von der Interven-tion des Staates unabhängiges Surplus, das sich von dem aus der freien Konkurrenzerwachsenden und marktwirtschaftliche Vergesellschaftung konstituierenden Profitabgrenzt. Es handelt sich dabei um einen monopolistischen Extragewinn, der nichtin die Ausweitung der Produktion gesteckt werden darf, weil sonst eine Zunahmedes Angebotes und ein Sinken der Preise erfolgen würde. In Rentenökonomien gibtes im Unterschied zu Marktökonomien marginale Arbeitskräfte, die zwar die physi-schen Voraussetzungen besitzen, mehr zu produzieren, als sie für ihren eigenenUnterhalt und den ihrer Familien brauchen, es aber wegen der Knappheit an bzw.der ihnen fehlenden Verfügbarkeit über Produktionsmittel (zumeist Boden) nichttun können. Ein schwacher ökonomischer Stellenwert bzw. mangelndes empower-ment von Arbeit bedingt ein niedriges Reallohnniveau und niedrige Masseneinkom-men, die zu einer systematischen Beschränkung der Binnenmarktbeziehungenführen, was wiederum nur wenig Anreize für Investition und Innovation impliziert,womit schließlich selbsttragendes kapitalistisches Wachstum unmöglich wird.

Dagegen befördern »durchkapitalisierte«, marktwirtschaftlich vergesellschaftete,auf Profit beruhende Marktökonomien Investitionsgüterproduktion und ein Fließ-gleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, weil und insofern beide»Klassen« eine akzeptable Befriedigung ihrer unmittelbaren Interessen nur unter derVoraussetzung erreichen, dass die jeweils andere ihre Interessen erfolgreich vertei-digt. Indem in »durchkapitalisierten« Gesellschaften Unternehmer Investitionen täti-gen und wesentliche Teile der in der Produktion eingesetzten Ausrüstungen lokalproduzieren, schaffen sie eine Nachfrage nach Arbeitskräften. Dies führt zu Knapp-heit an Arbeit und Lohndrift. Der kapitalistische Wachstumsmechanismus ist ohneLösung des Marginalitätsproblems trotz ökonomischer Liberalisierung nicht aufunterentwickelte Länder übertragbar, weil es weder zu Lohndrift noch zu einer –auch über die Transition hinaus anhaltenden – Stärkung der Verhandlungspositionder einkommensschwachen Bevölkerungsteile kommt (Elsenhans 1994: 104-110).

Demokratisierung ist auch in Rentenökonomien durchsetzbar, aber wie dargestelltnur bis zu einem bestimmten Punkt: dem Regime-Hybrid. Umgekehrt zeugt die Eta-blierung vollständiger Demokratien in Entwicklungsländern, etwa in Costa Rica,auch davon, dass Rentenökonomie entscheidend durch kapitalistische Funktionsbe-dingungen aufgebrochen und eine schwache Oligarchie weitgehend von einer relativstarken Bourgeoisie verdrängt worden ist. Während die Regimesegmente Polyarchieund Zivilherrschaft auch in Rentenökonomien grundsätzlich durchsetzbar sind, gehtdas mit den anderen Segmenten bzw. konstitutiven Demokratie-Kriterien, also Zivi-lisiertheit, Rechtsstaatlichkeit und Inklusion, nicht. Gerade diese, in ihrer nicht-demokratischen Variante nicht notwendig autoritären Segmente sind in ihrer voll-ständigen demokratischen Verwirklichung an eine weitgehende Transformation vonRentenökonomie zu marktwirtschaftlicher Vergesellschaftung, mithin zu Marktöko-nomie, gebunden: Die Tendenz zur Zivilisiertheit setzt sich erst bei empowermentvon Arbeit und folglich bei »Durchkapitalisierung« durch, denn werden wirtschaft-liche Investition und damit Arbeit nicht nachgefragt, legt dies den Marginalisierten

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entsprechend dem Opportunitätskostenargument nahe, zur Gewalt als substitutivemZugang zum Markt zu greifen. Rechtsstaatlichkeit ist allein schon dann nicht gege-ben, wenn ein Großteil der Bürger aufgrund von ökonomischer Marginalisierungkeinen Rechtszugang hat und seine Rechte nicht geltend machen kann. PolitischeInklusion ist ohne ökonomische Inklusion – ihrerseits konstitutiv für »Durchkapita-lisierung« – nur in den Ausnahmesituationen einer Revolution oder eines Transiti-onshöhepunktes erreichbar. Dann kann sie sogar eine Hebel-Funktion für die Durch-setzung ökonomischer Transformation besitzen. Diese Ausnahmesituation mussjedoch genutzt werden, soll die Transition über einen Regime-Hybrid hinausgehenund tatsächlich bis zur Demokratie führen. Nur in einem solchen Fall kann ökono-misch nicht gegebene Vergesellschaftung – zumindest vorerst – durch politischeTransition vorweggenommen werden. Denn die Unterschichten, die am Transitions-höhepunkt den Demokratisierungsprozess durch ihre massive Intervention zumHöhepunkt geführt haben, besitzen die Möglichkeit, diese außergewöhnliche Parti-zipation dann auch politisch zu institutionalisieren, um schließlich – per Votum –auch selbst für ihre eigene ökonomische Inklusion zu sorgen. Will aber politischeInklusion über den Transitionshöhepunkt hinaus andauern, muss sie hernach unver-züglich durch ökonomische Inklusion qua Transformation zur Marktökonomieuntermauert werden. Am Punkt des Regime-Hybrids und des Transitionshöhepunk-tes als einzigartigem »window of opportunity« müssen sich also politische Transi-tion und sozioökonomische Transformation miteinander verzahnen, will auch nureiner der beiden Prozesse für sich den ganzen Erfolg verbuchen. Das schließt einund nicht aus, dass sich höchstwahrscheinlich der Prozess der Transformation überden der Transition hinaus fortsetzen wird. Letztlich ist damit Transition ein Teil vonEntwicklung.

Bislang war Wirtschaftsliberalisierung in den meisten Transitions- undEntwicklungsländern nicht nur nicht an den grundsätzlichen Abbau von Renten,sondern nicht einmal an völlige Deoligarchisierung gebunden. Sie konnte sogar –wie in El Salvador und Guatemala – mit einer Reoligarchisierung einhergehen oder– wie in Kolumbien – bestehende oligarchische Segmente intakt lassen. In oligar-chisch geprägten Rentenökonomien ist nun der Nexus zwischen ökonomischer undpolitischer Exklusion noch enger als in nichtoligarchischen Rentenökonomien, dennOligarchie als die Herrschaft weniger (Personen bzw. Familien) vereinigt in sicheine ökonomische mit einer politischen Dimension, da Oligarchie ökonomisch dieKontrolle der Produktionsstruktur eines Landes auf der Grundlage von Landeigen-tum und politisch von Herrschaft in (denselben) wenigen Händen bedeutet. In ihrerpolitischen Dimension, die der ökonomischen gleichgewichtig und von ihr abgelei-tet ist, steht Oligarchie für das Gegenteil von Massenpolitik und für die Kontrolledes Staates durch jene Minorität, die das Land auch ökonomisch kontrolliert. DieVorwegnahme ökonomisch nicht gegebener Vergesellschaftung durch politischeTransition stößt in oligarchisch geprägten Rentenökonomien folglich auf noch engergesteckte Grenzen als in den übrigen Rentenökonomien, oder anders gesagt: Transi-tion und Transformation müssen sich hier noch enger und möglicherweise auch frü-her als dort miteinander verbinden, um jeweils zum Erfolg zu gelangen.

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Der Frage, wie Transition und Transformation miteinander verzahnt werden kön-nen, haben sich, völlig unabhängig voneinander, auch Crawford Macpherson (1977)und Amartya Sen (1999) zugewandt. Beide interessiert der Zusammenhang und das»Füreinander-Fruchtbarmachen« von Demokratie/sierung (Transition) und Ent-wicklung (Transformation), und beide betrachten sozioökonomische Entwicklungnicht als dem politischen Regime immanent. Macpherson (1977: 101) hat ein, sosoll dies hier bezeichnet werden, »Reißverschlussprinzip« entwickelt, nach demsowohl auf politischer als auch auf sozioökonomischer Ebene sukzessive, reziprokund jeweils unvollständig Wandel vonstattengehen und Wandel auf der jeweilsanderen Ebene befördern kann, wobei nach dem »Reißverschlussprinzip« emanzipa-torische »Cumuli« in nichtemanzipatorische »Löcher« einrasten können. ArmatyaSen (1999) hat hingegen das »Hebelprinzip« kreiert, dem zufolge inEntwicklungsländern die vom westlichen Modell vorgelebte Reihenfolge derSequenzen von »fit for democracy« für das 20. Jahrhundert in »fit through demo-cracy« umzukehren wäre.22 Sen hebt die »instrumentelle Relevanz« von Demokratieals politischen Anreiz für die Verantwortlichkeit von Regierungen und ihre »kon-struktive Rolle« bei der Wertebildung und dem Verständnis von Bedürfnissen,Rechten und Pflichten hervor. Da Demokratie ein »forderndes System« sei undgleichzeitig eine »Schutzfunktion« besitze, sei sie gerade für die Armen, für ihrempowerment, von Relevanz, weil durch ein empowerment der Unterschichten län-gerfristig das Fließgleichgewicht von Nachfrage und Angebot herzustellen wäre:»People in economic need also need a political voice. Democracy is not a luxurythat can await the arrival of general prosperity« (Sen 1999: 13).

Rekurriert Macpherson stärker auf die Gleichzeitigkeit von Demokratisierung undEntwicklung, konstatiert Sen sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländerndie Ungleichzeitigkeit beider Prozesse, wobei er Demokratie und Demokratisierungdie Vorläuferfunktion zuschreibt. Sens »Hebelprinzip« und Macphersons »Reißver-schlussprinzip« sind miteinander kombinierbar: Von Sen wäre der Gedanke zu über-nehmen, dass Demokratisierung trotz Armut (Marginalität) machbar und zu ihrerBeseitigung nützlich ist, wobei Skepsis angebracht ist, ob Demokratie vollständigetabliert werden kann und auf die Dauer haltbar ist, ohne dass Armut als konstituti-ves Merkmal der Ökonomie ausgeräumt wird. Macpherson regt dadurch an, dass beiihm nicht die Vollendung des einen Wandels Voraussetzung für anderen Wandel ist,sondern dass beide Prozesse parallel mit temporären Vorteilen für jeweils den einenoder anderen Wandel ablaufen können, so dass der jeweilige Vorteil des einen fürdie Überwindung eines Nachteils im anderen Wandel fruchtbar gemacht werdenkann. Sens »Hebelprinzip« funktioniert auch innerhalb von Macphersons »Reißver-

22 In Gänze lautet das berühmte Zitat: »Throughout the nineteenth century theorists ofdemocracy found it quite natural to discuss whether one country or another was fit fordemocracy. This thinking changed only in the twentieth century, with the recognitionthat the question itself was wrong: A country does not have to be deemed fit for demo-cracy; rather, it has to become fit through democracy. This is indeed a momentouschange, extending the potential reach of democracy to cover billions of people, withtheir varying histories and cultures and disparate levels of affluence« (Sen 1999: 4, Her-vorh. dort).

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schlussprinzip«, ja an dessen Beginn: Denn der erste vorstehende »Zacken« imReißverschluss ist demokratischer Fortschritt, der gewissermaßen in das erste»Loch« – des sozioökonomischen Rückschritts – einrastet. Dabei bildet die Kombi-nation von politischer und ökonomischer Partizipation jenen »Zipper«, mit dem der»Reißverschluss« zugezogen werden könnte.

Noch ist es durch keinen Fall der dritten »Demokratisierungswelle« empirisch zubelegen, dass sich die im Ergebnis von Demokratisierung herausgebildeten undnicht vollständig demokratischen Regime im Gefolge des »Reißverschluss-« bzw.»Hebelprinzips« zu Demokratie und Marktökonomie komplettieren können, weilsich die Unterschichten ihr über den politischen »Hebel« der Demokratisierungerkämpftes empowerment nicht mehr nehmen lassen und nun zur Eindämmung vonMarginalität einsetzen. Wenn das »Hebelprinzip« nur in den höchst seltenen »win-dows of opportunity« eines Transitionshöhepunktes funktioniert, die jedoch in derRegel vorerst ungenutzt verstrichen sind, so dämpft das natürlich diesbezüglichenOptimismus. Gelingt es nicht, den Transitionshöhepunkt in einer solchen Weise aus-zunutzen, dann kann sich bei den Unterschichten das in der Transition neu errun-gene empowerment auch mit neuen Frustrationen verbinden, was sich in bisherungekannten, alternativen Demokratisierungs-, aber auch in Entdemokratisierungs-pfaden Bahn brechen könnte. Man denke nur an das gegenwärtige Bolivien.

Das Problem ist also nicht, dass Entwicklungsländer angesichts ihrer Nachfolge-problematik bzw. ihres Nachholdilemmas, das für alle Modernisierungsbestrebun-gen nach einmal erfolgreicher industrieller und demokratischer Revolution auftritt(Wehler 1975: 48), nur auf anderen Wegen zum selben Regime-Ergebnis wie dieIndustrieländer gelangen können. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen sie diesüberhaupt vermögen. Es scheint, dass sie, statt auf anderen Wegen zum selbenResultat zu gelangen, auf diesen anderen Wegen auch nur zu einem anderen –schlechteren – Resultat als diese kommen. Während sich die ökonomische Nachhol-situation der Entwicklungsländer gegenüber den Industrieländern bis zum heutigenTag gleich den Aporien eines Zenon verschärft, hat sich jedoch der Regime-Rückstand zwischen diesen Regionen verringert, auch wenn im Regelfall nurRegime-Hybridität erreicht ist.

5. Schluss

In diesem Aufsatz wurde die Leistung der neueren Transitionsforschung gewürdigt,nach der anfänglichen Phase einer »Euphorie der Gründerzeit« die Idee einer sichverfestigenden Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie in den Mittel-punkt der Diskussion gestellt zu haben. Die Konzepte der »defekten Demokratie«und der »Regime-Hybridität« sind dabei die theoretisch ergiebigsten. In einer kriti-schen Diskussion beider Konzepte wurden allerdings auch Grenzen festgestellt: DieAnwendungsdimension der »defekten Demokratie« ist weitaus geringer als es ihreUrheber annehmen, weil nicht sie, sondern Regime-Hybride den zentralen Rauminnerhalb der Grauzone einnehmen. Dies ist aber nur dann ableitbar, wenn Demo-kratie an mehr und anspruchsvollere Kriterien gebunden wird, als es der an Robert

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Dahl (1989) geschulte Mainstream der Transitionsforschung und auch die Verfech-ter des Konzepts der »defekten Demokratie« und der Regime-Hybridität tun. Einesolche rigorosere, wiewohl strikt im politischen Rahmen verbleibende Demokratie-Definition ergibt sich wiederum nur, wenn neben dem Staat auch der Raum derZivilgesellschaft in den Regime-Begriff integriert wird.

Die Idee der Regime-Hybridität wurde in diesem Aufsatz übernommen, aber imKonzept entscheidend verändert. Es wurde Wert darauf gelegt, dass Regime-Hyb-ride eine stärkere Differenzierung in mehr Regimesegmente erfahren: Anders als esin der bisherigen Regime-Hybrid-Diskussion festgestellt wurde, besitzen Regime-Hybride eben nicht nur demokratische und autoritäre, sondern auch nichtdemokrati-sche Segmente, die gleichzeitig nichtautoritär sind. Während die Segmente Zivil-herrschaft und Polyarchie nicht nur in Demokratien, sondern auch in Regime-Hybri-den in der Regel im Großen und Ganzen gegeben sind, sind es die SegmenteRechtsstaatlichkeit, Zivilisiertheit und Inklusion in der Regel nicht. Die Demokrati-sierung gerade dieser Segmente erfordert eine Unterstützung durch eine sozioöko-nomische Transformation von einer Rentenökonomie zu einer marktwirtschaftlichvergesellschafteten Ökonomie. Aber auch in Entwicklungsländern, in denen Ren-tenökonomie dominiert, kann Regime-Hybridität von Demokratie abgelöst werden,wenn – so die These dieses Aufsatzes – politische Transition und sozioökonomischeTransformation durch ein kombiniertes »Hebel«- (Sen 1999) und »Reißverschluss-prinzip« (Macpherson 1977) miteinander verzahnt werden. Indem gezeigt wordenist, dass Transition nur bis zu einem bestimmten Punkt, dem Regime-Hybrid, Erfolghat, wenn sie sich nicht mit einer solchen Transformation verbindet, ist auch deut-lich geworden, dass die Transitionsforschung an Grenzen stößt, wenn sie nicht inden Kontext von Entwicklungstheorie gestellt wird. Der damit verbundene Eklekti-zismus des Modells wird – selbst gegenüber den Verlockungen parsimonischer Ele-ganz – gern in Kauf genommen, weil so das Modell realitätsnäher ist und sich seinePraxisrelevanz dadurch erhöht.

Für die Transitionsforschung zeichnen sich zwei Perspektiven ab: Selbst bei Favori-sierung eines engen, prozeduralen Demokratiebegriffs und eines minimalistischen,geschlossenen Modells von Transition stellte sich die Frage zumindest nach der Nach-barschaft und dem »Füreinander-Fruchtbarmachen« von Transitionsforschung undEntwicklungstheorie, weil Transition sich auch nach dieser Prämisse nicht im luftlee-ren Raum vollzieht und weil Transitionsforschung in jedem Fall kontextuell in dieEntwicklungsforschung eingebunden ist. Wird hingegen, wie hier, von einemanspruchsvolleren Demokratiekonzept und einem offenen, Retardierungen einschlie-ßenden Transitionsmodell ausgegangen, dann liegt die Option von Transition (undnicht nur von Konsolidierung) als Teil von Entwicklung und von Transitionsforschungals ein sich mit Entwicklungstheorie überlappender Forschungsbereich näher.

Sollte durch komparatistisch angelegte area studies tatsächlich eine Universalisie-rung unvollendeter Transitionen und eine Verstetigung der Grauzone zwischenAutokratie und Demokratie in Entwicklungsländern konstatierbar sein, ergibt sichdie Frage, welche Bedeutung dies für die Transitionsforschung hätte. In meinemModell liefern die stärkeren Retardierungen von Transitionen und die Ausdifferen-

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zierungen von deren Ergebnissen, die gleichzeitig als relativ verstetigt, aber hin-sichtlich ihres ursprünglichen Anspruchs und der heute dominierenden Erwartungs-haltung auch als vorläufig anzusehen sind, der Transitionsdebatte noch einenimmensen Stoff zur Diskussion. Wenn man die Transitionsforschung jedoch in ihrernoch immer dominanten – mikropolitischen, behavioralistischen bzw. an schnellererfolgreicher Institutionalisierung von Demokratie orientierten – Maxime ernst-nimmt, hätte sie ausgesorgt. Denn in dem Moment, da ein von ihr ohnehin nicht alslangfristig konzipierter Wandel wieder zur Struktur gerinnt bzw. in dieser »ver-sackt«, brauchte es zu seiner Analyse auch keinen speziellen Forschungszweigmehr. Dies würde dann tatsächlich das »Ende des Transitionsparadigmas« (Caro-thers 2002) bedeuten. Das Schicksal der aus den unvollendeten Transitionen ent-standenen Strukturen, die bald nicht mehr als neu, sondern schon als alt gelten wer-den, wäre dann wieder Gegenstand der ganz normalen »comparative politics«.Schon jetzt deutet sich eine solche Tendenz an, wenn bei der Analyse von Demokra-tisierung in Entwicklungsländern nicht mehr von Transition, sondern von politischerEntwicklung die Rede ist (Cammack 1997). Dann aber würde die Transitionsfor-schung ihr immer noch ausstehendes Wort zur Begründung der im Ergebnis der drit-ten »Demokratisierungswelle« aufscheinenden Differenz zwischen Norm und Reali-tät schuldig bleiben, so dass in diesem Fall nicht nur die Transitionen, sondern auchdie Transitionsforschung ihre Mission nicht erfüllt hätten.

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Aufsätze

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ZU_ZIB_2_2004 Seite 272 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

273Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 273-280

Harald Müller/Gunther Hellmann

Einleitung: Zehn Jahre Zeitschrift für Internationale BeziehungenWas wir aus den Geburtstagsgrüßen lernen

Zehn Jahre fungiert nun die Zeitschrift für Internationale Beziehungen als der Ort,an dem die akademische Debatte unter den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerin-nen ausgetragen wird, die sich den internationalen Beziehungen im weiteren Sinnewidmen. Damit ist die Zeitschrift zwar noch nicht ganz aus den »Kinderschuhen«heraus, aber doch wohl in ihrem Profil klar erkennbar. Wir wollten diesen Anlassnutzen, um eine Zwischenbilanz des Erreichten zu ziehen und gemeinsam mit unse-ren Autorinnen und Autoren bzw. unseren Leserinnen und Lesern zu überlegen, waswir in Zukunft womöglich (noch) besser machen können. Aus diesem Grund habenwir eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen eingeladen, über Vergangenheit undZukunft der ZIB nachzudenken. Die Ergebnisse dieses beginnenden Reflexionspro-zesses sind in diesem »Geburtstagssymposium« versammelt. 1

Drei Fragen gaben wir den Autorinnen und Autoren dabei zu bedenken:

(1) Inwieweit hat die ZIB in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens die selbstgesetzten Ziele erreicht bzw. nicht erreicht?

(2) Worin sollten in den kommenden Jahren die Schwerpunkte der ZIB liegen (u. a.in thematischer, theoretischer bzw. wissenschaftlicher, oder auch professionspo-litischer Hinsicht)?

(3) Welche Veränderungen bzw. Innovationen erscheinen geboten?

Als Maßstab zur Beurteilung der zurückliegenden Arbeit wie auch als Anregung zurReflexion über eventuell notwendige Korrekturen für die Zukunft sollten die selbstgesetzten Ziele dienen, die die Herausgeber im Laufe der letzten zehn Jahre in ver-schiedenen Editorials formuliert haben. Dazu zählte insbesondere, dass die ZIB

– nach dem Vorbild herausragender Fachzeitschriften (insbesondere imangelsächsischen Raum) zu einer qualitativ anspruchsvollen Fachzeitschrift wer-den und daher ein rigoroses anonymisiertes Begutachtungsverfahren anwendensollte;

– das gesamte thematische Spektrum der internationalen Beziehungen abdeckenund insbesondere auch die Grenzen zu benachbarten Disziplinen bzw. For-schungsfeldern systematisch reflektieren sollte;

1 Für kritische Lektüre und zahlreiche Verbesserungsvorschläge danken wir – wie immer– Nicole Deitelhoff.

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Geburtstagssymposium

274

– ein Publikationsort für die richtungs- wie auch schulenübergreifende Kommuni-kation sein sollte;

– das Interesse am Allgemeinen bzw. am Verallgemeinerbaren in den Vorder-grund stellen, dabei aber auch die Verknüpfung von Theorie und Empirie beto-nen sollte;

– der deutschsprachigen Teildisziplin Internationale Beziehungen zu einer stärkereigenständigen Identität verhelfen und das internationale Profil und Ansehen dergesamten deutschen Politikwissenschaft erhöhen sollte.

Inwieweit dies gelungen ist, steht im Rahmen dieses Geburtstagssymposiums zurDiskussion. Dabei haben wir die Autorinnen und Autoren jeweils gebeten, sich zueinem der folgenden Themenblöcke zu äußern, die die Internationalen Beziehungenals politikwissenschaftliche Teildisziplin definieren und in den vergangenen zehnJahren auch Gegenstand der Fachdiskussion in der ZIB waren (wenn auch in unter-schiedlicher Intensität):1. IB-Theorien2. Krieg und Frieden3. Macht und Recht4. Armut und Entwicklung5. Global Governance/Internationale Kooperation bzw. Steuerung6. Europäisches Regieren7. (Deutsche) Außenpolitik 2

Natürlich erwartet man als Herausgeber- und Redaktionsteam den Rücklauf zuder Einladung, die Leistung der eigenen Zeitschrift kritisch zu bilanzieren, mit ange-haltenem Atem. Es handelt sich ja in gewisser Weise um eine Stunde der Wahrheit,in der die eigene Leistung der Dekonstruktion durch eine Gruppe höchst kenntnis-reicher Kolleginnen und Kollegen ausgesetzt ist. Insofern haben wir nach der Lek-türe der diversen »Geburtstagsbeiträge« deutlich aufgeatmet. Gewiss, es finden sichviele kritische Bemerkungen; aber der Tenor der Ausführungen läuft doch daraufhinaus, dass die ZIB ihren Job als wissenschaftliches Organ der InternationalenBeziehungen in Deutschland im Großen und Ganzen zufriedenstellend wahrgenom-men hat.

In diesem Zusammenhang sind zwei Beobachtungen bemerkenswert, die sichdurchgehend in den Beiträgen finden: Zum einen wird der Zeitschrift zugebilligt,maßgeblich zur Herausbildung einer Corporate Identity unter den IB-Forschern inDeutschland beigetragen zu haben. Ihre Funktion wird also nicht nur im Bereich derintellektuellen Auseinadersetzung verortet, sondern gleichermaßen dem Sozialenzugerechnet. Ob man dies nun begrüßen oder bedauern soll, ist eine andere Frage,

2 Selbstverständlich haben wir den KollegInnen offen gelassen, wie sie das Thema aufgrei-fen wollten. Interessanterweise führte das im Bereich »(Deutsche) Außenpolitik« dazu,dass das Themenfeld als solches eher indirekt behandelt wurde (vgl. den Beitrag vonMaull et al. in diesem Heft). Ob dies nun bereits als Aussage über die Stärken oderSchwächen dieses Feldes in der deutschen Community gewertet werden kann, sei dahin-gestellt. Richtig ist sicherlich, dass deutsche (oder auch andere einzelstaatliche) Außenpo-litik in der ZIB trotz des einen oder anderen Beitrages nicht besonders stark vertreten war.

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Harald Müller/Gunther Hellmann: Einleitung: Zehn Jahre Zeitschrift für Internationale Beziehungen

275ZIB 2/2004

denn mit den hehren Idealen der Wissenschaft hat dies natürlich wenig zu tun. Wis-senschaftssoziologisch ist es aber leicht erklärbar und (da Wissenschaftler natürlichauch real existierende Menschen sind) auch verständlich. Zum anderen schreibendie Autorinnen und Autoren der ZIB die Wirkung zu, die Qualität der wissenschaft-lichen Debatte gehoben zu haben; dies wird in erster Linie auf das anonyme Begut-achtungsverfahren zurückgeführt, welches die ZIB erstmalig in die deutsche Politik-wissenschaft eingeführt hat. Da wir selbst diesen Prozess nicht unkritisch sehen(Hellmann/Müller 2003), war diese Bestätigung wichtig: Bei allen Bedenken gibt esoffensichtlich keine vernünftige Alternative, um Qualität, so gut es geht, sicherzu-stellen. Korrekturen mögen bei einzelnen Aspekten des Verfahrens sinnvoll sein, dieSache an sich steht jedoch nicht in Frage (vgl. den Beitrag von Christoph Weller indiesem Heft).

1. Die ZIB, ihre Themen und ihre blinden Flecken

Bei der Durchsicht der Beiträge zu den einzelnen Themenkomplexen springt einUnterschied ins Auge: In den »klassischen« Feldern des IB-Mainstreams – Machtund Recht, Global (international) Governance und den Theorien internationalerBeziehungen – fällt das Urteil über die Repräsentativität der ZIB-Beiträge ebensowie über ihre Zentralität in den wissenschaftsinternen Diskussionen sehr positiv aus(vgl. die Beiträge von Gehring, Risse, Albert und Wolf in diesem Heft). Im Kern desFaches funktioniert die Zeitschrift offensichtlich am besten. Weit weniger günstigist die Bewertung, wenn der Blick auf Fragen der normativen Theorie, auf Länderund Regionen außerhalb der OECD-Welt, auf Probleme von Armut und Entwick-lung und auf die Präsentation der Forschung zur Außenpolitik weltpolitisch relevan-ter Akteure fällt (vgl. die Beiträge von Daase, Kratochwil, Scherrer, Rüland undElsenhans in diesem Heft). Da es sich hier durchweg um Themenfelder handelt, diefür Stand und weitere Entwicklung der internationalen Beziehungen von größterWichtigkeit sind, ist das aufgedeckte Defizit bedenklich. Denn es steht der Verwirk-lichung des eigenen Anspruchs der Zeitschrift im Wege, die internationalen Bezie-hungen in vollem Umfang zu beleuchten. Blinde Flecken darf es dabei nicht geben.Dass eine Redaktion hier allerdings auch wesentlich von der Gemeinschaft der For-schenden (und den von ihnen eingereichten Manuskripten) abhängt, ist ein genausoaltes wie immer wiederholtes (und auch wiederholungsbedürftiges) Thema. NeueAkzente sind hier durchaus möglich, wie gerade das Beispiel der Kritischen Interna-tionalen Politischen Ökonomie zeigt, die in den letzten Jahren vermehrt in der ZIBplatziert war (vgl. Bieling/Steinhilber 2002; Görg 2002; Brand 2003).

Defizite in diesen Feldern gehen daher nicht auf etwaige selektive Entscheidun-gen der Redaktion oder der Herausgeberschaft zurück. Wie in früheren Editorialserläutert, sind inhaltliche Steuerungsversuche in der Vergangenheit weitgehendunterblieben. Was in der ZIB veröffentlicht wird, beruht auf dem Aufsatz-Angebot,das eingereicht worden ist. Insofern liegt der Mangel wohl zum Teil in der Vorstel-lung, dass sich bestimmte Themen in der ZIB durchsetzen – und andere nicht. Derteilweise noch vorherrschende Eindruck, dass die ZIB ein Organ einer bestimmten

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Geburtstagssymposium

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(konstruktivistischen) Theoriepräferenz sei, entspricht im übrigen nicht den Tatsa-chen, denn gerade in den letzten Jahren hat die Diversität in alle theoretischen wieempirischen Richtungen deutlich zugenommen. Die frühere Einschätzung einer»blutleeren Theoriesucht« der Beiträge in der ZIB ist inzwischen daher auch vonihren anfänglichen Skeptikern revidiert worden.3 Man kann dem Problem ungleich-gewichtiger Manuskripteinreichungen wohl nicht gänzlich entgehen, in gemäßigterForm aber vielleicht durch den stärkeren Einsatz »weicherer« Gestaltung zu Leibezu rücken versuchen, etwa durch Calls for Papers zu bestimmten Themen oderdurch ein gelegentliches Themenheft, wobei dieses Instrument bei einer halbjährlicherscheinenden Zeitschrift nur begrenzt eingesetzt werden kann. Letztlich hängt derErfolg solcher Initiativen davon ab, wie sie in den entsprechenden Teil-Gemein-schaften der Zunft wahrgenommen und beantwortet werden.

Einen Sonderfall stellt die Europa-Forschung dar, die sich zu einer höchst produk-tiven Wissenschaftsgemeinde innerhalb bzw. neben den IB etabliert hat und die inenglischer Sprache über eine Reihe von spezialisierten Publikationsorganen verfügt.Dies führt dazu, dass der Wettbewerb für eine deutschsprachige Zeitschrift in die-sem Sektor besonders heftig ist. Dass die ZIB dennoch eine eindrucksvolle Anzahleinschlägiger Aufsätze aufweist, ist daher bemerkenswert. Freilich handelt es sichnicht um die zentralen »Referenzartikel«, die zu zitieren zum Standard in der Zunftgehört. Auffällig ist gleichfalls, dass Aufsätze mit dem typischen induktiven Duktusfehlen – beides findet sich eher in den spezialisierten Journalen (vgl. die Beiträgevon Schimmelfennig und Börzel in diesem Heft). Europa-bezogene Artikel werdender ZIB offenkundig dann angeboten, wenn die Autoren und Autorinnen davon aus-gehen, gute Veröffentlichungschancen dadurch zu haben, dass die Entwürfe verall-gemeinerbare Aspekte enthalten, die auch für die breitere IB-Leserschaft von Inte-resse sind. Generell wird unsere Zeitschrift kaum den Ehrgeiz entwickeln können,mit den spezialisierten Europa-Zeitschriften in Konkurrenz zu treten. Zwei Mög-lichkeiten verbleiben: wie bisher eine hinreichende Menge von Beiträgen zu veröf-fentlichen, die eine repräsentative Auswahl dieses eminent wichtigen Gebiets dar-stellen, sowie in regelmäßigen Abständen Literaturberichte einzuwerben, welche dieIB-Community über den Sachstand bei den Europa-Spezialisten auf dem Laufendenhalten. Erfreulich ist daher, dass gerade in den letzten zwei Jahren in diesem The-menfeld eine spürbare Zunahme eingereichter Manuskripte registriert werden kann.Insofern wäre für die Zukunft zu überlegen, ob nicht vielleicht auch hier mit demInstrument des Call for Papers bzw. des Themenheftes gearbeitet werden sollte.

3 In diesem Zusammenhang war es für uns auch höchst erfreulich, dass einer der Gründerder Sektion Internationale Politik, Karl Kaiser, in einer freundlichen Antwort auf unsereEinladung zur Teilnahme an diesem Symposium zwar einen Beitrag aufgrund andererVerpflichtungen nicht zusagen konnte, dabei aber einräumte, dass sich frühere Divergen-zen zwischen unterschiedlichen Richtungen der deutschen Politikwissenschaft bzw. derIB eingeebnet haben und sich in dieser Hinsicht auch in der ZIB in seiner Wahrnehmungeiniges zum »Besseren« gewendet habe (E-Mail Kommunikation vom 7. Juli 2004).

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2. Deutsch oder englisch?

Die Beobachtung bezüglich der »Referenzartikel« verweist auf ein breiteres Pro-blem, das in den Beiträgen immer wieder angesprochen worden ist und auch dieBeiratssitzungen der ZIB von Anbeginn wie ein roter Faden durchzogen hat: dieSprachenfrage. Es war eine Grundsatzentscheidung, die ZIB in deutscher Spracheherauszugeben. Argumente finden sich dafür und dagegen, denn diese Entscheidungentzog der ZIB und ihren Autoren/Autorinnen zwangsläufig einen Teil der interes-santen Leserschaft. Dafür sprach zunächst, dass in einem Sprachraum dieser Aus-dehnung Platz für eine solche Zeitschrift sein sollte und dass auch daskulturpolitische Argument der eigenen Sprachpflege in Zeiten der Globalisierungnicht von vornherein abwegig ist (in Frankreich käme wohl niemand darauf, darüberüberhaupt zu debattieren).

Es sprechen indes auch sehr praktische Argumente für diese Entscheidung.Zunächst würde die ZIB auf dem englischsprachigen Markt gegen eine große Zahletablierter Zeitschriften zu konkurrieren haben; der Erfolg wäre keineswegs garan-tiert. Er würde u. a. davon abhängen, dass die Zeitschrift in sprachlicher Hinsichtnicht abfällt. Für die Beiträge deutscher Autoren würde dies ein aufwändiges undkostspieliges Sprach-Editing erforderlich machen, das die Zeitschrift erheblich ver-teuern würde; viele von uns können Artikelentwürfe in vernünftigem Englischschreiben. Zur Druckreife bedarf es gleichwohl gemeinhin der Durchsicht durcheinen Muttersprachler/eine Muttersprachlerin. Ob der breitere Markt die Abonne-ments einspielen würde, die durch diese höheren Kosten erforderlich wären, um dieWirtschaftlichkeit zu erreichen, darf zumindest bezweifelt werden.

Schließlich ist es eine Trivialität, dass es sich leichter in der eigenen Spracheschreibt. Das hat zweierlei Folgen. Zum einen sind die Hürden für den wissenschaft-lichen Nachwuchs, eine Publikation in einer begutachteten Zeitschrift unterzubrin-gen, in der Muttersprache deutlich niedriger. Zum anderen testen sich neue Ideengleichfalls mit weniger Aufwand und Risiko und daher geringeren Hemmnissen inder eigenen Sprache. Es ist daher sicher kein Zufall, wenn einige Diskussionen, dieihren Weg in die englischsprachige Debatte gefunden haben, durch Aufsätze in derZIB angestoßen wurden. Die Auseinandersetzungen über kommunikatives Handelnversus Rational Choice, die mittlerweile international geführt wird, startete als die»ZIB-Debatte«. Die konstruktivistische Interpretation des »demokratischen Frie-dens«, die mittlerweile ihre Anhänger in der ganzen internationalen IB-Gemeindehat, findet sich erstmals in einem Artikel von Thomas Risse in der ZIB (Risse-Kap-pen 1994). Und auch die Ideen von Andreas Hasenclever über die Besonderheitenvon internationalen Organisationen demokratischer Staaten (Hasenclever 2002) sindinzwischen aus der ZIB in die englische Diskussion eingewandert. Diese Beispieleließen sich sicherlich erweitern. Der Punkt ist, dass uns die Befürchtung übertriebenerscheint, die Zeitschrift für Internationalen Beziehungen könnte durch die – ganzvernünftige – wachsende Orientierung der deutschen IB auf den englischsprachigenMarkt hin letztlich auf wissenschaftlichen Ladenhütern sitzen bleiben. Die Erfah-rung der letzten zehn Jahre spricht jedenfalls für die Vermutung, dass die ZIBgerade in den »großen Fragen« auch weiterhin Publikationsstätte sein wird, die hier

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und da auch international rezipierte Beiträge beinhalten wird. Im Übrigen ist daranzu erinnern, dass es immer Teil der ZIB-Regeln war, dass englischsprachige Auf-sätze veröffentlicht werden können – eben nur nicht von deutschen Muttersprach-lern. Doch selbst diese haben die Option, englischsprachige Manuskripte zumReview einzureichen. Von ihnen wird lediglich erwartet, dass sie ihren Beitrag imFalle einer positiven Begutachtung übersetzen. Schließlich kann auch für die Einrei-chung bei der ZIB ins Feld geführt werden, dass dies eine spätere Einreichung beieiner englischsprachigen Zeitschrift nicht ausschließt. In etlichen Fällen sollte diesauch für die jeweiligen Zeitschriften akzeptabel sein, denn nach gegenwärtigenTrends ist nicht davon auszugehen, dass die deutsche Sprache auf absehbare Zeitwieder zu einer lingua franca der internationalen Wissenschaftskommunikationwerden könnte, mithin also gute deutschsprachige Aufsätze eher öfter als seltenerauch übersetzt werden sollten.

3. Theorie und Praxis

Die letzte wesentliche Frage, die unsere Geburtstagsgäste beschäftigt hat, dreht sichum das Verhältnis von Theorie und Praxis. Die Praxisferne mancher auf den Seitender Zeitschrift erscheinenden Artikel hat die Kritik vor allem jener Kolleginnen undKollegen hervorgerufen, die eher die politiknahe Seite der Disziplin vertreten.Andererseits verteidigen Wortführer der theorieorientierten Seite vehement die Not-wendigkeit, Forschung auch jenseits der tagespolitischen Notwendigkeiten undAnforderungen zu betreiben. Es handelt sich hier um eine wohl unauflösliche Span-nung. Auf der einen Seite steht der berechtigte Anspruch der die Wissenschaft letzt-lich finanzierenden Öffentlichkeit, gelegentlich vom Nutzen der subventioniertenTätigkeit überzeugt zu werden. Auf der anderen Seite steht der Anspruch der Grund-lagenforschung, Gedankengänge und Untersuchungsstränge losgelöst von vorder-gründigen Verwertungszwängen auszuloten, deren Praxisrelevanz nicht vonvornherein garantiert ist. Beide Seiten haben Recht. Die vom Hauch der Realitätunbeeinträchtigte Spielwiese schönen Denkens ist in Zeiten knapper Haushalteschwerer zu rechtfertigen. Der unmittelbare Zugriff der Praxis auf jegliche For-schungs- und Publikationstätigkeit lähmt Kreativität und schneidet womöglichRichtungen ein für allemal ab, deren tatsächlicher Nutzen zu einem späteren Zeit-punkt zu Tage getreten wäre. Insofern ist ein Weg zu finden, der beiden SeitenGerechtigkeit widerfahren lässt. Dies ist eine Gratwanderung, die die Herausgebernotwendigerweise gehen müssen, die in gewisser Weise auch Teil ihrer Stellenbe-schreibung ist.

Die andernorts ausgebreitete Reflexion der geschäftsführenden Herausgeber(Hellmann/Müller 2003), die Praktiker unmittelbar in das Begutachtungsverfahreneinzubinden, ist in den Geburtstagswünschen nicht auf Sympathie gestoßen – mitdurchaus nachvollziehbaren Gründen. Tatsächlich wäre es unter der Perspektive derzwei gleichberechtigten Ansprüche möglicherweise ganz falsch, die Forderung aufPraxisrelevanz, auf den Nachweis positiven Nutzens an jeden einzelnen Aufsatz zustellen, der in der ZIB veröffentlicht wird. Der durchaus gewollte Unterschied zwi-

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schen der ZIB auf der einen Seite und stärker politikorientierten bzw. praxisnahenZeitschriften andererseits sollte nicht zuletzt deshalb erhalten bleiben, weil es ganzoffensichtlich einen Markt für diese unterschiedlichen Profilierungen gibt.

Aber vielleicht sollte man auf »Entweder – Oder«-Zuspitzungen ohnehin verzich-ten, vielleicht gibt es hier einen vernünftigen Mittelweg. Wenn es gelingt, in höhe-rem Maße als bisher Beiträge einzuwerben, die sich mit weltpolitisch relevantenFragen befassen – etwa mit wichtigen außerwestlichen Akteuren –, steigt der Praxis-bezug der ZIB. Überdies ist es ja durchaus so, dass zahlreiche Veröffentlichungen,die sich in Spezialgebieten oder auf den Ebenen hoher Abstraktion bewegen, beigründlichem Nachdenken eine erhebliche Praxisrelevanz entfalten können. DieAutorinnen und Autoren, die mit einem ganz anderen Erkenntnisinteresse angetretensind, versäumen es gelegentlich, diese potenziellen Schätze für die Praxis zu heben.Es bedeutet eigentlich relativ geringe Anstrengungen für die Redaktion und die Her-ausgeber, in die Überarbeitungsempfehlungen oder -auflagen die Frage einzustellen,welche Konsequenzen die angestellten Überlegungen für die praktische Politikhaben mögen. Gewiss, nicht jede Autorin würde diese Frage beantworten wollen(und sie sollten sie auf jeden Fall auch nicht als Voraussetzung einer Veröffentli-chungszusage beantworten müssen). Die Mehrzahl der Angesprochenen würde aufeine solche Anregung aber höchstwahrscheinlich positiv und kreativ reagieren. Eingroßer Teil der beklagten Praxislücke könnte auf diese Weise geschlossen werden,ohne den Charakter der Zeitschrift als einer akademisch und theoretisch orientiertenzu kompromittieren.

4. Schlussfolgerungen

Zwei Handlungsimperative ergeben sich aus den Überlegungen unserer Geburtstags-gäste nahezu zwingend. Zum einen empfiehlt sich – entgegen der vornehmenZurückhaltung, die die Herausgeberschaft der ZIB von Anbeginn bis heute ausge-zeichnet hat –, etwas mehr Mut zur Steuerung aufzubringen, ohne freilich die Integri-tät des anonymen Peer Review-Verfahrens in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen:Der Call for Papers für Fragen, die wichtige Gebiete der IB betreffen, zu denen abervon selbst keine Aufsätze einlaufen, sowie für die brennenden Probleme der Weltpo-litik (wie die Positionen außerwestlicher Akteure) ist ein legitimes Mittel, bestimmteThemen auf die Seiten der ZIB zu befördern. Darüber hinaus sollte die bisher gel-tende Praxis, gelegentlich gezielt Literaturübersichten anzufordern, für »Lücken-bereiche«, vor allem aber für das Gebiet der Europa-Forschung, weitergeführtwerden. Auch hier gilt, dass solche Aufsätze das Begutachtungsverfahren in vollemUmfang durchlaufen; erfreulicherweise hat auch bisher kein Autor und keine Auto-rin, die von Herausgeberseite zur Arbeit gebeten wurden, Probleme gesehen, sichdem Verfahren zu unterwerfen und die oft zeitaufwändigen Revisionen am Manus-kript vorzunehmen – ein Zeichen, in welchem Maße das Peer Review seit seiner Ein-führung durch die ZIB zum Standard in den deutschen IB geworden ist.

Schließlich finden sich in den Geburtstagsgrüßen eine Reihe von Überlegungen,die eine aktivere Interaktion zwischen Sektion und Zeitschrift nahe legen, ohne die

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von Anfang an gewünschte und praktizierte Unabhängigkeit von Geschäftsführungund Redaktion in Frage zu stellen. Die Idee des obligatorischen Abonnements istdabei nur die offenkundigste (vgl. den Beitrag von Schimmelfennig in diesem Heft).Die Sektion könnte ihrerseits durch das gezielte Ansetzen thematisch sinnvollerSymposien – auf den Sektionstagungen wie auf den Nachwuchstagungen – dafürsorgen, dass die blinden thematischen Flecken gefüllt werden. Für den Herbst 2005ist eine solche Tagung bereits ins Auge gefasst. Dies würde freilich bedeuten, dassauf die Publikation von Sammelbänden verzichtet und der ZIB die intellektuelleErnte der Konferenzen überlassen wird. Auch was die Intensivierung des »Grenz-gängertums« angeht, wären entsprechende Kooperationen zwischen Sektion undNachbarsektionen sehr hilfreich. Gemeinsame Tagungen wären eine geeignete Pro-duktionsstätte für Grenzgänger-Artikel, die angesichts verschwimmender Disziplin-grenzen wichtiger sind denn je.

Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich der Nachwuchs (nichtzuletzt aufgrund der regelmäßig veranstalteten und qualitativ recht hochstehendeBeiträge produzierenden Nachwuchstagungen) weiterhin als eine wichtige Quellefür Manuskripte erwiesen hat. In diesem Sinne ist und bleibt die ZIB zu einem nichtunbeträchtlichen Teil auch ein Sozialisierungs- (hoffentlich aber nicht Disziplinie-rungs-)Raum für die Nachwuchsrekrutierung. Im Herausgeberkollegium sowie mitBeirat, Sektion und der IB-Community generell wird angesichts dieser anhaltenderfreulichen Entwicklung daher auch zu überlegen sein, inwiefern der Nachwuchs(über die bereits praktizierte systematische Berücksichtigung in der Manuskript-Begutachtung hinaus) noch stärker in die Arbeit der ZIB einbezogen werden sollte(z. B. im Beirat).

Fazit: Es besteht Grund zur Zufriedenheit, aber keine Ursache, auf den eigenenLorbeeren zu ruhen.

Literatur

Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen 2002: Finanzmarktintegration und Corporate Gover-nance in der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 1, 39-74.

Brand, Ulrich 2003: Nach der Krise des Fordismus. Global Governance als möglicher hege-monialer Diskurs des Internationalen Politischen, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 10: 1, 143-166.

Görg, Christoph 2002: Einheit und Verselbstständigung. Probleme einer Soziologie der Welt-gesellschaft, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 2, 275-304.

Hasenclever, Andreas 2002: The Democratic Peace Meets International Institutions. Überle-gungen zur internationalen Organisation des demokratischen Friedens, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 9: 1, 75-112.

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281Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 281-285

Mathias Albert

Zehn Jahre ZIB: Erfolg und erfolgreiches Scheitern

Nach über zehn Jahren ist die Geschichte der Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen (ZIB) sowohl eine Erfolgsgeschichte als auch eine Geschichte erfolgreichenScheiterns. Das Projekt der Etablierung einer theoriestarken, professionellenAnsprüchen genügenden deutschsprachigen akademischen Zeitschrift für Internati-onale Beziehungen ist geglückt. Der damit zum Teil explizit, zum Teil implizit,verknüpfte Anspruch, hierdurch auch einen eigenständigen deutschen Beitrag in derinternationalen Theorie- und Diskussionslandschaft zu etablieren, ist mit Erfolggescheitert.

Die Geschichte der ZIB ist allein schon deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil sieden Raum für die Publikation wissenschaftlich anspruchsvoller, deutschsprachigerAufsätze im Bereich Internationale Beziehungen deutlich ausweitete. Selbstver-ständlich kamen (und kommen) Aufsätze aus dem IB-Bereich in der PolitischenVierteljahresschrift (PVS) als der führenden deutschen politikwissenschaftlichenFachzeitschrift vor. Angesichts der Größe des Faches erscheinen die damit verbun-denen Publikationsmöglichkeiten jedoch als viel zu begrenzt. In diesem Sinne wardie Zeit 1994 mehr als reif für die Gründung der ZIB.

Vor diesem Hintergrund startete die ZIB mit einem ambitionierten Programm: Siewollte die angesprochene Situation mangelnder Publikationsmöglichkeiten für Auf-sätze aus dem IB-Bereich nicht nur quantitativ beheben. Sie wollte gleichzeitig qua-litativ neue Standards etablieren, indem sie von Beginn an ein in der deutschsprachi-gen sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenlandschaft noch eher unübliches PeerReview-Verfahren praktizierte. Darüber hinaus setzten die Herausgeber der Zeit-schrift bei ihrer Gründung wichtige, ihr inhaltliches Profil bis heute prägendeAkzente. Die ZIB sollte insbesondere:(1) dem gesamten thematischen Spektrum der Internationalen Beziehungen Raum

geben;(2) ein Forum für richtungs- und schulenübergreifende Kommunikation sein;(3) das Interesse am Allgemeinen bzw. Verallgemeinerbaren betonen;(4) der deutschsprachigen Teildisziplin Internationale Beziehungen zu einer stärker

eigenständigen Identität verhelfen und das internationale Profil und Ansehen dergesamten deutschen Politikwissenschaft erhöhen.1

Die Einführung eines Peer Review-Verfahrens war ein voller Erfolg (mit Ausstrah-lungseffekten nicht zuletzt etwa auch auf die PVS). Die Probleme mit diesem Ver-

1 Die Beobachtungen dieses Beitrags beruhen auf einer Durchsicht aller bisher erschiene-nen Jahrgänge der Zeitschrift samt der Editorials. Aus Platzgründen verzichte ich aufdetaillierte Nachweise.

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Geburtstagssymposium

282

fahren (vgl. Hellmann/Müller 2003) beziehen sich allein auf die bekannten grund-sätzlichen Schwachstellen des Peer Review und erscheinen als nicht geringer odergrößer als bei anderen Zeitschriften auch. Auch hinsichtlich der angeführten Punkte(1) bis (3) lässt sich der ZIB gleichermaßen ein voller Erfolg bescheinigen:

(1) Die ZIB bildet das gesamte thematische Spektrum der Internationalen Bezie-hungen ab. Man könnte angesichts einer deutlichen Theorielastigkeit der erstenAusgaben in dieser Hinsicht zwar gewisse Anlaufschwierigkeiten diagnostizieren.Solche »Anlaufschwierigkeiten« sind aber angesichts einer Erscheinungsweise vonnur zwei Ausgaben im Jahr und vor dem Hintergrund der Notwendigkeit zu sehen,zu Beginn (und das heißt: nach der »Theorie«-Sektionstagung in Arnoldshain 1993)aktiv Beiträge zur Einreichung einzuwerben. Auf jeden Fall greifen mögliche Vor-würfe einer mangelnden Repräsentativität des thematischen Spektrums des Fachesnach mehr als 20 Ausgaben nicht mehr.

(2) Diskussionen wie diejenige um »kommunikatives Handeln« vs. »rationalchoice« (die so genannte ZIB-Debatte), aber auch etwa der Austausch zwischenThomas Diez (1996) und Tanja Börzel (1997) um den Nutzen der »Postmoderne«für die Analyse des europäischen Integrationsprozesses liefern eindrucksvolle Bei-spiele dafür ab, dass es der Zeitschrift gelungen ist, eine richtungs- und schulenüber-greifende Kommunikation zu etablieren. Dies ist keineswegs eine Selbstverständ-lichkeit – gerade auch deshalb, da es sich bei den entsprechenden Diskussionen inder ZIB erkennbar um einen weitgehend sachlichen Austausch handelte, ohne dieAttribute der aus anderen Kontexten hinlänglich bekannten »turf wars«. Erkenntman jedoch an, dass sich eine solche richtungs- und schulenübergreifende Kommu-nikation zumeist nicht von alleine herstellt, sondern in weiten Teilen auch »aktiverInszenierung«, also der herausgeberseitigen Aufforderung zu Rede und Gegenredebedarf, dann lässt sich in den letzten Jahrgängen der Zeitschrift ein gewisses Nach-lassen entsprechender Bemühungen erkennen.

(3) Liest man das Interesse am Allgemeinen bzw. Verallgemeinerbaren alsSchwerpunktsetzung im Bereich der Theorie, dann hat die Zeitschrift in den erstenJahrgängen ihr Soll mehr als erfüllt. Ein merklicher Rückgang des Anteils von Bei-trägen im engeren Bereich der Theorie der Internationalen Beziehungen in den letz-ten Jahrgängen scheint dabei jedoch nicht nur der Notwendigkeit zuzurechnen zusein, anderen Themenbereichen des Faches mehr Platz zu geben (vgl. Punkt 1). Siespiegelt zunächst insbesondere auch die Tatsache wider, dass sich die Theoriebil-dung im Fach Internationale Beziehungen insgesamt seit einiger Zeit durch einengeringen Innovationsgrad auszeichnet. Diese Diagnose gilt dabei freilich nur inBezug auf einen ohnedies nur schwer eingrenzbaren Bereich der »Theorien interna-tionalen Beziehungen« in einem engeren Sinne. Sie gilt nicht in Bezug auf Überle-gungen zur Theoriebildung in Anbetracht eines im globalen Kontext immer schwie-riger zu bestimmenden Gegenstandsbereichs des Faches und der daraus folgendenEntwicklung einer zunehmenden Diffusität disziplinärer Grenzen. Unter diesen Vor-zeichen ist die ZIB ihren Vorsätzen mehr als treu geblieben und hat infolge der edi-torischen Schwerpunktsetzung auf »Makrostrukturen der Weltpolitik« gerade in den

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Mathias Albert: Zehn Jahre ZIB: Erfolg und erfolgreiches Scheitern

283ZIB 2/2004

letzten Jahren eine Reihe sehr guter Beiträge zum Konzept der Weltgesellschaft undseinem Verhältnis zur internationalen Politik anziehen können.

(4) Die Etablierung einer stärkeren Identität der deutschsprachigen TeildisziplinInternationale Beziehungen sowie die Erhöhung des internationalen Profils undAnsehens der deutschen Politikwissenschaft markiert den Punkt, an dem die Zeit-schrift für Internationale Beziehungen erfolgreich gescheitert ist.

Die ZIB hat für die deutschsprachige IB ein wertvolles Kommunikationsforumetabliert und damit zweifellos einen unschätzbaren, identitätsstiftenden Beitraggeleistet, der nur durch die teildiziplinäre Organisation (in einer Sektion der DVPW)nicht zu erreichen gewesen wäre. Sie ist aber, so eine persönliche Mutmaßung, inihrem Ziel, das internationale Profil und Ansehen der deutschen Politikwissenschaft– und insbesondere natürlich der Teildisziplin Internationale Beziehungen – zuerhöhen, insofern erfolgreich gescheitert, als sie dieses Ziel nur mittelbar durch dieBeiträge in der ZIB selbst und eine daraus resultierende internationale Sichtbarkeiterreicht hat: Der Großteil der internationalen Community nimmt schlichtweg auchweiterhin keine deutschsprachigen Beiträge zur Kenntnis. Trotzdem hat die ZIB ihrZiel hier erreicht, wenn auch in einem etwas anderen Sinne, insofern sie im Kreisdeutschsprachiger Autorinnen und Autoren eine gewisse »Kultur des internationalenStandards« etabliert, mithin die Bereitschaft gesteigert hat, sich auch internationalder Praxis und den Anforderungen des Peer Review zu stellen. Sie hat damit zurinternationalen Sichtbarkeit der deutschsprachigen IB mittelbar als Träger der Ent-stehung einer solchen Kultur beigetragen, aber nur nachrangig unmittelbar durchihre eigene internationale Rezeption.2 Ein für diesen Erfolg notwendig zu zahlenderPreis ist sicherlich, dass viele deutschsprachige Autorinnen und Autoren gute Manu-skripte mit dem Ziel einer Publikation in internationalen Zeitschriften von Anfangan in englischer Sprache verfassen und sie damit der Verfügbarkeit für die ZIB ent-ziehen.

Es ließen sich an dieser Stelle noch eine ganze Reihe von Entwicklungen in derZeitschrift für Internationale Beziehungen über die Jahre hinweg beobachten, kom-mentieren, sowie mit Empfehlungen für etwaige editorische Neujustierungen für diekommenden Jahre versehen. Ich beschränke mich vorliegend allerdings auf zweiBeobachtungen und Anregungen:

In einem Beitrag zu »Editing (I)nternational (R)elations: A Changing World«,monieren Gunther Hellmann und Harald Müller (2003), die beiden amtierendengeschäftsführenden Herausgeber der ZIB, eine gewisse mangelnde »praktische«Relevanz von wissenschaftlichen IB-Zeitschriften (einschließlich der ZIB) in einemweiteren gesellschaftlichen Kontext. Sie schlagen vor, dem durch den Einbezug vonPraktikern in ein dem Peer Review nachgelagertes Bewertungsverfahren entgegen-zuwirken (Hellmann/Müller 2003: 381-385). Aus grundsätzlichen Überlegungenheraus erscheint mir dies keine geeignete Methode zu sein, um einem möglichenImage »esoterischer«, praxisferner Wissenschaft zu entrinnen: Es ist kaum möglich,

2 In ähnlichem Sinne lese ich die Beobachtungen von Holden (2004) zum »state of theart« der deutschen IB.

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Geburtstagssymposium

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die Bedeutung des »public outreach« auch der politikwissenschaftlichen Teildiszi-plin der Internationalen Beziehungen überzubetonen, sei dies in der Form des politi-schen Beratungsgeschäftes, der Medienpräsenz, der aktiven Teilnahme an politi-schen Debatten, einer Präsentation der Forschungsergebnisse mit dem Ziel eineswissenschaftspolitisch wünschbaren »public understanding of science« etc. Derar-tige Aktivitäten platzieren jedoch die Wissenschaftlerin bzw. den Wissenschaftler inden Diskursen des politischen Systems, des Wirtschaftssystems, des Erziehungssys-tems etc. Die Autorität zur Teilhabe in diesen Diskursen als Wissenschaftler/inerhalten sie dabei jedoch über die im Wissenschaftssystem erworbenen »Credenti-als«. Hieraus lässt sich, polemisch formuliert, eine Forderung für eine größere Sicht-barkeit und Aktivität von »IBlern« in öffentlichen Diskursen außerhalb des Wissen-schaftssystems ableiten, nicht jedoch etwa die Forderung, Theoriebeiträge in einerZeitschrift für internationale Beziehungen so zu schreiben, dass sich dem Referen-ten im Auswärtigen Amt ihre praktische Relevanz enthüllt. Hier ist davor zu war-nen, im Namen von Praxisrelevanz an der etablierten guten wissenschaftlichen Pra-xis zu rütteln.

Abschließend sei auf etwas verwiesen, was als der wunde Punkt der Zeitschrifterscheinen mag. Die ZIB ist in vielerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte – wirt-schaftlich ist sie es nicht. Auch wenn ihr Überleben durch eine Kombination ausAbonnementseinnahmen, Zuwendungen von Seiten der Deutschen Forschungsge-meinschaft (DFG) sowie die Unterstützung durch die Universitäten bzw. Instituteder Herausgeber bis auf Weiteres gesichert sein mag: Eine Abonnementzahl im rela-tiv niedrigen dreistelligen Bereich entspricht mutmaßlich bei weitem nicht demKreis von Leserinnen und Lesern. Während die ZIB mit der Einführung des PeerReview einen internationalen Standard in der deutschsprachigen politikwissen-schaftlichen Landschaft etabliert hat, ist dies der herausgebenden Sektion Internatio-nale Politik der DVPW bzw. der DVPW selbst im Hinblick auf einen anderen inter-nationalen Standard bislang nicht geglückt. Die British International StudiesAssociation (BISA), die International Studies Association (ISA), die britische Poli-tical Studies Association (PSA), sowie die American Political Studies Association(APSA) seien als Beispiele für politikwissenschaftliche bzw. IB-Fachvereinigungengenannt, bei denen die Mitgliedschaft den Bezug von wenigstens einer, zum Teilsogar von mehreren Fachzeitschriften einschließt – die dabei ausschließlich alsGeldquelle für die jeweiligen Gesellschaften fungieren. Dies ist als ausdrücklicheAnregung für die herausgebende Sektion der ZIB gemeint, entsprechende Mög-lichkeiten trotz der damit verbundenen Widrigkeiten zu prüfen und in Angriff zunehmen. Es wäre jammerschade, der Gratulation zum Erfolg anlässlich deszehnjährigen Bestehens der ZIB in zehn Jahren keine weitere Gratulation, sonderneinen Nachruf folgen lassen zu müssen.

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Mathias Albert: Zehn Jahre ZIB: Erfolg und erfolgreiches Scheitern

285ZIB 2/2004

Literatur

Börzel, Tanja 1997: Zur (Ir)Relevanz der »Postmoderne« für die Integrationsforschung. EineReplik auf Thomas Diez’ Beitrag »Postmoderne und europäische Integration«, in: Zeit-schrift für Internationale Beziehungen 4: 1, 125-138.

Diez, Thomas 1996: Postmoderne und Europäische Integration. Die Dominanz des Staatsmo-dells, die Verantwortung gegenüber dem Anderen und die Konstruktion eines alternati-ven Horizonts, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3: 2, 255-287.

Hellmann, Gunther/Müller, Harald 2003: Editing (I)nternational (R)elations: A ChangingWorld, in: Journal of International Relations and Development 6: 4, 372-389.

Holden, Gerard 2004: The State of the Art in German IR, in: Review of International Studies30: 3, 451-458.

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287Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 287-292

Thomas Risse

We Did Much Better!Warum es (auch) »auf amerikanisch« sein musste

In der ersten Nummer der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) findetsich eine Auseinandersetzung zwischen Gunther Hellmann (1994) und MichaelZürn (1994) über die Disziplin »Internationale Beziehungen« in Deutschland. Hell-mann plädierte für eine theorie- und problemorientierte Grundlagenforschung, diesich am (damaligen) US-amerikanischen Vorbild eleganter, auf wenige Variablenbeschränkte Bildung von Hypothesen ausrichten sollte, die anschließend rigorosempirisch getestet und potenziell falsifiziert werden können. Zürn fragte hingegen,ob es wirklich »auf amerikanisch sein« müsse, und hielt dem Streben nach mög-lichst sparsamen (parsimonious) Erklärungen die Komplexität der Welt entgegen,die man nicht völlig aus den Augen verlieren sollte.1 Wie ist diese Auseinanderset-zung zehn Jahre später zu beurteilen? Und was hat die ZIB mit all dem zu tun?

Wofür steht die ZIB nach zehn Jahren? Es steht außer Frage, dass sich die ZIBschnell als wichtigste IB-Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum etabliert hat.Allerdings ist die Konkurrenz überschaubar geblieben, denn die eher politikorien-tierten Zeitschriften zur internationalen Politik (Internationale Politik, Welttrendsusw.) bedienen einen völlig anderen Markt. Trotzdem ist festzuhalten, dass diewichtigsten deutschsprachigen Aufsätze zu den Grundlagen der InternationalenBeziehungen heute in der ZIB veröffentlicht werden – und nicht etwa (mehr) in derPolitischen Vierteljahresschrift (PVS). Aber wie sieht es mit Hellmanns damaligemAufruf zu einer theorie- und problemorientierten IB-Grundlagenforschung aus (vgl.dazu auch das Editorial von Klaus Dieter Wolf 1994)? Auch hier sieht die Bilanzrecht positiv aus. Nehmen wir als Beispiel das Heft 1/2004 zur Hand:- Stichwort Theoriebildung: Benjamin Herborth (2004) diskutiert die »via media

als konstitutionstheoretische Einbahnstraße« als Beitrag zum Akteur-Struktur-Problem.2

- Stichwort Grundlagenforschung: Der Beitrag von Andreas Wimmel (2004) ent-wirft ein theoretisches Modell für eine transnationale europäische Öffentlichkeit,das anschließend an einem empirischen Fallbeispiel illustriert wird.

- Stichwort Problemorientierung: Fünf Forumsbeiträge diskutieren den »11. Sep-tember 2001 und die Folgen für die Disziplin ›Internationale Beziehungen‹«. Einweiterer Beitrag widmet sich der Anti-Terrorismuspolitik der Vereinten Natio-

1 Zehn Jahre später hat Gunther Hellmann offenbar seine damalige Haltung modifiziertund sieht heute das Streben nach möglichst sparsamen und auf wenige Variablenbeschränkte Erklärungen wesentlich kritischer. Vgl. Hellmann/Müller (2003: 377).

2 Wobei dieser Beitrag teilweise etwas schwer verdaulich ist: Was, bitte, ist die »bornierteAkkumulation von Lustquanten« (Herborth 2004: 62)?

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Geburtstagssymposium

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nen (Behr 2004). Allerdings sind solche Beiträge mit explizitem Bezug zur aktu-ellen Politik aus einer IB-Fachperspektive bisher eher selten. Hier könnte inZukunft sicher mehr geschehen.

Noch etwas fällt am Heft 1/2004 auf: Die wissenschaftlichen Aufsätze stammenallesamt aus den Federn des wissenschaftlichen Nachwuchses. Ein kurzer Blick aufdie Inhaltsverzeichnisse von zehn Jahrgängen der ZIB macht deutlich, dass diesnicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellt. In der ZIB veröffentlichen nichtnur, aber vor allem NachwuchswissenschaftlerInnen. Dabei zeigt ein kurzer Blicküber den Tellerrand, dass die ZIB mit dieser Tendenz nicht allein steht, sondern sichin guter Gesellschaft mit anderen politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften befin-det – von der Politischen Vierteljahresschrift über International Organization,International Studies Quarterly, World Politics bis zum European Journal of Inter-national Relations. Der Grund für diesen Trend ist einfach: Es hat mit dem »ameri-kanischen Weg« zu tun, auf den sich die ZIB von Anfang an und als erste deutsch-sprachige Fachzeitschrift überhaupt begeben hat. Doppelt anonymisierteGutachterverfahren waren vor zehn Jahren in Deutschland noch die Ausnahme.Heute gehören Peer Reviews zum Standard, und Publikationen in Zeitschriften mitGutachterverfahren sind selbst in Deutschland zunehmend relevant für die wissen-schaftliche Karriere. Meritokratische Verfahren der Manuskript-Auswahl eröffnenzum einen NachwuchswissenschaftlerInnen eine faire Chance zur Publikation, weilsie nicht mehr fürchten müssen, aufgrund von fachfremden Senioritätskriterien inder Konkurrenz um einen beschränkten Platz im Heft ausgegrenzt zu werden. Zumanderen hat sich in Deutschland inzwischen herumgesprochen, dass die Devise»publish or perish« lautet und dass deshalb der wissenschaftliche Nachwuchs sehrviel früher mit der Publikation eigener Beiträge beginnen muss, um damit auchinternational wettbewerbsfähig zu werden. Hier hat die ZIB für die deutsche Politik-wissenschaft insgesamt die Standards gesetzt.

Insgesamt ist die ZIB damit Ausdruck der fortschreitenden Professionalisierungder Disziplin Internationale Beziehungen in Deutschland »auf amerikanisch«. Daswirkt sich bis in die formale Struktur der Beiträge aus. Vorbei sind die Zeiten desguten, alten deutschen Essays, bei dem AutorInnen den Spannungsaufbau so weittrieben, dass erst auf Seite 35 langsam klar wurde, wohin die argumentative Reisegehen sollte. Was den formalen Aufbau angeht, so lesen sich ZIB-Beiträge inzwi-schen so ähnlich wie Aufsätze im American Political Science Review oder in Inter-national Organization: In der Einleitung erfolgt eine kurze Hinführung zum Thema,dann wird das zentrale Argument zusammengefasst; es folgt ein Überblick über denArgumentationsgang (die »roadmap«), bevor die Thematik dann im einzelnen ent-faltet wird (vgl. exemplarisch wiederum die Beiträge in Heft 1/2004).

Führt diese Orientierung an anglo-amerikanischen Professionalisierungsstandardszu einem konservativen Bias und zu immer größerer Praxisferne, wie es die beidenZIB-Herausgeber Gunther Hellmann und Harald Müller (2003) zu befürchten schei-nen? Ich denke nein. Erstens ist es Sache der Herausgeber, GutachterInnen zubestellen, die innovative Beiträge auch dann akzeptieren, wenn sie den eigenenDenkschablonen widersprechen. Zweitens ist es unsinnig, von Grundlagenfor-

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Thomas Risse: We Did Much Better!

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schung unmittelbare Praxisrelevanz zu fordern. Auch eine problemorientierteGrundlagenforschung lässt sich nicht unmittelbar in Anleitungen an die politischePraxis umsetzen. Beiträge in der ZIB folgen anderen diskursiven Regeln als Auf-sätze in der Internationalen Politik, und das ist auch gut so. Die produktive Span-nung zwischen theorieorientierter Forschung und den Anforderungen der politi-schen Praxis muss ausgehalten, sie darf nicht eingeebnet werden.

Bei der Frage, ob es »auf amerikanisch« oder »auf deutsch« sein müsse, geht esaber nicht nur um formale Kriterien wie Professionalisierung oder die Struktur vonAufsätzen, sondern auch um die inhaltliche Ausrichtung. Unterscheiden sich Bei-träge in der ZIB inhaltlich von Aufsätzen, wie man sie auch sonst in x-beliebigenanglo-amerikanischen Fachzeitschriften lesen kann? Deutet sich hier eine deutsch-sprachige community an, die ihren eigenen professionellen Diskurs entwickelt hat?Die Antwort fällt aus meiner Sicht ambivalent aus.

Einerseits fallen die meisten Beiträge in der ZIB in der Tat, wie oben angedeutet,in die Kategorie »theorie- und problemorientierte Grundlagenforschung«. Man wirdin der ZIB keine Artikel zur aktuellen Tagespolitik ohne theoretische Reflexion undauch keine rein deskriptiven Beiträge lesen können. Induktiv vorgehende empiri-sche Studien, wie sie in der Policy-Forschung üblich sind, haben damit wenig Chan-cen, das Begutachtungs-Verfahren zu überstehen (vgl. den Beitrag von Tanja Börzelin diesem Heft). Reine Theorie-Beiträge sind selten zu finden, aber sie kommenimmerhin vor. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die ZIB-Aufsätze nicht von denBeiträgen, die man auch in IO, EJIR oder dem Review of International Studies fin-det. Das Mantra der »theoriegeleiteten empirischen Grundlagenforschung« hat diedeutsche IB-community erreicht. Insofern musste es »auf amerikanisch sein«.

Aber Hellmanns (1994) Beitrag in der ersten ZIB ging ja einen Schritt weiter. Erforderte damals einen bestimmten Typus theoriegeleiteter empirischer Forschung,nämlich das rigorose Testen konkurrierender Hypothesen. Diesen »amerikanischenWeg« ist die deutsche IB-community in der ZIB nicht gegangen, und Studien dieserArt kommen nach wie vor höchst selten aus der deutschsprachigen ForscherInnen-gemeinschaft (vgl. aber Rittberger 2001). Die meisten theoriegeleiteten empirischenAufsätze in der ZIB sind nicht dem Test konkurrierender Hypothesen verpflichtet,sondern die Empirie dient hier der Untermauerung und Illustration eines theoreti-schen Arguments. Dabei gehen die meisten Aufsätze in der ZIB methodenbewusstvor und diskutieren alternative Erklärungen bzw. kontrollieren dafür (andernfallswürden spätestens hier die GutachterInnen eingreifen). Aber es herrscht in denmeisten ZIB-Aufsätzen angesichts einer komplexen Wirklichkeit eine gesundeSkepsis gegenüber monokausalen Erklärungen und linearen Regressionsmodellen(vgl. dazu auch Mayer 2003).3

3 Damit kein Missverständnis entsteht: Ich habe keinerlei Sympathie für diejenigen, dieden Verzicht auf das Testen konkurrierender Hypothesen verwechseln mit dem Verzichtauf kausale Erklärungen oder gar auf methodenbewusste Sozialwissenschaft überhaupt.Mir geht es hier lediglich um die Differenz zwischen Vorstellungen von Kausalität alslineare Regressionsmodelle und einem Denken in multivariaten Modellen bzw. in konfi-gurativer Kausalität.

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Geburtstagssymposium

290

Auch einen anderen »amerikanischen Weg« ist die ZIB im Allgemeinen nichtgegangen (Ausnahmen bestätigen die Regel): Auf stilisierte Theoriedebatten wurdemeist verzichtet. Das gilt selbst für die wichtigste Theoriedebatte, die bisher in derZIB geführt wurde und die inzwischen als »die ZIB-Debatte« in die internationaleTheoriediskussion der IB eingegangen ist. Ich meine – natürlich – die Debatte umkommunikatives Handeln, die Harald Müller (1994) mit seinem Beitrag in der ers-ten Ausgabe der ZIB 1994 eingeleitet hat. Zwar folgte diese Auseinandersetzungzwischen Rational Choice und Sozialkonstruktivismus »auf deutsch« in der Früh-phase teilweise dem Format von theoretischen Gladiatorenkämpfen, wie wir das ausder amerikanischen IB gewöhnt waren. Aber diese Tendenz gab sich schnell wiederzugunsten eines Trends zum Bauen theoretischer und methodischer Brücken zwi-schen den beiden metatheoretischen Ansätzen (z. B. Zangl/Zürn 1996; Keck 1997;Schimmelfennig 1997; vgl. dazu auch Wiener 2003). Inzwischen hat die ZIB-Debatte international Anstöße gegeben für verschiedene empirische Projekte, dieaus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven versuchen, kommunikatives Han-deln in den internationalen Beziehungen zu analysieren.4 Was lässt sich positiveresüber eine Theoriedebatte sagen, als festzustellen, dass sie in der empirischen For-schung »angekommen« ist?

Zusammenfassend lässt sich aus meiner Sicht festhalten, dass die ZIB insbeson-dere dort anglo-amerikanischen Wegweisern gefolgt ist, wo es um formale Stan-dards wie etwa die Einführung anonymisierter Begutachtungsverfahren oder dieOrientierung an problem- und theorieorientierter Grundlagenforschung ging. Dereingeschlagene Weg aber entwickelte durchaus eigenständige Perspektiven einerdeutschsprachigen IB-community, insbesondere den Verzicht auf stilisierte Theorie-debatten und steriles Hypothesen-Testen sowie das Denken in theoretischen Brü-ckenschlägen. Auf diesem Weg sollte die ZIB weitergehen nach der Devise: »If itain’t broke, don’t fix it!« Also herzlichen Glückwunsch an die ZIB zum zehntenGeburtstag! Und weil sich schlecht einer Zeitschrift gratulieren lässt, ohne diedahinter stehenden Personen zu erwähnen, die die ZIB erst zu dem gemacht haben,was sie heute ist: Gratulation und allseitigen Beifall für Reinhard Meyers, KlausDieter Wolf, Michael Zürn, Gunther Hellmann, Harald Müller, Christoph Wellerund Nicole Deitelhoff!

4 Vgl. z. B. Schimmelfennig (2003); Joerges/Neyer (1997); Checkel (2001); Lynch (1999,2002); Ulbert et al. (2005); Holzinger (2001); Ecker-Ehrhardt (2002); Crawford (2002);Zehfuss (2002).

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Thomas Risse: We Did Much Better!

291ZIB 2/2004

Literatur

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293Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 293-299

Christoph Scherrer

»Armut und Entwicklung« in der ZIB = Fehlanzeige?

Ich bin gebeten worden, mir die ersten zehn Jahrgänge der Zeitschrift für Internatio-nale Beziehungen daraufhin anzuschauen, inwieweit der Anspruch der Herausgeberfür das Themenfeld »Armut und Entwicklung« eingelöst wurde. Ich bilde michselbst sehr gerne durch die Lektüre der Zeitschrift für internationale Beziehungenund setze auch einzelne Artikel immer wieder in der Lehre ein. Doch bei den The-men »Armut und Entwicklung« greife ich nie zur ZIB, sondern zur Peripherie. Diesmag an meiner Wahrnehmung der Herausgeber als Theoretiker der InternationalenBeziehungen mit transatlantischer Sozialisation gelegen haben. Doch nun, nachsorgfältiger Durchsicht aller Hefte, sehe ich mein Vorurteil bestätigt. Ob dieseLücke tatsächlich ein gravierendes Defizit für die ZIB darstellt, will ich im Laufedieses Beitrages noch erörtern.

Doch zunächst zum Anspruch, der von Klaus Dieter Wolf (1994) im ersten Heftformuliert wurde. Unter der Überschrift »Kriege, Gewaltpolitik und Frieden« wieser auf die Zunahme an regionalen und innerstaatlichen Zentrum-Peripherie-Konflik-ten hin. Entsprechend schlug er vor, den dependenz-analytischen Zugang an diesenneuen Konflikten zu erproben (Wolf 1994: 6). Unter der Überschrift »Die internati-onale Entwicklungs- und Ökologieproblematik« warf er die Frage nach den Grenzendes westlich-kapitalistischen Wachstumsmodells auf. Geradezu prophetisch ließ erdiesen Abschnitt mit folgendem Satz enden: »Die mit der Ausbreitung der Wirt-schaftswelt möglicherweise generell verbundene Verschiebung der Gewichtungzwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ist in ihren Konsequenzen wederfür künftige Formen des Konfliktaustrags noch unter dem ›governance‹-Aspekt aus-reichend erforscht« (Wolf 1994: 8). Es ist sicherlich ein Verdienst der ZIB, eine the-oretische Auseinandersetzung über die Rolle nichtstaatlicher Akteure in den interna-tionalen Beziehungen befördert zu haben. Doch blieb der Blick auf nichtstaatlicheAkteure innerhalb der OECD-Welt beschränkt.

Drei Jahre später beklagte Michael Zürn (1997: 217) in seinem Editorial dieUnterrepräsentanz von Arbeiten aus der Perspektive der »Internationalen Politi-schen Ökonomie«, von Analysen zu den internationalen Wirtschaftsbeziehungenund der internationalen Entwicklungsproblematik. Weitere vier Jahre später stellteer fest, dass Fragen zur globalen politischen Ökonomie empirisch gehaltvoll in Bei-trägen bearbeitet worden seien (Zürn 2001: 177). Das Editorial von Gunther Hell-mann und Harald Müller (2002: 5) zum Wechsel der Redaktion von Bremen nachFrankfurt am Main konnte dann keine großen Defizite mehr hinsichtlich der The-men feststellen, die in den einzelnen Rubriken vertreten sind. Dies gilt es nun fürArmut und Entwicklung zu prüfen.

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In welcher Form fand die Armuts- und Entwicklungsproblematik überhaupt Ein-gang in die Beiträge der ZIB? Zu vermuten wäre, dass sie dort Erwähnung fand, woes um die Länder des globalen Südens ging. Mit diesen Ländern haben sich vierGruppen von Artikeln beschäftigt: Beiträge direkt zu Ländern dieser Region, zurAußenpolitik von OECD-Staaten gegenüber diesen Weltregionen, zur Verbreitungvon Demokratie und Menschenrechten und zur Globalisierung. Bei den Arbeiten zuRegionen außerhalb der OECD fällt auf, dass sie erstens dünn gesät sind und zwei-tens sowohl die Außenpolitiken aufstrebender Mächte wie China und Indien alsauch zentrale Konfliktregionen weitgehend aussparen. Unter den wenigen Beiträgenist vor allem der von Barbara Christophe (1998) zum politischen Verhalten des rus-sischen Energiekomplexes hervorzuheben, der zwar Entwicklung nicht per sebehandelte, doch die politischen Folgen einer spezifischen Entwicklungsstrategie.Ebenfalls mit den Folgen des »Petrolismus« beschäftigte sich Martin Beck (1997),allerdings hinsichtlich des Nahostkonflikts, der jedoch in Anbetracht seiner weltpo-litischen Bedeutung insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit auf den Seiten der ZIBerhielt. Genau auf diese Lücke verwies Beck im Jahre 2002. In diesem zweiten Bei-trag demonstrierte er überzeugend, wie dieser Konflikt für einen Vergleich derErklärungskraft theoretischer Paradigmen auf dem Felde der Internationalen Bezie-hungen genutzt werden kann. An seinem Beitrag wird deutlich, dass es eine Frageder theoretischen Perspektive ist, inwiefern Entwicklung, genauer: Entwicklungsun-terschiede, als Erklärungsfaktoren für Konflikte herangezogen werden (siehe unten).Zwei weitere Beiträge beschäftigten sich mit dem Phänomen regionaler Kooperatio-nen innerhalb der Weltwirtschaft, wobei allerdings weniger im Vordergrund stand,inwiefern diese zur Überwindung von Armut und Entwicklung beitragen, sondernwie sie angesichts der Globalisierung erklärt werden können (Schirm 1997) bzw.inwiefern wenig institutionalisierte Kooperationsformen tendenziell effektiver aufKrisen zu reagieren vermögen (Rüland 2002).

Die Analysen zur Außenpolitik versuchten, selbst wenn sie die Entwicklungspro-blematik im Titel trugen (Schrade 1997), die jeweils verfolgte Außenpolitik vor-nehmlich mittels innenpolitischer Faktoren zu erklären. Die Wirkung dieser Politi-ken auf Entwicklung und Armutsbekämpfung bzw. auf andere mit ihnen verfolgteZiele war nicht Teil der behandelten Fragestellungen (Schmitz 1995; Schlichte1998). Eine gewisse Ausnahme stellt Andreas Nölkes (1994) Untersuchung derGeberkoordination für Afrika dar, doch auch hier stand das Ausloten der Potenzialeder Netzwerkanalyse im Vordergrund.

Der Entwicklungsproblematik nahe gekommen ist die Forschungsgruppe Men-schenrechte (1998), die die Wirkung internationaler Normen und transnationalerNetzwerke bei ihrer Durchsetzung untersuchte. Allein der Beitrag von HerbertObinger (2001) beschäftigte sich explizit mit einem vermuteten Bedingungsfaktorfür Wirtschaftswachstum, der Demokratie. Sein Literaturbericht kommt zu der ent-wicklungspolitisch gehaltvollen Aussage, dass kein trade-off zwischen demokrati-schen Staatsstrukturen und ökonomischer Entwicklung besteht.

Der innerhalb der ZIB den Globalisierungsdiskurs eröffnende Beitrag von LotharBrock und Matthias Albert (1995) zur Entgrenzung der Staatenwelt bezog sich noch

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Christoph Scherrer: »Armut und Entwicklung« in der ZIB = Fehlanzeige?

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ganz auf die OECD. Auch Jürgen Neyers (1995) Artikel im selben Heft zum wach-senden Antagonismus zwischen globalem Markt und territorialem Staat streifte dieEntwicklungsproblematik nur am Rande, und zwar hinsichtlich der neuen Optionenfür Entwicklungsländer in arbeitsintensiven Bereichen aufgrund der Entstofflichungund Entgrenzung der Weltwirtschaft. Erst Dietrich Jungs (1998) Aufsatz zur Welt-gesellschaft als theoretisches Konzept der Internationalen Beziehungen beschäftigtesich mit den globalen Ungleichheiten. Er diagnostizierte eine Differenz zwischenfunktionaler und sozialer Integration der Erdbevölkerung als Quelle von Konflikteninnerhalb der Weltgesellschaft. Allerdings blieb die Frage nach den Möglichkeitender Überwindung dieser Differenz bei ihm außen vor. Das gleiche gilt auch für denzweiten Beitrag zur Weltgesellschaft aus der kritischen Perspektive von ChristophGörg (2002). Doch bei ihm finden sich zwei Einsichten, die für eine intensiveBeschäftigung mit Armut und Entwicklung sprechen. Zum einen die These, dasssich die Globalisierung »geradezu als Prozess der Erzeugung ungleicher Entwick-lung definieren« (Görg 2002: 296) lässt. Zum anderen ermahnte er die Leserschaft,dass aus der Tatsache, dass ein großer Teil der Menschheit für das Funktionieren derWeltgesellschaft überhaupt keine Rolle mehr spielt, nicht geschlossen werden sollte,dieser könne auch theoretisch vernachlässigt werden: »[…] gleichzeitig lässt sichauch feststellen, dass selbst periphere Ereignisse wie der Aufstand [der Zapatisten]mittelfristige Folgen zeitigten, die das Funktionieren des globalen Systems tangie-ren. Daher darf diese Exklusion nicht noch dadurch theoretisch verdoppelt werden,dass man sich sowieso nur noch mit der OECD-Welt beschäftigt« (Görg 2002: 297).Ulrich Brand (2003) schloss daran an und deckte auf, wie selbst im Global-Gover-nance-Diskurs diese Exklusion fortgesetzt wird, indem die Ungleichheiten zwischenden Akteuren diskursiv unsichtbar gemacht werden. Nicht die konfliktiv ausgetra-gene Überwindung der Ungleichheiten, sondern das effiziente Management derUngleichheiten unter Einschluss von selbst ernannten SprecherInnen der größten-teils exkludierten Bevölkerung stünde im Vordergrund. Insgesamt spiegelt sichsomit der Anspruch auf Behandlung der Thematik von Armut und Entwicklung nurin weltgesellschaftlichen oder politökonomischen Perspektiven wider, aber dortletztlich auch nur an den Rändern.

Man kann nun einerseits beklagen, dass der Anspruch nicht eingelöst wurde. Ande-rerseits kann auch der Anspruch unangemessen gewesen sein. Was bringt dieBeschäftigung mit Armut und Entwicklung dem Feld der Internationalen Beziehungenüberhaupt? In der substanziellen Fassung dieses Problemfelds als »Armut und Ent-wicklung« wohl wenig. Wie am besten Entwicklung gefördert und Armut bekämpftwerden kann, das kann den EntwicklungsexpertInnen genauso überlassen werden, wiedie optimale Ausgestaltung des Sozialstaates in den OECD-Ländern eine Frage für dievergleichende Sozialstaatsanalyse ist. Doch in einem relationalen Zugang zu diesemProblemfeld als Frage globaler Ungleichheit, als ein Spannungsverhältnis zwischenHaben und Nicht-Haben, zwischen wirtschaftlich-militärischer Überlegenheit undumfassender Abhängigkeit, dürfte die Behandlung von Armut und Entwicklung vongrößter Relevanz sein, und zwar als eine zentrale Konfliktachse in den internationalenBeziehungen bzw. innerhalb der Weltgesellschaft.

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Dies dürfte spätestens nach den Terroranschlägen auf das World Trade Centerund das Pentagon am 11. September 2001 evident geworden sein. In der Tat, einigeder von der ZIB eingeladenen Autoren, die im ersten Heft des Jahres 2004 übernine-eleven und die Folgen für die IB-Disziplin räsonieren sollten, fordern eineintensive Beschäftigung mit dem wirtschaftlichen Kontext der Herkunftsländer derheutigen Terroristengeneration. So meint Charles A. Kupchan (2004: 104), dass derTerrorgefahr, die aus failed states erwächst, häufig am besten durch Nicht-Sicherheitsmaßnahmen begegnet werden kann, z. B. durch wirtschaftliche Entwick-lung. Für Harald Müller ist kein Zugang zu Kriegsökonomien möglich »ohne denBlick auf die Globalisierung in ihren kommunikativen und ökonomischen Aspekten.Die politische Ökonomie des betroffenen Landes oder der Region muss verstandenwerden […]« (Müller 2004: 129). Doch weil bei beiden die wirtschaftliche Dimen-sion des Terrorismus auf die Herkunftsregion beschränkt bleibt, nimmt sie letztlicheine untergeordnete Rolle innerhalb ihrer Analysen ein. Sie bleibt lokalisiert, ohnesystemischen Charakter für die Weltpolitik. Anders bei Stefano Guzzini, der dieDisziplin darauf hinweist, dass der Terrorismus außerhalb des Mainstreams durch-aus schon vor dem 11. September bearbeitet wurde, z. B. in Arbeiten in der Tradi-tion der Internationalen Politischen Ökonomie, die sich mit der »Privatisierung derGewalt befasst und transnationale Phänomene in den Vordergrund gestellt haben«(Guzzini 2004: 139f). Dieter Senghaas geht im Streitgespräch mit Herfried Münklerin den Blättern für deutsche und internationale Politik noch weiter; nicht das Sicher-heitsdilemma sei der Kern der Theorie der Internationalen Beziehungen, sonderndas Entwicklungsdilemma: »Nur aus dem Verständnis der jeweiligen Entwicklungs-dynamik sowie der unterschiedlichen Entwicklungs- und Fehlentwicklungslagen,die es in der Welt heute gibt, erklärt sich das jeweilige Sicherheitsdilemma einerRegion« (Münkler/Senghaas 2004: 551).

So zeigt es sich einmal mehr, dass der Anspruch, Arbeiten zu Armut und Entwick-lung zu veröffentlichen, letztlich eine Frage nach den theoretischen Traditionen ist,die Raum zur Darstellung erhalten sollen. Die Perspektive der Weltgesellschaft oderder Internationalen Politischen Ökonomie öffnet den Blick darauf, dass sozialeUngleichheit nicht nur zwischen den Nationen, sondern zudem quer zu den Natio-nen entlang der jeweiligen Marktstellung (bzw. Klassenlage) der Menschen vorzu-finden ist und dass in dieser Ungleichheit erhebliches Konfliktpotenzial steckt.

Ließe sich von der Beschäftigung mit Entwicklung nicht auch jenseits der jeweilsfavorisierten Theorien etwas lernen? Ich denke ja, denn auf diesem Felde haben imletzten Jahrzehnt seit dem Ende der entwicklungspolitischen Gewissheiten sehrspannende theoretische Diskussionen stattgefunden (siehe z. B. Third World Quar-terly). Beispielsweise könnte der Anti-Entwicklungsdiskurs für andere Theorietradi-tionen der Internationalen Beziehungen mindestens in zweifacher Weise Anregun-gen liefern. Zum einen bietet er einen Perspektivenwechsel an, der insbesondere dieGlobal-Governance-Debatte bereichern könnte. Diese geht davon aus, dass die glo-balen Probleme durch ein effizientes Management bewältigt werden könnten, wobeidiejenigen für besonders geeignet gehalten werden, die aus Ländern stammen, indenen sich ein solches effizientes Verwaltungshandeln durchsetzen konnte oder die

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Christoph Scherrer: »Armut und Entwicklung« in der ZIB = Fehlanzeige?

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von Organisationen stammen, die für ein effizientes Management bekannt sind, d. h.die transnationalen Konzerne oder Nichtregierungsorganisationen. Aus der Anti-Entwicklungssicht stellen gerade diese Akteure, ihre materielle Basis und ihre ratio-nale Weltanschauung das Problem dar (vgl. Sachs 1992). Wenngleich die von denProtagonisten der Anti-Entwicklungsperspektive angebotenen Alternativen wenigzu überzeugen vermögen (Pieterse 2000), so erscheint mir gerade für Personen, wiemich selbst, die den dominanten Regionen dieser Welt entstammen und entspre-chend eher zu universellen Lösungsansätzen neigen, die Infragestellung der eigenenProblemlösungsfähigkeiten ein gutes Korrektiv für Allmachtphantasien zu sein (undinsbesondere gegenüber dem Imperium-Diskurs von Menzel 2004 und Münkler2004). Zudem kann sie dazu anhalten, statt anderen Ratschläge zu geben, Fehlent-wicklungen in den Konsum- und Produktionsnormen des eigenen, westlichen Kol-lektivs einzugestehen und entsprechend zu versuchen, die Kosten dieser Fehlent-wicklung nicht zu externalisieren, sondern durch Verhaltensveränderungen zuinternalisieren. Zum anderen wird durch den Anti-Entwicklungsdiskurs in den poli-tischen Debatten deutlich, dass die radikale Infragestellung westlicher Wirtschafts-formen nicht nur von religiösen Eiferern, sondern auch innerhalb eines rationalen,wissenschaftlichen Diskurses vorgetragen werden kann.

Vor allem aber liegt es für die ZIB, die sich in der Auseinandersetzung mit demKonstruktivismus große Verdienste erworben hat, nahe, sich mit den postkolonialenStudien (vgl. Gandhi 1998) auseinander zu setzen. Sie gehen – über materialistischeVerkürzungen hinaus – der Frage nach den Identitätsformierungen in von ungleich-zeitigen Modernisierungsprozessen zerrissenen Gesellschaften unter der Bedingungglobaler Machtasymmetrien nach. Gleich dem Anti-Entwicklungsdiskurs liefern diepostkolonialen Studien eine Außensicht auf die dominanten – und damit auchzumeist unsere – Identitätsbildungsprozesse, gleichwohl um das Konzept der hybri-den Diskurse und Identitäten (Bhabha 1994) bereichert. Dieses weist auf Ambivalen-zen in den dominanten Diskursen hin, die Formen der Subversion ermöglichen, undauf die Brüchigkeit und »Unreinheit« von Identitäten. Kurzum: Die Prozesse sozialerKonstruktionen werden fluider und widersprüchlicher konzipiert, als dies in vielenkonstruktivistischen Beiträgen in der ZIB der Fall ist.

In der Summe möchte ich deshalb dafür plädieren, am alten Anspruch festzuhal-ten, ihn jedoch zugleich inhaltlich durch eine Verschiebung der Thematik von»Armut und Entwicklung« zu allen Formen der sozialen Ungleichheit für die Theo-rien der Internationalen Beziehungen angemessener zu positionieren. Die Einlösungdieses neu formulierten Anspruches sollte aber nicht weitere zehn Jahre auf sichwarten lassen.

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Hartmut Elsenhans

Konstruktivismus, Kooperation, Industrieländer – IB

Die Zeitschrift für Internationale Beziehungen hat in den zehn Jahren ihrer Existenzein beachtliches Profil gewonnen, weil sie die Option einer theoretischen Konzent-ration auf eigene Themen wahrgenommen und auf diesem Weg relevanten, mitein-ander vernetzten theoretischen Positionen im Feld der Internationalen BeziehungenGehör verschafft hat. Die Leistung der ZIB im vergangenen Jahrzehnt wird abernicht geschmälert, wenn man auch die Begrenztheit dieses Profils beschreibt: Kon-struktivismus auf theoretischer Ebene, Kooperation und Integration auf der interna-tionalen und transnationalen Ebene und zunehmend »weltgesellschaftlich«bestimmte Strukturen, insbesondere im Rahmen der europäischen Einigung.

Die ZIB wandte sich gegen zwei theoretische Positionen: ökonomistische Interes-senableitungen, wie sie in Imperialismus- und Dependenztheorie vorzufindenwaren, und den staatszentrierten Realismus, der aus geopolitischen objektiven Inter-essenlagen innerhalb eines anarchischen Staatensystems von den Akteuren nichtmodifizierbare Interessen ableitet.

1. Das analytische Instrument: Der Konstruktivismus

Relative Machtsteigerung ergibt sich als konstruierte normative Regel in einer Weltder Anarchie, in der die Notwendigkeit der Machtballung durch kollektive Organi-sation stets auch die Möglichkeit des Missbrauchs von Macht einschließt. Im inner-staatlichen Bereich neutralisiert die legitime Regierung wenigstens teilweise dieaufgrund von Organisation und Gewaltbereitschaft erzielten Machtvorsprünge ein-zelner Gruppen, indem sie die schweigende Mehrheit dadurch repräsentiert, dassdiese ihr ohne Zögern Steuern und Personal zur Verfügung stellt. Im internationalenBereich sieht die realistische Schule keine über den Staaten stehende Institution, diesolche aus der Demokratietheorie übernommenen Kontrollen und Gleichgewichtedurchsetzen kann. Die Staaten müssen deshalb durch Koalitionen gegen Minderhei-ten darstellende Staaten vorgehen, die sich mit höherer Gewaltbereitschaft internati-onal durchzusetzen versuchen. Gerade zu ihrem Beginn war die realistische Schulenicht an Gewaltsamkeit, sondern an der Beherrschung von Gewalt orientiert.

In der Betonung der sozialen Konstruktion von Interessen hat die ZIB die reicheTradition der Außenpolitikanalyse nur bedingt aufgreifen können. Kehrs (1970)Analyse des Ersten Weltkriegs als Folge einer konstruktivistisch zu erklärendenSelbsteinkreisung Deutschlands oder sein Vergleich der unterschiedlichen Ausfor-mungen des imperialistischen Missionsdenkens in Deutschland, Frankreich undGroßbritannien ist nicht aufgenommen worden (vgl. Kehr 1930: 423f). Die

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Geburtstagssymposium

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Beschreibung von Deutungsmustern, die Ausgangspunkt einer Theoriebildung überdie gesellschaftliche und kulturelle Bedingtheit von handlungsleitenden Wahrneh-mungsmustern und Weltbildern hätte werden können, ist nur in Ansätzen erfolgt.Die Übereinstimmung zwischen den kosmopolitisch konzipierten Deutungsmusternund kooperationsgeneigtem außenpolitischem Verhalten wäre dadurch erschüttertworden. Die beiden großen antikolonialistischen Kriege des 20. Jahrhunderts, derAlgerienkrieg und der Vietnamkrieg, wurden mit kosmopolitischen Deutungsmus-tern begonnen und von realistisch argumentierenden Politikern (Charles de Gaulle,Richard Nixon) beendet. Die These, dass kosmopolitische Deutungsmuster, wie dasKonzept der Global Governance, zu Herrschaftsideologien pervertieren können, hatzu einer der wenigen scharfen Kontroversen innerhalb der ZIB geführt (vgl. Görg2002; Brand 2003; Weller 2003).

Gerade weil Interessen konstruiert sind, können sich Deutungsmuster verselbst-ständigen. Die Auseinandersetzung um Deutungsmuster kann dann gleich einemKampf der Bücher beschrieben werden, indem Deutungsmuster entgegenstehendeFakten so integrieren, dass Lernprozesse über die Notwendigkeiten außenpoliti-schen Verhaltens, die realistische Ansätze durchaus sehen, blockiert werden. So hatdie Modernisierung des klassischen Deutungsmusters kolonialer Herrschaft, näm-lich deren Rechtfertigung durch Bereitstellung von Macht und Gerechtigkeit, in derTheorie des antisubversiven Krieges für Jahre die zu Reformen bereite französischeMehrheit am logischen Folgeschritt, der Kooperation mit der algerischen Befrei-ungsbewegung, gehindert (vgl. Elsenhans 2000: 384-399).

Aus Deutungsmustern ergeben sich Rückkopplungen, die Verhalten bestimmenund anschließend die Konstrukteure von Deutungsmustern mit Material versorgen,aufgrund dessen sie an diesen Deutungsmustern festhalten. Prozesse der Konstruk-tion und Aufrechterhaltung von Deutungsmustern sollten deshalb vermehrt Gegen-stand empirischer Untersuchungen werden. Dabei würde sich wahrscheinlich zei-gen, dass die Differenz zwischen Realismus und Konstruktivismus nicht so groß ist,wie die meisten Beiträge vermuten. Sicherheit und wirtschaftliche Interessen sindselbst Gegenstand der Deutungsmuster, weil sie Grundvoraussetzung der Reproduk-tion der Kollektive sind, die auf Staaten und internationale Organisationen Einflussnehmen. Die Angemessenheit der Deutungsmuster ist für ihre Durchsetzung geradebei diesen beiden Interessen langfristig bedeutsam: Als deutlich wurde, dass derAlgerienkrieg oder der Vietnamkrieg nicht zu gewinnen waren, haben die entschei-denden Akteure die Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen der jeweiligen imperia-listischen Metropolen umgedeutet.

Das realistische Paradigma erscheint als Sonderfall des Konstruktivismus:Behauptet wird hier, dass die überragende Bedeutung der Sicherheitsfrage, imschlechten Fall realitätsunangemessener Deutungen über neue Niederlagen, unver-meidlich zu Lernprozessen führt. Konstruktivismus hält der implizierten Ablehnungvon Kooperation entgegen, dass aufgrund der Alternativen im Gefangenendilemmader realistische Rückzug auf Misstrauen und Nichtkooperation dann vermieden wer-den kann, wenn beide Kontrahenten aufgrund konstruktivistischer Interessendefini-

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Hartmut Elsenhans: Konstruktivismus, Kooperation, Industrieländer – IB

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tionen die kooperative Lösung wählen und auf diese Weise pfadabhängig Vertrauenin kooperative Lösungen schöpfen.

Der in der ZIB gepflegte Konstruktivismus fragt nach der Möglichkeit der kom-munikativen Veränderung der Gewaltneigung von Akteuren durch sich wechselsei-tig verstärkende Elemente in den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Struk-turen und deren Rekonstruktion im Bewusstsein der Akteure (z. B. Müller 1994,1995; Risse-Kappen 1995; Zangl/Zürn 1996).

2. Kooperation versus Dominanz des Staates

Dass zunehmende internationale Verflechtung Konfliktpotenziale schaffen kann,wird in der ZIB erst in den letzten Jahren im Zusammenhang mit den Auswirkungenvon Globalisierung thematisiert. Sie wird in Verbindung gebracht mit Vereinheitli-chungs- und Angleichungstendenzen, die von Fragmentierungstendenzen begleitetwerden (Görg 2002).

Dass Fragmentierungstendenzen staatliche Regulierung und damit Abgrenzungbedeuten können, bedarf noch der theoretischen Unterfütterung. Die Scheu vor derAnerkennung des Staates als einer Clearing-Instanz für im Globalisierungsprozessunterschiedlich berücksichtigte Akteure lässt bisher Untersuchungen vermissen, diesich mit abgrenzendem Verhalten beschäftigen, das darauf zielt, territorial begrenzteClearing-Instanzen wiederherzustellen. Die Analogie zur Interpretation der wirt-schaftlichen Globalisierung durch die neoklassische Theorie bietet sich hier an. Dieneoklassischen Anhänger der Globalisierung sehen alle beteiligten Wirtschaftssub-jekte als potenzielle Gewinner verstärkter Integration, weil Spezialisierung bei»richtigen« Preisen langfristig zu Vollbeschäftigung und damit auch zu Verhand-lungsmacht vorübergehender Verlierer auf dem Arbeitsmarkt führen muss. Frühzei-tig wurde aber gerade bei den erfolgreichen Wirtschaften Ost- und Südostasiens auf-gezeigt, dass nicht die Anpassung an den Weltmarkt über niedrige Reallöhne dasÜberspringen der vom Exportsektor ausgelösten Wachstumsimpulse auf den Restder Wirtschaft sicherte, sondern die staatlich vermittelte Einbindung des Exportsek-tors in die binnenwirtschaftliche Entwicklung (Agrarreform, staatliche Stützung derwirtschaftlichen Diversifizierung).

Der Erfolg von exportorientierter Industrialisierung in eher egalitären Gesell-schaften und ihr Misserfolg in weiterhin rentendominierten Gesellschaften mit starkungleicher Verteilung zeigt, dass die Erfolge von Globalisierung von der internenStruktur der einbezogenen Gesellschaften abhängen und die bloße Einbeziehung inden Globalisierungsprozess diese internen Strukturen nicht notwendig in Richtungauf Kooperationsbereitschaft verändert, sondern möglicherweise eher blockiert.Staatliche Kompensation der sich unmittelbar auswirkenden Effekte von Globalisie-rung kann langfristig Globalisierung vertiefen.

Ähnlich kann auf der politischen Ebene argumentiert werden, dass Kooperationkein Wert an sich ist, sondern durchaus mit Abgrenzung einhergehen kann, zu derenDurchsetzung auch Konflikt notwendig sein mag. Die Anerkennung der Relativität

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des Werts von Kooperation kann konstruktivistisch dazu beitragen, die gewaltfreieAustragung solcher Konflikte zu erleichtern.

Sobald Kooperation in unterschiedlichen Strukturen unterschiedliche Auswirkun-gen hat, stellt sich die Frage nach den Strukturen, welche die Akteure durch ihreReaktion auf die Entwicklung ihrer internationalen Umwelt und der auch von ihrmitgeprägten lokalen (nationalen) Umwelten selbst produzieren. Wird die Welt derOECD verlassen, stellt sich dabei die Frage nach den Auswirkungen der Vermach-tung von Wirtschaft (Schlichte/Wilke 2000; Christophe 1998).

Wenn die Welt nur aus kapitalistischen Wirtschaften besteht, die zu Voll-beschäftigung wenigstens fähig sind, kann es bei allseits kooperativem Verhaltenkeine dauerhaften Verlierer geben. Über die Anpassung der Wechselkurse erreichtdas rückständige Land selbst im Fall technischen Rückfalls weiterhin Voll-beschäftigung. Es wird trotz technischer Rückständigkeit gerade bei neuen Techno-logien komparative Kostenvorteile haben, weil das führende Land bei älteren Hoch-technologien noch höhere Produktivitätsvorsprünge hat. Staatsinterventionismusund staatliche Konzentration von Renten bleiben dann begrenzt, zumindest solange– ähnlich dem späten 19. Jahrhundert – alle beteiligten Wirtschaften in diesem Pro-zess zu Vollbeschäftigung tendieren. In einer von der Koexistenz entwickelter kapi-talistischer und unterentwickelter Wirtschaften geprägten Welt treten zunächst inder unterentwickelten Welt, dann aber auch als Folge unterkonsumtiver Tendenzenin der entwickelten Welt Renten auf, deren Aneignung und Verteilung Instanzenerfordern, die nur begrenzt dem wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt sind. DieseInstanzen können nichtstaatlicher Art sein: Oft behandelt Global Governance dieRolle nichtstaatlicher Akteure bei der Zähmung von Renten zugunsten zunächstweder am Markt noch durch eigene politische Organisation verhandlungsfähigergesellschaftlicher Gruppen.

Wichtige Beiträge in der ZIB haben die fehlende demokratische Legitimierungsolcher nichtstaatlichen Akteure behandelt (Dingwerth 2003; Nölke 2000). DieFrage nach der Entlastung von nur partiell demokratischer Kontrolle unterliegendenInstanzen durch eine angemessene Rolle des Staats sollte ein Thema intensivierterForschung werden. Es würde darum gehen, die Voraussetzungen für funktionsfä-hige Marktwirtschaften in der unterentwickelten Welt durch Interventionen in stra-tegisch wichtigen Bereichen (Einkommensverteilung, Bodenverteilung) zu themati-sieren, von dort aus mögliche Rollen nichtstaatlicher Akteure abzuleiten, um dannMaßnahmen zur Stützung solcher Prozesse zu diskutieren. Das Thema der Vernet-zung nichtstaatlicher Akteure mit anderen kooperationsfördernden Akteuren würdegegenüber ihrem Einfluss auf die lokalen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichenStrukturen der Zielländer zurückgehen. Die Notwendigkeit der Begrenzung derKooperation zur konflikthaften Durchsetzung spezifischer Interessen der Armen insolchen noch durch Renten dominierten Systemen würde die Normativität von Koo-perationsneigung problematisieren.

Eine politökonomische Reflexion über die Ursachen von Entwicklung undAbhängigkeit erlaubt die Unterscheidung zwischen Strukturen, die der weltgesell-schaftlichen Integration eher abträglich bzw. förderlich sind.

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Hartmut Elsenhans: Konstruktivismus, Kooperation, Industrieländer – IB

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3. Weltgesellschaft und Staat

Die vom kapitalistischen Zentrum ausgehenden Impulse der Globalisierung warennach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers nicht stark genug, um die»Peripherie« durchzukapitalisieren. Gleichwohl sind die wirtschaftlichen Fort-schritte in einem Teil der unterentwickelten Welt beachtlich. Sie haben zum Auf-stieg neuer Mächte geführt: In Ost- und Südasien sind schon regionaleStaatensysteme entstanden, in denen die doppelte Rolle des Staates als Verteidigervon Souveränität und als Clearing-Instanz für lokale Interessengruppen gegenübertransnationalen Bindungen erheblich höhere Bedeutung gewonnen hat als heute inEuropa oder im Bereich der transatlantischen Beziehungen. Die gewichtigeren unterdiesen widersetzen sich der Einschränkungen ihrer Souveränität durch transnatio-nale Strukturen und Verrechtlichung, wie exemplarisch die Konflikte in der Welt-handelsorganisation (WTO) zeigen.

Einzelne dieser Mächte sind heute auch nach den Kategorien der realistischenSchule Großmächte. Der Irakkrieg zeigt, dass ohne Genozid eine Besetzung großerTerritorien auch durch eine mit modernsten Waffen ausgerüstete Armee nicht mög-lich ist und dass deshalb Länder wie China oder Indien auch nach der möglichenAusschaltung ihrer modernen Armeen durch die USA nicht besetzbar sind. Die USAkönnen solchen Ländern mit militärischen Mitteln ihren Willen nicht aufzwingen.

Daneben gibt es breite Landstriche, in denen die im internationalen System aner-kannten Staaten zerfallen sind. Diese Regionen werden Gegenstand von Bemühun-gen regionaler und fremder Mächte zur Sicherung von Einfluss. Der weltpolitischeOrdnungsentwurf der neuen Mächte und die Sicherung der durch Staatszerfallgekennzeichneten Regionen weisen in vieler Hinsicht Züge internationaler Politikim westfälischen System auf, selbst wenn es sich dabei nicht um Nationalstaaten mitethnisch geprägten Identitäten handelt. Die »intellektuellen« Establishments in die-sen Staaten sind im Bereich der Theorie der Internationalen Beziehungen an Staatund Gleichgewicht orientiert und deshalb den Ansätzen des Realismus in den Inter-nationalen Beziehungen nahe. Die ZIB hat mit diesen intellektuellen Establishmentskeinen nennenswerten Dialog führen können.

Wenn eine weitgehend wirtschaftlich und damit auch gesellschaftlich homogeneWeltgesellschaft kurzfristig nicht erwartet werden kann, dann gewinnt die Siche-rung des internationalen Friedens durch Gleichgewicht und »Multipolarität« neueBedeutung. Das bedeutet nicht die Rückkehr zum alten Realismus, sondern seineEinbeziehung in den von der ZIB gepflegten konstruktivistischen Ansatz.

Die Geschichtsschreibung der internationalen Beziehungen ist voll von Typisie-rungen der Fehldefinition von Interessen. Von Renten dominierte Systeme sinddafür wegen des Reichtums an nicht durch wirtschaftliche Konkurrenz festgelegteRessourcen besonders anfällig. Wenn außenpolitische Niederlagen, wie die Chinasim Opiumkrieg 1842, von der Führungselite in Siege umgedeutet werden, dann kanndie so konstruierte Realität nicht zur Einsicht in die Notwendigkeit von Kooperationführen. In seinen Anfängen hat der realistische Ansatz in den internationalen Bezie-hungen auf eine solche über die »Staatenmechanik« vermittelte Einsicht der kom-munizierenden Akteure abgehoben.

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Eines der möglichen Ziele der ZIB könnte sein, gesellschaftlich vermittelte kon-struktivistische Logiken der Interessenperzeption im transkulturellen Vergleich zutypisieren und auf ihre Kompatibilität in Bezug auf Intensivierung von Kooperationzu überprüfen.

Literatur

Brand, Ulrich 2003: Nach der Krise des Fordismus. Global Governance als möglicher hege-monialer Diskurs des Internationalen Politischen, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 10: 1, 143-166.

Christophe, Barbara 1998: Von der Politisierung der Ökonomie zur Ökonomisierung der Poli-tik. Staat, Markt und Außenpolitik in Russland, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 5: 2, 201-240.

Dingwerth, Klaus 2003: Globale Politiknetzwerke und ihre demokratische Legitimation. EineAnalyse der Weltstaudammkommission, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen10: 1, 69-110.

Elsenhans, Hartmut 2000: La guerre d’Algérie 1954–1962. La transition d’une France à uneautre. Le passage de la IV à la Ve République, Paris.

Görg, Christoph 2002: Einheit und Verselbstständigung. Probleme einer Soziologie der Welt-gesellschaft, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 2, 275-304.

Kehr, Eckart 1930: Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901. Versuch eines Quer-schnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen desdeutschen Imperialismus, Berlin.

Kehr, Eckart 1970: Englandhaß und Weltpolitik, in: Kehr, Eckart: Der Primat der Innenpoli-tik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahr-hundert, Berlin, 149-175.

Müller, Harald 1994: Internationale Beziehungen als kommunikatives Handeln. Zur Kritik derutilitaristischen Handlungstheorien, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 1,15-44.

Müller, Harald 1995: Spielen hilft nicht immer. Die Grenzen des Rational-Choice-Ansatzesund der Platz der Theorie Kommunikativen Handelns in der Analyse internationalerBeziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2: 2, 371-392.

Nölke, Andreas 2000: Regieren in transnationalen Politiknetzwerken? Kritik postnationalerGovernance-Konzepte aus der Perspektive einer transnationalen (Inter-) Organisations-soziologie, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 2, 331-358.

Risse-Kappen, Thomas 1995: Reden ist nicht billig. Zur Debatte um Kommunikation undRationalität, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2: 1, 171-184.

Schlichte, Klaus/Wilke, Boris 2000: Der Staat und einige seiner Zeitgenossen. Die Zukunft desRegierens in der Dritten Welt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 2, 359-384.

Weller, Christoph 2003: Die Welt, der Diskurs und Global Governance. Zur Konstruktioneines hegemonialen Diskurses – eine Replik auf Ulrich Brand, in: Zeitschrift für Interna-tionale Beziehungen 10: 2, 365-382.

Zangl, Bernhard/Zürn, Michael 1996: Argumentatives Handeln bei internationalen Verhand-lungen. Moderate Anmerkungen zur post-realistischen Debatte, in: Zeitschrift für Inter-nationale Beziehungen 3: 2, 341-366.

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307Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 307-311

Jürgen Rüland

Theoriediskurs auf hohem NiveauMit eurozentrischer Schieflage?

Zehn Jahre Zeitschrift für Internationale Beziehungen – Anlass für eine Zwischenbi-lanz, für einen Rückblick nicht ohne Genugtuung über das Erreichte. Denn viele derZiele, mit denen die ZIB antrat, konnten verwirklicht werden. Die ZIB ist heute dasAushängeschild der deutschen IB-Forschung. Ihre Beiträge bewegen sich auf einemkonstant hohen wissenschaftlichen Niveau. Qualitativ steht die ZIB damit internatio-nal vergleichbaren Fachzeitschriften in nichts nach. Wesentlich zu diesem Standardbeigetragen hat die zweifach anonyme Begutachtung der eingereichten Manuskripte,eine wichtige, gleichwohl verglichen mit angelsächsischen Gepflogenheiten längstüberfällige Innovation im politikwissenschaftlichen Publikationswesen der Bundes-republik. Mögen GutachterInnen in ihrer Kritik manchmal über das Ziel hinaus-schießen oder die VerfasserInnen in ein allzu enges theoretisches Prokrustesbettzwängen – viele Beiträge profitierten von diesem Verfahren. Der Verfasser dieserZeilen kann dies aus eigener Erfahrung nur nachdrücklich bestätigen.

Doch ist all dies kein Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Denn ob bei-spielsweise mit der ZIB die deutsche IB-Forschung international anschlussfähigerwurde, wie von den Gründern der Zeitschrift erhofft, muss dahingestellt bleiben.Dazu müsste sie in englischer Sprache erscheinen. Bedauerlicherweise trifft damitauch für die ZIB zu, was für viele andere führende deutschsprachige Fachjournalegilt: Mangels internationaler Rezeption kommen selbst originelle und innovativeBeiträge einem Begräbnis dritter Klasse gleich. Daran ändert auch nichts, dass dieZIB in der deutschen IB-Community mittlerweile hohes Ansehen genießt. Wer inder ZIB publiziert, wird in erster Linie von deutschsprachigen peers wahrgenom-men. Einfluss auf internationale Debatten vermag man damit kaum zu nehmen.

Immerhin aber avancierte die ZIB zu einem Forum des inter-paradigmatischenDiskurses. Dass die Debatte über Ideen und Interessen den Theorienstreit dominiert– wie die Herausgeber vor Jahren noch selbstkritisch monierten –, ändert daran nurwenig. Die ZIB ist ein Streitplatz für Konstruktivisten und Rationalisten, wobeijedoch auffällt, dass der Rationalismus vorwiegend in seiner institutionalistischenSpielart zum Zuge kommt. Dem Realismus verpflichtete Beiträge findet man,anders als in dem erklärten US-amerikanischen Vorbild der ZIB, InternationalOrganization (IO), kaum. Der Realismus ist keineswegs so »veraltet« wie MichaelZürn (1994: 98-105) in einem Beitrag meinte. Zumindest außerhalb der OECD-Weltist seine Erklärungskraft ungebrochen.

Nicht immer gelungen ist die empirische Rückbindung theoretischer Beiträge. Dieempirischen Belege für teilweise recht weitreichende theoretische Annahmen blei-ben zuweilen eklektisch oder bewegen sich auf einem hohen und daher oft nicht

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mehr sehr aussagekräftigen Aggregationsniveau. Mitunter sind sie recht beliebigund folglich zu wenig in der politischen Realität »geerdet«. Beispielhaft dafür magder ansonsten anregende Beitrag von Klaus Schlichte und Boris Wilke (2000) überden Staat in der Dritten Welt stehen, der leider nur eher pauschalierende empirischeBelege für seine weitreichenden Thesen erbringt und darüber hinaus nicht recht klarmacht, worin die paradigmatische Aussagekraft der gewählten Beispiele Ugandaund Pakistan besteht. Wer also in der ZIB jenseits der theoretischen oder theorie-überprüfenden Fragestellungen etwas über die Mechanismen, Entscheidungspro-zesse und Wirkungen internationaler Politik erfahren will, kommt hier nur bedingtauf seine Kosten. Dies ist nicht ganz unproblematisch. Denn hat sich das Imageeiner einseitig theorielastigen Zeitschrift erst einmal verfestigt – einer Zeitschrift,deren Artikel womöglich ihre eigene, nur noch einem kleinen Spezialistenzirkelverständliche Fachsprache generieren –, dann stellt sich für die internationale Poli-tikforschung in der interessierten Öffentlichkeit ein Relevanzproblem. Um nichtmissverstanden zu werden: Dies soll keinesfalls ein Plädoyer für »Theorie light«sein oder gar die Umwandlung der ZIB in eine policy-orientierte Zeitschrift nachdem Muster der Internationalen Politik oder einst der Außenpolitik. Wohl aber plä-diere ich dafür, deutlicher zu machen, welche Bedeutung theoretische Debatten fürdie Erklärung konkreter internationaler Politikphänomene haben. Damit lässt sichzwar kaum die fast schon sprichwörtliche Beratungsresistenz der deutschen Diplo-matie durchbrechen; gleichwohl aber wäre dies ein angebotsorientierter Schritt derPolitikwissenschaft, der ihre besten Köpfe als Gesprächspartner für die praktischePolitik interessanter werden lassen könnte.

Daneben ist vor allem die starke »OECD-Lastigkeit« der ZIB-Beiträge revisions-bedürftig. Gerade einmal 7,33% der Beiträge und Literaturberichte beschäftigensich primär mit nicht-westlichen Regionen und Themen. Damit bewegt sich die ZIBauf dem gleichen Niveau wie International Organization, die im selben Zeitraum(1994-2004) 7,88% ihrer Aufsätze und Reviewartikel Drittwelt-Themen widmete.Beide rangieren damit deutlich hinter World Politics, die auf einen Anteil vonimmerhin 22,13% nicht-westlicher Themen kommt. Trotz der großen Popularität,der sich Globalisierungsthemen gerade auch in der ZIB erfreuen, legt dies denSchluss nahe, dass die deutsche internationale Politikforschung offensichtlich nochlängst nicht wirklich in der Globalisierung angekommen ist. Anders als selbst in dergleichfalls recht OECD-zentrischen International Organization bleiben China,Japan, Indien, Indonesien, Brasilien oder Mexiko als zunehmend einflussreichereAkteure der Weltpolitik in der ZIB so gut wie völlig ausgeblendet. Damit rede ichnicht einer »politikkundlichen Oberflächenforschung« (Hellmann 1994: 69) dasWort, sondern der Einbeziehung der Handlungsmuster, Interessen und Normennicht-westlicher Akteure in die Theoriebildung.

Wird dieses Defizit nicht angegangen, läuft die ZIB Gefahr, einen parochialenGrundzug der deutschen Politikwissenschaft zu reproduzieren, von dem sich diesenach dem Zweiten Weltkrieg zunächst im Zuge der alliierten Demokratieerziehungentstandene Disziplin nie so recht zu lösen vermochte. Bezeichnend dafür ist, dasssich in der Zunft kaum Widerstand regt, dass ungeachtet des mit fortschreitender

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Jürgen Rüland: Theoriediskurs auf hohem Niveau

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Globalisierung wachsenden Wissensbedarfs über nicht-westliche Regionen dieohnehin an einer Hand abzuzählenden politikwissenschaftlichen Lehrstühle zuAfrika, Lateinamerika und Asien entweder umgewidmet oder erst gar nicht mehrneu besetzt werden bzw. durch eine fragwürdige Zentrenbildung an einigen wenigenStandorten zu Lasten der übrigen Universitäten konzentriert werden. Hier aber beißtsich die Katze in den Schwanz: Ohne einschlägige Forschungskapazitäten wird auchdas Aufkommen an erstklassigen, auf gründlicher Feldforschung beruhenden Manu-skripten zu nicht-westlichen Themen und Regionen überschaubar bleiben.

Gegen harsche Vorhaltungen dieser Art lässt sich freilich beschwichtigend einwen-den, dass nicht-westliche Regionen bislang ohnehin kaum für die Theoriebildung inder internationalen Politik herangezogen wurden. Martin Beck (2002: 305) hat dies ineinem Beitrag über den Nahen Osten überzeugend bestätigt. Auch im Schrifttum zurinternationalen Politik Asiens überwogen bis zu Beginn der 1990er-Jahre die des-kriptiv-historisierenden Darstellungen, die bestenfalls durch einen implizit realisti-schen Zugriff geprägt waren.1 Also viel Lärm um nichts? Nein, keineswegs! Denndie stiefmütterliche Behandlung dieser Regionen steht in krassem Gegensatz zu derTatsache, dass Asien – wie natürlich auch der Nahe Osten – seit Ende des ZweitenWeltkriegs Konfliktregionen par excellence waren. Und während der Vordere Orientaufgrund seines Ölreichtums seit jeher als eine Schlüsselregion für die Weltwirtschaftzu gelten hatte, waren Ost- und Südostasien durch ihr über zwei Jahrzehnte anhalten-des präzedenzloses Wirtschaftswachstum zu einem neuen Gravitationszentrum derinternationalen Ökonomie aufgestiegen. Das nach der asiatischen Finanzkrise von1997/1998 aus der Mode gekommene, gleichwohl aber auch heute keinesfalls obso-lete Schlagwort vom »Pazifischen Jahrhundert« brachte diesen Bedeutungsschub aufden Punkt. Allerdings wurden die Wandlungsprozesse in der internationalen Politikund Ökonomie Asiens im Verlauf der 1990er-Jahre zunehmend auch theoretischreflektiert, wie vor allem die Zeitschrift The Pacific Review als Forum dieser Debat-ten eindrucksvoll belegt. Doch auch in anderer Hinsicht laufen Ausflüchte ins Leere,mit denen die Vernachlässigung nicht-westlicher Regionen in der Theoriebildunggerechtfertigt werden soll: Denn müsste nicht gerade die Tabula-rasa-Situation einegroße intellektuelle Herausforderung sowohl für innovative Theoretiker als auch fürtheorie-interessierte Regionalwissenschaftler darstellen?

So kommt es, dass die Ausblendung nicht-westlicher Regionen und Themen ausden führenden Publikationsorganen des Fachs zur Ursache für eine self-fulfillingprophecy wird. Weil theoretische oder theorieüberprüfende Beiträge eben weitge-hend aus einer westlichen Lebens- und Erfahrungswelt heraus argumentieren, bleibtdie Theoriebildung vielen Regionalwissenschaftlern suspekt. Es wird ihnen damitnur allzu leicht gemacht, sich auf den Exzeptionalismus »ihres Landes« und »ihrerRegion« zurückzuziehen. Das Resultat ist, dass auch die politikwissenschaftlichausgerichteten Regionalwissenschaften in einem antiquierten, weil primär positivis-tischen Wissenschaftsverständnis verharren. Erfreulich stimmt indes, dass zumin-

1 Belege für diesen Befund liefern insbesondere die in den Zeitschriften Asian Survey undContemporary Southeast Asia abgedruckten Artikel. Vgl. auch Huxley (1996).

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dest einige der wenigen in der ZIB publizierten Beiträge, die sich mit nicht-westli-chen Konfliktregionen befassen, Wege aus dieser Sackgasse weisen. Dies giltinsbesondere für die Beiträge von Martin Beck (1997), Forschungsgruppe Men-schenrechte (1998) und Sven Behrendt (2000), die gelungene Versuche des Brü-ckenschlags zwischen anspruchsvoller sozialwissenschaftlicher Theoriebildung undfundiertem Regionalwissen darstellen. Sie stehen für eine Politikwissenschaft, dieihren thematischen Fokus über die traditionellen Bereiche hinaus erweitert, und eineRegionalwissenschaft, die sich auf der Höhe politik- und sozialwissenschaftlicherDebatten befindet.

Die Marginalisierung nicht-westlicher Regionen im Themenspektrum der ZIBmuss vor allem als Desideratum der neueren konstruktivistisch ausgerichteten dis-kurs- und verhandlungstheoretischen Ansätze gelten. Zwar ist, wie der Beitrag vonAnja Jetschke und Andrea Liese (1998) zeigt, die Aufmerksamkeit für kulturelleErklärungen internationaler Politik gewachsen, doch argumentiert die überwiegendeMehrzahl der einschlägigen Artikel aus einer ungebrochen eurozentrischen Perspek-tive heraus. Damit lassen sich möglicherweise Verhandlungsprozesse innerhalb undzwischen (westlichen) Industrieländern in ihrer kulturellen Bedingtheit erklären,kaum aber die schwierigen, weil von grundlegend andersartigen kulturellen Kontex-ten ausgehenden Verhandlungsprozesse zwischen westlichen Regierungen und ihrenCounterparts in den Staaten des globalen Südens. Deren zunehmende Bedeutungdokumentieren die Verhandlungsverläufe in einer wachsenden Zahl globaler Regime.Zuletzt war es vor allem das Ministertreffen der Welthandelsorganisation (WTO) inCancun, das diesen Sachverhalt verdeutlichte. Wer etwa die Dialoge von Europäernund Asiaten in den zahlreichen Foren des Asia-Europe Meeting (ASEM) verstehenlernen will, muss sich mit »asiatischen Werten«, Benedict Andersons »javanischemMachtkonzept«, den Strategemen des Sun Tzu oder der geometrischen Politik desKautilya im altindischen Politiklehrbuch Arthasastra auskennen, ohne dabei abergleichzeitig in die Essentialismusfalle zu tappen. Nur wer die Semantik der in sol-chen Dialogen verwendeten Begriffe erschließt, vermag aussagekräftige Erklärungenvorzulegen. Und nur dann wird verständlich, warum die europäisch-asiatischen Men-schenrechtsdialoge eben nicht notwendigerweise zu communicative action führen,sondern eher in Figuren von rhetorical action stecken bleiben.2

Die Fokussierung der ZIB auf die OECD-Welt spiegelt freilich auch die in den1990er-Jahren drastisch gesunkene Bedeutung der Entwicklungspolitik wider. Diesgilt nicht nur für den Bund, dessen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit von0,48% (1980) auf 0,27% (2003) des Bruttosozialprodukts absank. Vielmehr versu-chen gerade auch die Bundesländer, sich in Zeiten finanzieller Engpässe aus der Ent-wicklungshilfe, die ja auf freiwilligen Leistungen beruht, zurückzuziehen. Damitwächst auch auf dieser Seite die Versuchung, die noch verbliebenen universitären undaußer-universitären Forschungseinrichtungen zur Entwicklungspolitik, die im deut-schen Föderalismus Ländersache sind, zu schließen oder finanziell auszutrocknen.

2 So die gerade von Gabriela Manea (2004) vorgelegte Freiburger Master Thesis.

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Jürgen Rüland: Theoriediskurs auf hohem Niveau

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Zu behaupten, die ZIB habe sich des Themas Entwicklungspolitik nicht angenom-men, wäre allerdings verkehrt. Vereinzelte Beiträge wenden sich in der Tat dieserThematik zu. Freilich bleiben diese Beiträge insofern unbefriedigend, als sie Ent-wicklungspolitik weniger aus der Perspektive der Länder des Südens als vielmehrdes Nordens beleuchten. Entwicklungszusammenarbeit wird damit auf eine Kompo-nente der Außenpolitik von Industrieländern reduziert. Über die Probleme desSüdens, Massenarmut, Migration und Flucht, staatliche Korruption und Staatsversa-gen, erfährt man indes vergleichsweise wenig.

Wohlgemerkt: Mit diesen Anmerkungen sollen die großen Verdienste der Heraus-geber, des wissenschaftlichen Beirates und der diversen Redaktionen beim Aufbauder ZIB keinesfalls geschmälert werden. Die IB-Community schuldet ihnen großenDank für ihren Einsatz. Die deutsche internationale Politikforschung verfügt nun-mehr mit der ZIB über ein wissenschaftliches Forum, das sich sehen lassen kann.Durch eine stärkere Einbeziehung nicht-westlicher Themen, eine noch bessere Ver-zahnung von Theorie und Empirie und eine größere Berücksichtigung kulturellerFaktoren ließe sich das Profil der ZIB jedoch noch weiter schärfen. In diesem Sinnesind die voranstehenden Ausführungen konstruktiv zu verstehen: Happy birthdayund Ad multos annos ZIB!

Literatur

Beck, Martin 1997: Die Struktur des Nahostkonflikts und der Friedensprozess im NahenOsten. Die Krise des Petrolismus als Ursache der Verregelung des israelisch-palästinen-sischen Konflikts, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4: 2, 295-327.

Beck, Martin 2002: Von theoretischen Wüsten, Oasen und Karawanen. Der Vordere Orient inden Internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 2,305-330.

Behrendt, Sven 2000: Die israelisch-palästinensichen Geheimverhandlungen von Oslo 1993.Ein konstruktivistischer Interpretationsversuch, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 7: 1, 79-107.

Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnatio-nale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 5: 1, 5-41.

Hellmann, Gunther 1994: Für eine problemorientierte Grundlagenforschung: Kritik und Pers-pektiven der Disziplin »Internationale Beziehungen« in Deutschland, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 1: 1, 65-90.

Huxley, Tim 1996: Southeast Asia in the Study of International Relations: The Rise andDecline of a Region, in: The Pacific Review 9: 2, 199-228.

Jetschke, Anja/Liese, Andrea 1998: Kultur im Aufwind. Zur Rolle von Bedeutungen, Wertenund Handlungsrepertoires in den internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Interna-tionale Beziehungen 5: 1, 149-179.

Manea, Gabriela 2004: Asian-European Dialogues on Human Rights: the Case of the Asso-ciation of Southeast Asian Nations (ASEAN) – European Union (EU) InterregionalRelations and the Asia-Europe Meeting (ASEM), Master Thesis, Universität Freiburg.

Schlichte, Klaus/Wilke, Boris 2000: Der Staat und einige seiner Zeitgenossen. Die Zukunft desRegierens in der Dritten Welt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 2, 359-384.

Zürn, Michael 1994: We Can Do Much Better! Aber muß es auf amerikanisch sein? Zum Ver-gleich der Disziplin »Internationale Beziehungen« in den USA und in Deutschland, in:Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 1, 91-114.

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313Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 313-320

Reinhard Wolf

Macht und Recht in der ZIB

Natürlich bin ich weit entfernt davon, den ersten zehn Jahren der Zeitschrift fürInternationale Beziehungen ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Das verbietet nichtallein die Höflichkeit gegenüber den geschäftsführenden Herausgebern, die mir ver-trauensvoll die ehrende Aufgabe einer solchen Stellungnahme übertragen haben,sondern mehr noch mein Eigeninteresse als ein Autor, der zuletzt häufiger in dieserZeitschrift publizieren konnte. Vor allem aber gibt es – dieser Rückfall in epistemo-logische Naivität sei an dieser Stelle ausnahmsweise erlaubt – auch gute objektive(sic!) Gründe, die ZIB als eine sehr erfolgreiche Unternehmung zu bezeichnen.

Zunächst einmal muss – ganz ernsthaft – festgestellt werden, dass allein das Über-leben einer anspruchsvollen wissenschaftlichen Zeitschrift wie der ZIB schon alsbeachtlicher Erfolg zu werten ist. Wenn man sich an die Bedenken zu Beginn desProjekts erinnert, nicht zuletzt in Verbindung mit dem fast parallelen Start des Euro-pean Journal of International Relations, dann erscheint es umso bemerkenswerter,dass die Existenz der ZIB heute als gesichert und ganz selbstverständlich anmutet.In der Zwischenzeit haben die sinkenden Zeitschriftenetats der Universitäts-bibliotheken und der steigende Rückgriff auf Internet-Ressourcen den Markterfolgakademischer Journale gewiss nicht erleichtert. Umso höher ist die Leistung der bis-herigen Herausgeber und Redakteure einzuschätzen.

Zum bloßen Fortbestand tritt freilich die noch wichtigere Tatsache (sic!) hinzu,dass die ZIB in den vergangenen zehn Jahren die akademische Beschäftigung mitden internationalen Beziehungen maßgeblich gefördert hat. Zwar ist der Auf-schwung der deutschsprachigen Internationalen Beziehungen – 1990 wäre wohlkaum jemand schon auf die Assoziation mit dem Begriff »Tigerdisziplin« (Zürn2003: 23) verfallen – sicher nicht allein auf die neue Zeitschrift zurückzuführen.Hier haben zweifellos auch das Interesse an zeitgleichen politischen Umbrüchen wiedem Ende des Ost-West-Konflikts, der neuen Dynamik der europäischen Integrationund der ökonomischen Globalisierung eine wichtige Rolle gespielt. Einen ähnlichwichtigen Beitrag hat auch eine Generation akademischer Lehrer geleistet, die abden Achtzigerjahren ihre Doktoranden und Mitarbeiterinnen mit Erfolg dazu ange-halten hat, internationale Beziehungen theoretisch und methodisch reflektierter zuanalysieren, als das in den ersten Nachkriegsjahrzehnten üblicherweise verlangtworden war. Ohne die ZIB jedoch wäre es der neuen Generation (die sich vor allemin der schnell expandierenden Nachwuchsgruppe der IB-Sektion der DVPW zusam-mengefunden hatte) aber weitaus schwerer gefallen, ihre Untersuchungen zu denUrsachen und Folgen der Umbrüche in gut zugänglicher Form zu veröffentlichen.

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Die ZIB hat sich nach meiner Einschätzung in der Tat sehr schnell zum führendenForum für eine theoretisch reflektierte Auseinandersetzung über grundlegende Ent-wicklungen und Probleme der internationalen Beziehungen entwickelt. Alle dreiMomente – Debatte über theoretische Fragen von grundlegender Bedeutung –kamen gleich in den ersten Jahrgängen klar zum Ausdruck in der so genannten ZIB-Debatte, die das Selbstverständnis der Disziplin stark beeinflusst hat. Aber auch inden folgenden Jahren zeichnete sich die Zeitschrift durch eine erstaunlich hoheAnzahl von Beiträgen aus, die kritisch aufeinander Bezug nahmen.1

Einschränkungen sind allerdings hinsichtlich der Beteiligung unterschiedlicherRichtungen und Schulen zu machen. Gerade beim Blick auf das Themenspektrumvon »Macht und Recht«, den mir die geschäftsführenden Herausgeber für dieseZwischenbilanz besonders nahe gelegt haben, fällt auf, dass (neo-)realistische Kol-leginnen und Kollegen – von einer Ausnahme abgesehen (Meier-Walser 1994) – dieZIB nicht genutzt haben, um ihren Ansatz explizit zu vertreten. So blieb es parado-xerweise liberalen und institutionalistischen Kollegen vorbehalten, den innovativ-sten ZIB-Aufsatz über neorealistische Theorie zu veröffentlichen (Baumann et al.1999). Diese Leerstelle mag in den Anfangsjahren der ZIB eher verschmerzbargewesen sein (vgl. aber Hellmann 1994). Schließlich sprachen die oben erwähntenVeränderungen nach dem Ost-West-Konflikt eher für die Verwendung anderer theo-retischer Herangehensweisen. Spätestens seit dem Amtsantritt der Administrationvon George Bush Jr. kommt man indes kaum noch an der Frage vorbei, ob internati-onale Machtverschiebungen nicht doch einen erheblichen Anteil an der Verschlech-terung der transatlantischen Beziehungen haben und hatten. Gewiss: Die (Selbst-)Marginalisierung realistischer Kollegen mag zusammen mit der »Überwindung derregierungszentrischen Betrachtung« (K. Wolf/Hellmann 2003: 581) wesentlich zurAusprägung einer eigenständig deutschen IB-Identität beigetragen haben. Gleich-wohl bedeutet sie tendenziell eine Verengung der Debatte, die sich noch einmalrächen könnte, wenn gegenwärtige Trends weiter anhalten oder Regionen wie Ost-asien verstärkt ins Blickfeld geraten (ähnlich Zürn 2003: 34f).

Trotz fehlender Beteiligung von realistischer Seite hat der Faktor Macht in denBeiträgen der ZIB eine erhebliche Rolle gespielt. Dafür sorgten zum einen Autorin-nen und Autoren, die den Erklärungswert neorealistischer Hypothesen empirischüberprüften (Schmitz 1995; Schrade 1997; R. Wolf 2000) oder einen ressourcenori-entierten Machtbegriff in Erklärungsmodelle integrierten (Schwarzer 1994). Zumanderen finden sich in der ZIB natürlich auch einige Aufsätze, die vor dem Hinter-grund der Entgrenzung der (europäischen) Staatenwelt alternative Machtbegriffeverwenden oder entwickeln. Zu nennen wären hier vor allem Beiträge über die Aus-

1 Schmidt (1996) und Moravcsik (1996) auf Czempiel (1996); Börzel (1997) auf Diez(1996); Tewes (1997) auf Kirste/Maull (1996); Diez (1998) auf Börzel (1997); Joerges(2000) auf Schmalz-Bruns (1999); Gehring/Oberthür (2000) auf Biermann/Simonis(2000); Hitzel-Cassagnes (2002) auf Holziger (2001); Börzel et al. (2003) auf Zürn(1997); Weller (2003) auf Brand (2003); Dembinski/Müller (2003) und R. Wolf (2003)auf Daase (2003a); sowie Daase (2003b) auf Dembinski/Müller (2003) und R. Wolf(2003).

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Reinhard Wolf: Macht und Recht in der ZIB

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übung von Macht in Diskursen (Bieling/Steinhilber 2002; Brand 2003) und Netz-werken (Nölke 2000; Behr 2004). Daneben wurde wiederholt erörtert, inwieweit dieGlobalisierung Machtverhältnisse innerhalb von Staaten und Gesellschaften verän-dert (Genschel 2000; Zürn et al. 2000; Schlichte/Wilke 2000; Teusch/Kahl 2001;Bieling/Steinhilber 2002). Angezeigt wären freilich wieder einmal umfassendereund systematischere Bestandsaufnahmen über die Konzeptionalisierung und Bedeu-tung von Macht in der »postnationalen Konstellation« (Habermas 1998; vgl. Müller2004: 128f).

Obwohl die Beendigung des Ost-West-Konflikts und die neue Dynamik dereuropäischen Integration das Interesse an internationalen Normen deutlich gestei-gert haben, haben die Autorinnen und Autoren auch den Faktor Recht nur in ausge-wählten Teilaspekten untersucht. Neben Studien zur Wirkung, Implementierung undEinhaltung von europäischem Recht (Börzel et al. 2003; Gehring 1994) sind hier vorallem Beiträge über die integrative Wirkung (Bonacker/Brodocz 2001) und transna-tionale Verbreitung und Internalisierung von Menschenrechten (ForschungsgruppeMenschenrechte 1998) zu nennen. Auffällig ist, dass – anders als etwa in den USA(z. B. Biersteker/Weber 1996; Krasner 1999) – die Frage nach dem Wandel und deraktuellen Bedeutung von Souveränität kaum systematisch erörtert wurde. Am ehes-ten geschah dies noch aus einer normativen Perspektive in einem Beitrag von Brock(1999), der unter dem Eindruck der Kosovo-Intervention nach dem angemessenenVerhältnis zwischen dem Recht auf territoriale Integrität und der Pflicht zur Verhin-derung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen fragte. Inwieweit Souveräni-tät als Rechtsform durch Globalisierung und internationale Verregelung geschwächtoder anderweitig transformiert wurde (und auch umgekehrt: ob das historischeWestfälische System überhaupt mit einem habituellen Respekt von Souveränitätverbunden war) wurde in der ZIB (noch?) nicht systematisch erörtert. Nicht vielanders erging es bislang der wiederbelebten Debatte über die Verrechtlichung derinternationalen Beziehungen (Zangl/Zürn 2004; List/Zangl 2003; auch schon K.Wolf 1993). Auch sie hat in der ZIB bislang nur wenig Spuren hinterlassen (zumTeil bei Neyer 2002 und Daase 2003a).2

Die vielleicht größte Leerstelle, welche die ZIB im Themenfeld »Macht undRecht« aufweist, betrifft jedoch die Veränderungen der internationalen Ordnungdurch den jüngsten Wandel der US-Außenpolitik. Washingtons Tendenz zum Unila-teralismus und zur Marginalisierung, wenn nicht gar Missachtung internationalenRechts wurde in der ZIB bislang noch wenig und schon gar nicht ausführlich analy-siert. Die deutliche Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen passteaugenscheinlich kaum zu den theoriegeleiteten Erwartungen der meisten ZIB-Auto-ren (z. B. R. Wolf 2000: 71). Wer im Allgemeinen auf die kooperationsförderndeWirkung von wirtschaftlicher Interdependenz, internationalen Normen, transnatio-

2 List/Zangl (2003), die unlängst eine Bestandsaufnahme zur deutschen Forschung überinternationale Verrechtlichung vorgenommen haben, führen in ihrem achtseitigen Lite-raturverzeichnis nur einen ZIB-Beitrag (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998) an –gegenüber je zwei Aufsätzen in der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) und Aus Poli-tik und Zeitgeschichte (APUZ) und zahlreichen in International Organization (IO).

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nalen Netzwerken und demokratischen Gemeinwesen baute, drängte sich offenbarnicht so sehr nach vorne, wenn eine wissenschaftliche Erklärung für den brüskerenEinsatz amerikanischer Macht anstand. So blieb z. B. auch die von Kagan (2002)ausgelöste Debatte über machtbewusste Amerikaner und rechtsvertrauendeEuropäer weitgehend den Feuilletons und den Spalten anderer Zeitschriften überlas-sen. Die ZIB schwieg insofern zu dem vielleicht wichtigsten Umbruch seit Beendi-gung des Ost-West-Konflikts. Selbst wenn man berücksichtigt, dass einehalbjährlich erscheinende Zeitschrift immer nur ein begrenztes Themenspektrumabdecken kann, muss dieser Umstand zu denken geben.

Dieses Schweigen ist wohl symptomatisch für eine generelle Leerstelle innerhalbder ZIB, die in Zukunft durchaus beseitigt oder doch verringert werden könnte – dieunnötige Vernachlässigung praktischer Bezüge zur aktuellen Politik. Natürlichsollte die ZIB in dieser Hinsicht nicht mit einer Zeitschrift wie der InternationalenPolitik konkurrieren. Sie ist vielmehr von Anfang an und völlig zu Recht auf einanderes, bis dahin stark vernachlässigtes Marktsegment ausgerichtet gewesen, näm-lich auf die »wissenschaftliche […] Auseinandersetzung über Grundfragen derInternationalen Beziehungen« (K. Wolf 1994: 4), auf eine »methodisch reflektierteund theoretisch interessierte Auseinandersetzung mit Problemstellungen«, bei denen»das Interesse am Allgemeinen (an dem Verallgemeinerbaren) im Vordergrund ste-hen soll« (K. Wolf 1994: 9). In den Jahren seither ist jedoch zunehmend verdrängtworden, dass sich auch aus allgemeinen Einsichten oft wichtige Schlussfolgerungenfür konkrete Einzelprobleme ziehen lassen und dass über die Bedeutung einer allge-meinen Einsicht nicht zuletzt auch ihr Bezug zur politischen Praxis entscheidet.Merkwürdigerweise ist dieser fast schon banale Punkt zuletzt zusehends in Verges-senheit geraten, obwohl die Disziplin immer stärker den sozialen Kontext von Ideenund Wissensgenerierung betont. Während einerseits wieder stärker beachtet wurde,dass die Ideen und Weltbilder von EntscheidungsträgerInnen praktische Politik starkbeeinflussen, und andererseits zunehmend akzeptiert wird, dass wissenschaftlicheTheorien auch immer für jemanden und für einen bestimmten Zweck konzipiertwerden (Cox 1986: 207), zieren sich die ZIB-AutorInnen beim Aufzeigen prakti-scher Implikationen kaum weniger als Kosmologen und Paläontologen.3

Diese Lücke ist in mehrfacher Hinsicht bedauerlich. Durch die übertriebene Aus-blendung praktischer Implikationen nehmen wir unseren theoriefokussierten Debat-

3 Dies belegt eine Stichprobe, für die ich die ZIB-Aufsätze und -Forumsbeiträge seit demJahrgang 2000 ausgewählt habe. In diesen neun Heften fanden sich zwei Beiträge, dieexplizit einem praktischen Problem gewidmet waren, nämlich die Debatte zwischenGehring/Oberthür (2000) und Biermann/Simonis (2000) über die Zweckmäßigkeit einerWeltumweltorganisation. Jüngst sind auch Behr (2004) und die Beiträge im Rahmen desDVPW-Forums zu den disziplinären Implikationen des 11.9. zum Teil ausführlicher aufdie praktischen Konsequenzen des internationalen Terrorismus eingegangen (insbeson-dere Kupchan 2004 und Müller 2004, teilweise auch Risse 2004). Die übrigen 31 Bei-träge enthielten elf Absätze, in denen explizite Politikempfehlungen ausgesprochenwurden, und sechs Absätze, die zumindest implizit praktische Implikationen der Ergeb-nisse erwähnen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass eine solche Zählung aufgrundvon Abgrenzungsproblemen nur einen ungefähren Eindruck wiedergeben kann, ist derBefund immer noch ziemlich aussagekräftig.

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Reinhard Wolf: Macht und Recht in der ZIB

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ten viel von ihrer Spannung und Relevanz. Wir verlieren dadurch gleichzeitig einwichtiges Kriterium für die Ordnung, Gewichtung und vor allem Selektion von wis-senschaftlichen Problemstellungen, verzichten wir doch auf ein wichtiges Elementdessen, was die Angelsachsen manchmal als »›so what?‹ test« bezeichnen. Weiter-hin verfestigen wir damit unnötig die verengte »Außenwahrnehmung der ZIB als einkonstruktivistisches Theorieorgan« (Zürn 2001: 177) – wo es doch darauf ankom-men sollte, die äußeren Betrachter als aktive LeserInnen (und AbonnentInnen!) zugewinnen. Schließlich müssen wir uns – nicht nur angesichts knapperer öffentlicherKassen – die Frage stellen, ob wir als SozialwissenschaftlerInnen unserer gesell-schaftlichen Verantwortung gerecht werden, wenn wir erst gar nicht zu klären ver-suchen, wo und inwiefern unsere Einsichten das Leben der Allgemeinheit verbes-sern könnten (so auch die aktuellen geschäftsführenden Herausgeber Hellmann/Müller 2003: 378).

Um dieser Forderung nach Praxisbezug zu entsprechen, müssten die ZIB-Beiträgekeineswegs ihren akademisch-theoretischen Schwerpunkt, »das Interesse am Allge-meinen« (K. Wolf 1994: 9) hintanstellen. In jenen Fällen, in denen Bezüge zu kon-kreten Problemen überhaupt aufzeigbar sind, würde es oft schon genügen, wenn imSchlussabschnitt Politikempfehlungen oder praktische Konsequenzen der Befundeformuliert würden. Wenn letztere dies nicht zulassen, z. B. weil sie zu vorläufig oderunspezifisch sind, ließe sich zumindest erörtern, welche theoretischen oder empiri-schen Anschlussfragen dafür bearbeitet werden müssten. Auf diese Weise könnteman u. a. nachvollziehbar begründen, warum die weitere Forschung in eine von vie-len möglichen Richtungen gehen sollte. Und schließlich könnten die LeserInneneinen Beitrag besser einordnen und seine Bedeutung eher verstehen, wenn die Ver-fasserIn schon in der Einleitung deutlich machen würde, weshalb es auch den Men-schen jenseits der akademischen IB-Community nicht gleichgültig sein muss, ob dieim Beitrag vertretene These zutrifft.

Diesen stärkeren Bezug zur Praxis und aktuellen Fragen können letztlich natürlichnur die Autoren herstellen. Sie müssten diese Perspektive bzw. gegenwärtige Pro-bleme zunehmend in die eingereichten Manuskripte – und vor allem in die qualitativhochwertigen! – integrieren. Es kann nicht Sache der Herausgeber sein, bestimmteThemenstellungen in Auftrag zu geben oder anderweitig zu bevorzugen. Schließlichist der Erfolg der ZIB zu einem beträchtlichen Teil dem anonymen Begutachtungs-verfahren zu verdanken. Ein geregeltes Beurteilungsverfahren, bei dem ohne Anse-hen der Person neutrale ExpertInnen anhand einheitlicher Kriterien die eingereich-ten Manuskripte beurteilen, trägt nicht allein zum Ansehen der Zeitschrift bei,sondern fördert auch das Vertrauen der VerfasserInnen in eine faire Beurteilungihrer Leistung. Es stellt also in gewisser Weise ein erfolgreiches Stück Verrechtli-chung dar, das nicht aufs Spiel gesetzt werden sollte.

Gleichwohl besitzen auch Herausgeber von Zeitschriften mit anonymisiertenBegutachtungsverfahren einen gewissen Entscheidungsspielraum, den sie nutzenkönnen. Gerade in den Fällen, in denen die Voten der GutachterInnen auch nacheiner Überarbeitung uneinheitlich oder ambivalent sind, sind die Herausgeber gefor-dert. In solchen Zweifelsfällen könnte man sicherlich nicht von »Machtmissbrauch«

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sprechen, wenn sie Aktualität und Praxisbezug oft den Ausschlag zwischen konkur-rierenden Manuskripten geben lassen. Ich zumindest würde lieber ein Manuskriptmit gewagten Thesen zu einem konkreten Problem gegenwärtiger Politik lesen alseinen anderen durchschnittlichen Beitrag, der sich auf eine ebenso gründliche wieunkontroverse Theoriesynopse beschränkt. Schließlich wird Ersterer weit eher eineweiterführende Debatte anstoßen, und davon kann es in einer lebendigen Zeitschriftkaum zu viele geben.

Literatur

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Behr, Hartmut 2004: Terrorismusbekämpfung vor dem Hintergrund transnationaler Heraus-forderung. Zur Terrorismuspolitik der Vereinten Nationen seit der Sicherheitsrats-Reso-lution 1373, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11: 1, 27-59.

Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen 2002: Finanzmarktintegration und Corporate Gover-nance in der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 1, 39-74.

Biermann, Frank/Simonis, Udo E. 2000: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik? Zurpolitischen Debatte um die Gründung einer »Weltumweltorganisation«, in: Zeitschriftfür Internationale Beziehungen 7: 1, 163-183.

Biersteker, Thomas/Weber, Cynthia (Hrsg.) 1996: State Sovereignty as a Social Construct,Cambridge.

Börzel, Tanja 1997: Zur (Ir-)Relevanz der »Postmoderne« für die Integrationsforschung. EineReplik auf Thomas Diez’ Beitrag »Postmoderne und europäische Integration«, in: Zeit-schrift für Internationale Beziehungen 4: 1, 125-137.

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Bonacker, Thorsten/Brodocz, André 2001: Im Namen der Menschenrechte. Zur symbolischenIntegration der internationalen Gemeinschaft durch Normen, in: Zeitschrift für Internati-onale Beziehungen 8: 2, 179-208.

Brand, Ulrich 2003: Nach der Krise des Fordismus. Global Governance als möglicher hege-monialer Diskurs des internationalen Politischen, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 10: 1, 143-166.

Brock, Lothar 1999: Normative Integration und kollektive Handlungskompetenz auf internati-onaler Ebene, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6: 2, 323-347.

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Czempiel, Ernst-Otto 1996: Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (nochimmer) nicht friedlich?, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3: 1, 79-101.

Daase, Christopher 2003a: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskriseder Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 1, 7-41.

Daase, Christopher 2003b: Nonproliferation und das Studium internationaler Legitimität.Eine Antwort auf meine Kritiker, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 2,351-64.

Dembinski, Matthias/Müller, Harald 2003: Mehr Ratio als Charisma: Zur Entwicklung desnuklearen Nichtverbreitungs-Regimes vor und nach 1995. Eine Replik auf ChristopherDaase, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 2, 333-350.

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Reinhard Wolf: Macht und Recht in der ZIB

319ZIB 2/2004

Diez, Thomas 1996: Postmoderne und europäische Integration. Die Dominanz des Staatsmo-dells, die Verantwortung gegenüber dem Anderen und die Konstruktion eines alternati-ven Horizonts, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3: 2, 255-282.

Diez, Thomas 1998: Perspektivenwechsel. Warum ein »postmoderner« Ansatz für die Integra-tionsforschung doch relevant ist, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5: 1, 139-148.

Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnatio-nale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 5: 1, 5-41.

Gehring, Thomas 1994: Der Beitrag von Institutionen zur Förderung der internationalenZusammenarbeit. Lehren aus der institutionellen Struktur der Europäischen Gemein-schaft, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 2, 211-242.

Gehring, Thomas/Oberthür, Sebastian 2000: Was bringt eine Weltumweltorganisation? Koo-perationstheoretische Anmerkungen zur institutionellen Neuordnung der internationalenUmweltpolitik, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 1, 185-211.

Genschel, Philipp 2000: Der Wohlfahrtsstaat im Steuerwettbewerb, in: Zeitschrift für Interna-tionale Beziehungen 7: 2, 267-296.

Habermas, Jürgen 1998: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a. M.Hellmann, Gunther 1994: Für eine problemorientierte Grundlagenforschung: Kritik und Pers-

pektiven der Disziplin »Internationale Beziehungen« in Deutschland, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 1: 1, 65-90.

Hellmann, Gunther/Müller, Harald 2003: Editing (I)nternational (R)elations: A ChangingWorld, in: Journal of International Relations and Development 6: 4, 372-389.

Hitzel-Cassagnes, Tanja 2002: Warten auf Godot. Anmerkungen zur Konzeptionalisierungvon Kommunikationsmodi und Handlungstypen, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 9: 1, 139-154.

Holzinger, Katharina 2001: Kommunikationsmodi und Handlungstypen in den Internationa-len Beziehungen. Anmerkungen zu einigen irreführenden Dichotomien, in: Zeitschriftfür Internationale Beziehungen 8: 2, 243-286.

Joerges, Christian 2000: Transnationale Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?Anmerkungen zur Konzeptualisierung legitimen Regierens jenseits des Nationalstaatsbei Rainer Schmalz-Bruns, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 1, 145-161.

Kagan, Robert 2002: Power and Weakness, in: Policy Review 113, 3-28.Kirste, Knut/Maull, Hanns W. 1996: Zivilmacht und Rollentheorie, in: Zeitschrift für Internati-

onale Beziehungen 3: 2, 283-312.Krasner Stephen D. 1999: Sovereignty: Organized Hypocracy, Princeton, NJ.Kupchan, Charles A. 2004: New Research Agenda? Yes. New Paradigm? No, in: Zeitschrift

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Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hrsg.): Die neuen Internationalen Beziehun-gen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland, Baden-Baden, 361-399.

Meier-Walser, Reinhard 1994: Neorealismus ist mehr als Waltz. Der Synoptische Realismusdes Münchner Ansatzes, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 1, 115-126.

Moravcsik, Andrew 1996: Federalism and Peace: A Structural Liberal Perspective, in: Zeit-schrift für Internationale Beziehungen 3: 1, 123-132.

Müller, Harald 2004: Think Big! Der 11. September und seine Konsequenzen für die Interna-tionalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11: 1, 123-133.

Neyer, Jürgen 2002: Politische Herrschaft in nicht-hierarchischen Mehrebenensystemen, in:Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 1, 9-38.

Nölke, Andreas 2000: Regieren in transnationalen Politiknetzwerken? Kritik postnationalerGovernance-Konzepte aus der Perspektive einer transnationalen (Inter-)Organisations-soziologie, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 2, 331-358.

Risse, Thomas 2004: Der 11.9. und der 9.11. Folgen für das Fach Internationale Beziehungen,in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11: 1, 111-121.

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Schlichte, Klaus/Wilke, Boris 2000: Der Staat und einige seiner Zeitgenossen. Zur Zukunft desRegierens in der »Dritten Welt«, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 2, 359-384.

Schmalz-Bruns, Rainer 1999: Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regierenjenseits des Nationalstaats, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6: 2, 185-244.

Schmidt, Hajo 1996: Kant und die Theorie der Internationalen Beziehungen. Vom Nutzen undden Problemen einer aktualisierten Kantlektüre – ein Kommentar zu E.-O. Czempiel, in:Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3: 1, 103-116.

Schmitz, Hans Peter 1995: Konflikte in der UNESCO. Eine Überprüfung neorealistischer The-sen zum Nord-Süd-Verhältnis, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2: 1, 107-139.

Schrade, Christina 1997: Machtstaat, Handelsstaat oder Zivilstaat? Deutsche Entwicklungspo-litik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in: Zeitschrift für Internationale Beziehun-gen 4: 2, 255-294.

Schwarzer, Gudrun 1994: Friedliche Konfliktregulierung: Saarland – Österreich – Berlin, in:Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 2, 243-277.

Teusch, Ulrich/Kahl, Martin 2001: Ein Theorem mit Verfallsdatum? Der »DemokratischeFrieden« im Kontext der Globalisierung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen8: 2, 287-320.

Tewes, Henning 1997: Das Zivilmachtkonzept in der Theorie der Internationalen Beziehun-gen. Anmerkungen zu Knut Kirste und Hanns W. Maull, in: Zeitschrift für InternationaleBeziehungen 4: 2, 347-359.

Weller, Christoph 2003: Die Welt, der Diskurs und Global Governance. Zur Konstruktioneines hegemonialen Diskurses – eine Replik auf Ulrich Brand, in: Zeitschrift für Interna-tionale Beziehungen 10: 2, 365-382.

Wolf, Klaus Dieter (Hrsg.) 1993: Internationale Verrechtlichung, Pfaffenweiler.Wolf, Klaus Dieter 1994: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 1, 3-13.Wolf, Klaus Dieter/Hellmann, Gunther 2003: Die Zukunft der Internationalen Beziehungen in

Deutschland, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hrsg.): Dieneuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland,Baden-Baden, 577-603.

Wolf, Reinhard 2000: Was hält siegreiche Verbündete zusammen? Machtpolitische, institutio-nelle und innenpolitische Faktoren im Vergleich, in: Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 7: 1, 33-78.

Wolf, Reinhard 2003: Tabu, Verrechtlichung und die Politik der nuklearen Nichtverbreitung.Eine interessante Hypothese auf der Suche nach einem tatsächlichen Problem, in: Zeit-schrift für Internationale Beziehungen 10: 2, 321-331.

Zangl, Bernhard/Zürn, Michael (Hrsg.) 2004: Verrechtlichung – Baustein für Global Gover-nance, Bonn.

Zürn, Michael 1997: »Positives Regieren« jenseits des Nationalstaats. Zur Implementationinternationaler Umweltregime, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4: 1, 41-68.

Zürn, Michael 2001: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8: 2, 175-178.Zürn, Michael 2003: Die Entwicklung der Internationalen Beziehungen im deutschsprachigen

Raum nach 1989, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hrsg.): Dieneuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland,Baden-Baden, 21-46.

Zürn, Michael/Walter, Gregor/Dreher, Sabine/Beisheim, Marianne 2000: Postnationale Poli-tik? Über den politischen Umgang mit den Denationalisierungs-HerausforderungenInternet, Klimawandel und Migration, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7:2, 297-329.

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321Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 321-324

Friedrich Kratochwil

Kompetenz und Relevanz in der PolitikforschungDas erste Jahrzehnt der ZIB

Eine gute Geburtstagsrede zu schreiben scheint weit schwieriger, als einen Nachrufzu verfassen: Zum einen kann sich im letzteren Fall der Adressierte nicht mehr weh-ren, und die Gemeinde erwartet ja auch nur ein Enkomium (de mortuis nihil nisibene); zum anderen muss die Geburtstagsrede eben nicht nur dem Geleisteten Ach-tung zollen, sondern muss auch – soll sie sich nicht in Floskeln und Beliebigkeitenerschöpfen – eben diese Leistung am Auftrag messen und weitere Zielvorgabenmachen. Meine Vorgabe von der Redaktion war eigentlich, etwas über »Macht undRecht« zu schreiben. Aber nachdem mir dazu im Moment nichts Besonderes einzu-fallen scheint, nehme ich das Privileg von Geburtstagsrednern in Anspruch, übereine andere, mir wichtig erscheinende Problematik bei einer derartigen Publikationeinige Bemerkungen zu machen.

Ich möchte deshalb ein paar Worte zum Anspruch der Zeitschrift und zur weiteren(professionspolitischen) Arbeit verlieren. Vor allem scheint es schwierig zu sein,dem Anspruch zu genügen, der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein Forum zu bie-ten, nachdem es diese Gemeinschaft in Deutschland ja erst aufzubauen galt, wassicherlich eines der großen Verdienste dieser Zeitschrift war. Man wünschte, manwäre in Deutschland hier weiter gekommen, aber die institutionelle Trägheit, die dasdeutsche Hochschulwesen kennzeichnet, kann ja nicht allein durch eine Fachzeit-schrift überwunden werden. So tummeln sich also im Fach Internationale Politiknoch immer zwei Gruppen, die dem Fach insgesamt eine seltsame Ausrichtunggeben. Die einen, herkommend von der »Zeitgeschichte« wie Publizistik, sehenihren Auftrag vor allem darin zu erzählen, wie es »eigentlich gewesen ist«, wobeimit Bonmots und augenzwinkernder Vertraulichkeit sowie mit gut gemeinten Rat-schlägen nicht gespart wird. In der Tat scheinen ja die Fernsehsender darin zu wett-eifern, wer den besseren Raconteur oder »Plattitüdenproduzenten« herbeischaffenkann. Die andere Gruppe der IB-Gemeinschaft sucht dagegen vor allem denAnschluss an die internationale Fachdiskussion und hat dazu schon ganz beachtlicheBeiträge geliefert. Man wünschte deshalb auch, dass die Janusstellung des Fachs vorallem auf ein Generationenproblem zurückzuführen ist, was aber leider – sieht mansich die ganze Breite des Fachs und die Berufungen insgesamt an – nicht der Fall ist.

Der Grund dafür ist, dass sich am deutschen Fall – hier nur eben krasser – dieSpannungen zeigen, die sich insgesamt durch das Feld ziehen und etwa in den USAzwischen den »wonks« und den »scientists« ebenso festzustellen sind; nur dass sichdort auch noch die akademische Spezialisierung weiter fortgesetzt hat. Die »policywonks« gehen hauptsächlich zu public affairs schools, während die »Wissenschaft-ler« in den departments für Politische Wissenschaft beheimatet sind. Dass diese Dif-

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Geburtstagssymposium

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ferenzierung keineswegs nur positive Seiten hat, kann man allerdings anhand derjüngsten Geschehnisse deutlich sehen. Man hätte sich um Amerikas und der Weltwillen gewünscht, dass der öffentliche Diskurs etwas reflektierter geführt wordenund nicht in jenen »Wilsonianism with boots« ausgeartet wäre, welcher der prakti-schen Politik während der letzten Jahre die Vorgaben machte. Auf der anderen Seiteist jene Gruppe der »Wissenschaftler« auch nicht ganz schuldlos an der Misere. Siescheinen hinter den Wänden der Elfenbeintürme mehr und mehr in scholastischenDebatten zu versinken. Statt sich mit Politik zu beschäftigen, zieht man es gewöhn-lich vor, sich dem »Modell/Platonismus« zu widmen. Fragen von historischer Ent-wicklung, Kompromiss und Aushandeln in verschiedenen Systemen sind dann ein-fach »path-dependent developments«, Fragen der Repräsentation nur ein Problemvon »principal/agent«-Dilemmata, irgendwelche »Ergebnisse« (»outcomes«) wer-den dann mit dem Faktum erklärt, dass sie ein Equilibrium darstellen usw.

Ich glaube, dass der Pfad, den die ZIB eingeschlagen hat, angesichts dieser Ent-wicklungen richtig und erstaunlich erfolgreich gewesen ist. Obwohl dieses Journalmit Recht darauf stolz ist, das Verfahren der blinden Peer Reviews in diesem Facheingeführt zu haben, so ist doch aufgrund der Erfahrungen mit dieser Methode fest-zustellen, dass sie allein nicht Qualität zu schaffen in der Lage ist. Wie so viele Jour-nale zeigen, von der American Political Science Review (APSR) bis hin zu Interna-tional Studies Quarterly (ISQ) oder selbst International Organization (IO) – PeerReviews stärken die methodische Dimension, sie können aber weder Originalitätnoch Relevanz der Beiträge garantieren. Stattdessen etabliert sich schnell entwedereine methodische Orthodoxie oder man ergeht sich – so lange man überhaupt nochan einem Dialog über die Schulen hinweg interessiert ist – im gegenseitigen Schul-terklopfen (glad handing). Die behandelten Probleme sind nicht die der Politik, andie mit wissenschaftlichen Mitteln herangegangen wird, sondern werden fastgänzlich durch die interne Wissenschaftsdiskussion generiert. Ähnlich verheerendsind aber auch die meisten Versuche, interdisziplinär zu arbeiten. Wenn z. B. ein»Team« von unter sich bekannten Autoren wieder einmal darangeht, das Rad zuerfinden, werden häufig schlicht und ergreifend die einschlägigen Diskussionen inden verschiedenen Disziplinen wegen der Schwierigkeiten der »Übersetzung« ein-fach ignoriert und Probleme per definitionem erledigt. Letztendlich werden dannverschiedene Untersuchungen in Sammelbänden oder Symposien vorgelegt, die miteinem interdisziplinären Rahmen kaum noch etwas zu tun haben. In diesem Sinnehaben ja die letzten Symposia von IO einige Berühmtheit erreicht.

Dass derartige Entgleisungen in den zehn Jahren bei der ZIB nicht vorgekommensind, ist nicht nur bemerkenswert, es ist auch, glaube ich, das Ergebnis einerbestimmten Politik der Auswahl und des Bewertens. Insgesamt fällt bei den Artikelnin der ZIB angenehm auf, dass sie vom Problem her denken und die Methodenfragevon daher angehen, anstatt mit den gewöhnlich drei Ansätzen zu beginnen, für diedann ein Problem gesucht wird, an welchem der Autor seine Virtuosität in methodo-logischer Hinsicht vorführen kann. Insofern eine klare Konzeption des Problemsjedweder Operationalisierung der Begriffe vorauszugehen hat, sind die Beiträge derZIB ungewöhnlich gründlich. Das erspart viel späteres Herumgerede und bringt die

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Friedrich Kratochwil: Kompetenz und Relevanz in der Politikforschung

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Diskussion schnell auf den Punkt. Die Interdisziplinarität – wenn benötigt – ergibtsich dann über eine neue Konzeptualisierung und nicht über einen methodologi-schen Imperialismus nach dem Motto »one size fits all«. Ich glaube, dass diese Tra-dition in der Herausgeberpolitik fortgeführt werden muss. Denn sie hat sich nichtnur bewährt, sondern ist vielleicht auch allein im Stande, das oben erwähnte Absa-cken in scholastische Tiefen zu vermeiden, was nach all den Erfahrungen eineoffensichtliche Gefahr des Geschäfts ist.

In Bezug auf die eher substanziellen Probleme, die in der Frage nach zukünftigen»Schwerpunkten« greifbar werden, möchte ich auf eine in der ZIB bereits geführteDebatte hinweisen sowie auf ein Gebiet, das noch wenig Aufmerksamkeit gefundenhat, das aber praktisch wie theoretisch von hohem Stellenwert ist. Es handelt sichhier um das Problem der Weltgesellschaft oder besser: um verschiedene Prozesseder Vergesellschaftung und Desintegration, die wir im internationalen System beob-achten können. Wir kennen wohl alle die Diskussionen über denationalisierte Poli-tik, über den Einfluss der Globalisierung auf den Wohlfahrtsstaat und über dieGefahren des »methodologischen Nationalismus«, wie sie u. a. von Michael Zürn(1998) problematisiert wurden. Wir sind uns aber auch klar darüber, dass irgendwo»die staatlichen Strukturen« wieder in die Analyse transnationaler Beziehungen miteingebracht werden müssen, wie Thomas Risse (Risse-Kappen 1995) es betont hat,auch wenn sich der Staat aus manchen Gebieten zurückgezogen hat oder sich sogar– wie in verschiedenen Regionen der Fall – aufzulösen scheint. Dies ist umso wich-tiger, als die Beantwortung derartiger Fragen uns nicht nur Auskunft über diezukünftige Gestalt des internationalen Systems geben wird – und hier hat sich ja dieZIB auch wieder in lobenswerter Weise nicht nur auf Entwicklungen im OECD-Bereich beschränkt –, sondern indem auch durch eine derartige Analyse Grenzenund Möglichkeiten von Konfliktbewältigung diskutiert und bewertet werden kön-nen. Wir alle sind, glaube ich, etwas zu selbstzufrieden, wenn wir uns angesichts deramerikanischen Probleme im Irak auf die Schulter klopfen und davon sprechen, dassdie ursprünglichen Sanktionen »gewirkt« haben. Die UN arbeitet mit einem Kon-zept des peace keeping, das sich trotz wichtiger Anpassungen und Änderungenkaum noch auf die sich anbahnenden Schwierigkeiten des »predatory state« anwen-den lässt. Der Ruf nach »schlauen Sanktionen« zeigt dies ebenso wie die Berichte,die man von UN-Mitarbeitern hört, die mit den Problemen in Kroatien, Haiti, Kam-bodscha und Ruanda zu tun hatten. Das Kosovo, Uganda und Afghanistan sind nurweitere Beispiele dafür. Dass sich die sich bildenden »Netzwerke« trotz ihrer Ein-bindung in Hilfsaktionen keineswegs immer friedensfördernd auswirken müssenund dass sich auch unter der weltweiten »Zivilgesellschaft« Elemente finden wie dieTaliban, die die »Erziehung« einer ganzen Generation übernommen hatten, denennichts ferner steht als ein Konzept einer »zivilisierten« Gesellschaft, ist inzwischenhinlänglich bekannt.

Ein solcher Schwerpunkt in der künftigen Forschung wird auch auf »lokales«Wissen zurückgreifen müssen und wird die alten Fragen der Zusammenarbeit zwi-schen der Perspektive der internationalen Politik und der »vergleichenden« Politikneu stellen. Die generierten Aussagen werden sich theoretisch weder einfach

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Geburtstagssymposium

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zugunsten ihrer größeren Verallgemeinerungsfähigkeit entscheiden lassen nochzugunsten einer abstrakten Systemtheorie, die weder Aktionen noch Akteure kennt.Hier werden dann – so zumindest meine Vermutung – Typologien und Prozessun-tersuchungen wohl mehr Aufschluss geben als Strukturanalysen des internationalenSystems oder groß angelegte Querschnittsuntersuchungen mit vielen Variablen.Praktisch wird sich dieses Problem auch nicht mit mehr Transparenz, dem »benchmarking«, oder der zunehmenden »Professionalisierung« von peace keepers lösenlassen, wie dies innerhalb der UN und der Kooperationsliteratur unter »liberalen«Staaten angenommen wird. Hier ist in der Tat guter Rat teuer. Auch wenn wir alsPolitikwissenschaftlerInnen nicht unbedingt jetzt alle daran gehen sollen, um aus»Schwertern Pflugscharen« zu schmieden, so wird es doch nicht angehen, dass wiruns darauf beschränken, als »Beobachter« bei irgendwelchen Operationen unser»professionelles« Resümee aufzubessern oder das definitive Werk auch über dasletzte »Netzwerk« (The Ecological Friends of Pine Flooring oder The InternationalMovement to Free the Bound Periodicals) zu schreiben.

Hier ein Forum zu bilden, vielleicht sogar pro-aktiv Beiträge zu suchen, scheintmir eine der Aufgaben zu sein, mit der die ZIB in ihrer zweiten Dekade ihre Missionder Förderung von Kompetenz und Relevanz in der Politikforschung fortsetzenkönnte. Wie bei allen Geburtstagsreden wünsche ich ihr dafür viel Glück und gutesGelingen.

Literatur

Risse-Kappen, Thomas 1995: Bringing Transnational Relations Back In: Non State Actors,Domestic Structures, and International Institutions, Cambridge.

Zürn, Michael 1998: Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und Denationalisie-rung als Chance, Frankfurt a. M.

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Christopher Daase

Ein Jahrzehnt ZIBThemen und Anathemen in der friedens- und sicherheitspolitischen Forschung

1. Einleitung

Die jüngsten Bestandsaufnahmen zur Lehre der Internationalen Beziehungen inDeutschland konstatieren, dass »das Profil der deutschen IB […] heute klarer undeigenständiger konturiert [ist] als noch vor zehn Jahren« (Wolf/Hellmann 2003:598); zurückzuführen sei dies auf eine Professionalisierung und eine Internationali-sierung der Disziplin (Zürn 2003: 42). Dieser Befund ist nicht so sehr eine Selbst-beweihräucherung als die Feststellung eines Wandels, der sich empirischnachweisen lässt: Die Zahl international publizierter Artikel, die Menge deutscherWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ausländischen Universitäten und aufinternationalen Konferenzen, das Volumen geförderter Forschungsprojekte – alldies sind Indikatoren für eine deutlich gestiegene Wertschätzung der deutschenInternationalen Beziehungen im In- und Ausland.

Dass die ZIB wesentlichen Anteil an diesem Wandel hat – dessen Wurzeln frei-lich noch weiter zurückreichen –, steht außer Frage. Sie war es, die ein Forum füreine theorieorientierte nationale Debatte bot, die ihrerseits die Voraussetzung füreine stärkere internationale Präsenz war. Als Garant für akademische Qualität galtund gilt das Gutachterverfahren (Peer Review), das die ZIB erstmalig in die deut-sche Politikwissenschaft einführte. Das heißt freilich nicht, dass es keine Defizitegäbe. Nicht alle Ziele sind erreicht, nicht alle Zusagen eingehalten worden. MitBlick auf die Ereignisse des 11. September 2001 geben die gegenwärtigen Heraus-geber, Gunther Hellmann und Harald Müller (2003), sogar zu bedenken, dass dasGutachterverfahren auch negative Effekte gehabt haben mag: Die Terroranschlägeauf das World Trade Center und das Pentagon seien nämlich genauso wenig vorher-gesagt worden wie seinerzeit der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West-Konflikts. Schuld daran könnte auch das Gutachterverfahren sein, das zwarfür eine gleich bleibende Qualität der Beiträge, aber eben auch für eine gewisse Ein-förmigkeit ihres Inhalts sorge: »Peer review may contribute to the cognitive closureof the discipline and a ›theory-driven‹ negligence of some of the key issues that pre-sent the main challenges to the political practitioner as well as to our societies morebroadly« (Hellmann/Müller 2003: 373).

Zwar sollte die Vorhersage von Großereignissen sicher nicht zum Qualitätsmaß-stab von Theorien und wissenschaftlichen Diskursen gemacht werden, doch kannman die kontinuierliche Thematisierung und umfassende Beschäftigung mit Schlüs-selproblemen der internationalen Politik empirisch untersuchen und feststellen, wie

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die Disziplin auf Veränderungen der internationalen Politik reagiert hat. Ich willdeshalb im Folgenden nachprüfen, ob es im Bereich der Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik, der Kriegs- und Friedensproblematik, also in dem Bereich, den ich amehesten überblicke, Anzeichen für die von Hellmann und Müller (2003) vermutete»cognitive closure« oder »theory-driven negligence« gegeben hat. Freilich gibt esdabei ein methodisches Problem, denn weder ist mir das numerische Verhältnis dereingereichten, begutachteten und schließlich veröffentlichten Beiträge bekannt,noch kann ich das Verhältnis friedens- und sicherheitspolitischer Beiträge zu ande-ren einschätzen; ich kenne nicht den Inhalt der Reviews und somit nicht die Gründefür Annahme oder Ablehnung von Aufsätzen. Ich bin deswegen auf das angewiesen,was schließlich in der ZIB publiziert worden ist, auf meine eigenen Erfahrungen alsGutachter und Autor und auf die Beobachtung der »Szene« auch jenseits der Diszi-plin Internationale Beziehungen. Folglich handelt es sich um eher subjektive Ein-drücke, die nicht den Anspruch erheben, eine umfassende empirische Analyse dersicherheits- und friedenspolitischen Forschung in der ZIB zu sein.

2. Sicherheits- und friedenspolitische Forschung in der ZIB

Von Anfang an hatte die ZIB den Anspruch, alle Problembereiche der internationa-len Politik gleichermaßen abzudecken. Im ersten Editorial von 1994 versprachKlaus Dieter Wolf eine »richtungs- und schulübergreifende wissenschaftliche Kom-munikation« (Wolf 1994: 3), die sich den Theorien der Internationalen Beziehun-gen, der Außenpolitikforschung, den internationalen Institutionen, der Friedens- undKonfliktforschung, der internationalen Wirtschafts- und Kulturpolitik sowie der glo-balen Umwelt- und Entwicklungsproblematik widmen würde. Dabei erklärte er die»wissenschaftliche Beschäftigung mit Frieden und Sicherheit« (Wolf 1994: 6) zumKernbestand der Disziplin und betonte die Notwendigkeit neuer Ansätze für eine»unübersichtlicher« gewordene Welt. In den folgenden Jahren wurde allerdingsdeutlich, dass die Problematik von Krieg und Frieden nur selten in der ZIB aufge-griffen wurde. Michael Zürn bedauerte in seinem Editorial 1997, »daß thematischnoch nicht die ganze Breite des Faches vertreten« (Zürn 1997: 217) sei. Auffällig seidie Unterrepräsentanz der Themen Krieg und Frieden sowie Verteidigungs- undSicherheitspolitik. Angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung und politischenInternationalisierung sei es aber »eine der zentralen theoretischen Herausforderun-gen unseres Faches […], die Rolle dieser Entwicklungen für Krieg und Frieden zuerhellen« (Zürn 1997: 217). Allerdings müsse man feststellen, dass die »theoriege-leitete binnenwissenschaftliche Kommunikation über die damit verbundenen Fragen[…] erstarrt« (Zürn 1997: 217) sei. Zwar konnte Zürn vier Jahr später vermelden,dass wichtige Beiträge »teilweise auch zur internationalen Sicherheitspolitikerschienen« (Zürn 2001: 177) seien, doch trat eine Wende erst mit dem Übergangder Herausgeberschaft auf Gunther Hellmann und Harald Müller zum Jahreswechsel2001/2002 ein, wobei nicht klar ist, ob die stärkere Berücksichtigung sicherheits-und friedenspolitischer Fragen den Vorlieben der Herausgeber, der Nähe der Redak-

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tion zur Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) oder deninternationalen Ereignissen geschuldet ist.

Kann die schleppende Eingliederung der Sicherheits- und Friedensproblematik indas Profil der ZIB auf eine »cognitive closure« oder eine »theory-oriented negli-gence« zurückgeführt werden? Zur Beantwortung dieser Frage müssten freilich eherdie abgelehnten als die angenommenen Beiträge untersucht werden, was nicht mög-lich ist. Der Blick auf die weitere »Szene« legt aber eine Reihe anderer Gründenahe, warum die friedens- und sicherheitspolitische Forschung lange den Weg in dieZIB nicht fand.

Zunächst fällt die Gründung der ZIB in eine Umbruchszeit der InternationalenBeziehungen, die jedoch die Sicherheits- und Friedenspolitik in besonderer Weisetraf. Während die Regime- und Integrationsforschung sowie die Arbeit an umwelt-und wirtschaftspolitischen Themen relativ unbehelligt fortgeführt werden konnte,hatten die Sicherheitspolitik und die Friedensforschung mit dem Ende des Ost-West-Konflikts praktisch über Nacht ihre Geschäftsgrundlage verloren. Die Reakti-onen waren panisch und unkoordiniert und äußerten sich in der Einstellung von For-schungsprogrammen, der Umorganisation von Förderungsrichtlinien und der Ein-stellung eingeführter Fachzeitschriften wie der Militärpolitik Dokumentation undder Friedensanalysen.

Dies hätte dazu führen können, dass sich die sicherheits- und friedenspolitischeForschung nun einer theoretischen Neuorientierung und damit den InternationalenBeziehungen und folglich der ZIB zuwendet. Aber dem standen traditionelle Hin-dernisse im Weg (vgl. Czempiel 1986): Zum einen war die Friedens- und Konflikt-forschung von Anfang an eher praktisch als theoretisch orientiert und insbesonderein ihrer kritischen Variante stets darauf bedacht, die Distanz zur Disziplin Internati-onale Beziehungen zu wahren und den Anspruch auf Interdisziplinarität aufrecht zuerhalten (Senghaas 1971).1 Zum anderen war die Sicherheitsforschung ebenfallseher praktisch orientiert und zudem durch einen impliziten Realismus lange von dentheoretischen Entwicklungen in den Internationalen Beziehungen abgekoppelt.2 Sofand die frühe Regimeforschung kaum Niederschlag in sicherheitspolitischen Ana-lysen (vgl. aber Müller 1993a, 1993b). Erst als die Bedeutung von Sicherheitsinsti-tutionen erkannt und systematisch erforscht wurde, gelang der Anschluss der sicher-heitspolitischen Forschung an die Theoriedebatten in den InternationalenBeziehungen (vgl. Bernauer 1995; Haftendorn/Keck 1997; Haftendorn et al. 1999).

3. Themen und Leerstellen

Gleichwohl gibt es eine Reihe von sicherheits- und friedenspolitischen Themen, diein der ZIB kontinuierlich behandelt worden sind und die zu einer Art Leitmotiv für

1 Eine Ausnahme bilden hier u. a. die Arbeiten und Projekte von Volker Rittberger; vgl.Efinger et al. (1988); Rittberger (1993).

2 Eine Ausnahme bilden hier u. a. die Arbeiten und Projekte von Helga Haftendorn; vgl.Haftendorn et al. (1978).

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die deutsche IB-Forschung geworden sind. Zu diesen Themen gehört natürlich derDemokratische Frieden, der relativ früh von Thomas Risse als zentrales Forschungs-problem für die Internationalen Beziehungen erkannt worden war (Risse-Kappen1994). Sein Literaturbericht bildete 1994 die Basis für eine der produktivsten For-schungsprogramme in den deutschen IB. Denn schon bald nahm Ernst-Otto Czem-piel (1996a) das Thema auf und wandte sich dem zentralen Rätsel zu, warumnämlich Demokratien überhaupt noch Kriege führen und wie der Kantische Ansatzangesichts dieser Anomalie gerettet werden könne. Die Forumsdebatte, die sich andiesen Aufsatz anschloss (Schmidt 1996; Czempiel 1996b; Moravcsik 1996), zeigteeinerseits die Anschlussfähigkeit der deutschen an die internationale Debatte,demonstrierte aber andererseits eine theoretische Eigenständigkeit auf hohem philo-sophischen Niveau. Dabei – und das unterscheidet zuweilen die deutsche von deramerikanischen Diskussion – wurde die Debatte nicht steril. Während in den USAder Demokratische Frieden zu einem quasi-empirischen Gesetz stilisiert wurde(Levy 1989; Russett 1993), kamen mit Ulrich Teusch und Martin Kahl (2001) in derZIB zwei jüngere Wissenschaftler zu Wort, die kritisch die Theoriekonstruktion desDemokratischen Friedens in Frage zogen. Angesichts der Globalisierung, so ihreKritik, sei der Demokratische Frieden eine »Theorie mit Verfallsdatum«. Durch die»Ausklammerung innerstaatlicher Konfliktformen« (Teusch/Kahl 2001: 311) würdesie progressiv an wissenschaftlicher Erklärungskraft und politischer Relevanz ver-lieren.

Überhaupt sind die Widersprüche des Demokratischen Friedens, oder seine »Anti-nomien«, wie sie Harald Müller (2002) nennt, in der deutschen Forschung immersehr viel ernster genommen worden als in der amerikanischen. Sie stehen im Zen-trum eines Forschungsprojektes der HSFK und dienten auch der Arbeitsgemein-schaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) 2003 für eine Wiederannäherung andie theorieorientierte Debatte der Internationalen Beziehungen (Schweizer et al.2004). Auch wenn inzwischen die Forschung zum Demokratischen Frieden über dieZIB hinausgegangen ist, kann ihre Genealogie in dieser Zeitschrift gut nachvollzo-gen werden. Am Anfang steht ein Literaturbericht, dem ein kontroverser Artikelfolgt, der für eine lebhafte Debatte im Forum sorgt. Damit ist der Grund gelegt fürweitere, auch kritische Beiträge, die der Humus für ein progressives Forschungspro-gramm sind. Im Falle des Demokratischen Friedens ist deshalb eher von »cognitiveopening« als von »closure« zu sprechen.

Andererseits ist der Vorwurf der »theory-driven negligence« nicht ganz von derHand zu weisen, wenn man bedenkt, dass nach wie vor ein staatszentrierter Ansatzin der Forschung zum Demokratischen Frieden dominiert. Die kritischen Aufsätzevon Mansfield und Snyder (1995, 2003; Snyder 2000), die darauf aufmerksammachen, dass die Demokratisierung ehemals nicht-demokratischer Regime zumin-dest zwischenzeitlich die Wahrscheinlichkeit von Konflikten und Kriegen erhöht,haben in der deutschen Forschung kaum ein Echo gefunden. Aber es ist eine zen-trale Frage, wie sich Demokratisierung in ehemaligen Bürgerkriegsgesellschaftenauswirkt und welche politischen Folgerungen daraus für Friedenseinsätze nach eth-nischen Konflikten zu ziehen sind. Bosnien, Kosovo, Afghanistan und Irak sind nur

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die kritischsten Beispiele, an denen man den dringenden Forschungsbedarf in dieserFrage verdeutlichen kann. Zurückführen lässt sich das Schweigen wohl tatsächlichauf einen weit verbreiteten Bias in den Internationalen Beziehungen, der nach wievor nicht-staatlichen Akteuren in der internationalen Politik nur eine untergeordneteRolle beimisst.

Auf diesen Umstand hat auch Klaus Schlichte (2002) in seinem Literaturberichtzur Kriegsforschung hingewiesen. Erst langsam würde man begreifen, dass Kriegeaußerhalb des zwischenstaatlichen Rahmens an Bedeutung gewinnen und auch fürdie Stabilität des internationalen Systems eine Bedrohung darstellen. Damit erklärter zugleich, warum die sich wandelnden Formen politischer Gewalt, die Entstehungvon Bürgerkriegsökonomien, Genozid und Terrorismus in den InternationalenBeziehungen bislang keine bedeutende Rolle gespielt haben: Sie passten nicht in dieSelbstbeschreibung der Disziplin und damit in das theorieorientierte Profil der ZIB(vgl. aber jüngst Behr 2004). Inzwischen ist freilich auch dem letzten Realisten klargeworden, dass selbstermächtigte Individuen und Gruppen die internationale Politikin ähnlich fundamentaler Weise erschüttern können wie Staaten. Mehr noch: IhreAktivitäten berühren in weit stärkerem Maße die internationalen Normen undRegeln, weil sie die grundlegenden Prämissen der internationalen Ordnung nichtakzeptieren und zu Gegenmaßnahmen verleiten, die ihrerseits fundamentale Institu-tionen unterminieren (Daase 1999; 2001). Auf diesen Aspekt ist auch in den Bei-trägen zum ZIB-Forum »Der 11. September 2001 und die Folgen für die Disziplin›Internationale Beziehungen‹« hingewiesen worden (Der Derian 2004; Kupchan2004; Guzzini 2004; Risse 2004; Müller 2004). Allerdings handelt es sich bei diesenBeiträgen zunächst um Momentaufnahmen einer Erschütterung (im doppeltenSinne), die der Überführung in systematische Forschungsprojekte bedürfen.

Ich will hier nur noch auf einen Aspekt eingehen, den James Der Derian (2004) inseinem Forumsbeitrag anspricht und der auch von Harald Müller (2004) betontwird, nämlich die Notwendigkeit einer ethischen Auseinandersetzung mit dem Ter-rorismus, den Gegenstrategien und den Internationalen Beziehungen insgesamt: »Zuden besonders dringenden Grenzgängen zählt die Reintegration der Ethik in dieInternationale Politik« (Müller 2004: 130). Damit ist eine weitere Leerstelle in derfriedens- und sicherheitspolitischen Forschung in der ZIB angesprochen: die fastvollständige Abwesenheit normativer Theorie. Zwar hat Peter Mayer (1999) ineinem wichtigen Artikel die Frage zu beantworten gesucht, ob man den Krieg derNATO gegen Jugoslawien, gemessen an der Lehre vom gerechten Krieg, als mora-lisch gerechtfertigt ansehen könne. Doch blieben seine Überlegungen zur Theoriedes gerechten Krieges zumindest in der ZIB ohne große Resonanz und die Annähe-rung an normative Fragen eine Ausnahme.

Zurückzuführen ist diese Leerstelle auf ein letztlich positivistisches Theoriever-ständnis, das einen klaren Strich zwischen deskriptiv-analytischer und präskriptiv-normativer Theorie zieht und die zweite aus dem Selbstverständnis der Disziplinweitgehend verbannt. Zugegeben: Für die eingangs angesprochene Professionalisie-rung und Internationalisierung war diese Trennung entscheidend, denn sie ermög-lichte es, mit der vorwiegend staatswissenschaftlich und normativ-essenzialistischen

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Tradition des Faches zu brechen. Insofern kann man in diesem Fall tatsächlich voneiner »cognitive closure« sprechen, insofern ethische Fragen für lange Zeit gar nichtals »theoriefähig« galten und für die Wissenschaft der Internationalen Beziehungenals irrelevant angesehen wurden. Diese theoretische Einäugigkeit rächt sich jetzt, dadie fundamentalen Werte und Normen des internationalen Systems zur Dispositionstehen. Normative Streitfragen um humanitäre Interventionen, militärische Präventi-onspolitik und globale Verteilungsgerechtigkeit sind zu zentralen Problemen derFriedens- und Sicherheitspolitik geworden. Sie können nicht länger von den Interna-tionalen Beziehungen und der ZIB ignoriert werden.

4. Fazit

Die friedens- und sicherheitspolitische Forschung hat nur langsam ihren Weg in dieZIB und damit in die theorieorientierte Disziplin der Internationalen Beziehungen inDeutschland gefunden. Dies ist zunächst nicht einer Ausgrenzung durch »cognitiveclosure« oder »theory-oriented negligence« des Peer Review-Verfahrens geschuldet,sondern den Eigenheiten der Friedens- und Konfliktforschung einerseits und derSicherheitsforschung andererseits. Die zunehmende Disziplinierung dieser For-schung und ihre Inklusion in die ZIB ermöglichte neue Forschungsprogramme,deren Progressivität von einem »cognitve opening« gefördert wurde: einer lebendi-gen und kritischen Debatte. Gleichzeitig setzte sich jedoch ein Theoriebegriff durch,der normative Fragestellungen weitgehend ausschloss und die Erforschung von sub-staatlichen und transnationalen Akteuren erschwerte. Beide Eingrenzungen lassensich heute angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken und friedenspoliti-schen Aufgaben nicht länger aufrecht erhalten.

Für das Peer Review-Verfahren gibt es freilich keinen Ersatz. Weil das so ist, stei-gen die Anforderungen an die Herausgeber. Denn ihnen obliegt es, die Quadraturdes Kreises zu lösen: Die disziplinäre Qualität der Beiträge zu garantieren und dasinterdisziplinäre Querdenken zu ermöglichen.

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Zürn, Michael 1997: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4: 2, 215-218.Zürn, Michael 2001: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8: 2, 175-178.Zürn, Michael 2003: Die Entwicklung der Internationalen Beziehungen im deutschsprachigen

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333Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 333-340

Thomas Gehring

Internationale Institutionen, Global Governance und Steuerungsfragen

Das Gebiet der internationalen Institutionen, des Regierens jenseits des National-staates sowie seiner eher präskriptiven Variante der Global Governance gehört seitnunmehr 15 Jahren zu den besonders wichtigen und dynamischen Bereichen derdeutschsprachigen Internationalen Beziehungen. So stellen Volker Rittberger undHartwig Hummel (1990: 34) und Michael Zürn (2003: 24) in ihren einleitenden Bei-trägen zu den jeweiligen »state of the art«-Bänden der Internationalen Beziehungenin Deutschland gleichermaßen fest, dass der Neo-Institutionalismus zu einemgemeinsamen Fundament der Forschung geworden ist. Auf diese Hinwendung zueiner theorieorientierten und – in einem weiteren Sinne – institutionenbezogenenIB-Forschung in Deutschland lässt sich auch die Gründung der Zeitschrift für Inter-nationale Beziehungen (ZIB) zurückführen. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass derhier zu behandelnde Sachbereich den wahrscheinlich größten und wichtigsten Ein-zelbereich der Veröffentlichungstätigkeit in der ZIB bildet.

In diesem Beitrag will ich – den Vorgaben der Herausgeber entsprechend –zunächst ausleuchten, inwieweit die ZIB ihrem eigenen Anspruch auf diesem Sach-gebiet gerecht geworden ist und wo dies noch nicht vollständig gelungen ist(Abschnitt 1) und anschließend auf zwei Probleme hinweisen, denen sich die ZIBmeiner Meinung nach wird stellen müssen. Eines dieser Probleme, nämlich dieFrage der thematischen und methodischen Ausrichtung in der Zukunft, ist sachge-bietsspezifisch (Abschnitt 2), während das andere, die Frage der Verortung der ZIBin der internationalen Landschaft der theoretisch orientierten IB-bezogenen Zeit-schriften, naturgemäß sachgebietsübergreifend ist (Abschnitt 3).

1. Inwieweit hat die ZIB die von ihr selbst gesetzten Ziele erreicht?

Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass die ZIB für den hier behandelten Sachbe-reich ihre wesentlichen Ziele weitestgehend eingelöst hat – wahrscheinlich stärkerals dies für die Gebiete gilt, die in den anderen Beiträgen behandelt werden. Sie ist –nicht zuletzt aufgrund ihres rigorosen anonymisierten Begutachtungsverfahrens – zueiner qualitativ hochwertigen Zeitschrift geworden, an der sich Forschung undLehre in Deutschland orientieren. Autoren finden im deutschsprachigen Raum keinebenbürtiges Publikationsorgan, da die Politische Vierteljahresschrift einen wesent-lich breiter gesteckten Themenbereich abdecken muss und andere Zeitschriften,etwa Internationale Politik und die Blätter für deutsche und internationale Politik,anwendungsnäher und deshalb – gewolltermaßen – weniger grundlagenbezogen

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sind. Für Leser gibt es deshalb kein besseres Forum, um sich über die deutschspra-chige theoriegeleitete und institutionenbezogene Forschung zu informieren. Insofernhat die ZIB gerade in diesem Sachbereich ohne Frage zu einer starken Identitätsbil-dung beigetragen. Allerdings kann der Erfolg auch selbst zum Problem werden (vgl.Abschnitt 2).

Wenn man genauer hinsieht, werden naturgemäß Nuancierungen erkennbar. DasFeld selbst ist unklar umgrenzt. So stellt die ZIB-Debatte um die Bedeutung vonKommunikation und Argumentation in den Internationalen Beziehungen zunächsteinmal eine Auseinandersetzung mit den IB-Theorien dar, hat aber – vor allem inder operationalisierten Form der Kategorien von Arguing und Bargaining – auchunmittelbare Auswirkungen auf Verhandlungen, die wiederum eine wichtige Vor-stufe für organisierte Kooperation sowie für den Aufbau und die Entwicklung inter-nationaler Institutionen bilden. Und die Aktivitäten der NATO im Kosovo-Konfliktsind für die einen eine Frage von Krieg und Frieden, während andere sie als Politik-ergebnis einer internationalen Organisation betrachten.

Zürn (2003: 26) und Jachtenfuchs (2003) gliedern das Feld in drei Teilbereiche:Die kooperationstheoretische Analyse fragt nach den Bedingungen, unter denenKooperation sowie die Steuerung durch internationale Institutionen im Schatten der»Anarchie« des internationalen Systems möglich ist und reflektiert damit die poli-tics-Dimension. Die steuerungstheoretische Perspektive untersucht hingegen dieSteuerungswirkungen und impliziert deshalb eine starke policy-Dimension. Die Dis-kussion um Global Governance wirft zusätzlich die Frage des Zusammenspiels ver-schiedener sektoraler Institutionen und unterschiedlicher Akteure sowie die Fragenvon Legitimität und Gerechtigkeit auf. Damit kommt die polity-Dimension verstärktins Spiel. Man kann überdies zwischen positiver Analyse und normativer bzw. prä-skriptiver Ausrichtung unterscheiden.

Bei aller Vorsicht hinsichtlich der Trennschärfe dieser Felder und der Zuordnungeinzelner Beiträge zeigt sich doch, dass nicht alle Teilbereiche der theoriegeleitetenund institutionenbezogenen Forschung gleichermaßen gut vertreten sind. Am weit-aus stärksten besetzt ist die Zelle der im weiteren Sinn kooperationstheoretischenpolitics-Forschung, die sich mit Fragen der Entstehungsbedingungen von Koopera-tion und einzelnen internationalen Institutionen befasst, deren Entwicklung sowiedem Einfluss bestimmter Akteure darauf. In der Anfangszeit der Zeitschrift gehör-ten dazu Beiträge zur Bedeutung von Zweiebenenspielen für den Aufbau internatio-naler Regime (Zangl 1994), zur Erweiterung der NATO aus der Clubgut-Perspek-tive (Bernauer 1995) und zur Bankenregulierung (Lütz 1999; Genschel/Plümper1996). In der jüngeren Zeit ging es etwa um das strategische Signalisieren bei inter-nationalen Verhandlungen (Thurner et al. 2003) und um Erklärungen für Regime,für die es aus einer rein funktionalistischen Logik heraus eigentlich keinen Bedarfgibt (Daase 2003a, 2003b). Daneben gewinnen neue, »konstruktivistische« Ein-flussfaktoren, etwa NGOs und der Interaktionsmodus des Arguing, an Bedeutung.Damit wird auch die Staatszentriertheit der klassischen Regimeforschung durchbro-chen. Dies alles scheint dem Befund von Klaus Dieter Wolf und Gunther Hellmann(2003: 597) zunächst zu widersprechen, dass die deutsche IB-Forschung sich nur

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noch innovativen Themen zuwende und dabei die klassischen Fragen der internatio-nalen Politik vernachlässige. Allerdings nimmt die Besetzung dieser Zelle im Zeit-verlauf deutlich ab.

Etwa zeitgleich mit der Abnahme der institutionenbezogenen Kooperationsfor-schung gewinnen seit der Jahrhundertwende weiterreichende Fragen der GlobalGovernance stark an Bedeutung. Sie zeichnen sich einerseits durch eine breitere,nicht auf einzelne Institutionen gerichtete Perspektive und vielfach auch durch einennormativen Ansatz aus. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch das Themenheft»Globalisierung und die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten« (ZIB 2/2000),dessen Beiträge durchweg analytischen Charakter haben. Dies gilt auch für dieUntersuchung der Durchsetzung von Menschenrechten durch die Interaktion natio-naler, transnationaler und staatlicher Akteure. Im Zuge der Global Governance-For-schung tritt jedoch eine verstärkt normative Forschung zutage. So werden Fragender demokratischen Legitimation globaler Politiknetzwerke (Dingwerth 2003), dertransnationalen deliberativen Demokratie (Schmalz-Bruns 1999) und der symboli-schen Integration der internationalen Gemeinschaft durch die Menschenrechte(Bonacker/Brodocz 2001) diskutiert.

Mäßig besetzt, allerdings mit leicht zunehmender Tendenz, ist schließlich dasFeld der policy-orientierten Steuerungsperspektive. So wird, normativ, der Kosovo-Krieg der NATO im Lichte von Theorien des gerechten Krieges (Mayer 1999)bewertet oder, präskriptiv, der Aufbau einer Weltumweltorganisation gefordert oderabgelehnt (Biermann/Simonis 2000; Gehring/Oberthür 2000) und über den hegemo-nialen Diskurs über Global Governance diskutiert (Brandt 2003; Weller 2003). Eswerden die Erfolgsaussichten dicht oder schlank institutionalisierter Institutionender regionalen Integration ausgelotet (Rüland 2002) und die Ursachen der abneh-menden Steuerungswirkung des Nichtverbreitungsregimes für Atomwaffen intensivdiskutiert (Daase 2003a, 2003b; Dembinski/Müller 2003; Wolf 2003).

Auffällig ist die zahlenmäßig untergeordnete Bedeutung solcher Beiträge, die nati-onale Ursachen für Aspekte der institutionenbezogenen internationalen Politik(second image) oder nationale Wirkungen internationaler Steuerungsbemühungen(second image reversed) untersuchen. Für die erste Perspektive finden sich lediglichzwei Beiträge zur (inter)nationalen Klimapolitik in Deutschland und den USA(Ulbert 1997) und über Zwei-Ebenen-Spiele (Zangl 1994); für die zweite, abgesehenvon dem Themenheft zur Globalisierung und der Handlungsfähigkeit der National-staaten, zwei Beiträge über die Durchsetzung von Menschenrechten und die Politikder Vereinten Nationen zur Gewalt gegen Frauen (Joachim 2001; ForschungsgruppeMenschenrechte 1998). Insofern ist die analytische Überschreitung der Grenze zwi-schen der nationalen und der internationalen Politik in der Publikationstätigkeit nochnicht so weit fortgeschritten, wie dies oft angenommen wird.

Was die behandelten Politikfelder angeht, so ist das Bild in Bezug auf die hierbetrachteten institutionenbezogenen Beiträge ausgewogener als gelegentlich vermu-tet. Wolf/Hellmann (2003: 597) äußern in ihrem Beitrag zur Zukunft der deutschenIB-Forschung die Besorgnis, dass nur noch Fragen der Zivilgesellschaft und derUmweltpolitik Interesse finden und Fragen von Krieg und Frieden zunehmend ver-

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nachlässigt werden könnten. In den einschlägigen Beiträgen der ZIB kommen Men-schenrechte und Umweltpolitik etwa gleich oft, d. h. sechs bis siebenmal vor. Dage-gen werden institutionenbezogene Sicherheitsfragen in über zehn Beiträgenbehandelt. Selbst wenn man die Forumsbeiträge zu der bereits erwähnten Diskus-sion um die Bedeutung des Nichtverbreitungsregimes für Atomwaffen nicht mit-zählt, sind institutionenbezogene Sicherheitsfragen keineswegs unterrepräsentiert.Lediglich Fragen mit starkem wirtschaftlichen Bezug sind etwas weniger vertreten,aber behandelt werden die internationale Bankenregulierung, der Steuerwettbewerbzwischen Staaten und die regionale Wirtschaftsintegration außerhalb der EU.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass es der ZIB gelungen ist, hochwertige Bei-träge zu einer breiten Palette theoriegeleiteter und institutionenbezogener For-schungsfragen zu gewinnen und damit einen großen Teil der relevanten deutschenInstitutionen- und Governance-Forschung abzubilden. Dabei hat die ZIB – nolensvolens – den Trend der deutschen IB-Forschung von der enger analytisch ausgerich-teten Institutionenforschung zur breiter angelegten und stärker normativen Gover-nance-Forschung mit vollzogen.

2. Das Problem der thematischen und theoretischen Ausrichtung

Ist also alles in Ordnung? Die erfolgreiche Etablierung der ZIB als Identifikations-punkt für die deutschsprachige Institutionen- und Governance-Forschung weist derZeitschrift eine disziplindefinierende Rolle zu. Wenn AutorInnen die ZIB in dieserRolle wahrnehmen, werden sie sich an diesen Maßstäben orientieren, um selbst Bei-träge erstellen zu können, die von anderen als qualitativ hochwertig angesehen wer-den. Und AutorInnen der ZIB sorgen als Gutachter dafür, dass nur solche Beiträgein der Zeitschrift veröffentlicht werden, die diesen Maßstäben genügen (Hellmann/Müller 2003: 381-385). Es entsteht eine selbstreferenzielle Beziehung, die der deut-schen IB-Forschung so lange förderlich ist, wie sie dazu beiträgt, ihre Qualität zusteigern. Dies ist durch das für die Disziplin zunächst neue doppelt anonyme Begut-achtungsverfahren zweifellos gelungen. Allerdings ist damit auch die Gefahr vonFehlentwicklungen verbunden: Wenn die ZIB »falsche« Maßstäbe setzt, wird einTeil der deutschen Institutionen- und Governance-Forschung unweigerlich in einefalsche Richtung gelenkt.

Das Problem der ZIB liegt, jedenfalls was den hier behandelten Sachbereichbetrifft, nicht so sehr in den stark theoretisch ausgerichteten Beiträgen. Die beidenderzeitigen geschäftsführenden Herausgeber haben zu Bedenken gegeben, dass diestarke Theorieorientierung, die sich in Debatten niederschlage, womöglich nicht dieArt von Wissen produziere, die die Gesellschaft benötige (Hellmann/Müller 2003:381f). Dies könne man beispielsweise dadurch beheben, dass Praktiker verstärkt inden Begutachtungsprozess einbezogen würden. Das scheint mir aus zwei Gründennicht angebracht zu sein: Zum einen verzichten nur wenige Beiträge, die auf Institu-tionen und Governance-Fragen bezogen sind, auf einen empirischen Bezug; zumanderen sollte die Redaktionspolitik nicht an der Forderung nach einem unmittelba-

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ren Anwendungsbezug ausgerichtet werden, wenn die Zeitschrift den Identifikati-onspunkt für die theoriegeleitete IB-Forschung bilden soll.

Allerdings leidet die ZIB unter einem Mangel an Beiträgen, in deren Zentrum dietheoriegeleitete Klärung empirischer Fragen steht. Nach meinen Eindruck hat dieZeitschrift International Organization, die für den hier behandelten Sachbereichsicher als Vorbild gelten kann, einen weitaus stärkeren Empiriebezug als die ZIB.Obwohl die Institutionen- und Governance-Forschung per se empirischeZusammenhänge zum Gegenstand hat, werden in zahllosen Artikeln Analysekon-zepte dargelegt, so dass die vorhandene Empirie nur den Stellenwert einer Illustra-tion oder eines Beispiels einnimmt. Der Leser erhält dann in erster Linie Vorschlägedarüber, wie er selbst einen bestimmten Ausschnitt »der Welt draußen« (auch) ana-lysieren könnte oder welche normativen Gesichtspunkte er dabei beachten sollte,aber er erfährt nichts über diese Welt selbst. Demgegenüber sind empirisch orien-tierte Beiträge unterrepräsentiert, deren Schwerpunkt auf der Untersuchung interes-santer empirischer Zusammenhänge liegt. Dies könnte etwa die Funktionsweiseoder die Wirkungen einzelner wichtiger oder innovativer Institutionen (z. B. vonInternationalem Währungsfond IWF, Weltbank oder der Weltstaudammkommis-sion; vgl. aber Dingwerth 2003), die vergleichende Analyse der Steuerungswirkun-gen mehrerer Institutionen, die Wechselwirkung zwischen Institutionen oder dieFolgen der Öffnung bestimmter Institutionen für Nichtregierungsorganisationenbetreffen. Natürlich darf eine stärkere Empirieorientierung nicht zur Publikationzahlloser isolierter Fallstudien führen. Insofern ist ein ausgeprägter Theoriebezugfür jeden Beitrag unverzichtbar. Er dient dann jedoch nicht in erster Linie der Dis-kussion theoretischer Aspekte, sondern als Instrumentarium für die sinnvolle Struk-turierung der empirischen Forschung innerhalb eines breiteren, auf kumulativeErkenntnis angelegten Forschungsprogramms.

Ein erster Schritt zur verstärkten Einwerbung theoriegeleiteter, aber empirisch ori-entierter Beiträge könnte in einem entsprechenden Aufruf zum Einreichen empirischausgerichteter Beiträge im Editorial bestehen. Bei der Durchsicht der von denjeweiligen geschäftsführenden Herausgebern verfassten Editorials fällt auf, dass dasInteresse am Allgemeinen bzw. Verallgemeinerbaren stark betont wird (Wolf 1994),während explizite Ermunterungen zur Publikation empirisch orientierter Artikel feh-len. Wenn dies insbesondere bei den nach Orientierung suchenden Nachwuchsfor-scherInnen zu dem gelegentlich zu vernehmenden Einruck führt, die ZIB nähme nurBeiträge mit theoretischem Schwerpunkt an, besteht die ernste Gefahr einer signifi-kanten Fehlentwicklung der Disziplin. Überdies würde die ZIB durch die vermehrtePublikation dezidiert empiriebezogener Beiträge gewissermaßen als Nebeneffektautomatisch auch für Außenstehende interessanter.

3. Das Problem der Verortung der ZIB in der Landschaft der internationalen Fachzeitschriften

Ein zweites Problem besteht in der Verortung der ZIB in der internationalen Land-schaft der IB-bezogenen und theoretisch orientierten Zeitschriften. In Bezug auf die

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Institutionen- und Governance-Forschung fällt auf, dass die Ergebnisse einiger derauf diesem Gebiet tätigen deutschen Forscher, die in internationalen Fachzeitschrif-ten publizieren, kaum oder gar nicht in der ZIB erscheinen. Mit der zunehmendenKonkurrenzfähigkeit und Internationalisierung der deutschsprachigen IB-Forschungwird sich die Konkurrenz der ZIB zu hochrangigen internationalen Zeitschriften(z. B. dem European Journal of International Relations, International Organizationetc.) unweigerlich verstärken. Gerade international besonders wettbewerbsfähigeBeiträge werden dann aufgrund des höheren Renommees internationaler Publikatio-nen für die ZIB zunehmend unerreichbar. Überdies liegt es nahe, Beiträge allein auf-grund der Sprache auch dann nicht bei der ZIB, sondern bei zweit- oderdrittrangigen englischsprachigen Zeitschriften einzureichen, wenn sie bei den amhöchsten renommierten Organen scheitern oder für internationale Konferenzen inenglischer Sprache verfasst worden sind.

Meines Erachtens muss sich die ZIB diesem Problem offener stellen als bisher.Solange sie nicht in Konkurrenz beispielsweise zu dem European Journal of Inter-national Relations treten, sondern den Identifikationspunkt für die deutschsprachigeIB-Forschung bilden will, kann ihr nicht daran gelegen sein, Autoren vor die Wahlzu stellen, entweder in Deutschland oder international zu veröffentlichen. DieseWettbewerbssituation wäre auch für die Disziplin insgesamt nicht unproblematisch.Wenn Autoren sich entscheiden müssten, ob sie wettbewerbsfähige Ergebnisse nati-onal oder international veröffentlichen wollen, würde jede ZIB-Publikation den Ein-fluss der deutschsprachigen IB-Forschung auf die internationale Diskussion automa-tisch reduzieren. Deshalb müsste die ZIB bestrebt sein, Ergebnisse möglichst jedesguten deutschsprachigen Forschungsprojektes unabhängig davon zu veröffentlichen,ob sie (auch) international publiziert werden oder worden sind, soweit dies urheber-rechtlich zulässig ist. Gleichzeitig sollte die Redaktion darüber nachdenken, ob dieZIB, trotz ihres aus guten Gründen im wesentlichen deutschsprachigen Charakters,in Zukunft auch in englischer Sprache verfasste Beiträge anzunehmen bereit ist. Auseigener Erfahrung weiß ich, dass thematisch passende Manuskripte gelegentlichnicht eingereicht werden, weil die Zeit oder Lust für die Rückübersetzung ins Deut-sche fehlen. In jedem Fall gilt es auch in dieser Hinsicht, Publikationsmöglichkeiten(und deren Grenzen) zum Beispiel im Rahmen des Editorials gegenüber potenziel-len Autoren regelmäßig so deutlich zu machen, dass die Zahl der eingereichtenManuskripte nicht durch ungewollte Selbstbeschränkung unnötig reduziert wird.

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Thomas Gehring: Internationale Institutionen, Global Governance und Steuerungsfragen

339ZIB 2/2004

Literatur

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Daase, Christopher 2003a: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskriseder Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 1, 7-41.

Daase, Christopher 2003b: Nonproliferation und das Studium internationaler Legitimität.Eine Antwort auf meine Kritiker, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 2,351-364.

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Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnatio-nale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 5: 1, 5-42.

Gehring, Thomas/Oberthür, Sebastian 2000: Was bringt eine Weltumweltorganisation? Koo-perationstheoretische Anmerkungen zur institutionellen Neuordnung der internationalenUmweltpolitik, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7: 1, 185-211.

Genschel, Philipp/Plümper, Thomas 1996: Wenn Reden Silber und Handeln Gold ist. Koope-ration und Kommunikation in der internationalen Bankenregulierung, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 3: 2, 225-254.

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Lütz, Susanne 1999: Zwischen »Regime« und »kooperativem Staat«. Bankenregulierung iminternationalen Mehrebenensystem, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6: 1,9-40.

Mayer, Peter 1999: War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien moralisch gerechtfertigt?Die Operation »Allied Force« im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg, in: Zeitschriftfür Internationale Beziehungen 6: 2, 287-322.

Schmalz-Bruns, Rainer 1999: Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regierenjenseits des Nationalstaats, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6: 2, 185-244.

Rittberger, Volker/Hummel, Hartwich 1990: Die Disziplin »internationale Beziehungen« imdeutschsprachigen Raum auf der Suche nach ihrer Identität. Entwicklung und Perspekti-ven, in: Rittberger, Volker (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen. Bestands-aufnahme und Forschungsperspektiven (PVS-Sonderheft 21), Opladen, 17-47.

Rüland, Jürgen 2002: »Dichte« oder »schlanke« Institutionalisierung? Der Neue Regionalis-mus im Zeichen von Globalisierung und Asienkrise, in: Zeitschrift für InternationaleBeziehungen 9: 2, 175-208.

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Geburtstagssymposium

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Thurner, Paul W./Kroneberg, Clemens/Stoiber, Michael 2003: Strategisches Signalisieren beiinternationalen Verhandlungen. Eine quantitative Analyse am Beispiel der Regierungs-konferenz 1996, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 2, 287-320.

Ulbert, Cornelia 1997: Ideen, Institutionen und Kultur. Die Konstruktion (inter-)nationalerKlimapolitik in der BRD und in den USA, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen4: 1, 9-40.

Weller, Christoph 2003: Die Welt, der Diskurs und Global Governance. Zur Konstruktioneines hegemonialen Diskurses – eine Replik auf Ulrich Brand, in: Zeitschrift für Interna-tionale Beziehungen 10: 2, 365-382.

Wolf, Klaus Dieter 1994: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 1, 3-13.Wolf, Klaus Dieter/Hellmann, Gunther 2003: Die Zukunft der Internationalen Beziehungen in

Deutschland, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hrsg.): Dieneuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland,Baden-Baden, 577-603.

Wolf, Reinhard 2003: Tabu, Verrechtlichung und die Politik der nuklearen Nichtverbreitung.Eine interessante Hypothese auf der Suche nach einem tatsächlichen Problem, in: Zeit-schrift für Internationale Beziehungen 10: 2, 321-331.

Zangl, Bernhard 1994: Politik auf zwei Ebenen. Hypothesen zur Bildung internationalerRegime, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 2, 279-312.

Zürn, Michael 2003: Die Entwicklung der Internationalen Beziehungen im deutschsprachigenRaum seit 1989, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hrsg.): Dieneuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland,Baden-Baden, 21-46.

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Frank Schimmelfennig

Lost in Translation?Zehn Jahre ZIB und die Europaforschung

In seinem Editorial zum ersten Heft der ZIB zählte Klaus Dieter Wolf die »theorie-geleitete (Wieder-)Beschäftigung […] mit den europäischen Institutionen, vor allemmit der Europäischen Union« (Wolf 1994: 7) zu den zentralen Themen, mit denensich die neue Zeitschrift auseinander setzen solle; drei Jahre später führte MichaelZürn (1997: 217) europäisches Regieren und europäische Integration bei denunterrepräsentierten Themen der ZIB auf, um schließlich 2001 das positivere Fazitzu ziehen, dass in den »letzten fünf Jahren […] wichtige und empirisch gehaltvolleBeiträge zur EU-Forschung« (Zürn 2001: 176f) erschienen seien. Hat diese Ent-wicklung angehalten? Vor allem aber: Konnte die ZIB in diesem Bereich ihremselbst gestellten Anspruch genügen, »ein Publikationsort für die richtungs- wie auchschulenübergreifende Kommunikation« zu sein, relevante theoretisch und empirischgehaltvolle Beiträge zu veröffentlichen und der deutschsprachigen IB »zu einer stär-ker eigenständigen Identität« und stärkerem Profil und Ansehen zu verhelfen (so derAufruf der Herausgeber zu diesem Forum)?1

Dass Veröffentlichungen zur europäischen Integration und zum europäischenRegieren in der ZIB unterrepräsentiert seien, lässt sich sicher nicht (mehr) behaup-ten. Nach meiner Zählung sind dazu 20 Beiträge (Aufsätze, Forum und Literaturbe-richte) erschienen – das ist im Durchschnitt etwa ein Beitrag pro Heft und damitdem Bereich »Europa« in einer Zeitschrift, die die gesamte IB abdeckt, durchausangemessen. Aber ist die ZIB für die deutschsprachige Europaforschung auch einzentraler Ort der Publikation und Kommunikation? Hier konkurriert die ZIB unterden fachwissenschaftlichen Zeitschriften im nationalen Rahmen mit der PolitischenVierteljahresschrift (PVS)2 und international mit allgemeinen IB-Zeitschriftenebenso wie mit Zeitschriften, die auf die Europaforschung spezialisiert sind.

Wie schneidet die ZIB im quantitativen Vergleich ab? In der PVS erschienen imgleichen Zeitraum (1994 bis Sommer 2004) 24 Beiträge im Bereich Europafor-schung. Berücksichtigt man, dass die PVS vierteljährlich erscheint und pro Jahretwa den doppelten Umfang der ZIB erreicht, so stellt sich die PVS im nationalenRahmen keineswegs als das bedeutendere Medium dar. Auffallend ist vielmehr diequantitativ zweitrangige Rolle der beiden fachwissenschaftlichen Organe, wennman den Vergleich auf die englischsprachigen Zeitschriften ausdehnt. Das gilt weni-ger für die allgemeinen IB-Zeitschriften (hier ergab die Zählung vier Beiträge in

1 Für wertvolle Kommentare und Hinweise danke ich Beate Kohler-Koch.2 Daneben veröffentlicht die Zeitschrift Integration auch politikwissenschaftliche Beiträge

zu aktuellen europapolitischen Themen.

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International Organization und zehn Beiträge im European Journal of InternationalRelations) als vielmehr für die wichtigsten spezialisierten Fachzeitschriften: Journalof Common Market Studies (JCMS), Journal of European Public Policy (JEPP) undseit 2000 European Union Politics (EUP).3 Dabei habe ich Beiträge deutschsprachi-ger Autorinnen und Autoren gezählt, die entweder an deutschsprachigen Standortenarbeiten oder aber auch auf Deutsch publizieren. Im JCMS sind seit 1994 37 solcherBeiträge erschienen; im JEPP, das im gleichen Jahr wie die ZIB auf den Markt kam,waren es sogar 76. Selbst EUP kommt trotz des kurzen Erscheinungszeitraums mit18 auf fast ebenso viele Beiträge wie die ZIB. Von rund 200 Aufsätzen, die die Aus-wahlkriterien erfüllen und in den genannten Zeitschriften von 1994 bis Juli 2004erschienen sind, wurden nur 20 oder 10% in der ZIB veröffentlicht – was noch einegünstige Berechnung ist, weil sie nicht alle konkurrierenden englischsprachigenFachzeitschriften berücksichtigt.

Solche Zahlen haben natürlich nur eine begrenzte Aussagekraft, schließlich könnte eszum Beispiel sein, dass in der ZIB besonders bedeutende Beiträge publiziert wurden,die wichtige und originelle Anstöße für die (deutschsprachige) Europaforschung gege-ben und ihre eigenständige Identität und internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkthaben. Wie ist also die Qualität der ZIB in der Europaforschung einzuschätzen?

1. War die ZIB »ein Publikationsort für die richtungs- wie auch schulenübergreifende Kommunikation« in der Europaforschung?

Diese Frage lässt sich ohne Einschränkung mit »ja« beantworten.4 Die Europa-Bei-träge zur ZIB hatten nicht nur unterschiedliche teildisziplinäre Hintergründe: vonder politischen Theorie (Schmalz-Bruns 1999) über komparatistische Ansätze(Schmidt 2003) bis hin zu den Internationalen Beziehungen (Gehring 1994). Siereichten auch von der Mikroebene individueller Einstellungen zur EU (Rattinger1996) über die zivilgesellschaftliche (Heinelt 1998) und Interessengruppenebene(Schmidt 2003) weiter zur intergouvernementalen (Jäger/Lange 2001) und suprana-tionalen (Gehring 1994) bis hin zur globalen Ebene (Schirm 1997). Sie handeltenvon einzelnen Politikfeldern (Wendler 2002), aber auch von der EuropäischenUnion als Herrschaftssystem (Neyer 2002). Methodisch war von der Fallstudie(Wiener 2001) über den Vergleich (Jäger/Lange 2001) und die statistische Analyse(Thurner et al. 2003) und von der Hypothesenüberprüfung (Börzel et al. 2003) biszur wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung (Merlingen 1999) alles dabei.Theoretisch reichte das Spektrum vom rationalen Institutionalismus (Gehring 1994)über Neo-Gramscianismus (Bieling/Steinhilber 2002) und Konstruktivismus (Wie-

3 Daneben wäre noch das allerdings weniger hoch eingestufte Journal of European Inte-gration zu nennen. Andere IB-Zeitschriften wie Cooperation and Conflict oder Journalof International Relations and Development veröffentlichen ebenfalls regelmäßig Arti-kel zur Europaforschung. Das gilt auch für komparatistische Zeitschriften wie z. B. dasEuropean Journal of Political Research und West European Politics.

4 Die Namen in Klammern sind jeweils Beispiele für Beiträge aus der ZIB, keine vollstän-digen Aufzählungen.

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ner 2001) bis zur Postmoderne (Diez 1996). Auch wenn Gunther Hellmann undHarald Müller (2003: 385) die Sicherstellung von Pluralismus, Offenheit und Inno-vation als besonders drückende Last auf den Schultern der Herausgeber definieren –die ZIB gibt in dieser Hinsicht keinen Anlass zur Besorgnis!

Aber vielleicht führt dieser »richtungs- wie auch schulenübergreifende« Pluralis-mus gerade nicht zu Kommunikation unter den ZIB-Beiträgen, sondern zu einerAnsammlung von Einzelaufsätzen? Ein Indikator dafür kann die Zahl anderer ZIB-Artikel in den Literaturlisten der ZIB-Beiträge sein – wobei ich mich auf die Zeitnach 1998 beschränkt habe, in der schon eine gewisse Masse an ZIB-Aufsätzen vor-handen war, auf die sich nachfolgende Beiträge beziehen konnten. Von den zehneinschlägigen Artikeln, die zwischen 1999 und 2004 erschienen, zitieren zwei (undzwar erst kürzlich erschienene) keine anderen ZIB-Beiträge, zwei lediglich ZIB-Literaturberichte und zwei ausschließlich nicht-europaspezifische ZIB-Beiträge. Dierestlichen vier Beiträge zitieren zwischen zwei und vier andere ZIB-Beiträge, nie-mals aber mehr als zwei zur Europaforschung. Diese Zahlen deuten darauf hin, dassdie Bezüge der ZIB-Beiträge zur Europaforschung untereinander nur schwach aus-geprägt sind. Eine »ZIB-Debatte« ist für die Europaforschung allenfalls in Ansätzenim Umkreis der Konzepte Deliberation und Legitimität auszumachen – mit Bei-trägen von Rainer Schmalz-Bruns (1999), Christian Joerges (2000), Jürgen Neyer(2002) und Frank Wendler (2002).

2. Waren die ZIB-Veröffentlichungen originelle, innovative und eigenständige Beiträge der deutschsprachigen Europaforschung?

Die deutschsprachige Politikwissenschaft hat – unter Beteiligung von Autorinnenund Autoren, die den IB zuzurechnen sind – im vergangenen Jahrzehnt in mehreren,sich teilweise stark überlappenden Gebieten einen auch international sichtbaren undanerkannten Beitrag zur Europaforschung geleistet.

Insbesondere hat sich in diesem Zeitraum der Ansatz des »Europäischen Regie-rens« (governance) in der deutschsprachigen Europaforschung stark verbreitet. Erentstand in Abgrenzung zu den integrationstheoretischen, auf die Erklärung desIntegrationswachstums gerichteten Ansätzen der Europaforschung und versteht dieEU als ein politisches System, das sich zwar von nationalstaatlichen Systemen starkunterscheidet, aber prinzipiell mit den gleichen Instrumenten analysieren lässt. Die-ser Ansatz wird programmatisch vornehmlich von Markus Jachtenfuchs und BeateKohler-Koch (auch als Koordinatorin des DFG-Schwerpunktprogramms »Regierenin Europa«) repräsentiert. Jenseits der programmatischen Ebene zeigt sich dieRegierens-Perspektive vor allem in Arbeiten zur Steuerung und Interessenvermitt-lung in der EU (Rainer Eising, Beate Kohler-Koch) und in Politikfeldanalysen.Besonders zahlreich waren hier Untersuchungen zur Regional- und Strukturpolitik,zum Binnenmarkt (vor allem am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor-schung unter der Leitung von Fritz Scharpf) und zur Sozialpolitik (Gerda Falkner,Stephan Leibfried und andere). In jüngerer Zeit hat sich mit der Forschung über dieImplementation und Einhaltung von EU-Regeln durch die Mitgliedsstaaten ein wei-

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terer Zweig der Governance-Forschung etabliert und verbreitet. Diese Forschungstellt außerdem die Frage, inwieweit und auf welche Weise die EU-Mitgliedschaftnationalstaatliche Akteure, Institutionen und Politikprozesse verändert (»Europäi-sierung«). Hier sind unter anderen Tanja Börzel, Gerda Falkner, Adrienne Héritier,Christoph Knill und Wolfgang Wessels mit ihren Forschungsgruppen zu nennen.Schließlich sind Fragen nach der demokratischen Teilhabe, Verantwortlichkeit undReformierbarkeit sowie den Legitimitätsproblemen und -ressourcen des EU-Sys-tems mit der Regierens-Perspektive aufgegriffen worden. Hierzu hat von A wieAbromeit bis Z wie Zürn in der deutschsprachigen Europaforschung eine sehr breiteund diverse Debatte stattgefunden.

Einen international gut sichtbaren Beitrag hat die deutsche Politikwissenschaftauch zur rational-institutionalistischen Analyse von Verhandlungen und Entschei-dungen in der EU geleistet. Hier haben sich in Deutschland zwei Zentren herausge-bildet – zum einen das Max-Planck-Institut in Köln mit seinem »akteurszentriertenInstitutionalismus« (Fritz Scharpf und andere) sowie, stärker quantitativ orientiert,die Fakultät für Verwaltungswissenschaften der Universität Konstanz (ThomasKönig, Gerald Schneider und andere). Demgegenüber untersucht die konstruktivisti-sche Integrationsforschung einerseits den Einfluss von Identitäten und Ideen auf dieeuropäischen Integrationsprozesse und andererseits die europäische Integration alsProzess der Konstruktion und Transformation von Bedeutungen, Normen, Öffent-lichkeiten und Identitäten. Für unterschiedliche Varianten einer solchen konstrukti-vistischen Integrationsforschung stehen Thomas Diez, Markus Jachtenfuchs, Tho-mas Risse und Antje Wiener. Mit der Agenda der konstruktivistischen Integrations-forschung stehen schließlich Arbeiten in Verbindung, die den Einfluss vonIdentitäten und Normen auf die Verhandlungen und Entscheidungen der EU zurOsterweiterung und die Übernahme von EU-Regeln in den Beitrittsländern untersu-chen (Sieglinde Gstöhl, Frank Schimmelfennig, Ulrich Sedelmeier, Antje Wiener).

Sind zu diesen Gebieten maßgebliche Beiträge in der ZIB erschienen? Schon einschneller Durchgang durch die aufgeführten Namen zeigt, dass viele davon als ZIB-Autoren (jedenfalls zum Thema Europa) nicht in Erscheinung getreten sind (so gutwie alle aber im JEPP veröffentlicht haben). Die ZIB-Artikel zur Europaforschunglassen sich zwar bis auf wenige Ausnahmen diesen Schwerpunkten zuordnen, undes sind auch fast alle Schwerpunkte in der ZIB repräsentiert. Ihre »Referenzbei-träge«, die Debatten angestoßen haben oder immer wieder als exemplarisch zitiertwerden, sind jedoch an anderen Orten erschienen.

Wohlgemerkt: Dies ist kein negatives Qualitätsurteil über die ZIB-Artikel undihre Autoren. Von den 17 (Haupt-)Autorinnen und Autoren der 20 ZIB-Beiträgehaben zehn im gleichen Zeitraum auch in den ausgewerteten englischsprachigenZeitschriften publiziert. Die ZIB-Aufsätze sind in der Regel Originalbeiträge; vielevon ihnen berichten »taufrische« Ergebnisse von Forschungsprojekten und Qualifi-kationsarbeiten (vgl. unter den neueren Beiträgen z. B. Börzel et al. 2003; Jäger/Lange 2001; Neyer 2002; Schmidt 2003; Thurner et al. 2003).

Zusammengefasst stellt sich die ZIB für die deutschsprachige politikwissenschaft-liche Europaforschung – und zwar auch für die mit Wurzeln in den IB – als ein eher

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randständiges Medium dar. Die Masse der heimischen akademischen Aufsatzpro-duktion erscheint inzwischen in englischsprachigen Zeitschriften, vor allem spezia-lisierten Fachzeitschriften der internationalen Europaforschung. Das gilt nicht min-der für die Klasse: Die Referenzbeiträge deutschsprachiger Autorinnen und Autorenin den »Paradedisziplinen« der deutschsprachigen Europaforschung sind in derRegel nicht in der ZIB publiziert. Einzelne Beiträge dazu finden sich hier sehr wohl;doch die ZIB hat sie nicht durch frühe Veröffentlichungen oder eigene Debattengeneriert. Was jedoch auch deutlich wurde: An einem Mangel an Innovationsfreu-digkeit, Pluralismus oder Qualität der Einzelbeiträge liegt das nicht.

Hinter diesem Fazit steckt eine im Grunde positive Entwicklung. Die deutschspra-chige Europaforschung ist lange dem nationalen oder deutschsprachigen Kommuni-kations- und Kooperationsrahmen entwachsen und international nicht nur präsent,sondern in ansehnlicher Breite konkurrenzfähig und in mehreren Bereichen sogarunter den Agenda-Settern. Davon zeugen die zahlreichen Veröffentlichungen in denspezialisierten Fachzeitschriften und vielfache internationale Kooperationen. Werhier mitreden und mitgestalten will, kann dies aber nicht (oder nicht vorrangig)durch Veröffentlichungen in der ZIB (oder der PVS) tun. Nichts ist für diese Ent-wicklung vielleicht symptomatischer als die Tatsache, dass EUP, die neueste unterden auf die EU spezialisierten englischsprachigen Fachzeitschriften, gerade an einerdeutschen Universität (Konstanz) gegründet wurde und herausgegeben wird.

Diese Entwicklung, die innerhalb der Internationalen Beziehungen offensichtlichnicht auf die Europaforschung beschränkt ist (vgl. Zürn 2003: 31-35), wirft für dieZIB eine grundsätzliche Frage auf: Muss sie als randsprachliches Medium einer sichinternationalisierenden (und sprachlich anglisierenden) Wissenschaft, die des publi-zistischen Protektionismus nicht (mehr) bedarf, zwangsläufig zu einem Platz fürGelegenheitspublikationen in deutscher Sprache werden – oder bestenfalls zumDurchlauferhitzer für hochklassige Forschungsergebnisse, die wenig später ohnehinauf Englisch erscheinen? Kann sie unter diesen Umständen überhaupt noch profil-bildend und gemeinschaftsstiftend wirken? Meines Erachtens kann sie das in demMaße, wie sie frühzeitig und aktiv sich entwickelnde Themen, Theorien und Kon-troversen der deutschsprachigen Forschung aufgreift, organisiert und verdichtet –z. B. in Sonder- oder Themenheften, die entweder eingereicht oder aber auch als»Aufsatzwettbewerb« angekündigt und – wie die regulären Hefte – begutachtet wer-den, ein Forum für Kommentare zu den Aufsätzen bieten und einen Literaturberichtzum Thema enthalten.

Dazu bedarf es allerdings komplementärer und unterstützender wissenschaftlicherTagungsformate und -resultate. Eine Zeitschrift wie die ZIB bleibt notwendiger-weise hinter ihren Möglichkeiten zurück, wenn zum einen die Ergebnisse von the-menspezifischen Sektions- und anderen Tagungen fast automatisch in Sammelbändemünden. Zum anderen brauchen wir deutschsprachige teilnehmer- und themenof-fene Konferenzen, bei denen sich neue Themen und Ansätze zeigen, Kooperationenund Kontroversen entwickeln und damit mögliche ZIB-Hefte herauskristallisierenkönnen. Mit der Offenen Sektionstagung im Herbst 2005 will die Sektion Internatio-nale Politik versuchen, diese Lücke zu schließen.

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Literatur

Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen 2002: Finanzmarktintegration und Corporate Gover-nance in der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 1, 39-74.

Börzel, Tanja A./Hofmann, Tobias/Sprungk, Carina 2003: Einhaltung von Recht jenseits desNationalstaats. Zur Implementationslogik marktkorrigierender Regelungen in der EU,in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 2, 247-286.

Diez, Thomas 1996: Postmoderne und europäische Integration. Die Dominanz des Staatsmo-dells, die Verantwortung gegenüber dem Anderen und die Konstruktion eines alternati-ven Horizonts, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3: 2, 255-282.

Gehring, Thomas 1994: Der Beitrag von Institutionen zur Förderung der internationalenZusammenarbeit, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 2, 211-242.

Heinelt, Hubert 1998: Zivilgesellschaftliche Perspektiven einer demokratischen Transforma-tion der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5: 1, 79-108.

Hellmann, Gunther/Müller, Harald 2003: Editing (I)nternational (R)elations: A ChangingWorld, in: Journal of International Relations and Development 6: 4, 372-389.

Jäger, Thomas/Lange, Nils 2001: Isolierte Partner im europäischen Integrationsprozeß, in:Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8: 1, 105-140.

Joerges, Christian 2000: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranati-onalismus? Anmerkungen zur Konzeptionalisierung legitimen Regierens jenseits desNationalstaats bei Rainer Schmalz-Bruns, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen7: 1, 145-162.

Merlingen, Michael 1999: Die Relativität von Wahrheit dargestellt am Beispiel der Entste-hungsgeschichte der Wirtschafts- und Währungsunion. Ein Beitrag zur Integrationsfor-schung aus der Sicht des epistemologischen Konstruktivismus, in: Zeitschrift fürInternationale Beziehungen 6: 1, 93-128.

Neyer, Jürgen 2002: Politische Herrschaft in nicht-hierarchischen Mehrebenensystemen, in:Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 1, 9-38.

Rattinger, Hans 1996: Einstellungen zur europäischen Integration in der Bundesrepublik: EinKausalmodell, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3: 1, 45-78.

Schirm, Stefan A. 1997: Transnationale Globalisierung und regionale Kooperation. Ein polit-ökonomischer Ansatz zur Erklärung internationaler Zusammenarbeit in Europa und denAmerikas, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4: 1, 69-106.

Schmalz-Bruns, Rainer 1999: Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regierenjenseits des Nationalstaats, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6: 2, 185-244.

Schmidt, Susanne K. 2003: Die nationale Bedingtheit der Folgen der Europäischen Integration,in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 1, 43-68.

Thurner, Paul W./Kroneberg, Clemens/Stoiber, Michael 2003: Strategisches Signalisieren beiinternationalen Verhandlungen. Eine quantitative Analyse am Beispiel der Regierungs-konferenz 1996, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10: 2, 287-320.

Wendler, Frank 2002: Neue Legitimitätsquellen für Europa? Verbände in der europäischenSozialpolitik, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: 2, 253-274.

Wiener, Antje 2001: Zur Verfassungspolitik jenseits des Staates. Die Vermittlung von Bedeu-tung am Beispiel der Unionsbürgerschaft, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen8: 1, 73-104.

Wolf, Klaus Dieter 1994: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1: 1, 3-13.Zürn, Michael 1997: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4: 2, 215-218.Zürn, Michael 2001: Editorial, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8: 2, 175-178.Zürn, Michael 2003: Die Entwicklung der Internationalen Beziehungen im deutschsprachigen

Raum nach 1989, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus Dieter/Zürn, Michael (Hrsg.): Dieneuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland,Baden-Baden, 21-46.

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Tanja A. Börzel

Europäisches RegierenPolicy matters!

1. Einleitung

Als die erste Ausgabe der ZIB erschien, war ich an der Universität Konstanz imHauptstudium (Diplom-Verwaltungswissenschaft) und hatte mich gerade für Inter-nationale Beziehungen (IB) als Schwerpunkt entschieden. In meiner ersten Vorle-sung wurde ich dann auch gleich mit der konstruktivistischen Wende in den IBkonfrontiert (von der ich vorher noch nie etwas gehört hatte). Auch Harald Müllers(1994) Kritik der utilitaristischen Handlungstheorien, einer der ersten Texte, die wirlesen mussten, war mir neu. Doch nicht zuletzt dank des vorzüglichen Literaturbe-richts von Thomas Schaber und Cornelia Ulbert (1994) zur Reflexivität in den Inter-nationalen Beziehungen kannte ich mich in der dritten Theoriedebatte bald bestensaus. Die in der ZIB veröffentlichten Beiträge bildeten eine hervorragende Vorberei-tung auf die Diplomprüfung. Während der Promotion, die mich nicht nur ins Aus-land führte, sondern durch die ich mich auch von der IB ein Stück weit entfernte,bildete die ZIB eine wichtige Verbindung zur deutschen IB-Gemeinde und hieltmich über die aktuellen Theorieentwicklungen und relevanten Neuerscheinungenauf dem Laufenden. Heute unterrichte ich selbst in den IB, und die ZIB ist mir mehrdenn je eine wertvolle Stütze sowohl in der Lehre als auch in der Forschung. Ichmöchte der ZIB deshalb zunächst einmal ganz herzlich zum 10. Geburtstag gratulie-ren und ihren verschiedenen Herausgebern und Redakteuren ein großes Komplimentund Dankeschön aussprechen.

Der ZIB ist es in den letzten Jahren ohne Zweifel gelungen, sich unter den interna-tional führenden Fachzeitschriften einzureihen. Dies verdankt sie nicht zuletzt demdoppelt anonymen Begutachtungsverfahren, das sie als erste deutsche Zeitschrift inder Politikwissenschaft einführte. Auch wenn dieses Verfahren vielen zunächstungewohnt schien und in manchen Fällen zu mehreren Überarbeitungsrunden mitbis zu sechs verschiedenen Gutachten geführt haben soll, hat es einen wichtigenBeitrag zur Professionalisierung und Qualitätssicherung in den deutschen IB geleis-tet. Der rigorose Auswahlmechanismus hat aber auch zu einer gewissen Engführungbzw. Einseitigkeit geführt, wie sie der amerikanischen IB mit ihren zum Teil stili-sierten Theoriedebatten, in denen empirische Fragestellungen eine eher untergeord-nete Rolle spielen, häufig vorgeworfen wird und gegen die sich die deutsche IBzumindest ein Stück weit abgrenzen wollte (vgl. die Debatte in der ersten Ausgabeder ZIB zwischen Gunther Hellmann 1994 und Michael Zürn 1994 sowie den Bei-trag von Thomas Risse in diesem Heft). Die Einseitigkeit bezieht sich gar nicht malso sehr auf die in manchen Kreisen immer noch verbreitete Außenwahrnehmung der

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ZIB als ein »konstruktivistisches Theorieorgan« (Zürn 2001: 177). Die so genannteZIB-Debatte über kommunikatives Handeln in der internationalen Politik ist einmustergültiges Beispiel für schulenübergreifende Kommunikation, die ausgewogenund richtungweisend war. Was als kritische Auseinandersetzung mit dem rationalis-tischen Akteurskonzept begann, entwickelte sich zu einer eigenständigen Theoriede-batte, die kommunikatives Handeln als dritten Typ sozialen Handelns – neben demrationalistischen und dem normengeleiteten – etablierte. Die Wirkung der Debatteging weit über den deutschen Sprachraum hinaus und hat damit maßgeblich dasinternationale Profil und Ansehen der deutschen IB gefördert. Sie hat auch Maß-stäbe für die methodologische Herangehensweise potenzieller ZIB-Beiträge gesetzt,die sich an der theorie- und problemorientierten Grundlagenforschung ausrichtensollten (vgl. Wolf 1994). Damit wollte sich die ZIB zu Recht von eher anwendungs-orientierten Zeitschriften wie Internationale Politik oder Aus Politik und Zeitge-schichte abgrenzen. Durch das Raster sind aber auch Forschungsrichtungen gefal-len, die sich nicht notwendigerweise (nur) an außerwissenschaftliche Zielgruppenim Bereich der politischen Bildung oder der Politikberatung richten, sondern eherinduktiv und nicht ganz so theorie- und methodengeleitet vorgehen. Dazu zählt bei-spielsweise die policy-orientierte Europaforschung, die für das »Europäische Regie-ren« zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.

Während die Europaforschung lange unter der Rubrik Internationale Organisatio-nen und Institutionen gefasst wurde (vgl. Wolf 1994: 6), hat sie sich mittlerweile alseigenständige Teildisziplin in der Politikwissenschaft etabliert. Trotzdem bleibt sieden Internationalen Beziehungen eng verbunden, was sich auch darin zeigt, dass dieHerausgeber der ZIB »Europäisches Regieren« in den Katalog der Themen aufge-nommen haben, die die Internationalen Beziehungen als politikwissenschaftlicheTeildisziplin definieren. Trotzdem sind Beiträge aus dem Bereich der Europafor-schung in der ZIB erst in den letzten zwei Jahren stärker vertreten, wie ich zuBeginn meines Beitrages aufzeigen werde. Darüber hinaus weisen die veröffentlich-ten Arbeiten in der ZIB eine gewisse Einseitigkeit auf, so dass die ZIB nur einbegrenztes Spektrum der Europaforschung abdeckt. Ich schließe mit einem Plädoyerfür eine zukünftige Schwerpunktsetzung auf stärker policy-bezogene Forschung, dienicht nur den Blick auf bisher vernachlässigte Erklärungsfaktoren des europäischenwie internationalen Regierens lenkt, sondern auch eine stärkere Anwendungsorien-tierung mit sich bringt, wie sie von den Herausgebern der ZIB gefordert wird (Hell-mann/Müller 2003).

2. Europa und die ZIB

Während Michael Zürn (1997: 217) in seinem Editorial in der ZIB 2/1997 dieEuropäische Integration noch zu den Themen zählte, die in der ZIB unterre-präsentiert waren, kam er vier Jahre später zu einer optimistischeren Einschätzung(Zürn 2001: 177). Tatsächlich hat der Anteil der europabezogenen Beiträge aber erstin den letzten zwei Jahren merklich zugenommen (vgl. Abbildung 1). Mit insgesamt20 Veröffentlichungen liegt die ZIB in etwa gleich auf mit der Politischen Viertel-

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Tanja A. Börzel: Europäisches Regieren

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jahresschrift (PVS), die zwar vier mal im Jahr erscheint, allerdings auch die gesamteBreite der Politikwissenschaft abdecken muss. Darüber hinaus beschäftigt sich dieZIB – anders als die PVS – bisher nur mit einem relativ begrenzten Teil der Europa-forschung. Zum einen nähern sich die ZIB-Beiträge der Europäischen Union (EU)aus Sicht der Theorien internationaler Kooperation. So fragt Gehring (1994) im ers-ten europabezogenen Beitrag der ZIB, was wir von der EU über den Beitrag vonInstitutionen zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit lernen können. Inähnlicher Weise behandeln Schirm (1997), Merlinger (1999), Ecker-Erhardt (2002)oder Thurner et. al. (2003) die EU als institutionelle Struktur oder internationalesVerhandlungssystem, an denen sich die Erklärungskraft verschiedener IB-Ansätzeüberprüfen lässt. Es ist deshalb kaum überraschend, dass die Debatte zwischen denverschiedenen Integrationstheorien, die Mitte der Neunzigerjahre mit der Betonungder rechtlichen Dimension eine wichtige Weiterentwicklung erlebte, so gut wienicht rezipiert wurde.1 Zum anderen hat der governance turn in der Europafor-schung auch in der ZIB seinen Niederschlag gefunden. Seit Ende der Neunziger-jahre beschäftigen sich die meisten europabezogenen Beiträge mit der Frage,inwiefern in der EU als nicht-hierarchisches Mehrebenensystem legitim und effektivregiert wird bzw. werden kann (Heinelt 1998; Schmalz-Bruns 1999; Neyer 2002;Wendler 2002; Börzel et al. 2003). »Europäisches Regieren« zählt mittlerweile zuden Schwerpunktthemen in der ZIB. Dabei bezieht sich »Europäisch« allerdingsausschließlich auf die Europäische Union. Der Europarat oder die Organisation fürSicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) spielen in der ZIB keine Rolle.Auch dreht sich der Governance-Ansatz nicht nur um die Frage des effektiven undlegitimen Regierens im EU-Mehrebenensystem, sondern untersucht, wie daseuropäische Regieren auf die politischen Institutionen und Prozesse der EU undihrer Mitgliedsstaaten zurückwirkt. Die so genannte Europäisierungsdebatte, die derPerspektive des second image reversed folgt (Gourevitch 1978), ist ebenfalls weit-gehend an der ZIB vorübergegangen. Mit Ausnahme des Artikels von SusanneSchmidt (2003) sind deutschsprachige Beiträge zu dieser Debatte in anderen Zeit-schriften wie der PVS oder der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschafterschienen. Schließlich fällt auf, dass der Großteil der europabezogenen Beiträge –dem Profil der ZIB entsprechend – einen starken Theoriebezug aufweist und derEmpirie oft einen eher illustrativen Stellenwert einräumt. Empirisch gesättigte,induktiv angelegte Politikfeldstudien, wie sie für weite Teile der Europaforschungcharakteristisch sind, suchen wir in der ZIB vergeblich.

1 Vgl. z. B. Wincott (1995); Moravcsik (1995); Garrett (1995); Mattli/Slaughter (1995);Stone Sweet/Sandholtz (1997).

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Abbildung 1: Europabezogene Beiträge in der ZIB 1994-2003

3. Europäisches Regieren: Policy matters!

Die Europa-, oder besser gesagt: die EU-Forschung ist in der ZIB bisher nurbegrenzt repräsentiert. Diejenigen, die der Meinung sind, dass die Europaforschungeine eigenständige Teildisziplin der Politikwissenschaft ist, mögen dies kaum alsProblem empfinden. Sollen sich die deutschen EuropaforscherInnen doch ein eige-nes Forum schaffen, wie dies im englischsprachigen Raum bereits der Fall ist, wo eseine ganze Reihe renommierter, rein europabezogener Zeitschriften wie das Journalof Common Market Studies, das Journal of European Public Policy, West EuropeanPolitics, European Union Politics oder Comparative European Studies gibt. Malabgesehen davon, dass die ZIB kein Interesse daran haben kann, in einen Konkur-renzkampf um die relativ kleine deutschsprachige Leserschaft zu treten, den imZweifelsfall beide Seiten nicht überleben würden, widerspräche eine solche Arbeits-teilung der fortschreitenden Aufhebung der Grenzen zwischen den Teildisziplinender Politikwissenschaft. Realweltliche Entgrenzungsprozesse lassen die Unterschei-dung zwischen internationaler Anarchie und nationaler Hierarchie, auf der die Tren-nung zwischen internationaler Politik und vergleichender Regierungslehre bzw.Innenpolitik beruht, zunehmend fragwürdig erscheinen (Grande/Risse 2000). Dieslässt sich nirgendwo besser beobachten als in der Europäischen Union, die zwar –

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Tanja A. Börzel: Europäisches Regieren

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im Gegensatz zu internationalen Organisationen und Regimen – dank ihrer suprana-tionalen Institutionen hoheitlich Regeln setzen kann, aber – anders als der moderneStaat – zur Durchsetzung ihrer rechtlich verbindlichen Entscheidungen nicht überein legitimes Gewaltmonopol verfügt (Hix 1994, 1998). Die so genannte Gover-nance-Perspektive, die sich in den Internationalen Beziehungen zunehmend alsAlternative zum lange dominierenden kooperationstheoretischen Paradigma dar-stellt (vgl. Jachtenfuchs 2003), findet ihre Entsprechung im governance turn derIntegrationsforschung, der weg von der Erklärung des Integrationsprozesses und sei-ner Finalität führt und sich mehr mit den Auswirkungen der institutionellen Strukturder EU auf die Effektivität und Legitimität politischen Handelns beschäftigt, sowohlauf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Der den IB und der EU-Forschunggemeinsame Fokus auf das »Regieren jenseits des Nationalstaates« (Zürn 1998) hatzur Entwicklung breiterer theoretischer Ansätze und analytischer Konzepte geführt,die zum großen Teil der innenpolitischen Steuerungsdebatte entlehnt bzw. daranunmittelbar anschlussfähig sind. Damit lassen sich allgemeine Fragestellungen derPolitikwissenschaft sowohl jenseits als auch diesseits des Nationalstaates untersu-chen (Schuppert 2004). Der Vergleich von Regierungsformen in unterschiedlichenHandlungskontexten steht erst am Anfang, gibt aber bereits jetzt schon interessanteRätsel auf. So zeigt sich beispielsweise, dass in der EU viel weniger in öffentlich-privaten Netzwerken regiert wird als auf nationaler Ebene, obwohl die Fähigkeit derEU zur hierarchischen Steuerung weniger ausgeprägt ist als die ihrer Mitgliedsstaa-ten (Mayntz 1998; Börzel 2004).

Die mehr policy-orientierte Europaforschung lässt auch darauf schließen, dass dieWirkung Europäischen Regierens nicht nur zwischen territorial definierten Hand-lungskontexten (EU-Organe, Mitgliedsstaaten, Regionen) unterschiedlich ausfallenkann, sondern sowohl zwischen als auch innerhalb von Politiksektoren erheblichvariiert (Héritier 1999; Cowles et al. 2001; Héritier et al. 2001; Börzel 2003). EineStudie zu Verstößen gegen Europäisches Recht zeigt beispielsweise, dass es erhebli-che Unterschiede zwischen einzelnen Politiksektoren gibt, die zum Teil größer aus-fallen als zwischen den Mitgliedsstaaten (vgl. Börzel et al. 2003). Es liegt nahe, dasssich in der internationalen Politik ähnliche Varianzen hinsichtlich der Regelverstößefinden lassen. Aber es gibt so gut wie keine Studien, die die Effektivität internatio-naler Institutionen systematisch zwischen Politiksektoren vergleichen. Es mag des-halb kaum verwundern, dass die Compliance-Forschung vor allem auf län-derspezifische (systemische) Variablen für (nicht)regelkonformes Verhalten vonStaaten abhebt und die Bedeutung politikfeldspezifischer (sektoraler) Erklärungs-faktoren vernachlässigt. Policy matters – aber warum?

Die (europabezogene) Policy-Forschung bietet eine Reihe von Ansatzpunkten fürdie Erklärung politikfeldspezifischer Varianz, ohne allerdings mit anspruchsvollenTheorien aufwarten zu können. Aufgrund ihrer Vielfalt und Ambivalenz lassen sichdie gewonnenen Erkenntnisse oft nur schwer zusammenfassen und in generalisier-bare Aussagen überführen. Dies mag erklären, weshalb nur wenige europabezogeneStudien ihren Weg in die ZIB gefunden haben. Viele der policy-orientierten Arbei-ten würden in der Tat das Begutachtungsverfahren nicht überleben – und das ist

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auch gut so! Hier soll nicht deskriptiven Einzelfallstudien das Wort geredet werden,die ohne jeglichen Bezug zu einer allgemeinen, theoretisch informierten Fragestel-lung vorgehen. Aber es gibt etwas zwischen abstrakten Theoriedebatten, deren Rele-vanz sich zumindest Nicht-Eingeweihten häufig nur schwer erschließt, und Policy-Analysen, die einzelne Maßnahmen bis ins kleinste Detail durchdringen, ohne unszu sagen, warum das eigentlich wichtig ist, oder uns weiß machen wollen, dass sichaus der Implementation der EU-Trinkwasserrichtlinie in Bayern und Katalonienetwas über die Transformation von Staatlichkeit lernen lässt. Die EU-Forschungbietet eine Reihe von Arbeiten, die zwar nicht die Kohärenz theoretischer Argumen-tationen hinterfragen bzw. theoretisch abgeleitete Erklärungen mit Hilfe lehr-buchmäßig ausgewählter Fälle zu falsifizieren suchen. Sie liefern trotzdem wichtige,empirisch informierte Erkenntnisse zu allgemeinen Problemstellungen, die nichtimmer einen theoretischen Durchbruch bedeuten, aber theoretisch auf jeden Fallreflektiert sind.2 Die hier exemplarisch aufgeführten Arbeiten wurden alle indeutschsprachigen, begutachteten Fachzeitschriften veröffentlicht. Ich würde mirwünschen, dass sie in Zukunft auch in der ZIB ein Forum sehen und finden würden.Ein stärkerer Policy-Bezug würde nicht nur die Theoriedebatten befruchten, sonderndie ZIB auch für eine mehr anwendungsorientierte Leserschaft interessant(er)machen. Praxisnahe Beiträge wie die in der letzten ZIB (1/2004) bilden eher dieAusnahme denn die Regel. Dabei geht es nicht darum, die bewährte Arbeitsteilungzwischen der ZIB und den anwendungsorientierten IB-Zeitschriften aufzuheben.Grundlagenforschung, auch wenn sie problemorientiert ist, unterliegt anderenAnforderungen als die Politikberatung und die politische Bildung (vgl. den Beitragvon Thomas Risse in diesem Heft). Aber Politikberatung, die nicht auf theoretischreflektierten, empirisch abgesicherten Erkenntnissen beruht, ist genauso verantwor-tungslos wie Grundlagenforschung, die ausschließlich im wissenschaftlichen Elfen-beinturm stattfindet. Der theoretische Mehrwert eines Beitrags sollte deshalb nichtzum allein bestimmenden Kriterium erhoben werden. Nicht immer lässt sich eineempirische Problemstellung unmittelbar an theoretische Grundfragen der Disziplinanknüpfen. Trotzdem kann erwartet werden, dass ein Bezug zu allgemeinen Frage-stellungen hergestellt und die Verallgemeinerungsfähigkeit der empirischenBefunde abschließend diskutiert wird. Theoretisch orientierte Beiträge sollten sichim Gegenzug fragen lassen, worin der empirische Mehrwert ihrer Einsichten liegt.

4. Schlussbemerkungen: Frisst die Revolution ihre Kinder?

Je höher die Reputation eine Zeitschrift in ihrer Disziplin, desto rigoroser ist dasBegutachtungsverfahren und desto höher werden theoretische Arbeiten gegenüberpraxisbezogenen oder problemlösungsorientierten Arbeiten bewertet. So lautet dasErgebnis einer Studie von Ole Wæver (zitiert nach Hellmann/Müller 2003: 378f).Dies trifft für die ZIB sicherlich zu, und die Nachdenklichkeit, mit der die Herausge-

2 Knill (1995); Zürn (1996); Kohler-Koch/Jachtenfuchs (1996); Benz (1998); Knill/Lenschow (1999); Falkner (2000); Schmidt (2001); Knodt (2002); Treib (2003).

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Tanja A. Börzel: Europäisches Regieren

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ber nach einem möglichen conservative bias fragen, scheint berechtigt (Hellmann/Müller 2003). Den ZIB-GutachterIinnen kann sicherlich nicht unterstellt werden,dass sie rigorose Maßstäbe anlegen, um ihre eigenen Forschungsagenden zu schüt-zen, mit denen sie sich selbst durch das Begutachtungsverfahren kämpfen mussten.Die ZIB hat mit der Einführung der doppelt blinden Begutachtung vor zehn Jahreneine kleine Revolution ausgelöst, die wesentlich zur Professionalisierung undDemokratisierung der deutschen IB-Zunft beigetragen hat. Aber damit wurde auchein (Selbst-)Selektionsmechanismus eingesetzt, der dazu geführt hat, dass policy-orientierte Arbeiten im Bereich der Europaforschung, aber auch in der Außenpoliti-kanalyse in der ZIB so gut wie nicht zu finden sind. Dies ist nicht nur im Lichteeines pluralistischen Wissenschaftsverständnisses problematisch, sondern behindertauch theoretische Weiterentwicklungen, wie sie beispielsweise erforderlich sind, umUnterschiede in der Effektivität und Legitimität des Regierens jenseits des National-staates zu erklären. Für die »second image reversed«-Forschung, die die Auswir-kung von Globalisierung und Europäisierung auf Strukturen und Prozesse desRegierens jenseits und diesseits des Nationalstaates untersucht, bieten Policy-Analy-sen wichtige Erkenntnisse, vor allem wenn sie systematisch vergleichend angelegtsind. In dieser Art von Studien liegt ein Desiderat, dem sich IBlerInnen und EU-For-scherInnen gleichermaßen stellen müssen und für die die ZIB ein Forum bietensollte.

Literatur

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Tanja A. Börzel: Europäisches Regieren

355ZIB 2/2004

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357Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 357-364

Hanns. W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder

Die ZIB als Forum der deutschen IB?Eine kritische Bestandsaufnahme

Vor zehn Jahren unternahm Klaus Dieter Wolf mit der Unterstützung der SektionInternationale Politik der DVPW die Initiative zur Schaffung eines »zentralenForums für eine richtungs- und schulenübergreifende wissenschaftliche Kommuni-kation« (Wolf 1994: 3). Die Zeitschrift für Internationale Beziehungen sollte, Vor-bildern wie International Organization, International Studies Quarterly oder WorldPolitics getreu, ein fachwissenschaftliches Medium für die Teildisziplin der Interna-tionalen Beziehungen sein, welches sich von politikorientierten oder disziplinüber-greifenden Zeitschriften unterscheiden sollte.

Heute, eine Dekade später, kann das Experiment als gelungen gelten. Die ZIB istnational, europäisch und international zu dem theorieorientierten deutschsprachigenAustauschmedium über die ganze Vielfalt von Themen geworden, die Wolf (1994:4-8) damals identifizierte: Theorien der IB, Außenpolitikanalyse, InternationaleInstitutionen einschließlich der europäischen Integration, die Friedens- und Kon-fliktforschung und diverse Politikfeldanalysen (Wirtschaft, Umwelt, Entwicklungs-und Kulturpolitik). Kein Zweifel: Es gibt viele gute Gründe, auf die noch jungeGeschichte der ZIB stolz zu sein.

1. Die ZIB als Forum der deutschen IB: Eine kritische Bestandsaufnahme in konstruktiver Absicht

Aber nicht nur die Wissenschaft an sich, sondern auch wissenschaftliche Zeitschrif-ten mit dem Anspruch und der Reputation der ZIB entwickeln und gedeihen nichtauf dem Humus des Lobs, sondern durch Kritik. Im Folgenden versuchen wir des-halb, einige aus unserer Sicht kritikwürdige Defizite der ZIB zu skizzieren, dienatürlich letztlich auch Defizite der sie tragenden IB-Community sind. Dabei sindwir uns durchaus bewusst, dass die ZIB die Community nur bedingt repräsentiert.Obwohl die ZIB ursprünglich den Anspruch erhoben hat, zentrales Forum für eineschulen- und richtungsübergreifende wissenschaftliche Kommunikation in den IBsein zu wollen, ist unser Eindruck, dass die ZIB zehn Jahre danach nicht von allenals Spiegel der deutschen IB angesehen und wahrgenommen wird. Dass bestimmteForschungsstränge und -themen in den vergangenen Jahren in der ZIB weit stärkerrepräsentiert waren als andere, ist gewiss den strukturellen Gegebenheiten der deut-schen IB geschuldet (etwa die im Vergleich zu den USA oder Großbritannien kleineCommunity) und kann folglich den bisherigen ZIB-Herausgebern nicht alleine ange-lastet werden. Auch lebt jedes wissenschaftliche Fachjournal letztlich vom Angebotund der Qualität der eingereichten wissenschaftlichen Beiträge. Aber es ist schon

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Geburtstagssymposium

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bemerkenswert, dass Teile der Community (die deutsche IB-Forschung zur Außen-politik der USA ist ein offenkundiges Beispiel!) die ZIB bislang nicht als ersteAdresse für die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in Erwägung gezogenhaben – was immer die Gründe dafür gewesen sein mögen! Unsere Anregungen undAnmerkungen richten sich daher an die IB-Community insgesamt, um die ZIB zueiner noch besseren und breiter akzeptierten Zeitschrift zu machen.

In seinem programmatischen Editorial in der ersten ZIB-Ausgabe hat Klaus Die-ter Wolf (1994) die Anforderungen umrissen, die an die neue Zeitschrift angelegtwerden sollten. Im Mittelpunkt sollte danach die »wissenschaftliche Auseinander-setzung über Grundfragen der Internationalen Beziehungen« (Wolf 1994: 4; derGroßbuchstabe bei den »Internationalen Beziehungen« hat es dabei durchaus insich!) stehen, die Wolf in fünf Themenbereiche ordnete: Theorien der Internationa-len Beziehungen/Außenpolitik, Krieg, Gewaltpolitik und Frieden, InternationaleOrganisationen und Institutionen in den i(sic!)nternationalen Beziehungen, alte undneue Makrostrukturen der Weltpolitik und schließlich die internationale Entwick-lungs- und Ökologieproblematik (Wolf 1994: 4-8).

Mehrere Aspekte erscheinen uns an dieser Aufgabenstellung bemerkenswert.Zum Ersten ist auffallend, dass die theoretische Reflexion die Liste anführt. OhneZweifel hat die ZIB gerade in diesem Bereich besondere Meriten aufzuweisen.Wurde zu Beginn der 1990er-Jahre noch über die fehlende Theorieorientierung inden IB geklagt (Rittberger 1990), so hat die ZIB den theoretischen Schub in derTeildisziplin wesentlich forciert und diese an neue Ufer geführt. Die theoriegeleite-ten Forschungsprogramme mit eindeutig internationalem Rang über das Verhältnisvon Verhandeln und Argumentieren sowie die Rolle von Weltbildern und Ideen inden internationalen Beziehungen sind dafür ebenso ein Beleg wie etwa die For-schungen über Sozialisationsprozesse von Transformationsstaaten. Aber bei allertheoretischen Vorrangigkeit der Reflexion blieb die »ZIB-Debatte« im Kern docheine begrenzte Auseinandersetzung, nämlich eine zwischen rationalistischen undkonstruktivistischen Institutionalisten und liberalen Wissenschaftlern (Zürn 2003:25). Das breite Spektrum an realistischen, kritischen und normativen Theorieansät-zen findet sich in der ZIB dagegen nur selten (vgl. aber Meier-Walser 1994;Schlichte 1998; Görg 2002).

Zum Zweiten spricht aus der oben skizzierten Aufgabenstellung für die neue Zeit-schrift ein erstaunliches Vertrauen in das Gewicht der Kontinuitäten in den IB: DasNeue in ihnen präsentiert sich hier im Sinne der Variation vertrauter Themen, nichtals radikale Diskontinuität der Geschichte, die durch die Stärkung (empowerment)von einzelnen Akteuren gegenüber (staatlichen) Strukturen vorangetrieben wird(vgl. etwa Rosenau 1990). So bildeten internationale Organisationen und Institutio-nen und zumal das Thema des »Regierens jenseits des Nationalstaates« einen bedeu-tenden Schwerpunkt der ZIB. Hierin spiegelte sich einerseits eine besondere Stärkeder deutschen IB-Community, die ihre Wurzeln (auch) in den spezifischen Erfahrun-gen und Erfolgen der (bundes)deutschen Außenpolitik hat: Diese Außenpolitik hatden Multilateralismus zum Prinzip erhoben und als Methode wie kaum eine andereAußenpolitik eines gewichtigen Akteurs (außer vielleicht der USA) entfaltet und

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Hanns. W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder: Die ZIB als Forum der deutschen IB?

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verfeinert. Die Beschäftigung mit Formen internationaler Kooperation und Integra-tion, insbesondere mit Regimetheorien und Theorien der Global Governance, bezogihre Impulse sicherlich nicht zuletzt aus diesen realpolitischen Kontexten der bun-desdeutschen Außenpolitik, hinter denen wiederum eine durch die prekäre Frontlageim Kalten Krieg wie mit Blick auf ihre nationalsozialistische Vergangenheit doppeltexponierte Position der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen stand.

Doch wird an dieser Nahtstelle zwischen (außen)politischer Praxis und theoreti-scher Reflektion zugleich – drittens – sichtbar, in welchem Ausmaß diese Aufga-benstellung und ihre Umsetzung in den ZIB-Beiträgen der Community auf Annah-men aufbaut, die uns zumindest jetzt keineswegs (mehr) so verläßlich scheinen, wiedies damals, 1994, noch der Fall gewesen sein mag. Zu diesen Annahmen gehörtetwa, dass das Regieren jenseits des Nationalstaates zwar schwierige Probleme auf-werfe, die Regierungsfähigkeit des Nationalstaates selbst und seine Fähigkeit undBereitschaft, sich in Zusammenhänge des Regierens jenseits des Nationalstaates ein-zubinden, grundsätzlich aber durchaus als gegeben vorausgesetzt werden konnten;nur gelegentlich und mit Blick auf die Dritte Welt wurde diese Prämisse grundsätz-lich funktionierender Staatlichkeit in Frage gestellt (Schlichte/Wilke 2000).Zugleich gilt globales Regieren als eindeutig überlegene, ja einzig chancenreicheZukunftsorientierung; kritisiert wurden höchstens demokratische Legitimitäts-defizite und der Mangel an politischem Willen einiger Akteure, sich an diesenneuen, überlegenen Formen des Regierens der internationalen Beziehungen zubeteiligen. Ausgespart blieb dagegen viel zu sehr die Frage nach den Voraussetzun-gen eines »effektiven Multilateralismus«, wiewohl die Mängel, Schwächen undLeistungsdefizite des real existierenden Multilateralismus doch augenfällig waren(Zelikow 1996).

Damit im Zusammenhang steht eine vierte Annahme, die sich zwar nicht imursprünglichen »Arbeitsauftrag« von Klaus Dieter Wolf (1994) an die ZIB spiegelte(hier findet sich die Kategorie »Krieg, Gewaltpolitik und Frieden«), wohl aber inden Publikationsschwerpunkten der ZIB. Die Annahme betrifft das Gewaltproblemin den internationalen Beziehungen in seiner gesamten Breite, also als binnenstaatli-ches und binnengesellschaftliches, transnationales und internationales Phänomen.Die deutsche IB-Community hat Reichweite und Dimensionen dieses Problemsunseres Erachtens bislang unterschätzt und daher als weitgehend »gelöst« abgehakt.Zwar finden sich zu diesem Thema durchaus wichtige Beiträge in der ZIB(Schlichte 2002; Hasenclever 2002), aber in der Summe und im Vergleich zu denEntwicklungstendenzen in den internationalen Beziehungen (wie auch in der deut-schen Außen- und Sicherheitspolitik: Immerhin beteiligte sich Deutschland seit1990 an über zwanzig Militäreinsätzen im Zusammenhang mit humanitären Inter-ventionen, multilateraler Friedenserzwingung und Maßnahmen kollektiver Sicher-heit; vgl. Mayer 1999) eben doch erstaunlich wenige.

Die fünfte und letzte Annahme, die wir hier zur Diskussion stellen möchten,betrifft die implizit postulierte Präponderanz der Strukturen über Akteure. Konkreterscheint die Analyse von Außenpolitik, also des Verhaltens der bei allen Verände-rungen in den internationalen Beziehungen doch nach wie vor gestaltungsmächtigs-

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ten Akteure, in der Aufstellung von Klaus Dieter Wolf nur als Teilaspekt der Theo-riebildung, nicht aber als eigene Kategorie. Zum einen schlägt sich dies in derVernachlässigung der konstitutiven Bedeutung bestimmter Akteure für die internati-onale Ordnung nieder: Systematisch wurde die US-Außenpolitik in den letzten zehnJahren der ZIB »nur« in der Umweltpolitik theoretisch reflektiert (Ulbert 1997).Zum anderen spiegelte sich auch in den Beiträgen zur Außenpolitik einzelner Staa-ten (außer der Bundesrepublik nur Frankreich) eine starke Fixierung auf die Wir-kung materieller (Baumann et al. 1999) oder immaterieller Strukturen auf das Ver-halten von Akteuren (Kirste/Maull 1996; Schrade 1997) wider, so dass Fragen derRekonstruktion des Akteurs (komplexes Lernen oder Transformation) sowie derRekonstitution der internationalen Ordnung durch das konkrete Verhalten bestimm-ter Akteure in den Hintergrund gerieten.

2. Internationale Politik und die Lehre von den Internationalen Beziehungen: Getrennte Wege?

In allen fünf Punkten erweisen sich diese in der ZIB verbreiteten und auch von unsselbst durchaus geteilten Annahmen im Rückblick als problematisch. Sie habendazu beigetragen, dass wesentliche Entwicklungstendenzen der internationalenBeziehungen (und damit auch die vierte der von Wolf 1994 skizzierten Kategorien,die Reflexion ihrer sich verändernden Makrostrukturen) in den vergangenen Jahrennicht hinreichend beachtet wurden. Dazu zählen unseres Erachtens folgende fürGegenwart und Zukunft der internationalen Beziehungen strukturbildenden Phäno-mene, die in den letzten zehn Jahren auf den Seiten der ZIB oft gar nicht, bestenfallsaber marginal vorkamen:(1) Die Orientierung und das außenpolitische Verhalten gewichtiger Akteure im All-gemeinen sowie ihre Beiträge zur Beförderung bzw. Schwächung der internationa-len Ordnung und internationaler Institutionen im Besonderen: Die Position derUSA als einziger Weltmacht, als Hyperpuissance (Védrine 2003) mit einem histo-risch mindestens seit dem Römischen Reich beispiellos überlegenen Machtportfolioharter und weicher Machtressourcen hätte ebenso wie der weltpolitische Aufstiegder Volksrepublik China und der parallele Gewichts- und Bedeutungsverlust Japansin Ostasien deutlich mehr Beachtung in der ZIB verdient, als dies bislang der Fallwar – auch und gerade mit Blick auf die Handlungsfähigkeit internationaler, regio-naler und interregionaler Institutionen.(2) Die wachsenden Ambitionen und die Gestaltungsfähigkeit der EuropäischenUnion als weltpolitischer Akteur: Die Versuche der Europäischen Union, sich ihremweltpolitischen Gewicht entsprechend als regionaler und globaler Akteur »neuerArt« zu organisieren, mag man sehr kritisch bewerten. Unbestreitbar ist aber, dassdie EU für sich selbst den Anspruch einer weltpolitischen Gestaltungsrolle formu-liert und sich darum bemüht, hierfür verbesserte institutionelle und materielle Vor-aussetzungen zu schaffen. Zu wenig Beachtung findet unserem Eindruck nach indiesem Zusammenhang auch die enorme Leistung im Sinne präventiver Sicherheits-politik und der Zivilisierung regionaler Politik, die die EU durch die Integration der

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Hanns. W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder: Die ZIB als Forum der deutschen IB?

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Transformationsländer in Mittelost- und Osteuropa bereits erbracht hat. Mit demProjekt einer fünften Erweiterungsrunde und insbesondere der anstehenden Eröff-nung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gewinnt diese Thematik weiter anBedeutung – wobei sich verstärkt auch die Frage nach den Grenzen der Leistungsfä-higkeit dieses wichtigsten außenpolitischen Instrumentes der EU und ihrer Belast-barkeit als komplexes politisches Gebilde eigener Art stellt.(3) Fragile Staatlichkeit als Baustein internationaler Ordnung: Die Herausforde-rung der Handlungskapazität des Staates in internationalen Zusammenhängen undseine Mutationen – Staatszerfall, Staatskrise der westlichen Demokratien, Verwand-lungstendenzen hin zum »virtuellen Staat« (Rosecrance 1999) – und der Aufstiegtransnational agierender (gewaltbereiter) Akteure ist bisher unterschätzt worden. Sofanden auch die Auswirkungen der Dialektik der Globalisierung zwischen Integra-tion und Identitätsabgrenzung im globalen Siegeszug von universalen Menschen-rechten und (westlichen) Demokratieidealen einerseits und partikularistischen,gewaltbereiten Fundamentalismen andererseits zu wenig Aufmerksamkeit. Exemp-larisch sei dies an der politisch-unkorrekten Argumentation (und gewiss fragwür-digen) These Huntingtons (1996) vom Kampf der Kulturen verdeutlicht. Sie wurdevon der deutschen IB-Community (mit wenigen Ausnahmen; vgl. etwa Müller 1999)einfach als unseriös abgetan, ohne sich mit der enormen Resonanz dieser These inden internationalen Beziehungen und damit auch mit ihrer Bedeutung auseinanderzu setzen.

3. Die ZIB als Medium für angewandtes Wissen

Was folgt aus dieser kritischen Reflexion problematischer Annahmen und übersehe-ner bzw. verkannter Trends und Entwicklungstendenzen in den internationalenBeziehungen? Zunächst muss festgehalten werden, dass die ZIB immer nur so »gut«sein kann, wie die eingesendeten Manuskripte und damit letztlich die sie tragendeWissensgemeinschaft. So plädieren wir dafür, uns selbst noch grundsätzlicher her-auszufordern, uns von alten Gewohnheiten und lieb gewonnenen Vor-Urteilen nochenergischer zu lösen. Dabei mag es hilfreich sein, sich an folgenden grundlegendenFragen zu orientieren:- Wie verändern sich die internationalen Beziehungen (ontologische Fragestel-

lung)? Diese Frage zielt auf die bereits von Klaus Dieter Wolf (1994) themati-sierte, in der Teildisziplin bislang allerdings zu wenig aufgegriffene Forderung,Makrostrukturen der Weltpolitik und ihre Entwicklung zu untersuchen. WelcheImplikationen ergeben sich beispielsweise für die internationalen Beziehungenaus der wissenschaftlich-technologischen Entwicklungsdynamik, die wirtschaft-lichen und gesellschaftlichen Wandel forciert, für die Zukunft der Politik?; desKrieges und der Gewaltpolitik?; der internationalen Wirtschaftsbeziehungen?;für die Anforderungen an und die Möglichkeiten für die politische Steuerung?

- Was kennzeichnet eine gute internationale Ordnung? An welche Bedingungenist sie gebunden (normative Fragestellung)? Diese Frage greift eine weitereKategorie von Klaus Dieter Wolf auf und knüpft an die alte Diskussion um den

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positiven »Frieden« an, verbindet aber stärker noch Fragen der binnenstaatlichenund internationalen Ordnung miteinander, die von uns als unauflöslich miteinan-der verknüpft gesehen werden.

- Welcher politische Handlungsbedarf entsteht aus dieser Analyse? Welche Hand-lungschancen bestehen, welche Akteure können sie wie am besten nutzen? (pra-xeologische Fragestellung)?

Vielen mag in dieser Liste eine weitere Fragestellung fehlen: Was können wir wis-sen? Und wie können wir zu Wissen gelangen (epistemologische Fragestellung)?Diese Fragen stehen natürlich in einem unauflösbaren Zusammenhang mit denangeführten Schwerpunkten. Auch ist die wissenschaftstheoretische Reflexionbedeutsam und grundlegend; sie hat die »ZIB-Debatte« in den ersten Jahren ja auchwesentlich geprägt. Dennoch geben wir zu bedenken, dass sie – im Gegensatz zuden drei anderen Fragestellungen – nicht spezifisch für die internationalen Bezie-hungen und die Teildisziplin IB ist: Es kann und sollte auch in dieser Hinsicht keinenur für die IB relevanten Theorien geben, wenn wir die Annahme einer Eigenstän-digkeit und Eigengesetzlichkeit dieser Sphäre grundlegend hinterfragen.

Wenn wir hier davon sprechen, die ZIB stärker als Medium für angewandtes Wis-sen zu begreifen, so impliziert dies aus unserer Sicht, dass eine Beschäftigung mitTheorien stets die zentrale Frage nach deren empirischen oder normativen Brauch-barkeit und Problemlösungsfähigkeit reflektieren muss. Unser Plädoyer für einestärkere Verankerung von Beiträgen mit wissenschaftspraktischer Relevanz in derZIB wird dabei von der Einsicht in neue Formen der Wissensproduktion getragen,die letztlich in mehreren Punkten konvergieren: Erstens erfolgt die Produktion vonWissen auch innerhalb der IB-Teildisziplin nicht mehr primär als Suche nach grund-legenden Gesetzmäßigkeiten, sondern in Anwendungskontexten, d. h. im Hinblickauf einen vorgestellten Nutzen. Zweitens sind Disziplinen nicht mehr die allein ent-scheidenden Orientierungsrahmen für die Forschung und für die Definition vonGegenstandsbereichen. Übertragen auf die IB als Teildisziplin bedeutet dies, dass inder ZIB bewusst das »Grenzgängertum« von und zu anderen Disziplinen gestärktwerden sollte. Drittens impliziert die Schwerpunktsetzung auf angewandtes Wissen,dass die Qualitätskriterien der Forschung nicht mehr ausschließlich aus der Diszi-plin heraus festgelegt werden können (Peer Review). Vielmehr erwachsen aus demAnwendungskontext zusätzliche soziale, politische und ökonomische Kriterien. Eswird nicht nur schwieriger zu bestimmen, was gute Forschung ist, sondern die Wis-sensproduktion ist heute mehr den je gesellschaftlich rechenschafts- und legitimati-onspflichtig (Weingart 2002, vgl. auch Hellmann/Müller 2003). Schließlich kommtein Letztes hinzu: Die in der Theoriebildung in den IB erst ansatzweise reflektierten,tendenziell äußerst weitreichenden Implikationen etwa der modernen Quantenphy-sik1 oder der Hirnforschung sprechen dafür, sich im theoretischen Anspruch der Dis-ziplin zu bescheiden und die Begrenztheit unserer Möglichkeiten zu akzeptieren.

1 Mit diesem Themenkomplex beschäftigte sich das Panel »Quantum Theory and Interna-tional Relations« auf der 45th Annual ISA Convention in Montreal, Kanada, 17.-20.März 2004.

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Hanns. W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder: Die ZIB als Forum der deutschen IB?

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Dies bedeutet gewiss nicht die Verabschiedung von der theoretischen Reflexion,wohl aber die Einsicht in ihre Begrenztheit. Kurz: Wir sollten versuchen zu wissen –und damit versuchen, Grundlagen für richtiges (im Sinne von »an guter Ordnungorientiert« und von »wirksam«) politisches Handeln zu schaffen.

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Geburtstagssymposium

364

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365Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 365-394

Christoph Weller

Beobachtungen wissenschaftlicher SelbstkontrolleQualität, Schwächen und die Zukunft des Peer Review-Verfahrens

Bei der Gründung der Zeitschrift für Internationale Beziehungen haben sich derenHerausgeber für ein doppelt anonymes Peer Review-Verfahren entschieden und sichfortan in ihren Publikationsentscheidungen von den Voten der Gutachtenden leitenlassen. Welche Validität kann das bei der ZIB praktizierte Verfahren für sich inAnspruch nehmen? Die Analyse von 452 Begutachtungen im Peer Review-Verfahrender ZIB ergibt, dass sich bezogen auf das Geschlecht und das Qualifikationsniveauder AutorInnen und der Gutachtenden keine signifikanten Verzerrungen in derBewertung von Manuskripten zeigen. Bei der Qualität der Gutachten zeigen sichallerdings erhebliche Unterschiede, die eine starke Korrelation mit demQualifikationsniveau der Gutachtenden aufweisen. Vor diesem Hintergrund werdenQualitäts-Standards für Gutachten und einige Vorschläge für ein verbessertes PeerReview-Verfahren entwickelt, das die Leistungen der Gutachtenden höher honoriert.Neben ihrer Hilfestellung für Herausgeber-Entscheidungen sind Gutachten aus PeerReview-Verfahren vor allem wichtige Teile innerdisziplinärer Kommunikation. Sie giltes, durch eine Qualitätssteigerung der Gutachten zu verbessern.

Kann es sein, dass die Mitglieder ein und derselben wissenschaftlichen Teildisziplinbezüglich der Frage, ob ein bestimmtes Manuskript in einer angesehenen Fachzeit-schrift veröffentlicht werden soll, zu fundamental gegensätzlichen Einschätzungengelangen? Bei den 175 Manuskripten, welche die Redaktion der Zeitschrift fürInternationale Beziehungen (ZIB) in den ersten acht Jahren in die externe Begutach-tung verschickt hat, kam dies in 15 Fällen vor, also immerhin bei fast neun Prozentder Begutachtungsverfahren: Ein Gutachten empfahl, das jeweilige Manuskript wievorgelegt zu veröffentlichen, ein anderes, es ohne weitere Möglichkeiten der Über-arbeitung sofort abzulehnen. Bei den restlichen 91 Prozent der extern begutachtetenManuskripte herrschte gerade mal bei der Hälfte der Fälle prinzipielle Einigkeit,dass das Manuskript – entweder ohne oder mit Überarbeitungen – veröffentlichtwerden soll bzw. in der vorgelegten Fassung für eine Publikation noch nicht odergar nicht in Frage kommt. Das heißt, dass sich die GutachterInnen der ZIB bei mehrals der Hälfte der extern begutachteten Manuskripte uneinig darüber waren, ob essich jeweils um ein publikationsfähiges Manuskript handelt oder nicht.1 Anlass

1 Der intraclass-correlation coefficient bezogen auf übereinstimmende Gutachtenden-Voten entsprechend der vier verwendeten Beurteilungskategorien beträgt +0,14; erwurde hier berechnet auf der Grundlage aller paarweisen Vergleiche von Gutachtenbezogen auf dasselbe Manuskript (n=379; zu 102 Manuskripten liegen jeweils drei Gut-achten vor). Zur Messung der Reliabilität von Gutachtenden-Urteilen und zur Berech-nung solcher Koeffizienten und ihren Werten in anderen Disziplinen vgl. Marsh/Ball(1989); Hargens/Herting (1990); Daniel (1993: 3f) und Hirschauer (2004: 67f).

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Forum

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genug, das Peer Review-Verfahren selbst einer Analyse zu unterziehen und aus denbei der ZIB gemachten Erfahrungen einige Schlussfolgerungen abzuleiten. 2

In den seit vielen Jahren geführten Diskussionen über Vorzüge, Schwächen undNachteile von Evaluationen wissenschaftlicher Forschung ist auch das bei wissen-schaftlichen Zeitschriften praktizierte Peer Review-Verfahren vielfach in die Kritikgeraten (vgl. etwa Kornhuber 1988; Daniel 1993; Weingart 2001: 290f; Fröhlich2003; Hirschauer 2004). Die dabei herausgearbeiteten Schwächen nehme ich alsAusgangspunkt einer systematischen Überprüfung des bei der ZIB praktiziertenReview-Verfahrens. Nach der Erläuterung von Funktionen, Problemen und Erfah-rungen mit Peer Review-Verfahren (Abschnitt 1) werde ich anschließend dieReview-Praxis bei der ZIB beschreiben und die Datengrundlage für die Analyse die-ser Form wissenschaftlicher Selbstkontrolle darstellen (Abschnitt 2). Dem folgt eineerste Auswertung der Datensätze zu verschiedenen Aspekten eines gender Bias imPeer Review-Verfahren der ZIB (Abschnitt 3). Die Qualität von Gutachten steht imZentrum des zweiten Teils dieses Beitrags (Abschnitt 4): Zunächst werden möglicheErklärungen für deren große Varianz diskutiert, dann zentrale Qualitäts-Standardsfür Gutachten entwickelt und in Beziehung zu Merkmalen der Gutachtendengesetzt. Abschließend werden noch einige Vorschläge skizziert (Abschnitt 5), wiesich das Peer Review-Verfahren über die Herbeiführung von Publikationsentschei-dungen bei Zeitschriftenartikeln hinaus im Sinne der Verbesserung wissenschaftli-cher Kommunikationsprozesse weiterentwickeln ließe.

1. Die Bedeutung von Peer Review-Verfahren für die Wissenschaft

Die meisten AutorInnen, die ein Manuskript bei einer wissenschaftlichen Zeitschrifteinreichen, sind davon überzeugt, dass es dem Fortgang wissenschaftlicher Kommu-nikation diente, wenn ihr Beitrag veröffentlicht würde.3 Es sprechen viele Gründedafür, diesem Ansinnen nicht einfach zu folgen, sondern nur ausgewählte Manu-skripte zu publizieren. Doch die Auswahl gestaltet sich schwieriger als allgemeinvermutet wird. Zwar unterscheidet sich die Wissenschaft von anderen gesellschaft-lichen Teilsystemen durch ihre Leitdifferenz zwischen »wahr« und »unwahr« (Luh-mann 1994: 273), was der wissenschaftlichen Selbstkontrolle außerordentlich dien-lich sein müsste, stehen doch selten solch klare Entscheidungskriterien bereit wie indiesem Fall. Doch so sehr dieser Bezugspunkt bei der Begutachtung von Zeitschrif-ten-Manuskripten auch mitschwingen mag, folgen die Publikationsentscheidungenbei Zeitschriften doch eher Nützlichkeitserwägungen angesichts von Ressourcen-

2 Für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrags danke ich NicoleDeitelhoff, Gabriele Matern, den mir anonym gebliebenen GutachterInnen der ZIBsowie Monika Pavetic für ihre Unterstützung bei der Datenedition, der Berechnung stati-stischer Kennwerte und der Darstellung der Ergebnisse.

3 Vgl. aber Hirschauer: »›Publizität‹ durch wissenschaftliche Aufsätze ist eine Autorenfik-tion, die für die Mobilisierung der narzißtischen Brennstoffe wissenschaftlicher Arbeitnützlich ist, aber nicht zur Modellierung wissenschaftlicher Kommunikation taugt«(Hirschauer 2004: 17).

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Christoph Weller: Beobachtungen wissenschaftlicher Selbstkontrolle

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knappheit: Die Aufmerksamkeit der LeserInnen, materielle Aufwendungen fürgedruckte Publikationen sowie wissenschaftliches Ansehen und Renommee stehennicht unbegrenzt, sondern nur in eingeschränktem Umfang zur Verfügung. Werdaran teilhaben will, muss sich den Standards anpassen, die sich für hoch angese-hene Publikationsorte herausgebildet haben.4 Für Zeitschriften heißt dies: doppeltanonymes Peer Review-Verfahren!

»›Peer review‹ steht für die Begutachtung und Bewertung von Publikationen undForschungsanträgen, das heißt wissenschaftlicher Wissensbehauptungen durch diedazu allein kompetenten Kollegen (›peers‹)« (Weingart 2001: 284f; vgl. auch POST2002). Es ist keine andere Instanz vorstellbar, die angesichts der immer weiterwachsenden Spezialisierung des Wissens dazu in der Lage sein könnte. Durch dieseinterne Prüfung sichert sich die Wissenschaft aus der Perspektive der Gesellschaftihren Status als Produzentin verlässlichen Wissens. Und auch WissenschaftlerInnenwollen bzw. müssen sich in besonderer Weise auf solcherart gesichertes Wissen ver-lassen, sind sie doch niemals in der Lage, jenes Wissen zunächst selbst zu überprü-fen, auf das sich ihre eigenen Untersuchungen stützen. Zugleich wollen sie die eige-nen Einsichten dieser Form der Prüfung unterwerfen, um ihnen und sich selbstwissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen.

»Das ›Peer review‹-System hat die Funktion, Vertrauen zu erzeugen, und zwar nach›innen‹ das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Wechselseitigkeit der wissenschaftli-chen Kommunikation zur Sicherung ihrer Offenheit; und nach ›außen‹, gegenüber derÖffentlichkeit, Vertrauen in die Verlässlichkeit des produzierten Wissens, um die Res-sourcen für die Forschung zu legitimieren« (Weingart 2001: 287). 5

Das Peer Review-Verfahren bei wissenschaftlichen Zeitschriften zur Beurteilungvon Manuskripten »wird gemeinhin als Kernstück wissenschaftlicher Kommunika-tion betrachtet, das ihren ›organisierten Skeptizismus‹ institutionalisiert und gutevon schlechter Forschung unterscheidet« (Hirschauer 2004: 62). Bei Publikations-entscheidungen soll das Peer Review-Verfahren zudem dazu dienen, einer Zeit-schrift ein bestimmtes Profil und Ansehen zu verschaffen, sowohl was die inhaltli-che Ausrichtung als auch die Qualität der veröffentlichten Beiträge betrifft. Aufdiesem Wege will eine Zeitschrift die ihr entsprechende Aufmerksamkeit einerscientific community gewinnen. Organisiert sie ihre Hefte allein über die Festlegungvon Themen, sind die Entscheidungen über Aufnahme oder Zurückweisung einesManuskripts leichter transparent zu machen, als wenn sie, wie die Zeitschrift fürInternationale Beziehungen, vornehmlich »hohe Qualitätsstandards« (ZIB-Editorial,Hellmann/Müller 2003a: 5) zur Grundlage ihrer Publikationsentscheidungenmachen möchte. Dabei stellt sich die Frage, wer am besten die Qualität eines Manu-skripts bewerten kann im Hinblick auf seine Veröffentlichung in einer Zeitschrift,die den Anspruch verfolgt, »auch international als die führende wissenschaftlicheZeitschrift der Internationalen Beziehungen in deutscher Sprache anerkannt« (Hell-mann/Müller 2003a: 3) zu werden.

4 Vgl. Plümper (2003). Zur Diskussion über unterschiedliche Maßstäbe für die Qualitätund Reputation wissenschaftlicher Zeitschriften vgl. Norris/Crewe (1993).

5 Zu den Problemen und Gefahren dieser doppelten Zielsetzung von Forschungsevalua-tion vgl. Röbbecke/Simon (2001: 33-43).

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Die HerausgeberInnen einer Zeitschrift gelten für diese Qualitätskontrolle als nurbedingt geeignet, stehen sie doch in der Gefahr, zu sehr ihrer individuellen Perspek-tive zu folgen und dabei zugleich den sozialen Dimensionen ihrer Entscheidungenzu großes Gewicht beizumessen: Wer sollte bereit sein, die möglichen Konsequen-zen auf sich zu nehmen, wenn es etwa darum geht, das von einem DFG-Gutachtereingereichte Manuskript abzulehnen, weil es aus Sicht der Herausgeberinnen keinguter Text ist? Wer will für sich in Anspruch nehmen, das gesamte Themen-,Methoden- und Theoriefeld einer Disziplin oder auch nur einer Teildisziplin so gutzu überblicken, dass sie oder er in der Lage wäre, Qualität und Relevanz aller mög-lichen Manuskripte – zumindest in der Selbstwahrnehmung – sicher einzuschätzen?Diese Schwierigkeiten scheinen durch das doppelt anonyme Peer Review-Verfahrenzunächst ausgeräumt: Indem die Gutachtenden nicht wissen, von wem ein Manu-skript verfasst wurde, entsteht nicht jener bekannte Bias zugunsten etablierter,mächtiger, männlicher Autoren,6 sondern eine sich allein am Text und dessen Lesar-ten orientierende Beurteilung – wenn die Anonymisierung eines Manuskripts erfolg-reich war. Indem zugleich die Gutachtenden für die AutorInnen der begutachtetenManuskripte anonym bleiben – wenn sie nicht aus irgendeinem Grund zur Selbstbe-zichtigung neigen –, wird gewährleistet, dass Gutachtende bei negativen Beurteilun-gen keine individuellen Konsequenzen von möglicherweise mächtigen AutorInnenzu befürchten haben. Die doppelte Anonymität eines Peer Review-Verfahrens –AutorInnen bleiben für die Gutachtenden und diese auch für die AutorInnen anonym– kann folglich jene Verzerrungen der Begutachtung verhindern, deren Ursache inden sozialen Beziehungen innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin liegen.

Zugleich lässt sich durch Einbeziehung externer Expertise die Wissensgrundlagefür die zu treffende Entscheidung verbreitern. Das Peer Review-Verfahren nutzt dieKompetenzen derjenigen, die im selben wissenschaftlichen Feld arbeiten wie dieAutorInnen der zu begutachtenden Manuskripte. Sie werden für die Erstellung vonGutachten herangezogen, weil sie nicht nur die Qualität der Bearbeitung einer Fra-gestellung am genauesten beurteilen, sondern auch die Relevanz der Forschungser-gebnisse und den Nutzen ihrer Publikation am besten abschätzen können. Doch mitdieser inhaltlichen Nähe zwischen AutorInnen und Gutachtenden gerät auch schondie Unabhängigkeit des Urteils in erhebliche Gefahr. Wer im selben Themenfeldarbeitet, der kennt sich – zumindest aus der Literatur. Von den Gutachtenden »mussman fürchten, dass sie dem Objekt ihrer Bewertung entweder als allzu gute Kolle-gen oder aber als das gerade Gegenteil davon herzhaft verbunden sind« (Neidhardt2000: 28). Das schafft zudem nicht selten ein Anonymisierungsproblem bei denManuskripten, denn was zitiert wird und was nicht, kann sehr verräterisch sein.Häufig provoziert die formale Anonymität von zu begutachtenden Manuskripteneinen detektivischen Impuls, zumindest starke Vermutungen über die AutorInnen-schaft des Manuskripts anzustellen. Für die Gutachtenden und ihr Urteil aber ist es

6 Daniel (1993: 73); Felt et al. (1995: 107f); Wennerås/Wold (1997); Krais (2000a);Europäische Kommission (2001); Hirschauer (2004: 65f).

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Christoph Weller: Beobachtungen wissenschaftlicher Selbstkontrolle

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nicht bedeutungslos, ob sie in ihrer Beziehung zu den möglichen AutorInnen vonKollegialität oder Konkurrenz ausgehen sollen (Hirschauer 2004: 71).

»Also muss man Experten suchen, die in Distanz zu den Evaluationsobjekten und ihrerForschung stehen. Das aber erhöht die Wahrscheinlichkeit des Vorwurfs: Die haben vonunserer Sache überhaupt keine Ahnung! In der Tat ergeben sich Probleme aus demUmstand, dass es eine offenkundig inverse Beziehung zwischen Expertise und Unbefan-genheit gibt. Je näher dran, umso mehr Einsicht und umso wahrscheinlicher Voreinge-nommenheit – ›that’s the problem‹. Daraus ergibt sich der Bedarf an mittlerenDistanzmaßen bei der Selektion von Gutachtern. Sie müssen der Sache nahe genug undden Kollegen, um die es geht, fern genug sein, um verlässlich zu urteilen. Es ist klar,dass sich das meistens nicht arrangieren lässt« (Neidhardt 2000: 28f). 7

Zudem lassen sich durch die Anonymisierung von Manuskripten und Gutachten alljene Beurteilungsfaktoren nicht aus dem Review-Verfahren eliminieren, die aus denindividuellen Motiven und Perspektiven der Gutachtenden in ihren Bezügen zueiner wissenschaftlichen community liegen: Sollen sie einem Manuskript, das demselbst vertretenen Ansatz kritisch gegenübersteht, zur Publikation verhelfen, um diewissenschaftliche Debatte darüber zu fördern, oder besser seine Ablehnung empfeh-len, um den für die eigenen Arbeiten förderlichen Mainstream nicht zu schwächen?Welche Überlegungen werden angestellt, wenn es gilt, ein Manuskript zu begutach-ten, das den eigenen Arbeiten eng verwandt ist? Soll man es mit kritischen Überar-beitungshinweisen überhäufen, um die eigenen Kompetenzen zu verdeutlichen, unddamit die Publikation möglicherweise verhindern oder zumindest verzögern, damitRaum bleibt für die Veröffentlichung der eigenen Arbeiten? Oder soll man seinePublikation befürworten, um den entsprechenden Strang der Forschung zu stärken,wovon man auch selbst profitieren könnte? Wie sind Manuskripte zu begutachten,die neue, innovative Ansätze in die Diskussion einbringen wollen? Sie werfenzwangsläufig mehr ungelöste und damit auch unbeantwortete Fragen auf als die x-teFallstudie mit einem breit etablierten Ansatz und liefern damit viel einfachere Mög-lichkeiten zur Begründung einer Ablehnung als jene methodisch korrekte, aber lang-weilige, weil innovationsfreie Fallstudie. Befürwortet man die Veröffentlichung vonBeiträgen mit neuen Ansätzen, weil man wissenschaftliche Innovationen fördernwill, ist damit das Risiko verbunden, sich das Image des unkritischen Gutachtendenzuzulegen.8 Plädiert man für »Ablehnen«, lässt sich dies nicht nur leichter begrün-

7 Bei einer deutschsprachigen Zeitschrift verschärft sich dieses Problem noch zusätzlich,da aus Gründen der Sprachkompetenz nur in sehr begrenztem Umfang auf ausländischeGutachtende zurückgegriffen werden kann.

8 Zudem ist zu befürchten, dass auch die HerausgeberInnen eher zurückhaltend mit derVeröffentlichung innovativer Forschungsergebnisse umgehen: »Die Herausgeberrenommierter Zeitschriften können es sich nicht erlauben, Aufsätze zu veröffentlichen,die das Risiko in sich tragen, nicht häufig zitiert zu werden, denn das senkt den impactfactor der Zeitschrift. […] Das Streben, viele Aufsätze in Zeitschriften mit einem hohenimpact factor zu veröffentlichen, fördert einen wissenschaftlichen Konservatismus. Wis-senschaftler betreiben keine innovative Forschung mehr, sondern konzentrieren sich aufWeiterentwicklungen von Bewährtem. […] So fördert die Evaluation auf der Basis vonZitationen die Standardisierung der Wissenschaft und beschleunigt, vor allem in denSozial- und Wirtschaftswissenschaften, den Prozess der Abkopplung des Wissenschafts-systems von den Feldern der praktischen Umsetzung. Nicht mehr die Aufhellung unge-klärter Phänomene und erst recht nicht die Lösung praktischer Probleme ist das zentrale

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Forum

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den, sondern damit auch dem Risiko vorbeugen, dass die Aufmerksamkeit der com-munity durch innovative Ansätze zu sehr abgelenkt wird von den Debatten, an denenman selbst beteiligt ist.

Diese und ähnliche soziale Dimensionen des doppelt anonymen Peer Review-Ver-fahrens spielen für die Urteile der Gutachtenden und damit für die Entscheidungüber die (Nicht-)Veröffentlichung von Manuskripten eine nicht unbedeutende, aberkaum systematisch erfassbare Rolle. Selbstkritische Gutachtende werden sich imLaufe ihres Beurteilungsprozesses – vom ersten Vorurteil bei Kenntnis des Titelsüber die Reflexion ihrer Leseeindrücke und die Überprüfung ihres Urteils bis hinzum Ausfüllen des Review-Bogens – solche Fragen, wie sie oben angedeutet wur-den, selbst stellen und möglicherweise erste Bewertungen revidieren. Doch eineUnabhängigkeit von solchen Faktoren wird es bei der Begutachtung wissenschaft-licher Veröffentlichungen nicht geben: Wissenschaft ist und bleibt eine soziale Ver-anstaltung (Mittelstraß 1989),9 auch und gerade bei ihrer Evaluation und Selbstkon-trolle (Hirschauer 2004: Kap. 3).

Für Differenzen in der Begutachtung fallen insbesondere all jenen, die schonbegutachtet haben oder deren Manuskripte schon begutachtet wurden, noch weitereErklärungen ein: Der Wissens- und damit Beurteilungs-Hintergrund ist verschieden,sei es bei theoretischen Prämissen, methodischer Herangehensweise, metatheoreti-scher Position oder einfach bei der Kenntnis für wichtig erachteter wissenschaftli-cher Debatten. Genau diese Verschiedenheit der Expertise wollen die Herausgeber-Innen jedoch durch den gezielten Rückgriff auf unterschiedliche Gutachtendenutzen. So wurde bei der ZIB zumeist versucht, mit den zwei oder drei Gutachten-den einerseits jemand Kompetentes für die behandelte Empirie zu finden und ande-rerseits besondere Expertise bezüglich der gewählten theoretischen Herangehens-weise in das Peer Review-Verfahren einzubeziehen. Wenn beispielsweise in einemManuskript internationale Vereinbarungen zum Umweltschutz mit einem Regime-Ansatz analysiert werden, bietet es sich an, zum einen jemand um ein Gutachten zubitten, der internationale Umweltpolitik als bevorzugtes Themenfeld angegeben

9 Vgl. auch Krais (2000c: 34-42). »Kurz zusammengefasst geht die ›neue‹ Wissenschafts-forschung davon aus, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht einfach durch die Realitätoder ›Natur‹ des Gegenstandes bestimmt wird, die dann durch immanentes Fortschreitender Wissenschaft immer besser erfasst werden kann. Vielmehr ist wissenschaftlicheErkenntnis ein sozialer Prozess, in den nicht nur theoretische Vorannahmen, sondernauch der jeweilige soziale Kontext, Gewohnheiten und Verfasstheiten der scientific com-munity und historisch gebundene Denkstile, wie Fleck (Fleck 1980) sie nennt, eingehen.Wissenschaftliche Wahrheit ist nicht zu begreifen als ›Entdeckung‹ von etwas, das unab-hängig von der Wissenschaft, als Gegenstand für sich – in der ›Natur‹ oder in der ›Reali-tät‹ – existiert, sondern viel eher als Konstruktionsprozess im Rahmen wissenschaftli-cher Arbeit« (Krais 2000c: 32, Hervorh. dort).

Anliegen, im Vordergrund steht vielmehr die Herstellung von Aufsätzen, deren Chan-cen, in Zeitschriften mit hohem impact factor veröffentlicht zu werden, sehr gut sind.Forschungseinrichtungen degenerieren zu Fabriken zur Produktion hoch standardisierterAufsätze. […] Wie alle Evaluationskriterien schafft auch der citation index die Wirklich-keit, die zu messen er vorgibt. Er ändert das Verhalten der Evaluierten« (Kieser 2003:31, Hervorh. dort). Zur unerwünschten Anpassung der Evaluierten an die vermeintlichenMaßstäbe der Beurteilung vgl. auch Röbbecke/Simon (2001) und Frey (2003).

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hat,10 und ein zweites Gutachten von einer Regime-Expertin einzuholen. So könnensich verschiedene Gutachten gegenseitig ergänzen und zusammengenommen einemöglichst umfassende Beurteilung des Manuskripts ermöglichen. Dass dabei dieBewertungen der Gutachten nicht immer einheitlich ausfallen, wird kaum jemandverwundern. Vielmehr handelt es sich um einen erwünschten Effekt der Auswahlder Gutachtenden, denn würden die verschiedenen Gutachten zu einem Manuskriptin ihren Bewertungen und inhaltlichen Anregungen in aller Regel weitgehend über-einstimmen, könnte man leicht darauf verzichten, mehrere Gutachten einzuholen.

Zwar lässt sich unter Hinweis auf die Motive, die der GutachterInnen-Auswahlzugrunde liegen, argumentieren, dass Differenzen in der Begutachtung nicht alsSchwäche des Peer Review-Verfahrens, sondern als sein erwünschter Effekt zuinterpretieren sind (vgl. Daniel 1993: 6; Hirschauer 2004: 76). Doch andere Bewer-tungsfaktoren treten hinzu, bei denen die Gutachtenden erheblich differieren könnenund damit uneindeutige Review-Ergebnisse produzieren. So kann etwa das Interessean der bearbeiteten Fragestellung sehr unterschiedlich sein, oder es können diegrundsätzlichen Maßstäbe für publikationswürdige Manuskripte differieren. Für dieeinen hängt ein theoretisches Argument ohne empirische Anwendung oder zumin-dest Veranschaulichung in der Luft, für die anderen sind empirische Fallstudienohne theoretische oder metatheoretische Reflexion kein die Forschung weiterbrin-gender Beitrag, um nur einen Aspekt der Maßstäbe-Debatte zu erwähnen. Zudemkönnen Stil und Argumentationsweise eines Manuskripts der einen Gutachterinsympathisch sein, bei einem anderen aber leicht aggressive Reflexe auslösen, wasalles nicht ohne Einfluss auf das Ergebnis der Begutachtung sein wird. Am Ende desBegutachtungsprozesses schließlich wird sich kaum jemand gegen das eigene, intui-tiv-emotional gefällte Urteil entscheiden, das sich während des Lesens im Hinter-grund der inhaltlichen Aufmerksamkeiten gebildet hat. Für dieses Urteil lassen sichanschließend allemal rationale Gründe auffinden und anführen, denen dann nurnoch das entsprechende Gewicht beigelegt werden muss.11

Ist angesichts all dieser – gemessen am Ideal einer Qualitätsmessung von Manu-skripten – sachfremden Einflüsse auf die Begutachtungsergebnisse das praktiziertePeer Review-Verfahren ungeeignet für die Publikationsentscheidungen bei wissen-schaftlichen Zeitschriften? Dient das Peer Review-Verfahren wie viele andere Eva-luierungen in der Wissenschaft mehr der Legitimation (vgl. Mittelstraß 2000: 25) alsder Qualitätskontrolle? Ein systematisches Begutachtungsverfahren, in dem verbind-lich über die (Nicht-)Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Manuskripts ent-schieden wird, macht nur Sinn, wenn es zumindest teilweise einheitliche Maßstäbe

10 Die Mitglieder des ZIB-Review-Panels wurden, in aller Regel bevor ihnen ein Manu-skript zur Begutachtung zugeschickt wurde, nach ihrer prinzipiellen Bereitschaft zurMitwirkung im Peer Review-Verfahren der ZIB gefragt und dabei um die Angabe bevor-zugter Themenfelder gebeten.

11 Vgl. Hirschauer: »Die Bewerkstelligung des ›Urteilens‹ besteht eben auch in der rhetori-schen Herstellung von Konsistenz durch die Legitimation einer einmal getroffenen(Vor)entscheidung. Dabei sind die an der Textoberfläche erscheinenden Gründe post hocRationalisierungen, die mit den im Entscheidungsprozess wirksamen Gründen und Moti-ven u. U. nicht viel zu tun haben« (Hirschauer 2004: 71).

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Forum

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gibt, anhand derer die Veröffentlichungswürdigkeit eines Manuskripts beurteiltwird. Ein Peer Review-Verfahren bei einer Zeitschrift geht davon aus, dass es eineausreichend große und zugleich grob abgrenzbare disziplinäre Fach-community gibt,die in dieser Frage einigermaßen übereinstimmt.12 Inwieweit dies auf das Review-Panel der Zeitschrift für Internationale Beziehungen zutrifft, soll in den Abschnitten3 und 4 anhand einiger quantitativer Analysen überprüft werden. Zunächst aber istdie dafür verwendete Datengrundlage und das Peer Review-Verfahren, wie es beider ZIB in den ersten acht Jahren ihres Bestehens praktiziert wurde, vorzustellen.

2. Das Peer Review-Verfahren der Zeitschrift für Internationale Beziehungen

Für die ersten acht Jahrgänge der ZIB wurden von Sommer 1993 bis Sommer 2001insgesamt 175 Manuskripte eingereicht.13 Ihre Zahl stieg in den ersten Jahren undstabilisierte sich dann bei etwa 20 Einreichungen in zwölf Monaten. Davon wurden145 (83%) extern begutachtet und 80 (45%) publiziert. Die Ablehnungsquote der ZIBpendelte über die Jahre zwischen 50% und 60%, bei Aufsatz-Manuskripten lag siefast immer über 60% und hat sich auch in den letzten Jahren nicht spürbar verändert.

Etwa ein Sechstel (17%) der eingereichten Manuskripte wurde nach einer erstenEvaluation durch den ZIB-Redakteur und den geschäftsführenden Herausgeber ohneexterne Begutachtung abgelehnt, weil sie aus unterschiedlichsten Gründen dem Pro-fil der Zeitschrift nicht entsprachen und mit Sicherheit im Review-Verfahren abge-lehnt worden wären.14 Diese Vorauswahl eingereichter Manuskripte dient vor allemder Entlastung des Review-Panels, das nicht mit der Begutachtung chancenloserManuskripte behelligt werden sollte. Trotz dieser Vorselektion votierten die Gutach-tenden noch bei 25 Manuskripten (14% der extern begutachteten Manuskripte)mehrheitlich für Ablehnung.15

12 »Es spricht viel dafür, dass die Idee des ›richtigen‹ Gutachtens eine Illusion darstellt.Wenn dem so ist, bliebe freilich zu klären, wie man sich als Gutachter auch unter ver-rückten Bedingungen noch professionell verhalten kann. Vermutlich reduziert es sichauf zwei Punkte: auf einen Schuss methodisch eingesetzter Naivität und auf die Bereit-schaft, etwas für die eigene Irritierbarkeit zu tun. Gutachter müssen nämlich, um ihrenJob überhaupt tun zu können, auf der Idee der rationalen Entscheidbarkeit von Gutach-tenfragen beharren. Trotz aller Belege für deren faktische Unmöglichkeit bleibt dies eineebenso unentbehrliche wie hilfreiche Fiktion. Sie verdient es, mit Bedacht – sozusagenim ›Modus des Als-ob‹ – kultiviert und dann gleichermaßen gegen Relativisten wiegegen jene verteidigt zu werden, die sie bloß wörtlich nehmen« (Wolff 2000: 39).

13 In diese Zählung wurden auch Forums-Manuskripte und Literaturberichte einbezogen,wenn sie – wie seit 1997 geschehen – im Peer Review-Verfahren begutachtet wurden.Zur aktuellen, nur marginal veränderten Form des Peer Review-Verfahrens der ZIB vgl.Hellmann/Müller (2002: 4f).

14 Ohne Review-Verfahren wurden Manuskripte dann abgelehnt, wenn geschäftsführenderHerausgeber und ZIB-Redakteur in dieser Frage übereinstimmender Auffassung waren.

15 Dies entspricht dem in fast allen Studien zur Zuverlässigkeit von Urteilen in PeerReview-Verfahren beobachtbaren höheren Ablehnungskonsens in Relation zum Akzep-tanzkonsens (vgl. Hirschauer 2004: 67f; Giles et al. 1989: 60). Da den Urteilen der Gut-achtenden differierende Kriterien und Maßstäbe zugrunde liegen, gibt es Übereinstim-mung vor allem bei den Ausreißern und nach unten. »Urteile über wissen schaftlicheManuskripte verlangen die Gewichtung unzähliger Kriterien. Sie sind so komplex wie

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Für die externe Begutachtung wurden in der Anfangsphase, in der die anonymeBegutachtung von Zeitschriften-Manuskripten in der deutschen Politikwissenschaftnoch unüblich war16 und das ZIB-Review-Panel aufgebaut werden musste, zwei,später fast immer drei im entsprechenden Theorie- oder Themenfeld ausgewiesenePolitologInnen, vornehmlich aus der Teildisziplin Internationale Beziehungen, umGutachten gebeten. Thematisierten die Manuskripte auch Problemstellungenbenachbarter Disziplinen, wurden z. B. auch SoziologInnen, HistorikerInnen, Philo-sophInnen, PsychologInnen oder JuristInnen angefragt. Allen Gutachtenden wurdevorgegeben, sich in ihrer Beurteilung für eine von vier Kategorien17 zu entscheiden,ihr Urteil in einem ausführlichen Gutachten zu begründen und dabei auch konkreteÜberarbeitungshinweise zu geben, wenn für eine Überarbeitung plädiert wird. Dasexterne Begutachtungsverfahren konnte zu fünf verschiedenen Ergebnissen führen,wie mit dem Manuskript weiter verfahren wird (siehe Abbildung 1).– Direkte Publikationszusage an die AutorInnen, ggf. mit der Bitte um Anpassung

des Beitrags an die Formatvorlage der ZIB (zwei Fälle);– Publikationszusage mit der Bitte um Berücksichtigung inhaltlicher Anmerkun-

gen aus den Gutachten zur Erstellung der Endfassung (46 Fälle);– Konditionale Publikationszusage an die AutorInnen, bei der die Veröffentli-

chung von der Erfüllung bestimmter Überarbeitungsauflagen abhängig gemachtwird (acht Fälle);

– Aufforderung zur intensiven Überarbeitung und Wiedereinreichung des Manus-kripts bei der ZIB unter Berücksichtigung der Anmerkungen und Hinweise ausden Gutachten (32 Fälle);

– Ablehnung des Manuskripts unter Verweis auf die entsprechend übereinstim-menden Voten der externen Gutachtenden (19 Fälle).

In allen Fällen wurden den AutorInnen alle Gutachten – in einer anonymisiertenForm – zur Verfügung gestellt und in einem Begleitschreiben auch kommentiert.Letzteres war insbesondere dann erforderlich, wenn gutachterliche Überarbeitungs-hinweise in verschiedene Richtungen zielten, sich Gutachtende im Ton vergriffenhatten oder aus Redaktionssicht eine motivierende Geste zur Umsetzung der Überar-beitungshinweise angebracht schien.

16 So etwa bei der Politischen Vierteljahresschrift (PVS): »Eine erhebliche Veränderungder Arbeitsweise der [PVS-]Redaktion wird sich ab 1994 durch die Umstellung desBegutachterverfahrens [sic!] auf ein ›external referee‹-System ergeben, das vom Vor-stand und Beirat der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft angeregt wurde«(Héritier 1994: 1). »Die Auswahl der Beiträge [erfolgt] auf der Grundlage eines doppelt-anonymen Begutachtungsverfahrens« (Seibel 1998: 1).

17 »Wie vorliegend ohne Änderungen zur Veröffentlichung annehmen«, »mit Veröffentli-chungszusage zur Überarbeitung zurückgeben«, »ohne Veröffentlichungszusage zurÜberarbeitung zurückgeben«, »ablehnen«.

Urteile über Attraktivität, über den Geschmack von Wein oder das Aroma von Parfums.Zwar kann man gravierende Mängel recht gut spezifizieren (daher die höhere Überein-stimmung bei Ablehnungen), aber man kann wie bei Bewerbern imEinstellungsgespräch so auch bei Manuskripten ganz unterschiedliche Qualifikations-profile beschreiben, je nachdem welchen Einsatzzweck man im Auge hat« (Hirschauer2004: 68f).

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Abbildung 1: Begutachtungsprozesse im Rahmen des Peer Review-Verfahrens

Ablehnung (2)

2

Ablehnung (1)

Ablehnung (19)

Vorbegutachtung durchZIB-Redaktion

ChancenlosBegutachtungsfähig

Ablehnung (30)

Externes, doppelt anonymes Begutachtungsverfahren

Drucken wieeingereicht

Publikationszusageunter Überarbei-tungsauflagen

Ablehnen!

Publikationszusage mitÜberarbeitungshinweisen

Überarbeiten undWiedereinreichen!

Kontrolle der Überarbeitung durch ZIB-Redaktion

publizieren nicht publizieren

Zweites, externes, doppelt anonymes BegutachtungsverfahrenBeteiligt: Mindestens ein/e GutachterIn des ersten Verfahrens

und mindestens ein/e neue/r GutachterIn

Nichtwiedereinge-reicht(38)

Publikationszusageunter Überarbei-tungsauflagen

KeinePublikations-

zusagemöglich

Publikationszusage mitÜberarbeitungshinweisen

Kontrolle der Überarbeitungdurch ZIB-Redaktion

überarbeiten ablehnen (4)

Weitere externeBegutachtung

ablehnen!Publikationszusage mitÜberarbeitungshinweisen

46

7

2

Drucken wievorgelegt

16

3

4

publizieren

Manuskript-Einreichung

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Dieses erste externe Begutachtungsverfahren (siehe Abbildung 1) brachte für wei-tere 67 Manuskripte – nach 30 vor dem externen Review-Verfahren abgelehnten –ein eindeutiges Ergebnis:18 Zwei wurden ohne inhaltliche Überarbeitung und 46nach der Berücksichtigung gutachterlicher Anmerkungen publiziert (27% von 175eingereichten Manuskripten). 19 Manuskripte wurden abgelehnt.19 In acht Fällenwurde eine konditionale Publikationszusage erteilt, die nur bei einem Manuskriptnicht zum erhofften Erfolg der Veröffentlichung führte. Bei den restlichen 70 Manu-skripten wurde den AutorInnen die Überarbeitung und Wiedereinreichung empfoh-len, was in weniger als der Hälfte der Fälle (32, entspricht 46%) gemacht wurde.Wenn diese Überarbeitung entsprechend den gutachterlichen Hinweisen vorgenom-men wurde, führte sie in 78% der Fälle zum Publikationserfolg, allerdings teilweiseerst nach weiteren intensiven Überarbeitungen aufgrund einer konditionalen Publi-kationszusage (drei Fälle) oder einer nochmaligen externen Begutachtung miterneuten Anmerkungen aus dem Review-Verfahren, die vor der Veröffentlichung zuberücksichtigen waren (vier Fälle). Das zweite externe Review-Verfahren zu einemManuskript führte in vier Fällen zur Ablehnung, bei sieben Manuskripten wurdeeine erneute Überarbeitung und Wiedereinreichung empfohlen,20 was am Ende zuvier Publikationszusagen und zwei Ablehnungen führte; eines dieser Manuskriptewurde nicht wieder eingereicht.

Entsprechend des hier beschriebenen Peer Review-Verfahrens bei der ZIB wurdeninnerhalb von gut acht Jahren bis Ende 2001 insgesamt 452 externe Gutachtenerstellt, mit denen 175 eingereichte oder schon überarbeitete Manuskripte beurteiltwurden. 145 Review-Verfahren bezogen sich auf die erste Einreichung und 26 Ver-fahren auf schon begutachtete und nach einer Überarbeitung wiedereingereichteManuskripte. In vier Fällen war ein zum zweiten Mal überarbeitetes Manuskript aufseine Publikationsfähigkeit hin zu beurteilen.21 Diese 175 Review-Verfahren, in

18 Lagen zwei Gutachten mit gegensätzlichen Voten vor, wurde in aller Regel ein weiteresGutachten eingeholt und in der herausgeberischen Entscheidung dann der überwiegen-den Tendenz gefolgt. Bei den in der Einleitung erwähnten 15 Manuskripten, zu denenfundamental gegensätzliche Urteile der Gutachtenden vorlagen, handelte es sich mehr-heitlich um Aufsatz-Manuskripte, 40% waren Literaturberichte oder Forumsbeiträge. In13 der 15 Fälle waren nur PolitologInnen an der Begutachtung beteiligt, in zehn der 15Fälle stammten alle Gutachtenden aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen.

19 Bei sechs weiteren Manuskripten plädierten die Gutachtenden mehrheitlich für Ableh-nung, Herausgeber und Redaktion folgten jedoch der Minderheiten-Meinung und emp-fahlen den AutorInnen die intensive Überarbeitung und Wiedereinreichung bei der ZIB.

20 Eine solche Entscheidung stellt sehr hohe Ansprüche und grenzt häufig an eine Zumu-tung, sowohl für AutorInnen wie für die mehrfach einbezogenen Gutachtenden. Die Ver-besserung eines Manuskripts durch Peer Review-Verfahren muss irgendwannabgebrochen werden, auch um die Gutachtenden nicht zu ungenannten KoautorInnenwerden zu lassen (vgl. Hirschauer 2004: 67). Diesem Problem wird bei der ZIB inzwi-schen dadurch begegnet, dass den Gutachtenden bei der Beurteilung eines wiedereinge-reichten Manuskripts die Kategorie »überarbeiten und wiedereinreichen!« nicht mehrzur Verfügung steht.

21 Die Analyse bezieht sich auf alle bis Ende 2001 erstellten Gutachten. Zu einigen Manu-skripten war damit allerdings das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Für die Darstel-lung in Abbildung 1 wurde das jeweilige Endergebnis der Verfahren berücksichtigt,weshalb die Summe der dort verzeichneten Peer Review-Verfahren leicht höher liegt.

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denen derselbe Text von verschiedenen – mindestens zwei – Gutachtenden im Hin-blick auf seine Veröffentlichung beurteilt wurde, eröffnen eine erste Möglichkeit,das doppelt anonyme Peer Review-Verfahren der ZIB zu evaluieren. Um die Ano-nymität des Verfahrens zu wahren, werden im Hinblick auf mögliche Schwächenund Schieflagen des Verfahrens, wie sie oben beschrieben wurden, quantitativeAnalysen auf der Grundlage kumulierter bzw. aggregierter Daten vorgenommen.22

Sie kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie viele vorhergehende Studien zu PeerReview-Verfahren (vgl. dazu Hirschauer 2004), gehen aber bei der Analyse der Gut-achten noch einen Schritt darüber hinaus und bringen damit Zusammenhänge zwi-schen der Qualität von Gutachten und Merkmalen der Gutachtenden zum Vorschein(siehe unten Abschnitt 5), die Anlass geben, über Verbesserungen des Peer Review-Verfahrens nachzudenken.

3. Gender-Bias?

Die Diskriminierung von Wissenschaftlerinnen durch männlich geprägte Funktions-weisen von Wissenschaft ist in der Wissenschaftsforschung vielfach herausgearbei-tet worden (vgl. etwa Krais 2000a; Europäische Kommission 2001). Dabei ist von»agonalem Verhalten« (Krais 2000b: 44) die Rede, bei dem es darauf ankommt,»untereinander Rangordnungen herzustellen; Leistungen nicht ausschließlich umihrer selbst willen zu erbringen, sondern um einen Positionsgewinn zu erzielen;Gegner zu haben, die sie herausfordern und von denen sie sich ihrerseits herausge-fordert fühlen; sich gegen ›Mitspieler‹ durchsetzen zu wollen. Diese Aspekte gehö-ren zum Kern der Funktionsweise von Wissenschaft« (Krais 2000b: 44).

Diese Konkurrenz zwischen Individuen stellt einen wesentlichen Beweggrund desVerhaltens in der Wissenschaft dar und ist zugleich nur als Ritual zu verstehen. Derwissenschaftliche »Wettkampf« wird nach bestimmten Regeln ausgetragen (Krais2000b: 45), die sicherstellen, dass auch anschließende Kooperation immer möglichbleibt. In der Konkurrenz werden die eigenen Leistungen mit denen anderer vergli-chen und damit zugleich die »Gegner« bzw. Mitspieler anerkannt. »In dieser agona-len Form des Sich-Aufeinander-Beziehens erst bildet sich das gemeinsam betriebene›Spiel‹ aus, entsteht und aktualisiert sich Wissenschaft als ›gesellschaftliche Veran-staltung‹« (Krais 2000b: 46). Und diese agonale Funktionsweise von Wissenschaftstellt eine mindestens zweifache Barriere für Wissenschaftlerinnen dar. Frauen wer-den nicht im selben Maße wie Männer in den wissenschaftlichen Wettbewerb einbe-

22 Um die zugesicherte Anonymität insbesondere der Gutachtenden weiterhin zu gewähr-leisten, kann der zwar anonymisierte, aber an verschiedenen Stellen auch problemlosentanonymisierbare Datensatz nicht öffentlich zugänglich gemacht werden. Er steht denHerausgebern der ZIB zur Verfügung und kann von diesen bei einem begründeten Inter-esse an der Reevaluierung der hier vorgenommenen Auswertungen zur Verfügunggestellt werden.

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zogen,23 womit ihnen Teile von Anerkennung und gleichberechtigte Integration ineine scientific community versagt bleiben (Krais 2000b: 46f). Zudem verweigern siesich vielfach den Ritualen des Konkurrenzverhaltens in der Wissenschaft, das sie alssubstanzloses Spiel wahrnehmen und kritisieren. Wissenschaft erscheint ihnen als zuernste Sache, als dass die Wettbewerbe nur ein Spiel sein sollten.

»Die Verweigerung agonalen Verhaltens in der ›arena of contest‹ von Seiten vieler Wis-senschaftlerinnen allerdings ist vor dem Hintergrund ihrer Nicht-Anerkennung im ago-nalen Spiel ihrer männlichen Kollegen nicht einfach das Verhalten vonSpielverderberinnen: Der für Frauen bitter ernste Kampf um die Anerkennung als Wis-senschaftlerin hindert sie daran, sich auf die agonalen, ritualisierten Kämpfe des wissen-schaftlichen Feldes einzulassen, in denen die Anerkennung praktisch hergestellt wird«(Krais 2000b: 48).

Hat dies auch Auswirkungen auf ihre Publikationstätigkeit, auf die Bewertung dervon Frauen verfassten Manuskripte und auf ihre Urteile, wenn sie im Peer Review-Verfahren Manuskripte zu begutachten haben? Der Bericht der ETAN-Expertinnen-arbeitsgruppe »Frauen und Wissenschaft« fordert dazu auf, dass auch das PeerReview-System »auf mögliche geschlechtsspezifische Verzerrungen in der Konzep-tion und Durchführung überprüft werden muss« (Europäische Kommission 2001:33). Viele Studien haben gezeigt, dass die Begutachtung wissenschaftlicher Leistun-gen nicht unabhängig vom Geschlecht vorgenommen wird. Vielmehr zeigt sich eineÜberbewertung der Leistungen von Männern, während die Leistungen von Frauenunterbewertet werden (Wennerås/Wold 2000: 108; Europäische Kommission 2001:33-45). Dieser Bias zeigt sich aber nur dann, wenn den GutachterInnen dasGeschlecht der zu begutachtenden Person bzw. das AutorInnen-Geschlecht bekanntist (vgl. Giles et al. 1989: 62; Wennerås/Wold 2000: 117).24 Genau dies wird durchdas doppelt anonyme Peer Review-Verfahren ausgeschlossen. Ist damit aber auchsichergestellt, dass Manuskripte von Frauen nicht aufgrund sprachlicher oder andererBesonderheiten auffallen und daraufhin – bewusst oder unbewusst – schlechterbewertet werden als Manuskripte von Männern? Dies könnte möglicherweise einher-gehen mit einer unterschiedlichen Bewertung der Manuskripte von Frauen, abhängigvom Geschlecht der Gutachtenden. Hypothetisch ließe sich annehmen, dass Gutach-terinnen die Manuskripte von Frauen besser bewerten als Manuskripte von Männern.

23 Vgl. Hagemann-White/Schultz: »Der Werdegang des männlichen Hochschullehrerskann als berufliche Sozialisation bestimmt und als Fortsetzung der typisch männlichenSozialisation in Kindheit und Jugend gesehen werden: der Werdegang der Frau an derHochschule wird hingegen als ein Prozess der Akkulturation zu bestimmen sein undsteht vielfach im Widerspruch zu der geschlechtstypischen Sozialisation in Kindheit undJugend« (Hagemann-White/Schultz 1986: 101, Hervorh. dort).

24 Der Anteil von Frauen unter den ZIB-AutorInnen bestätigt diesen Befund. Er ist für dieJahre 1994 bis 2001 etwa doppelt so hoch (14%) als beispielsweise bei der PolitischenVierteljahresschrift in den Jahrgängen vor Einführung des anonymen Peer Review-Ver-fahrens (1990-1995: 6,5%). Berechnet man den Autorinnen-Anteil für die darauf folgen-den Jahrgänge (1996-2003) der PVS, beträgt er 15,6%. Der geschäftsführende Redakteurder PVS berichtet für den Jahrgang 1997 von einer »weit überdurchschnittlichen Annah-mequote bei den Manuskripten weiblicher Autoren. Lediglich 16% aller von Männern ein-gesandten Manuskripte wurden letzten Endes abgedruckt, jedoch 57% aller vonweiblichen Autoren eingesandten Manuskripte. Da die Auswahl der Beiträge auf derGrundlage eines doppelt-anonymen Begutachtungsverfahrens erfolgt, ist ein geschlechts-spezifischer Bias bei der Manuskriptauswahl so gut wie ausgeschlossen« (Seibel 1998: 1).

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Von den insgesamt 33 allein von Frauen verfassten Manuskripten, die ins ZIB-Review-Verfahren verschickt wurden, waren bei zwölf Manuskripten sowohl Gut-achterinnen als auch Gutachter beteiligt. Sie stimmten in vielen Fällen bei ihrenVoten überein, und die Gutachterinnen neigten insgesamt sogar zu leicht schlechte-ren Bewertungen als die Gutachter.25 Betrachtet man die arithmetischen Mittelwerteder Voten von weiblichen und männlichen Gutachtenden bezüglich der von Frauenverfassten Manuskripte,26 sind sie nahezu identisch (3,08; 3,00; Standardabwei-chung 0,79 bzw. 0,83). Auch weitere statistische Überprüfungen eines gender-Biasim ZIB-Review-Verfahren bestätigen den Befund der weitgehenden Geschlechter-Neutralität des doppelt anonymen Peer Review-Verfahrens. So kann auch die Hypo-these, dass Manuskripte von Autorinnen insgesamt schlechter oder uneinheitlicherbegutachtet werden, ebenfalls statistisch nicht bestätigt werden. Der Mittelwert fürdie Bewertung der Manuskripte von Autoren beträgt 2,7, jener für Manuskripte vonAutorinnen 2,9 bei einer Standardabweichung von 0,72 (Autoren: 0,65).27

Auch auf Seiten der Gutachtenden zeigen sich nur minimale Auffälligkeiten beider Überprüfung eines gender-Bias. So kann etwa die These, Gutachterinnen beur-teilten Manuskripte grundsätzlich besser als Gutachter, nicht bestätigt werden. Ten-denziell ist eher das Gegenteil der Fall, aber die Differenz zwischen Gutachterinnenund Gutachtern hinsichtlich der Bewertung von Manuskripten ist sehr gering.28 Undder Vergleich von Gutachterinnen und Gutachtern zum jeweils selben Manuskriptzeigt nur eine leichte Tendenz zum milderen Urteil durch Gutachterinnen.29 Ver-gleicht man die Publikationschancen von Frauen mit denen von Männern, zeigensich zumindest bis zum Abschluss des ersten Review-Verfahrens keinerlei Differen-zen. 27% aller eingereichten Manuskripte und 27% der von Frauen eingereichtenManuskripte wurden nach dem ersten Review-Verfahren publiziert und nahezugenau so viele vor bzw. in der Begutachtung abgelehnt (gesamt: 28%, Frauen:27%). Eine geschlechtsspezifische Differenz ergibt sich allerdings bei der Wieder-einreichung zur nochmaligen Begutachtung: Während die Begutachtung in 75% dervon Frauen wiedereingereichten Manuskripte erfolgreich endete (78% bei allen wie-dereingereichten Manuskripten), nutzten nur 27% der Frauen, aber 51% der

25 Bei sieben Manuskripten gab es übereinstimmende Voten der beteiligten Gutachterinnenund Gutachter; wenn sie differierten, gab bei neun Vergleichen der Gutachter das bes-sere Votum ab und nur bei vier Vergleichen die Gutachterin. Da in fast allen Fällen dreiGutachten pro Manuskript vorlagen, gibt es mehr als zwölf Vergleichsmöglichkeitenzwischen weiblichen und männlichen Gutachtenden.

26 Da es sich bei den vier Bewertungskategorien für Manuskripte im Peer Review-Verfah-ren der ZIB nicht um metrisch skalierte Variablen handelt, kann der arithmetische Mit-telwert aus den Voten streng genommen nur eine Hilfsfunktion übernehmen. Er liefertjedoch interesante Hinweise bezüglich der vermuteten Zusammenhänge.

27 Für den Zusammenhang von gutachterlicher Bewertungsdifferenz und Geschlecht derAutorInnen eines Manuskripts beträgt der Rangkorrelationskoeffizient r s 0,004.

28 Der Kontingenzkoeffizient beträgt 0,069. Zudem ist dieses Ergebnis nicht signifikant(p = 0,543).

29 Beim Vergleich von 52 Review-Verfahren stimmten Gutachterinnen und Gutachter in22 Fällen überein, in 13 Fällen bewerteten Männer das Manuskript besser als Frauen,und umgekehrt war dies 17 Mal der Fall.

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männlichen Autoren diese Möglichkeit! Liegen die Ursachen dafür vor allem beiden Wissenschaftlerinnen oder im männlich geprägten Wissenschaftssystem, ver-körpert etwa in einer rein männlichen Herausgeber-Riege bei der Zeitschrift fürInternationale Beziehungen inklusive eines männlichen Redakteurs in den erstenacht Jahren, der für die Kommunikation mit den AutorInnen verantwortlich war?

Während das Geschlecht von AutorInnen an diesem Punkt des Peer Review-Ver-fahrens Einfluss auf das Publikationsverhalten hat, scheinen die Beurteilungsergeb-nisse des Verfahrens selbst geschlechtsblind (Krais 2000c: 33) zu sein, sowohl wasdas Geschlecht der AutorInnen als auch das der Gutachtenden betrifft. Ersteres kannvornehmlich als Erfolg der Anonymisierung von Manuskripten betrachtet werden(vgl. Wennerås/Wold 1997), während Letzteres dem ebenfalls nicht signifikantenEinfluss anderer Gutachtenden-Merkmale auf ihre Bewertungen entspricht. Auchdas Qualifikationsniveau der Gutachtenden (ProfessorIn, habilitiert, promoviert,nicht-promoviert) wirkt sich nicht systematisch auf ihre Urteile aus. Weder Profes-sorInnen noch Habilitierte bewerten dieselben Manuskripte bzw. bewerten grund-sätzlich schlechter oder besser als geringer Qualifizierte. Die Mittelwerte der ver-schiedenen Qualifikationsgruppen unter den Gutachtenden weichen nur minimalvoneinander ab,30 und beim Vergleich der Urteile bezogen auf dasselbe Manuskriptzeigen sich auch keine aussagekräftigen Zusammenhänge.31

4. Die Qualität von Gutachten im Peer Review-Verfahren

Objektivierbare Eigenschaften von Gutachtenden wie ihr formales Qualifikationsni-veau oder ihr Geschlecht können ganz offensichtlich die Beurteilungsdifferenzenhinsichtlich der Publikationsfähigkeit von Manuskripten ebenso wenig erklären wieAutorInnen-Eigenschaften, etwa deren Geschlecht (vgl. Abschnitt 3). Die Unter-schiede bei der Begutachtung sind wohl vor allem auf individuelle Motive, Maß-stäbe und Strategien der Gutachtenden zurückzuführen (vgl. Abschnitt 1). Dasmacht es weder für die HerausgeberInnen einer Zeitschrift, noch für die potenziellenAutorInnen leicht, das Peer Review-Verfahren als Entscheidungsverfahren über die(Nicht-)Publikation von Aufsätzen in renommierten Zeitschriften – und damit auchüber wissenschaftliche Karrierechancen – uneingeschränkt anzuerkennen. Hinzukommt die große Uneinheitlichkeit in der Qualität von Gutachten und die darin auchzum Ausdruck kommende variierende Anerkennung dieses Verfahrens. Dafür las-sen sich verschiedene Gründe anführen (Abschnitt 4.1), die partiell auch in der Ver-antwortung von HerausgeberInnen und Zeitschriften-Redaktionen liegen könnten.Einer davon scheint mir die mangelnde Kommunikation über Qualitäts-Standardsfür Gutachten zu sein, die im dann folgenden Abschnitt (4.2) angeregt werden soll.

30 Die Mittelwerte (und Standardabweichungen) betragen für Promovierte 2,82 (0,859), fürHabilitierte 2,74 (0,994), für ProfessorInnen 2,68 (0,959) und insgesamt 2,72 (0,931).Die dabei erkennbar werdende leichte Tendenz zum milderen Urteil der höher Qualifi-zierten entspricht den Ergebnissen anderer Studien (vgl. Hirschauer 2004: 66).

31 Spearman’s rs liegt jeweils im Intervall ±0,2.

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4.1. Ungerechtigkeiten des Peer Review-Verfahrens

HerausgeberInnen und Zeitschriften-Redaktionen sehen sich mit widersprüchlichenVoten aus den Review-Verfahren konfrontiert und müssen eigene Maßstäbe entwi-ckeln, welchen Gutachten sie in ihrer Entscheidung eher folgen wollen. Je bedeutsa-mer aber solche HerausgeberInnen-Entscheidungen bei uneinheitlichen GutachterIn-nen-Voten sind, desto fragwürdiger wird der enorme Aufwand an Zeit undintellektueller Arbeit, der von einer scientific community in die Peer Review-Verfah-ren ihrer Zeitschriften investiert werden muss. Ein 30- bis 40-seitiges Manuskript auf-merksam zu lesen und ein etwa zweiseitiges Gutachten mit Gründen für die Bewer-tung und hilfreichen Überarbeitungshinweisen zu erstellen erfordert selten weniger alseinen halben Arbeitstag, bei schwierigen Manuskripten und eingehend-ausführlichenGutachten auch gerne einen ganzen oder noch mehr. Für die 452 Gutachten, die dasZIB-Review-Panel in den ersten acht Jahren (einer nur halbjährlich erscheinendenZeitschrift!) erstellt hat, wurde etwa die Arbeitszeit eines Wissenschaftlers bzw. einerWissenschaftlerin von deutlich über einem ganzen Jahr investiert. Ist das zu rechtferti-gen, wenn am Ende, vor allem in uneindeutigen Fällen, doch die Entscheidungen derHerausgeberInnen, sowohl durch die Auswahl der Gutachtenden als auch bei derBewertung von Beurteilungsdifferenzen im externen Review-Verfahren, den größtenEinfluss auf das Ergebnis der Publikationsentscheidung haben?

Dass sich HerausgeberInnen einer Zeitschrift sowohl zur Steigerung des Renom-mees ihrer Zeitschrift als auch aus sozialen Gründen gerne eines Peer Review-Ver-fahrens zur Vorbereitung ihrer Publikationsentscheidungen bedienen, ist nahe lie-gend und verständlich. Wie engagiert sich dagegen die betroffene scientificcommunity an dieser Aufgabe beteiligt, ist äußerst fraglich, denn zu viele Ungerech-tigkeiten behindern ein qualitativ hochstehendes Peer Review-Verfahren:– Gutachten zu erstellen kostet Zeit, ohne dass die Gutachtenden einen dem Zeit-

aufwand äquivalenten Nutzen daraus ziehen könnten.– Qualitativ hochstehende Gutachten zu erstellen erfordert einen höheren Zeitauf-

wand und mehr Arbeit, wird aber wegen der Anonymität des Verfahrens vonniemandem positiv honoriert oder gar belohnt.

– Wer qualitativ hochstehende Gutachten schreibt, wird von HerausgeberInnenlieber und damit häufiger als »schlechte« Gutachtende für das Peer Review-Ver-fahren herangezogen – und damit »bestraft«, weil sie oder er mehr Zeit undArbeitskraft für diese Kollektivaufgabe bereitstellen muss.

– Wer qualitativ schlechte Gutachten schreibt, wird nicht sanktioniert, wahr-scheinlich sogar »belohnt«, indem sie oder er in Zukunft nicht mehr um weitereBegutachtungen gebeten wird.

– Qualitativ schlechte Gutachten haben ähnlich großen Einfluss auf die Publikati-onsentscheidung wie qualitativ hochstehende Gutachten.32

32 Erst im Falle eines nicht-eindeutigen Gesamtergebnisses des Review-Verfahrens werdenHerausgeberInnen in besonderer Weise auf die Konsistenz zwischen den Voten undihrer gutachterlichen Begründung achten und in diesem Zusammenhang einem qualitativhochstehenden Gutachten – wenn es sie überzeugt – mehr Gewicht geben als schlechtgemachten Gutachten.

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– Wer die Bitte um Beteiligung am Peer Review-Verfahren ablehnt, hat keineNachteile und entzieht sich sanktionslos der Aufgabe, zu einem Kollektivgutbeizutragen (vgl. Meier 1997: 563).

Dies führt insgesamt dazu, dass das Peer Review-Verfahren häufig eher als notwen-diges Übel hingenommen denn als gemeinsame Aufgabe wahrgenommen wird.Auch wenn die Gutachtenden sich darüber im Klaren sind, dass sie weniger an derQualitätsmessung von Forschung als vielmehr an der »Steuerung von Leserauf-merksamkeit« (Hirschauer 2004: 79) beteiligt sind, tragen sie doch gerade damit zurVerbesserung der Kommunikation innerhalb einer scientific community bei. Gutach-ten im Peer Review-Verfahren sind ein Teil dieser Kommunikation, deren Ziel auchdarin besteht, zur Optimierung der Texte beizutragen, die von vielen gelesen werden(sollen).

»›Peer review‹ sichert die Offenheit der Kommunikation bei gleichzeitiger Qualitätskon-trolle. Das bedeutet: Sie schafft intern das Vertrauen der Wissenschaftler in die Verläss-lichkeit ihrer Kommunikationen. Das wechselseitige Vertrauen der Wissenschaftler indie Wahrhaftigkeit der Behauptungen des anderen ist die Voraussetzung für die erfolg-reiche Kommunikation. Sie ist damit der institutionelle Kern des wissenschaftlichenKommunikationsprozesses« (Weingart 2001: 285).

Auch das Renommee einer begutachteten wissenschaftlichen Zeitschrift ist in ent-scheidender Weise vom Ansehen des Review-Verfahrens abhängig. Gewinnen dieGutachtenden den Eindruck, auch mit schlecht begründeten Reviews Einfluss auf dieVeröffentlichungsentscheidungen der HerausgeberInnen nehmen zu können, oderdass diese sich regelmäßig über die – schlecht begründeten – Voten der Gutachten-den hinwegsetzen (müssen), wird das Niveau von Gutachten ständig weiter sinkenund auch dem Renommee der Zeitschrift schaden. Gewinnen auch AutorInnen ver-mehrt den Eindruck, dass die Gutachten, mit denen über die Nicht-Publikation ihrerArbeiten entschieden wird, oberflächlich, unangemessen und überheblich sind,indem sie sich auf das Manuskript, die Fragestellung und Argumentation nur teil-weise oder gar nicht einlassen, wird auch das Interesse eines Großteils der commu-nity, Manuskripte bei dieser Zeitschrift einzureichen, spürbar nachlassen und dieGefahr entstehen, dass die Zeitschrift vornehmlich als Organ einer einzelnen For-schungsrichtung und der sie repräsentierenden Personen wahrgenommen wird. Auchwenn das doppelt anonyme Peer Review-Verfahren weitgehend im Verborgenenstattfindet, trägt seine Qualität doch entscheidend zum Image und damit auch zurwissenschaftlichen Anerkennung einer Zeitschrift und ihrer scientific community bei.

Hinzu kommt die Gefahr, dass die oben genannten Ungerechtigkeiten auch Einflussauf die Voten der Gutachtenden nehmen können. So mag sich der eine oder die anderewegen viel zu vieler Verpflichtungen und Termindruck vor allem aus Zeitmangel fürdie Kategorie »wie vorliegend ohne Änderungen zur Veröffentlichung annehmen«entscheiden, weil für dieses Votum ein Manuskript nur oberflächlich gelesen undkeine inhaltlich aufwändigen Begründungen und Überarbeitungsanregungen geliefertwerden müssen.33 Auch eine Publikationszusage mit Überarbeitungsbedarf lässt sich

33 Dies bestätigt auch die Untersuchung der Gutachten, die eine Veröffentlichung ohneÜberarbeitung vorgeschlagen haben, von denen 44% als mangelhaft (zu den Bewer-

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leichter und schneller begründen als eine grundlegende Überarbeitung im Hinblick aufeine Wiedereinreichung des Manuskripts. Während sich mit Leichtigkeit zu jedemManuskript diverse mehr oder weniger periphere Überarbeitungsvorschläge anführenlassen, setzt die Begründung einer grundlegenden Überarbeitung ein stärkeres Einlas-sen auf den Text und seine Argumentation voraus.34

Aus vielerlei Gründen erscheint es notwendig, nicht nur an die zu publizierendenManuskripte, sondern auch an die zu dieser Frage erstellten Gutachten hohe Quali-tätsmaßstäbe anzulegen. Die Mitglieder eines Review-Panels zu motivieren oder garzu verpflichten, gewisse Standards bei ihren Gutachten einzuhalten, setzt eine ver-änderte Anreizstruktur voraus. Nicht die Schnell-Gutachtenden und die Trittbrett-fahrerInnen dürfen bei Peer Review-Verfahren belohnt werden, sondern diejenigenmüssen öffentliche Anerkennung finden, die qualitativ hochstehende Gutachtenschreiben. Dies erfordert ein behutsames Auflösen der Anonymität nach Abschlussdes Begutachtungsprozesses als auch neue Publikationsforen, in denen die inhaltli-chen Kontroversen zwischen AutorInnen und Gutachtenden der gesamten commu-nity zugänglich gemacht werden können (siehe unten Abschnitt 5). Zunächst aberstellt sich die Frage: Was zeichnet ein qualitativ hochstehendes Gutachten zu einemZeitschriften-Manuskript aus? Sowohl aus der Funktion von Gutachten im Kommu-nikationsprozess zwischen AutorInnen und der Redaktion einer Zeitschrift als auchaus der systematischen Evaluation von 452 Gutachten lassen sich die folgenden fünfAnforderungen ableiten, die für die Qualität von Gutachten im Peer Review-Verfah-ren von Zeitschriften eine wichtige Rolle spielen.

4.2. Qualitäts-Standards für Gutachten

Gutachten im Peer Review-Verfahren von wissenschaftlichen Zeitschriften wendensich sowohl an die HerausgeberInnen der Zeitschrift als auch an die AutorInnen derbegutachteten Manuskripte. Während Letzteren in aller Regel Hinweise gegebenwerden, wie sich ein Manuskript verbessern ließe,35 sollen die HerausgeberInneneine begründete Entscheidungsgrundlage für den weiteren Umgang mit dem Manu-skript erhalten. Dabei gelten der Neuigkeitswert der Forschungsresultate, Genauig-keit und Richtigkeit der Untersuchung sowie die Relevanz der Ergebnisse alsweithin akzeptierte – wenngleich meist nur implizit verwendete – Indikatoren fürPublikationsentscheidungen (vgl. Daniel 1993: 1; Felt 1999: 15; Prowiss 2004).Doch solche und ähnliche Aspekte, die aus Sicht der Gutachtenden entscheidend zuihren Gesamtvoten beitragen, verlieren sich oft in den gutachterlichen Texten, die

34 Das bedeutet nicht, dass Zeitdruck und Arbeitsvereinfachung die zentralen Motive beider Beurteilung von Manuskripten sind, aber doch Faktoren, die sich auf das Beurtei-lungsergebnis auswirken können und deren Einfluss sich durch höhere Qualitätsansprü-che an die Gutachten möglicherweise begrenzen ließe.

35 Auch die Begründung einer Ablehnung basiert in den meisten Fällen auf hypothetischenund als unerfüllbar eingeschätzten Überarbeitungserfordernissen.

tungsmaßstäben siehe unten Abschnitt 4.2) einzuschätzen waren. Überlastung und Zeit-not gelten als bedeutsame Faktoren für Schwächen oder das teilweise Versagen wissen-schaftlicher Qualitätskontrolle durch Begutachtungssysteme (vgl. Finetti 2000).

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immer zugleich Ausweis eigener Expertise, Mitteilung an die AutorInnen im Hin-blick auf Verbesserungsmöglichkeiten des Textes und Rechtfertigung für dieerfolgte Bewertung sein wollen. Um allen Beteiligten den Umgang mit dieser Text-sorte »Gutachten« zu erleichtern, bietet sich eine stärkere Formalisierung gutachter-licher Texte an (vgl. auch Daniel 1993: 63f). Diese sollte sich jedoch weniger an denverschiedenen Adressaten der Gutachten (Redaktion, HerausgeberInnen, AutorIn-nen) orientieren, als vielmehr an den Funktionen des Verfahrens: Die Gutachten ausdem Peer Review-Verfahren sollen den HerausgeberInnen fundierte Publikations-entscheidungen ermöglichen und den Verbesserungsbedarf eines Manuskripts sodarlegen, dass die Redaktion einer Zeitschrift seine Realisierbarkeit gut einschätzenkann und die AutorInnen ihn leicht nachvollziehen und bei einer Überarbeitung gutumsetzen können.

Manche Gutachtenden kommen diesen verschiedenen Anforderungen in derWeise nach, dass sie parallel zum für die AutorInnen bestimmten Gutachten einenexpliziten Kommentar für die HerausgeberInnen und die Redaktion schreiben, dendie AutorInnen nicht zu Gesicht bekommen sollen. Diese getrennten Botschaftender Gutachtenden werfen aber mehr Probleme auf als sie beseitigen können, nährensie doch den Verdacht einer Komplizenschaft zwischen Gutachtenden und Heraus-geberInnen zuungunsten bestimmter AutorInnen. Damit wird die Transparenz desVerfahrens reduziert, was der breiten Anerkennung des Peer Review-Verfahrenseher abträglich ist. Zum anderen reduziert sich damit die Anforderung an den für dieAutorInnen geschriebenen gutachterlichen Text, darin eine nachvollziehbareBegründung für das abgegebene Votum zu liefern. Diese argumentative Auseinan-dersetzung mit dem zu begutachtenden Text muss aber als eigentlicher Kern desPeer Review-Verfahrens betrachtet werden. An kaum einer anderen Stelle wissen-schaftlicher Kommunikation findet eine eingehendere Auseinandersetzung mit denForschungsergebnissen statt, die den jeweils eigenen Fragestellungen in aller Regeleng verwandt sind. Deshalb würde ein erhöhtes Qualitätsniveau von Gutachten nichtnur zur Steigerung von Akzeptanz und Validität des Peer Review-Verfahrens unddamit auch des Renommees der entsprechenden Zeitschriften beitragen, sondernauch eine wesentliche Verbesserung innerdisziplinärer Kommunikation bedeuten.Dass davon auch die Produktivität einer Disziplin profitieren könnte, scheint keineunbegründete Erwartung zu sein.

Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend fünf Anforderungen an Gutachtenim Peer Review-Verfahren von Zeitschriften dargestellt und dieser Kriterien-Kata-log anschließend (Abschnitt 4.3) zur Bewertung der vom ZIB-Review-Panel erstell-ten Gutachten herangezogen.

(1) Grundlage der Beurteilung eines Manuskripts ist dessen Argumentation imKontext eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses. Ihre Relevanz, Stichhaltig-keit oder Überzeugungskraft kann unterschiedlich eingeschätzt werden, aber von gro-ßer Bedeutung bezüglich der Publikationsentscheidung ist, dass möglichst von allenGutachtenden und den HerausgeberInnen dieselbe Argumentation als inhaltlicherKern des Manuskripts und damit als Begutachtungsobjekt wahrgenommen wird.Nicht selten haben AutorInnen nach der Lektüre kritischer Gutachten zu ihren Manu-

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skripten den Verdacht, ihr Text sei nicht richtig gelesen, nicht verstanden oderzumindest ihr Hauptargument falsch interpretiert worden. Ursache hierfür kann einschlecht geschriebener, falsch strukturierter oder begrifflich unzugänglicher Textsein, aber auch die oberflächliche, interessenlose oder mehrfach unterbrochene Lek-türe durch die Gutachtenden oder die HerausgeberInnen. Zudem können die inhalt-lichen Aufmerksamkeiten anders gesteuert sein, etwa durch einen anderen Wissens-,Fragen- und/oder Theoriekontext oder die von den eigenen Forschungsinteressenbeeinflussten Erwartungen an einen Text. Jeder Text wird von unterschiedlichen Per-sonen verschieden gelesen,36 weshalb jedes Gutachten zunächst deutlich machensollte, wie der Text verstanden wurde, was als zentrales Argument, als roter Fadender inhaltlichen Stoßrichtung identifiziert wurde. Die einleitende Rekonstruktion derArgumentation ermöglicht den HerausgeberInnen zu erkennen, ob das Manuskriptbei allen Gutachtenden zumindest ähnlich interpretiert wurde und ob diese Rekons-truktion mit der eigenen Wahrnehmung des Textes übereinstimmt. Sie bietet Autor-Innen die Möglichkeit zu erfahren, wie ihr Manuskript verstanden wurde bzw. wer-den kann und auf der Grundlage welcher Lesart die Bewertung vorgenommen wurde.

(2) Nicht allein die Qualität eines Manuskripts, sondern auch die Relevanz der Fra-gestellung, der Stellenwert der behandelten Thematik im aktuellen wissenschaft-lichen Diskurs spielt eine wesentliche Rolle im Entscheidungsprozess um die (Nicht-) Publikation eines Zeitschriften-Aufsatzes. Bei höchster Relevanz der vorgebrachtenArgumente für die aktuelle wissenschaftliche Debatte dürften Gutachtende durchauskompromissbereiter sein hinsichtlich einzelner Qualitätsmerkmale eines Manuskriptsals bei einer nebensächlichen Thematik oder gar abseitigen Fragestellung. Die Rele-vanz der behandelten Fragestellung und die Qualität ihrer Bearbeitung und sprachli-chen Darstellung sind zwei voneinander weitgehend unabhängige Kennzeichen einesManuskripts, die in einem je spezifischen Mischungsverhältnis empirisch auftretenund entsprechend auch getrennt voneinander in die Bewertung der Publikationsfä-higkeit eingehen sollten. Aus Sicht der HerausgeberInnen kann es wichtiger sein,dass möglichst relevante Fragestellungen in den veröffentlichten Aufsätzen behandeltwerden, als dass allein die – vermeintliche – Manuskriptqualität die Publikationsent-scheidungen bestimmt. Deshalb sollten Gutachten explizit auf die Frage nach derRelevanz der behandelten Fragestellung eine Antwort geben, liegt doch genau darineiner der wesentlichen Gründe zur Einbeziehung externer Gutachtender in die Publi-kationsentscheidungen über Zeitschriftenaufsätze. Nur diese können für spezifische

36 Dies sollte eigentlich nicht überraschen, bedeutet doch Lektüre die eigene Rekonstruk-tion des Gemeinten, eine Deutung auf der Grundlage eigenen Wissens und bewussterwie unbewusster Erwartungen (vgl. dazu Weller 2002: 18-30). Ganz ähnlich konstituie-ren sich auch die Eigenschaften eines Manuskripts »in der Beziehung zwischen denAbsichten des Autors und den Erwartungen des Lesers. Seine Eigenschaften werdennicht bloß in einer statisch konzipierten Sozialbeziehung von Autor und Gutachter(Unterschiede von Rang, Alter, Geschlecht etc.) ›richtig oder falsch‹ eingeschätzt, sieentfalten sich vielmehr erst in einer dynamischen Kommunikationsbeziehung, in der einAutor Ansprüche erhebt und enttäuscht, Sympathien und Antipathien weckt, und einLeser Erwartungen und ganz unterschiedliche Nutzungsinteressen im Kontext seinereigenen Arbeiten mitbringt« (Hirschauer 2004: 74, Hervorh. dort).

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Themenfelder und Teildiskurse einer Disziplin diese Relevanz angemessen beurtei-len. Und die Einschätzungen der Relevanz der Fragestellung durch die Gutachtendenwerden auch für die AutorInnen – unabhängig vom Ergebnis des Review-Verfahrens– von Bedeutung und Interesse sein. So können sie möglicherweise erkennen, dassnicht die Qualität ihres Manuskripts, sondern die eingeschränkte Relevanz der Frage-stellung den Ausschlag gegen die Veröffentlichung in dieser Zeitschrift gegeben hat,und daher nicht die Überarbeitung, sondern die Suche nach einem anderen Publikati-onsort die angemessene Strategie sein könnte.

(3) Nur in den seltensten Fällen werden die Gutachtenden keine Ideen und Vor-schläge zur weiteren Verbesserung eines Manuskripts haben – dies bestätigt auchdie Häufigkeitsverteilung bei den Review-Kategorien.37 Eher schon werden es zeit-liche Einschränkungen oder die mangelnde Motivation sein, entsprechenden intel-lektuellen Aufwand für eine ausführliche Stellungnahme aufzubringen, die die Gut-achtenden darauf verzichten lassen, bei einem zur Veröffentlichung empfohlenenManuskript noch Überarbeitungsanregungen zu formulieren. Doch nicht alle Kom-mentare und Anmerkungen zur Überarbeitung sind für den weiteren Umgang mitdem Manuskript gleich hilfreich. Wenn Überarbeitungshinweise oder gar -auflagengegeben werden, sollten sie immer mit konkreten Textbezügen versehen sein. »DieArgumentation muss stringenter dargestellt werden«, »das Ergebnis bleibt unver-ständlich und sollte besser an die Fragestellung rückgebunden werden«, »wichtigeLiteratur wurde nicht berücksichtigt« und ähnliche Kritikpunkte mögen die Eindrü-cke eines Gutachtenden widerspiegeln, sind aber nur von geringem Nutzen, sowohlfür die AutorInnen als auch für die HerausgeberInnen und eine Zeitschriften-Redak-tion. Letzteren fehlen die konkreten Anhaltspunkte, anhand derer sich eine Verbes-serung des Manuskripts bei der Überarbeitung identifizieren ließe, sowie einetragfähige, substanzielle Grundlage, auf der sich die Kommunikation mit den Autor-Innen zur Umsetzung der Überarbeitungshinweise gestalten lässt. Und AutorInnenbleiben mit solchen Überarbeitungshinweisen zumeist rat- und hilflos zurück, sindsie doch in aller Regel insgesamt mit ihrem Manuskript zufriedener als die Gutach-tenden, während sie sich aber in Einzelfragen gerne darauf hinweisen lassen, dassetwas missverständlich, unpräzise oder zu ausführlich beschrieben wird, an eineranderen Stelle die argumentative Verknüpfung geklärt, ein bestimmter Aufsatz nochberücksichtigt oder noch ein Beispiel eingefügt werden sollte. In vielen Fällen istauch die Formulierung von Fragen, die den Gutachtenden wichtig sind, aus ihrerSicht im vorliegenden Text aber bisher unbeantwortet bleiben, hilfreich für denÜberarbeitungsprozess, denn dadurch können AutorInnen sehr gut die Lückenerkennen, die sie in der sprachlichen Darstellung ihrer Argumentation bisher gelas-sen haben. Möglicherweise können Gutachtende an verschiedenen Stellen sogarÜberarbeitungsvorschläge entwickeln und bezogen auf zentrale Stellen der Argu-

37 Wenn die Veröffentlichung eines Manuskripts empfohlen wird, geschieht dies in 76%der Fälle anhand der Kategorie »Mit Veröffentlichungszusage zur Überarbeitungzurückgeben!« Insgesamt wurde diese Kategorie bei 31,4% der Gutachten gewählt, 10%plädierten für »drucken wie vorgelegt!«, 23,2% für »ablehnen!« und 35,4% für »reviseand resubmit«.

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mentation darstellen, wie sie das Manuskript verbessern würden. Dies aber setzt vor-aus, dass sich die Gutachtenden auf die behandelte Fragestellung und die Bearbei-tungsstrategie der Autorin bzw. des Autors einlassen und Empathie für die ihnenunbekannten AutorInnen entwickeln.38

(4) Die besten Gutachten sind jene, denen der Wunsch zugrunde liegt, dass zu derFragestellung, die das zu begutachtende Manuskript aufgeworfen hat, ein möglichstguter, überzeugender Aufsatz erscheint. Auch dies setzt voraus, dass die Gutachten-den sich die jeweilige Problemstellung der AutorInnen zu eigen machen und sichzugleich – weitgehend – auf deren Bearbeitungsstrategie einlassen. Dies ist nichtnur bei Manuskripten, für die eine grundlegende Überarbeitung und anschließendeWiedereinreichung empfohlen wird, nicht einfach, sondern auch bei einer Publikati-onszusage mit Überarbeitungshinweisen. Zu viele individuelle Motive der Gutach-tenden können diesem inhaltlichen Einlassen, dieser empathischen Lektüre und derFormulierung konstruktiver Verbesserungsvorschläge in einem motivierenden Stilentgegenstehen, sei es der Zeitmangel, die ausbleibende »Belohnung« für solcheArbeit oder mögliche Konkurrenzgefühle gegenüber den unbekannten AutorInnen.Nichtsdestotrotz sollte das inhaltliche Einlassen auf die Fragestellung des Manu-skripts und nicht die Projektion eigener Forschungsprobleme in das Manuskript einewichtige Orientierungsmarke und selbstkritische Prüffrage beim Fertigstellen vonGutachten sein.

(5) Ein letztes Kennzeichen qualitativ hochstehender Gutachten betrifft die Form,die insbesondere für den Umgang der AutorInnen mit den Gutachten von großerBedeutung ist. Unabhängig davon, ob Überarbeitungshinweise mit einer Publikati-onszusage oder der Empfehlung zur Wiedereinreichung verknüpft sind, können siemotivierend wirken oder eine ablehnende Haltung bei den AutorInnen hervorrufen.Setzt ein Gutachten gleich im ersten Satz mit Kritik ein, wird manche Autorin odermancher Autor den Hinweisen weniger gern und motiviert folgen wollen, als wennzunächst die Inhalte des Manuskripts gewürdigt werden. Die einleitende Rekons-truktion der Argumentation, wie sie oben (1) vorgeschlagen wurde, erzwingt gewis-sermaßen diese Form, dass Kritik, die den Überarbeitungsvorschlägen zugrundeliegt, an zweiter Stelle vorgebracht wird. Und ob sie eher als destruktive Kritik amgesamten Manuskript oder als konkrete Verbesserungsvorschläge bestimmter Text-abschnitte in einer zurückhaltenden, aber motivierenden Sprache formuliert werden,macht einen großen Unterschied. Auch in diesem Aspekt werden sich selbstkritischeGutachtende vor der Abgabe des Gutachtens noch fragen, welche verstecktenMotive sie möglicherweise dazu verleitet haben könnten, eher konfrontative, provo-kative als empathisch-wohlwollende Formulierungen benutzt zu haben oder warumein Gutachten allzu knapp ausgefallen ist. Ist es die Sorge, dass andere von den eige-

38 Neben allerhand Kritik an der Begutachtung ihrer Texte überwog in meiner Kommuni-kation mit den AutorInnen der ZIB doch die Anerkennung und der Dank für die zahllo-sen gutachterlichen Hinweise zur Verbesserung der publizierten Beiträge. »So intensivhat sich noch nie jemand mit meiner Arbeit auseinandergesetzt« mag als beispielhafteRückmeldung diese Wahrnehmung des Peer Review-Verfahrens auf AutorInnen-Seiteveranschaulichen.

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nen Ideen, Überlegungen und Vorschlägen profitieren könnten? Im Extremfall kön-nen Gutachtende auf einem solchen Wege zu »latenten KoautorInnen« werden(Hirschauer 2004: 67), was einen weiteren Schwachpunkt der Anonymität im PeerReview-Verfahren darstellt. Doch in den meisten Fällen wird auch ein sehr ausführ-liches und motivierendes Gutachten nicht zu einem grundlegend veränderten, abermöglicherweise doch zu einem substanziell verbesserten Aufsatz führen (vgl. aberFrey 2003). Dies ist, neben fundierteren Entscheidungen über die (Nicht-)Publika-tion von Zeitschriftenaufsätzen, ein wesentliches Ziel des Peer Review-Verfahrens,dem durch ausführliche und eine die Überarbeitung motivierende Form der Gutach-ten entsprochen wird.

4.3. Die Qualität der ZIB-Gutachten

Die Fähigkeit, Texte zu beurteilen, entwickelt sich mit der Menge des Gelesenen,vielleicht schon in der Schule, hoffentlich während des Studiums. Sie wird bedeut-samer, je breiter die bearbeiteten Fragestellungen und damit die Mengen an ein-schlägiger Literatur werden, denn das zu Lesende muss vom Unlesbarenunterschieden werden. Doch Texte zu begutachten, einen eigenen Text zu der Fragezu verfassen, warum ein Manuskript (nicht, noch nicht) publiziert werden soll undwie es noch verbessert werden könnte, wird an keiner Stelle politikwissenschaftli-cher Ausbildungen gelehrt oder gar geübt.

»Da im Grunde niemand angeben kann, was einen guten Antrag oder was ein gutes Gut-achten ausmacht und die Rückmeldungen auf entsprechende Versuche eher dürftig(meist nur ›ja‹ oder ›nein‹) sind, bleibt nur ›trial and error‹ die Auswertung des Kolle-genklatschs und abergläubisches Lernen (das heißt, man kopiert sich im Zweifelsfallselbst). Obwohl Idiosynkrasien blühen, driften Gutachter mit der Zeit in eine bestimmteRichtung, entwickelt und reproduziert sich auf rätselhafte Weise eine identifizierbareGutachtenkultur« (Wolff 2000: 37).

Um für die Kultur des Peer Review-Verfahrens und die Verbesserung innerdiszip-linärer Kommunikation einige Orientierungspunkte zu entwickeln, wurden hier ausden Funktionen des Verfahrens sowie aus den Erfahrungen der Kommunikations-und Vermittlungsarbeit zwischen Gutachtenden und AutorInnen fünf Kriterienabgeleitet, die ein qualitativ hochwertiges Gutachten kennzeichnen:(1) die einleitende Rekonstruktion der Argumentation;(2) Aussagen zur Relevanz der Fragestellung;(3) konkrete Überarbeitungshinweise;(4) das inhaltliche Einlassen auf die Zielsetzung des Manuskripts;(5) ein angemessener Umfang und ein motivierender Stil.

Dies mag manchen als zu hoher Maßstab erscheinen angesichts der Tatsache, dasssolche Gutachten für Zeitschriften eine unentgeltliche Service-Leistung darstellen,für die man viele Stunden seiner ständig zu knappen Zeit opfern muss, ohne einensichtbaren Gewinn zu erzielen. Doch die Analyse aller in den ersten acht Jahren fürdie ZIB geschriebenen Gutachten zeigt, dass 12% diese Ansprüche durchaus erfüllenund als sehr gute Gutachten bewertet werden konnten. Bei dieser Begutachtung derGutachten wurde so vorgegangen, dass alle fünf Kriterien gleichgewichtig bewertetwurden. Wenn alle fünf Elemente eines qualitativ hochwertigen Gutachtens in einem

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gutachterlichen Text vorhanden waren, galt er als sehr gut. Fehlte eines der fünf Ele-mente, galt er noch als gut; konnte ein Gutachten nur einem oder gar keinem der fünfKriterien entsprechen, wurde es als mangelhaft bewertet. Nach dieser Einteilunglagen die meisten Gutachten im qualitativen Mittelfeld (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Geschlecht der Gutachtenden und Qualität ihrer Gutachten

Die bisherige Qualität der Gutachten im ZIB-Review-Verfahren lässt also durch-aus Spielraum für Verbesserungen und die damit verbundene Aufwertung der Zeit-schrift, ihres Renommees und der von ihr initiierten wissenschaftlichen Kommuni-kation. Fragt man nach Zusammenhängen zwischen Merkmalen von Gutachtendenund ihrer Gutachten-Qualität, ergeben sich konkretisierte Handlungsfelder für eineveränderte Ausgestaltung des Peer Review-Verfahrens (siehe unten Abschnitt 5).Prüft man die möglichen Zusammenhänge zwischen der Qualität von Gutachten unddem Geschlecht der Gutachtenden, ergibt sich ein erstes interessantes Ergebnis:Obwohl nur 12,4% der Gutachten von Frauen verfasst wurden und daher der Ver-gleich auf einer relativ schmalen Basis vorgenommen werden muss, fällt doch auf,dass Gutachterinnen zur Menge der sehr guten, guten und befriedigenden Gutachtenrelativ mehr beigetragen haben als Gutachter, deren Anteile bei den ausreichend undmangelhaft bewerteten Gutachten leicht überproportional sind.

Dies könnte allerdings auch – angesichts nur weniger Professorinnen und weibli-cher Habilitierter im ZIB-Review-Panel (siehe Schaubild 3) – ein Effekt eines ande-ren statistischen Zusammenhangs sein: jenes zwischen der Qualität von Gutachtenund dem (formalen) Qualifikationsniveau der Gutachtenden. Hier zeigt sich einerecht starke negative Beziehung: Mit steigendem Qualifikationsniveau sinkt dieQualität der Gutachten und umgekehrt; die Qualität der Gutachten niedriger qualifi-zierter Gutachtender ist im Vergleich besser als die der höher Qualifizierten.39 Ganzeindrücklich lässt sich dies anhand des in Abbildung 3 dargestellten Mittelwertever-

Qualität des Gutachtens

Gesamtzahl so bewerteter Gutachten

verfasst vonGutachtern

verfasst von Gutachterinnen

sehr gut 54 (11,8%) 46 (11,6%) 8 (14,3%)

gut 106 (23,5%) 89 (22,5%) 17 (30,4%)

befriedigend 125 (27,7%) 107 (27,0%) 18 (32,1%)

ausreichend 97 (21,5%) 88 (22,2%) 9 (16,1%)

mangelhaft 70 (15,5%) 66 (16,7%) 4 (7,1%)

Gesamt 452(100%)

396(87,6% aller Gutachten)

56(12,4% aller Gutachten)

39 Statistisch ausgedrückt handelt es sich um einen positiven Rangkorrelationskoeffizientvon 0,387 zwischen Qualifikationsniveau und Qualität/Benotung des Gutachtens (1-5).Dieses Ergebnis ist zudem hoch signifikant (p = 0,00).

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gleichs der Qualität der Gutachten, differenziert nach erreichter Qualifikation undGeschlecht der Gutachtenden, veranschaulichen:

Abbildung 3: Gutachtende und die Qualität ihrer Gutachten

Bei den unpromovierten Gutachtenden handelt es sich ausnahmslos um Personen,die zuvor schon als AutorInnen das ZIB-Review-Verfahren erfolgreich durchlaufenhatten40 und ihre Gutachten folglich vor dem Hintergrund verfasst haben, jüngstselbst Adressat von Gutachten aus dem Peer Review-Verfahren gewesen zu sein.Mit der Einbeziehung von ZIB-AutorInnen und jüngeren KollegInnen in das PeerReview-Verfahren steigt dessen Qualität (vgl. auch Hellmann/Müller 2003b: 379),ohne dass zu befürchten wäre, DoktorandInnen und Promovierte würden spürbargroßzügiger mit der Zuteilung von Veröffentlichungszusagen umgehen.41 Weder derMittelwert ihrer Begutachtungsvoten unterscheidet sich deutlich von dem der Pro-fessorInnen und Habilitierten,42 noch beim Vergleich der Bewertungen derselbenManuskripte zeigen sich auffällige Unterschiede zwischen den unterschiedlich qua-lifizierten Gutachtenden (siehe Abschnitt 3).

Das Peer Review-Verfahren der ZIB ist also vom wissenschaftlichen Nachwuchsbesser an- und aufgenommen worden als von den ProfessorInnen. Diese publizierenseltener in der ZIB, verglichen etwa mit dem ProfessorInnen-Anteil unter den PVS-AutorInnen,43 und leisten bescheidenere Beiträge zur Anerkennung des Peer

Qualifikation und Geschlecht der Gutachtenden

Mittelwert der Qualität der Gutachten

N Mittelwert der Qualität der Gutachten (N)

unpromovierte Frau unpromovierter Mann

1,671,33

36

1,44 (9)

promovierte Fraupromovierter Mann

2,332,43

2499

2,41 (123)

habilitierte Frauhabilitierter Mann

3,502,88

252

2,91 (54)

ProfessorinProfessor

3,113,46

27239

3,43 (266)

Insgesamt 3,05 452 3,05 (452)

40 Die Qualifikationsvoraussetzung zur Mitwirkung im Review-Panel der ZIB ist die Pro-motion oder, schon im ZIB-Review-Verfahren erfolgreich gewesen und damit AutorIneines ZIB-Beitrags zu sein.

41 In verschiedenen Studien wurde eine schärfere Beurteilung durch weniger reputierteGutachtende festgestellt (Hirschauer 2004: 66; vgl. auch Russett 1978).

42 Unpromovierte 2,33 (n = 9, Standardabweichung 0,500); Promovierte 2,82; Habilitierte2,74; ProfessorInnen 2,68.

43 Für die letzten zehn Jahrgänge (1994–2003) betrug der ProfessorInnen-Anteil unter denAutorInnen bei der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) 31,8%, bei der ZIB 24,0%.Berücksichtigt man dabei nur Aufsätze, ergibt sich für die PVS ein Wert von 23,5%, beider ZIB von 19,7%.

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Review-Verfahrens. Man könnte hoffen, dass die dargestellten Zusammenhängestärker auf die Generationszugehörigkeit zurückzuführen sind als auf den Statusinnerhalb des Wissenschaftssystems. Dass sich die Gutachten von Habilitierten inihrer Qualität negativ von denen der Promovierten absetzen (siehe Abbildung 3),lässt allerdings daran zweifeln und die Notwendigkeit entstehen, Initiativen zuergreifen für eine höhere Anerkennung der im Peer Review-Verfahren geleistetenwissenschaftlichen Arbeit und für die Qualitätssteigerung der Gutachten, insbeson-dere jener aus den Federn der ProfessorInnen.

5. Perspektiven des Peer Review-Verfahrens

Die Gründung der Zeitschrift für Internationale Beziehungen, deren Herausgeberihre Publikationsentscheidungen von Anfang an auf der Grundlage von Gutachtenaus einem doppelt anonymen Peer Review-Verfahren getroffen haben, hat eine deut-liche Zunahme externer Begutachtungen von Zeitschriftenmanuskripten in der deut-schen Politikwissenschaft mit sich gebracht. Eine große Zahl von Gutachten ist indiesem Zusammenhang in den vergangenen zehn Jahren geschrieben, AutorInnenum Überarbeitungen gebeten und Manuskripte abgelehnt oder veröffentlicht wor-den. Viel Arbeit und Zeit ist von einem Teil der politikwissenschaftlichen commu-nity dafür aufgebracht worden, den so genannten begutachteten Zeitschriften zuerhöhtem Renommee, den darin publizierenden AutorInnen zu besonderer Anerken-nung und zugleich zu kompetenten Hilfestellungen für die Verbesserung ihrerManuskripte zu verhelfen. Diese kollektive Investition in die Peer Review-Verfah-ren von Zeitschriften leistet aber nicht nur einen Beitrag zur Verlässlichkeit der wis-senschaftlichen Kommunikation, sondern auch zum gesellschaftlichen Vertrauen indie Verlässlichkeit der Wissenschaft (vgl. Weingart 2001: 286f).44 Beides wirktheute bedroht angesichts aufgedeckter schwerwiegender Betrugsfälle in der Wissen-schaft – trotz der Peer Review-Verfahren – und der verschwindenden Grenzen zwi-schen Wissenschaft und Gesellschaft (vgl. Nowotny et al. 2004; Weingart 2001,2004). Die Anforderungen an das Peer Review-Verfahren wachsen. Es gilt, nichtnur die möglichen Auswirkungen der offensichtlichen Schwächen dieses Verfahrensim Auge zu behalten (vgl. Hirschauer 2004), sondern auch auf dem Hintergrundvorliegender Erfahrungen neue Instrumente und Kommunikationsmöglichkeiten zuerproben (vgl. Harnad 2000). Dabei können an dieser Stelle keine Abwägungen vonChancen und Risiken solcher veränderter Verfahren vorgenommen werden, dieweitgehend auf Spekulationen beruhen würden. Entsprechende Entscheidungenüber die Ausgestaltung zukünftiger Peer Review-Verfahren und des damit steigen-den oder sinkenden Renommees ihrer Zeitschriften müssen die entsprechenden Her-

44 Dabei dürfen jedoch die von Hirschauer (2004) erwähnten problematischen Effektenicht übersehen werden, die dann zustande kommen, wenn die Wissenschaftsforschung»ein Fremdstereotyp von Wissenschaft – dass diese sicheres und objektives Wissengeneriere – in ihre Selbstbeschreibung« übernimmt und damit »die Erwartungen (undHoffnungen) der Politik [bestätigt], dass Wissenschaft politikferner sei als sie es tatsäch-lich ist« (Hirschauer 2004: 80).

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ausgeberInnen und Beiräte treffen. Und die Überprüfung der erhofften oderbefürchteten Effekte bleibt dann einer zukünftigen Peer Review-Forschung überlas-sen, deren Augenmerk sich wohl noch stärker auf die Kommunikationsprozesseanstatt auf deren statische Ergebnisse in Form gedruckter Aufsätze richten wird(vgl. Hirschauer 2004: Kap. 3.4).

Wenn in diesen Kommunikationsprozessen der größte wissenschaftliche Wertvon Peer Review-Verfahren liegt, geht es vornehmlich darum, die Qualität der Textein diesem Prozess – und das sind an zentraler Stelle die Gutachten – zu verbessern.45

Dabei ist es zunächst erforderlich, die Motivlagen der Gutachtenden für engagierteund qualitativ hochstehende Gutachten zu verbessern und mehr Transparenz undÖffentlichkeit für jene Kommunikationsprozesse herzustellen, die sich im Rahmenvon Peer Review-Verfahren abspielen. Drei Problemfelder drängen sich damit auf,in denen Veränderungen und Ergänzungen der bisher praktizierten Verfahren ver-sucht werden könnten, um Peer Review-Verfahren weiterzuentwickeln:46 Die Quali-tät der Gutachten sollte nicht in jenem Maße variieren, wie es hier festgestelltwurde; die Anonymität der Gutachtenden ist nicht immer gleich bedeutsam undkönnte in eng begrenztem Maße aufgehoben werden; nicht-publizierte Manuskripteund ihre Gutachten verschwinden, ohne greifbare Spuren zu hinterlassen. Geradedie Kombination papierlicher und elektronischer Publizität wissenschaftlicher Textekönnte es ermöglichen, dem Peer Review-Verfahren neue Perspektiven für eine stär-ker auf Kommunikationsprozesse vertrauende Selbstkontrolle der Wissenschaft zueröffnen:(1) Qualität von Gutachten– Die Gutachtenden sollten möglichst ausführlich über das Review-Verfahren, an

dem sie beteiligt waren, informiert werden, und in diesem Zusammenhang dieanderen Gutachten und die HerausgeberInnen-Entscheidungen zur Kenntnisbekommen (vgl. dazu Heintz et al. 2004: 3), um Stellenwert und Wirkung ihrerBegutachtung realistisch einschätzen und bewerten zu können.47

– HerausgeberInnen sollten sich zur Qualitätskontrolle von Gutachten verpflich-ten, die Maßstäbe für qualitativ hochstehende Gutachten transparent machen undden VerfasserInnen mangelhafter Gutachten zurückmelden, dass ihr Votumwegen Qualitätsmängeln des Gutachtens nicht berücksichtigt werden konnte.

– Die VerfasserInnen sehr guter Gutachten können beim obligatorischen Dank analle GutachterInnen des zurückliegenden Jahrgangs gesondert erwähnt werden,

45 Schon allein der Gesamtumfang gutachterlicher Texte ist erheblich und umfasst für diehier untersuchten 452 Gutachten knapp 800 Seiten. Damit ca. 3000 Seiten ZIB-Beiträgeveröffentlicht werden konnten, mussten zunächst fast 800 Seiten Gutachten geschriebenwerden!

46 Zu verschiedenen Reformvorschlägen für das Peer Review-Verfahren vgl. Berger et al.(1997); Meier (1997); Harnad (2000); Ernst/Warwas (2003); Frey (2003); Fröhlich(2003) und Hellmann/Müller (2003b).

47 Bei der ZIB wird den Gutachtenden mit dem Dank für ihre Beteiligung am Peer Review-Verfahren zu einem Manuskript das Gesamtergebnis der Begutachtung sowie die Votender anderen Gutachtenden mitgeteilt.

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392

so dass eine solche Auszeichnung mittelfristig auch ein Element besonderenwissenschaftlichen Qualifikationsnachweises werden könnte.

(2) Anonymität der GutachtendenBei Manuskripten, die im Peer Review-Verfahren nicht zur Veröffentlichung ange-nommen werden, bleibt die Anonymität der Gutachtenden ein wesentliches Merk-mal substanzieller und kritischer Begutachtung. Werden Manuskripte jedochpubliziert, ist die anhaltende Anonymität der Gutachtenden weit weniger bedeutsamund könnte gelockert werden:– Gutachtende könnten prinzipiell gefragt werden, ob sie im Falle einer insgesamt

positiven Begutachtung und der anstehenden Veröffentlichung eines Manu-skripts bereit sind, dann auf ihre Anonymität zu verzichten. Damit könnten dieentsprechenden Gutachten mit der Publikation der Beiträge öffentlich zugäng-lich gemacht werden, was auch den Kommunikationsprozess zwischen denAutorInnen und ihren GutachterInnen befruchten könnte sowie zusätzlicheAnreize zur Qualitätssteigerung der Gutachten bereitstellte.

– Bei Zustimmung ihrer VerfasserInnen könnten Gutachten auf der Homepageeiner Zeitschrift veröffentlicht werden, um für entsprechende inhaltliche Bezug-nahmen und Kontroversen mit den AutorInnen auch zitierfähig zu sein.

– Zugleich würde ermöglicht, dass sich der mit dem Gutachten begonnene Kom-munikationsprozess fortsetzt und AutorInnen, die von einem hilfreichen Gutach-ten für die Endfassung ihres Beitrags sehr profitiert haben, sich auch namentlichbei den Gutachtenden bedanken könnten.

– Sowohl im Hinblick auf die Steigerung des Qualitätsniveaus von Gutachten alsauch für individuelle Leistungsprofile könnten transparente Nachweise erbrachtwerden für besonders qualifizierte Gutachtenden-Tätigkeiten.

(3) Das Verschwinden nicht-publizierter Manuskripte und der dazu erstelltenGutachten

Resultiert aus einem Review-Verfahren aufgrund seiner oben beschriebenen Kontin-genzen die Nicht-Veröffentlichung eines Manuskripts, bleibt es der – zugegebener-maßen manchmal recht zwiespältige – exklusive Gewinn von HerausgeberInnen undausgewählten Gutachtenden, sich damit auseinandersetzen zu können. Bevor Manu-skripte, die zur Überarbeitung und Wiedereinreichung zurückgegeben werden, aufewig verschwinden, samt der zu ihren Stärken und Schwächen erstellten Gutachten,48

weil der Überarbeitung unüberwindliche Hindernisse entgegenstanden, könnten siebei Interesse der AutorInnen und Zustimmung der Gutachtenden über die Homepageeiner Zeitschrift zugänglich gemacht werden. Dies diente nicht nur einer vergrö-ßerten Transparenz des Peer Review-Verfahrens, sondern auch der Möglichkeit, dassgutachterliche Kommunikationsangebote, statt allein von AutorInnen angenommenoder abgelehnt zu werden, von vielen genutzt werden könnten.

48 Die Argumente für die Veröffentlichung abgelehnter Forschungsanträge finden sich beiBöhme (2000).

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395Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 395-418

Volker Rittberger/Fariborz Zelli

Die Internationalisierung der Lehre an deutschen UniversitätenAnforderungen an die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen

Der Beitrag knüpft an die aktuelle Debatte über Veränderungen des deutschen Hoch-schulwesens an, indem er den wachsenden Reformdruck in den Kontext des fortschrei-tenden Internationalisierungsprozesses der universitären Lehre stellt. War die Zeit vor1945 von einem Wechsel zwischen Internationalisierung und Re-Nationalisierunggeprägt, so offenbaren wesentliche Indikatoren – wie der wachsende akademischeAustausch und die zunehmende Einrichtung internationaler Studiengänge – für dieletzten Jahrzehnte einen deutlichen Trend zu formeller und substanzieller Internatio-nalisierung. Diese Entwicklung stellt auch die deutsche Politikwissenschaft sowie ihreTeildisziplin Internationale Beziehungen vor die doppelte Herausforderung einer Ver-besserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit des Standorts und seiner Studie-renden. Die diesbezüglichen Vorschläge der Autoren sind zweigleisig: Einerseits wirdanhand eigener Erfahrungen dargestellt, wie im Rahmen der gegenwärtig verfügba-ren Ressourcen eine innovative Lehrveranstaltung im Fach Internationale Beziehun-gen aussehen kann; andererseits werden Anregungen zum Ausbau dieser Ressourcengegeben, darunter die Schließung von Kapazitätslücken im Betreuungsbereich und dieEinrichtung von interdisziplinären Zentren für Internationale und Globale Studien.

1. Einleitung1

Die jüngste Debatte über die Einrichtung von Elite-Universitäten in Deutschlandzeigt, dass nun auch in der Hochschulpolitik allmählich Einsichten zu den durch dieGlobalisierung gebotenen Notwendigkeiten gereift sind, die in anderen Politikfel-dern wie der Arbeitsmarkt- oder Gesundheitspolitik bereits tief greifende Reform-vorhaben gezeitigt haben. Denn wie der Globalisierungsprozess im Allgemeinen soist auch der Internationalisierungsprozess im Hochschulwesen eine unabwendbareHerausforderung, der rechtzeitig mit klugen institutionellen und substanziellen Wei-chenstellungen begegnet werden muss, soll die Konkurrenzfähigkeit und Effektivi-tät des deutschen Standorts über den Tag hinaus gesichert werden. Zu der aus dieserErkenntnis erwachsenen Diskussion möchten wir – insbesondere aus der Perspek-tive der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen, dieselbst ein Produkt dieser Internationalisierung ist – beitragen, indem wir die Aufga-

1 Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, den die Autoren am 2. Februar 2004 anlässlichder Verleihung des baden-württembergischen Landeslehrpreises 2003 an der UniversitätTübingen gehalten haben. Die Verfasser sind Herrn Matthias Staisch, M.A., für seineMithilfe bei der Vorbereitung dieses Vortrags zu Dank verpflichtet.

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ben und Probleme der Lehre an deutschen Universitäten vor dem Hintergrund fort-schreitender Globalisierung skizzieren und Vorschläge für einen effektiverenUmgang mit diesem Prozess formulieren. Auch wenn Anleihen beim angelsächsi-schen Bildungssystem die gegenwärtige Diskussion bestimmen und auch in unserenAusführungen eine wesentliche Rolle spielen werden, so wollen wir doch versu-chen, der spezifischen Situation, wie sie sich hierzulande in Folge des bisherigenInternationalisierungsprozesses ergeben hat, bei unseren Vorschlägen gerecht zuwerden.

Zunächst soll daher der Prozess der Internationalisierung der Lehre in Deutsch-land bis zu seinem heutigen Stand rekapituliert werden. Nach einem kurzen Blickauf die Situation an deutschen Hochschulen vor 1945 (Abschnitt 2) folgt ein Abrissder Entwicklung seit Gründung der Bundesrepublik, sowohl im Hinblick auf dieWissenschaftsdisziplinen im Allgemeinen (3.1) als auch auf die Sozial- und Politik-wissenschaften im Besonderen (3.2). Hierbei wird zwischen zwei Dimensionen vonInternationalisierung zu unterscheiden sein: der formellen Internationalisierungeinerseits, welche sich unter anderem im Rahmen der Einführung international aner-kannter Abschlüsse und eines Leistungspunktesystems sowie durch das Angebotfremd- und insbesondere englischsprachiger Lehrveranstaltungen vollzieht, und dersubstanziellen Internationalisierung andererseits, d. h. der Zunahme internationalerThemenstellungen in der Lehre, wie sie sich unter anderem in der Entstehung undEntwicklung der Lehre der Internationalen Beziehungen paradigmatisch offenbart.Aufbauend auf dieser historisch-deskriptiven Bestandsaufnahme werden wir einigezentrale Anforderungen an die politikwissenschaftliche Lehre in Deutschlandbenennen, die sich aus dem Prozess der Internationalisierung ergeben haben (4.1).Diese Anforderungen betreffen in zweierlei Hinsicht den Aspekt der Konkurrenzfä-higkeit. Zum einen muss der Wissenschaftsstandort Deutschland seine Position imglobalen Wettbewerb behaupten und weiter ausbauen können; zum anderen müssendie Chancen unserer Studierenden auf den internationalen Arbeitsmärkten gewahrtund verbessert werden. Als Beispiel für einen unseres Erachtens gelungenenUmgang mit diesen Anforderungen an die Teildisziplin der Internationalen Bezie-hungen werden wir ausführlich auf eigene Erfahrungen – insbesondere mit einerLehrveranstaltung zum System der Vereinten Nationen (VN) – am Tübinger Institutfür Politikwissenschaft eingehen, welche andernorts für die Lehre nutzbar gemachtwerden könnten (4.2). Während diese – einen zentralen Platz in unseren Ausführun-gen einnehmende – Darstellung unserer Lehrveranstaltung einen Weg weist, wie mitden gegenwärtig vorhandenen Mitteln den skizzierten Herausforderungen begegnetwerden kann, so wollen wir abschließend auch Anregungen für nachhaltige instituti-onelle Innovationen geben (5). Durch diese Schritte könnte das deutsche Hochschul-wesen dem genannten doppelten Ziel – Verbesserung der internationalen Kon-kurrenzfähigkeit des Standorts und seiner Studierenden – deutlich näher kommen,indem die hierzulande zur Verfügung stehenden Ressourcen ausgebaut und effekti-ver genutzt werden.

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Volker Rittberger/Fariborz Zelli: Die Internationalisierung der Lehre an deutschen Universitäten

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2. Internationalität und Nationalismus an Universitäten bis 1945

Die Tatsache, dass die verstärkte internationale Ausrichtung deutscher Hochschulengerade in den letzten Jahren von einer intensiven Diskussion begleitet wurde (Wis-senschaftsrat 2000: 29), sollte uns nicht vergessen lassen, dass die Durchlässigkeitgeographischer Grenzen gerade im Hochschulwesen eine viel längere Tradition hat.Die ersten europäischen Universitäten (wie die von Bologna und Paris), welche im12. und 13. Jahrhundert gegründet wurden, zeichneten sich noch durch das Fehleneiner starken Ortsgebundenheit und durch ihre Besitzlosigkeit aus. Oft wechselte dieHochschule schon bei kleinsten Konflikten mit weltlichen oder kirchlichen Amtsträ-gern den Standort.2 Auch Gelehrte und Studierende wiesen in dieser Zeit – als fah-rende Scholaren – ein hohes Maß an Mobilität auf, zumindest sofern die wirtschaftli-chen Verhältnisse es zuließen. Hilfreich war hierfür ein bereits im ausgehenden Mit-telalter existierendes Stipendien- und Studienförderwesen. Zum Teil wurdenScholaren die Studien- oder Prüfungsgebühren erlassen, weil sie einflussreicheFürsprecher und Förderer hatten oder weil die Universität es als eine besondere Ehreempfand, gerade diesen Scholar in ihre Reihen aufzunehmen. So ist für die Zeit des12. und 13. Jahrhunderts an den Universitäten in Italien, Frankreich und auf der Iberi-schen Halbinsel eine beachtliche Zahl von deutschen Gelehrten nachweisbar.3 DerInternationalisierungsgrad der Studierendenschaft der Universitäten war so hoch,dass mitgliederstarke landsmannschaftliche Zusammenschlüsse, so genannte nationes,gegründet wurden, die den Universitäten unter anderem zu Verwaltungszweckendienten.4 Freilich war dieser Zustand, der den Beginn der Universitätsgeschichteprägte, nicht von Dauer. Das Große Schisma der lateinischen Christenheit (1378 bis1417) erzwang die Nationalisierung des bis zu diesem Zeitpunkt transnationalen Bil-dungswesens. Deutsche Studenten mussten unter anderem Paris verlassen, was denAnstoß zu den ersten Universitätsgründungen in Deutschland gab (Heidelberg 1385,Köln 1388, Erfurt 1392).5 So offenbarte sich schon in der Anfangszeit der Universi-täten eine Dynamik von Offenheit und Internationalisierung einerseits und Veren-gung durch nationalistische Gegenbewegungen bis hin zu ihrer Vereinnahmung fürZwecke der nationalistisch exklusiven kollektiven Identitätsstiftung andererseits.

2 Vgl. dazu Denifle (1885). Das erste eigene Haus erhielt die Universität von Paris erst1257 durch ein Geschenk des Canonicus Robert de Sorbon (vgl. Irrgang 2003).

3 Ebenfalls zu beobachten waren Protestabwanderungen ganzer Gelehrtengruppen, diedamit ihrem Unmut über Strukturen und Fehlentwicklungen an ihren Universitäten Aus-druck verliehen. Ebenso führten grassierende Pestwellen immer wieder zum Exodusganzer Gruppen (Denifle 1885).

4 In Paris gab es deren vier: Gallier, Normannen, Picarden und Engländer; in Italien gab eszwei nationes: ultramontani und citramontani; an der Prager Universität wurden vierNationen unterschieden: Böhmen, Bayern, Polen und Sachsen (Kibre 1948: 28; Schu-mann 1975: 60-71).

5 Auch in Prag führte die Diskriminierung in Folge des Schismas zum Exodus der nicht-böhmischen Studierenden. Nach vergeblichem Widerstand gegen das neue Abstim-mungssystem verließen die Bayern, Polen und Sachsen Prag und gründeten 1409 dieUniversität Leipzig (Flaschendräger 1981).

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Ein weiteres Beispiel für diese Ambivalenz in der Universitätsgeschichte ist dieZeit des Vormärz und hier insbesondere die Haltung der deutschen Burschenschaf-ten. Einerseits trugen sie durch die Rezeption und offensive Vertretung der Ideender französischen Juli-Revolution des Jahres 1830 oder auch durch ihre Solidarisie-rung mit dem polnischen Volksaufstand (1830/1831) zur Verbreitung liberalen unddemokratischen Gedankengutes bei. Andererseits wurde das parallel hierzu erstar-kende Eintreten für die nationale Einheit – symbolisiert durch die schwarz-rot-gol-denen Farben der im Juni 1815 gegründeten Jenaer »Urburschenschaft«6 – frühübersteigert in einen Nationalismus, der Nicht-Deutschen oder Nicht-Christen dieMitgliedschaft verwehrte.7

Den heute noch erschreckenden Höhepunkt dieser nationalistischen Verengung andeutschen Universitäten bildete schließlich die NS-Zeit. Bereits unmittelbar nachdem Machtantritt der Nationalsozialisten organisierte der Dachverband der Deut-schen Studentenschaft die Kampagne »Wider den undeutschen Geist«, in deren Ver-lauf von April bis Juni 1933 in 40 Universitätsstädten die Bücher-Scheiterhaufenbrannten. Die deutschen Studenten sollten sich – so Joseph Goebbels – von einem»überspitzten, jüdischen Intellektualismus« befreien.8 Ebenfalls noch im April 1933wurde das Gesetz zur »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erlassen, wel-ches bestimmte, »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, […] in den Ruhe-stand zu versetzen«. In der Folge wurden jüdische, aber auch liberale und demokra-tische Beamte aus der öffentlichen Verwaltung, aus Schulen und Universitätenentfernt und durch Nationalsozialisten oder deren Mitläufer ersetzt. Ebenso wurdenjüdische Studenten sukzessive von den deutschen Universitäten verdrängt.9 Auchdie universitären Austauschbeziehungen gerieten früh unter die Kontrolle der Natio-nalsozialisten: 1934 wurde der Geschäftsführer des Deutschen Akademischen Aus-

6 Die Farben selbst wurden von den Uniformen des 1813 gegründeten Lützowschen Frei-korps übernommen, dem sich viele Studenten unter dem Eindruck der napoleonischenBesatzung sowie patriotischer bis völkischer Schriften (z. B. von Ernst Moritz Arndt,Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Ludwig Jahn) angeschlossen hatten, um die regulä-ren Truppen zu unterstützen (Steiger 1991: 13-27).

7 Die Jenaer »Urburschenschaft« selbst sah zumindest noch die Aufnahme Nicht-Deut-scher vor – Nicht-Christen waren jedoch zeitweise ausgeschlossen. Obschon bei derBücherverbrennung auf dem Wartburgfest 1817 maßgeblich Werke (23 Titel) »denFlammen übergeben« wurden, die für die alte Ordnung und den Obrigkeitsstaat standen,wurden auch der Code Napoléon (Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, Abschaffungtraditioneller Privilegien) und die vor den Gefahren eines übersteigerten Deutschtumswarnende Broschüre »Germanomanie, Skizze zu einem Zeitgemälde« des deutsch-jüdischen Schriftstellers Saul Ascher mit den Worten »Wehe über die Juden, so da fest-halten an ihrem Judenthum und wollen über unser Volksthum und Deutschthum schmä-hen und spotten« (Schäfer 1997: 27) verbrannt.

8 Vgl. Berliner Tagesspiegel, 14.4.2003, in: http://www.hu-berlin.de/presse/tsp/ss03/bibliothek.html; 27.8.2004.

9 Bereits in den ersten Wochen nach dem nationalsozialistischen Machtantritt wurden 15prominente jüdische Professoren entlassen, unter ihnen Albert Einstein, und bis 1939 istbeinahe die Hälfte aller Stellen an den deutschen Hochschulen neu besetzt worden(Grüttner 1995: 212-227).

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tauschdienstes, Adolf Morsbach, verhaftet, nachdem bereits 1933 das Präsidium desDAAD von den Nationalsozialisten politisch gleichgeschaltet worden war.10

3. Die Internationalisierung der Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland

War das deutsche Universitätswesen vor 1945 durch den Exodus eines nicht gerin-gen Teils der kreativsten wissenschaftlichen Intelligenz nachhaltig geschwächt unddurch die Indienststellung für den geistig bornierten Nationalsozialismus zumindestteilweise deformiert worden, so zeichnen sich die bundesdeutschen Universitätender Nachkriegszeit – angestoßen durch das von den Alliierten vorgegebene Ziel derEntnazifizierung und Demokratisierung des deutschen Bildungswesens – durcheinen kontinuierlichen Prozess der Re-Internationalisierung aus. Die Internationali-sierung der Lehre ist im Wesentlichen an drei Indikatoren abzulesen: erstens amzunehmenden Austausch von Studierenden, zweitens am wachsenden Austauschvon Dozenten, und drittens – und dies ist eine neue Entwicklung – an der Einrich-tung internationaler Studiengänge.

3.1. Die Internationalisierung der Wissenschaftsdisziplinen im Allgemeinen

Ein wichtiger Beleg für die bereits in der jungen Bundesrepublik einsetzenden Inter-nationalisierungsbestrebungen ist die Neugründung des Deutschen AkademischenAustauschdienstes und der Alexander von Humboldt-Stiftung. Letztere wurde imJahre 1953 auf Anregung ehemaliger Humboldt-Stipendiaten mit dem Ziel wiedererrichtet, »[d]ie internationalen kulturpolitischen Beziehungen Deutschlands und dieLeistungs- und Innovationsfähigkeit der Wissenschaft in Deutschland durch Länder-und Fächergrenzen überschreitende Zusammenarbeit von Spitzenforscherinnen und-forschern zu stärken«.11 Das Resultat dieser Bemühungen ist heute ein Netzwerkvon 23.000 Humboldt-Gastwissenschaftlern aller Fachgebiete in 130 Ländern.

Der akademische Austausch selbst war bereits drei Jahre vor der Wiedererrich-tung der Alexander von Humboldt-Stiftung – und nur ein Jahr nach Gründung derBundesrepublik Deutschland – neu belebt worden: Auf Anregung von britischerSeite kam es am 5. August 1950 zur formellen Neugründung des DAAD. In derHauptsache ging es zunächst vor allem um die Bereitstellung von Devisen für aka-demische Auslandsaufenthalte, erste Stipendien für Ausländer zum Studium in derBundesrepublik, Auslandsstipendien für Deutsche und den Austausch von Prakti-kanten.12 Wurden vom DAAD im ersten Jahr noch 426 Studierende (darunter 196

10 Morsbach kehrte nach zweimonatiger Haft nicht mehr zum DAAD zurück; es folgten fürden DAAD immer stärkere Restriktionen durch staatliche Institutionen (vgl. http://www.daad.de/portrait/de/1.4.2.html; 27.8.2004).

11 Vgl. http://www.avh.de/de/stiftung/leitprinzipien.htm; 27.8.2004.12 Bereits ein Jahr später, 1951, und damit vier Jahre vor der Wiedereröffnung der deut-

schen Botschaft in Großbritannien (1955) richtete der DAAD eine Außenstelle in Lon-don ein und begann den Professorenaustausch mit Großbritannien (vgl. http://www.daad.de/portrait/de/1.4.2.html; 27.8.2004).

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Ausländer) gefördert, so hatte sich die Zahl zehn Jahre später bereits mehr als ver-zehnfacht (1960: 4861 Studierende, davon 3151 Ausländer) und ist seitdem nocheinmal um den Faktor zehn gestiegen (2002: 47.768 Geförderte, davon 29.065 Aus-länder). Im Jahre 1996 hat der DAAD darüber hinaus ein Gastdozentenprogrammeingeführt, in dessen Rahmen bis Mitte 2003 insgesamt 453 Gastdozenten an 117deutsche Hochschulen vermittelt werden konnten.

Heute nennt der DAAD als eines seiner fünf Hauptziele explizit die »Internationa-lisierung der Hochschulen«, »damit Deutschland eine erste Adresse für den wissen-schaftlichen Nachwuchs aus aller Welt bleibt bzw. wieder wird«.13 Entsprechendden oben genannten drei Indikatoren der Internationalisierung hat sich der DAADneben dem Austausch von Studierenden und Dozenten auch die Förderung von Stu-diengängen mit starker internationaler Orientierung zum Ziel gesetzt, welche sichdurch besondere Betreuungsangebote, integrierte Studienphasen im Ausland, fremd-,insbesondere englischsprachige Lehrveranstaltungen und die Vergabe eines Bache-lor- oder Mastergrades auszeichnen. Seit 1997 förderte der DAAD bereits 62 sol-cher Studiengänge.14

Blickt man – jenseits der konkreten Förderung durch den DAAD – auf dieGesamtzahlen des akademischen Austauschs, so finden sich auch hier deutlicheBelege für die fortschreitende Internationalisierung der deutschen Hochschulen. Soist die Zahl der deutschen Studierenden im Ausland stetig angewachsen, von 1980(17.890) bis 2000 auf das nahezu Dreifache (50.000). Die wichtigsten Zielstaatenwaren die USA und Großbritannien/Nordirland, die zusammen in den letzten Jahrenrund 40% der deutschen Austauschstudierenden aufnahmen.15

Die dominanten Fächergruppen bildeten die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwis-senschaften (im Jahre 2000 in den USA 30,6% der deutschen Studierenden; inGroßbritannien/Nordirland sogar 35,5%). Umgekehrt stieg auch die Zahl der auslän-dischen Studierenden in Deutschland kontinuierlich an: Waren es 1975 noch 45.590Studierende, so lag die Zahl 1990 bereits bei 92.016. Und bis zum Jahre 2002 hatsich diese Zahl noch einmal auf 206.141 mehr als verdoppelt (davon 142.786 Bil-dungsausländer und 63.355 Bildungsinländer). Damit steht Deutschland weltweit andritter Stelle der Zielländer für ausländische Studierende. Die Abbildung in Prozent-anteilen macht allerdings deutlich, dass der Anteil der ausländischen Studierendenan der Gesamtzahl der Studierenden an deutschen Hochschulen seit 1991 und insbe-sondere seit 1999 noch einmal schubhaft angestiegen ist: Hatte sich der Anteil zwi-schen 1975 (5,7%) und 1991 (6,1%) nur unwesentlich verändert, so wuchs er bis

13 Vgl. http://www.daad.de/portrait/de/1.1.html; 27.8.2004.14 Vgl. http://www.daad.de/hochschulen/de/5.2.1.1.html; 27.8.2004.15 Vgl. http://www.wissenschaft-weltoffen.de; 27.8.2004. Auch die Auswertung der

ERASMUS-Programme für das Hochschuljahr 2002/2003 offenbarte einen deutlichenZuwachs gegenüber dem Vorjahr: Mit 18.482 deutschen Studierenden, die ein Teilstu-dium im europäischen Ausland absolvierten, lag die Zahl um rund 2000 höher als imHochschuljahr 2001/2002. Ebenso stieg die Mobilität der Dozenten deutlich an, nämlichum rund 12% von 2115 im Jahr 2001/2002 auf 2380 Personen im Folgejahr (vgl.DAAD-Pressemitteilung, 4.12.2003, in: http://www.daad.de/presse/de/2003/8.1.1_6003.html; 27.8.2004).

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1999 auf 9,2% an und betrug 2002 sogar 11,0% (7,6% Bildungsausländer). Bemer-kenswert ist bei diesem deutlichen Anstieg vor allem der Zuwachs von Studierendenaus Asien: Zurzeit besuchen rund 14.000 junge Chinesen und 1.700 Inder deutscheHochschulen – jeweils dreimal so viele wie vor fünf Jahren (Heinemann 2003).16

Sucht man nach Gründen für den – gerade in den letzten vier Jahren – deutlichenAnstieg des Anteils ausländischer Studierender an deutschen Universitäten, sospringt zunächst eine gemeinsame Initiative von Bund, Ländern, Kommunen, Wis-senschaft und Wirtschaft vom Oktober 2000 ins Auge. Die Bund-Länder-Kommis-sion für Bildungsplanung und Forschungsförderung verständigte sich im Rahmenihres bildungspolitischen Gesprächs »Internationales Marketing für den Bildungs-und Forschungsstandort Deutschland« auf die Einrichtung einer »KonzertiertenAktion Bildungsmarketing«. Als Ziel dieser Marketinginitiative formulierte dieKommission: »Deutschland muss wieder erste Adresse werden, wenn es um dieAus- und Weiterbildung künftiger ausländischer Fach- und Führungseliten geht«(Bund-Länder-Kommission 2000: 3).17 Die erwähnte Trias der Internationalisierung– Studentenaustausch, Dozentenaustausch und internationale Studiengänge – bildetden Kern dieser Initiative. Denn als Strategie wird neben der Intensivierung des aka-demischen Austauschs insbesondere die Verbesserung der Attraktivität deutscherBildungseinrichtungen genannt. Hierzu soll unter anderem eine stärkere internatio-nale Orientierung in den grundständigen und Aufbaustudiengängen dienen,einschließlich der Entwicklung englischsprachiger Studienangebote (Bund-Länder-Kommission 2000: 9).18 In diesen Bereich fallen darüber hinaus die Studiengängedeutscher Hochschulen, die im Ausland angeboten werden (29 Studiengänge welt-weit; Stand: Juli 2003). Das Bundesbildungsministerium hat im Rahmen dieser Ziel-setzungen der Bund-Länder-Kommission für das Jahr 2004 14 Millionen Euro fürdie Internationalisierungsprogramme des DAAD, der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz eingeplant.19

Neben diesen nationalen Initiativen und Programmen sollte bei der Suche nachGründen für den aktuellen Internationalisierungsschub auch auf den so genanntenBologna-Prozess verwiesen werden, der den Bezugsrahmen der gegenwärtigenBemühungen in vielen europäischen Ländern bietet. Dieser Prozess wurde im Som-mer 1999 von den Bildungsministern aus 29 europäischen Ländern eingeläutet. SeinZiel ist die Schaffung eines europäischen Hochschulraums bis zum Jahr 2010, in

16 Unter den Bildungsausländern stellen die chinesischen Studierenden mit 9,5% die mitAbstand stärkste Gruppe vor den Studierenden aus Polen (6,2%) und der RussischenFöderation (5,0%). Bezieht man auch die Bildungsinländer mit ein, so stellt allerdingsdie Türkei mit 24.041 (= 11,7%) das mit Abstand stärkste Kontingent der ausländischenStudierenden (vgl. http://www.wissenschaft-weltoffen.de; 27.8.2004).

17 Ähnlich formulierte es im gleichen Jahr der Wissenschaftsrat: »Deutschland muß im eige-nen langfristigen Interesse zu einem Einwanderungsland für herausragend qualifizierteausländische Studierende und Wissenschaftler werden« (Wissenschaftsrat 2000: 29).

18 Das zurzeit ehrgeizigste Projekt dieser Art stellt die 2001 gegründete International Uni-versity Bremen dar, die vom Bund mit 40 Millionen Euro und vom Bremer Senat mit 115Millionen Euro eine Anschubfinanzierung erhielt (Harmsen 2004).

19 Vgl. DAAD-Pressemitteilung, 17.7.2003, in: http://www.hi-potentials.de/downloads/pressemitteilungen/Pressemitteilung_2003-07-17.pdf; 27.8.2004.

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dem Wissenschaftler und Studierende ohne Probleme (z. B. hinsichtlich der Aner-kennung von Studienleistungen und Hochschulabschlüssen) zwischen den Hoch-schulen verschiedener Länder wechseln können. Notwendig für die Verwirklichungdieses europäischen Hochschulraums wird unter anderem die einheitliche Einfüh-rung eines dreigliedrigen Studiums, bestehend aus Bachelor-, Master- und Dokto-ratstudienphasen, und eines den Transfer von Leistungsnachweisen zwischen Hoch-schulen erleichternden Leistungspunktesystems sein (Sieber 2002: 5).

Der rasche Anstieg der ausländischen Studierendenzahlen in den letzten Jahrenscheint daher auf den ersten Blick durch den Bologna-Prozess und das deutscheHochschulmarketing erklärbar zu sein. Dieser Befund ist allerdings insoferneinzuschränken, als die Mehrzahl der in den letzten Jahren nach Deutschlandgekommenen Studierenden aus Entwicklungsländern stammt, in denen die Zahl derStudierwilligen ohnehin stark anwächst. So schätzt der DAAD, dass sich derAnsturm auf deutsche Universitäten aus Asien, Afrika und Lateinamerika in dennächsten zwanzig Jahren vervierfachen wird (Heinemann 2003).

Eine kritischere Betrachtung dieses Trends wirft die grundsätzliche Frage auf,inwiefern der anhand vieler Statistiken skizzierte Internationalisierungsprozess desdeutschen Hochschulwesens als reine Erfolgsgeschichte interpretiert werden darf.Zwar können wir an dieser Stelle keine genauere Analyse hierzu anbieten, doch darfder Hinweis nicht fehlen, dass die oben angeführten Zahlen zunächst als Indikatoreneiner quantitativen Internationalisierung zu verstehen sind. Ob sie auch aus-sagekräftig hinsichtlich eines kontinuierlichen relativen Qualitätsanstiegs deutscherHochschulen im internationalen Vergleich sind, bedarf erst noch eingehender Prü-fung. Gleiches gilt freilich auch für die gegenteilige Interpretation, wonach der Exo-dus deutscher Studierender an angelsächsische Universitäten einerseits und dergleichzeitig – zweifellos auch aufgrund der niedrigen Studienkosten – erfolgendeZuwachs von Studierenden aus Entwicklungsländern andererseits alleiniger Aus-druck der Mittelmäßigkeit der hiesigen Hochschulen seien (Heinemann 2003).

Ganz gleich aber, wie diese Entwicklung zu erklären oder zu interpretieren ist: Siestellt die deutschen Hochschulen in ihren Internationalisierungsbemühungen vorneue Herausforderungen. Zum einen muss die Politik die Rahmenbedingungensoweit verbessern, dass Studierende aus dem Ausland in Deutschland eine bessereBetreuung erhalten – um die immer noch hohen Abbrecherquoten zu verringern –und das Land nach Abschluss ihrer akademischen Ausbildung nicht sogleich wiederverlassen müssen. Dieser Betreuungsbedarf wird uns in unserer eigenen AbteilungInternationale Beziehungen/Friedens- und Konfliktforschung an der UniversitätTübingen klar vor Augen geführt, da wir – z. T. selbst in Seminaren des Hauptstudi-ums – unseren Studierenden eine Seminargröße von 30-40 Teilnehmern zumutenmüssen, mithin von einer dem einzelnen Studierenden gerecht werdenden fachli-chen Betreuung keine Rede sein kann. Dieses Betreuungsdefizit hat sich zudemdarin offenbart, dass eine große Zahl von ERASMUS-Studierenden an Vorlesungs-klausuren scheitern, wenn ihnen kein eigenes Tutorium angeboten werden kann.

Zum anderen ist es neben der Verbesserung der Rahmenbedingungen – angesichtsder zu begrüßenden deutlichen Zunahme ausländischer Studierender – genauso

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unerlässlich, eine gezieltere Auswahl unter den Bewerbern zu treffen, insbesondereim Hinblick auf die neuen international orientierten Studiengänge und derenbegrenzte Teilnehmerzahl.20 Dieser Auswahlprozess muss freilich eine Balancewahren zwischen den Anforderungen eines anspruchsvollen Lehrangebots und derZugangsoffenheit gegenüber ausländischen Bewerbern, denn nur beides garantiertauf lange Sicht die Attraktivität unserer Hochschulen. Um es in den Worten desStaatssekretärs des baden-württembergischen Ministeriums für Wissenschaft, For-schung und Kunst, Michael Sieber, zu sagen: »Im Wettbewerb um die besten Köpfemuss es gelingen, die eigenen Talente in Europa zu halten und unsere Hochschulenfür akademische Hoffnungsträger aus anderen Ländern attraktiv zu halten oder zumachen« (Sieber 2002: 7).

3.2. Die Internationalisierung im Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften

Nachdem wir bisher auf den Austausch von Studierenden und Dozenten eingegan-gen sind, soll im Folgenden der Akzent auf den dritten Aspekt der Internationalisie-rung der Lehre gelegt werden, die Internationalisierung der Studiengänge. Hierzuwollen wir uns unserer eigenen Fächergruppe, den Sozialwissenschaften, insbeson-dere der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungenzuwenden.

Wie eingangs angedeutet ist unter der Internationalisierung von Studiengängenzunächst zweierlei zu verstehen: Einerseits zählt hierzu die formelle Internationali-sierung, etwa durch die einheitliche Einführung eines dreigliedrigen Studiums, wiees im Bologna-Prozess angelegt ist. Andererseits gehört hierzu aber auch die sub-stanzielle Internationalisierung, d. h. die Zunahme internationaler Themenstellun-gen in der Lehre, was sich im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften gutnachweisen lässt. Denn die wachsende internationale Verflechtung – deren Teilas-pekt, die kulturelle Verflechtung, sich unter anderem in der formellen Internationali-sierung der Lehre niederschlägt – ist für die Geistes- und Sozialwissenschaftenzugleich auch Forschungsgegenstand. Daher sind die Geistes- und Sozialwissen-schaften »der Bereich der Wissenschaft, in dem diese neuen kulturellen Herausfor-derungen verarbeitet werden können und müssen« (Wissenschaftsrat 2000: 32, Her-vorh. dort).

Im Zuge ihrer zunehmenden globalen Verflechtung und der Herausbildungvielfältiger Interdependenzen einschließlich wechselseitiger Verwundbarkeiten istdiese globalisierte, tendenziell denationalisierte Welt mehr und mehr zum Gegen-stand der Politikwissenschaft geworden, was sich nicht zuletzt in der Entwicklungder Lehre von den internationalen Beziehungen im letzten Jahrhundert niederge-schlagen hat. Zwar lässt sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit internationa-len Beziehungen bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. zu Thukydides und seiner scharfsin-nigen Analyse des Peloponnesischen Krieges zurück verfolgen, doch die Anfängedes akademischen Faches Internationale Beziehungen sind auf das Ende des Ersten

20 Vgl. DAAD-Pressemitteilung, 30.10.2003, in: http://www.daad.de/presse/de/2003/8.1.1._5203.html; 27.8.2004.

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Weltkriegs zu datieren. Auf der Pariser Friedenskonferenz verabredeten die US-amerikanische und die britische Delegation Ende Mai 1919 – als Konsequenz ausdem 14-Punkte-Plan des US-Präsidenten Woodrow Wilson – die Gründung von jeeinem Institut zur Erforschung der Ursachen von Krieg und Frieden.21 In Deutsch-land standen am Anfang des Faches nach 1918 – allerdings außerhalb des etabliertenUniversitätsbetriebs – die Gründung der Staatsbürgerschule in Berlin, die 1920 inDeutsche Hochschule für Politik umbenannt wurde, und 1923 die Einrichtung desHamburger Instituts für Auswärtige Politik (Menzel 1999: 21f).

Freilich kam es in Deutschland erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zueiner ersten Gründungswelle politikwissenschaftlicher Lehrstühle im Zuge der alli-ierten Entnazifizierungs- und Demokratisierungspolitik; denn Politikwissenschaftwurde von den westlichen Alliierten auch als breit angelegte Demokratiewissen-schaft verstanden. Zwar empfahl der Wissenschaftsrat schon sehr frühzeitig, jeweilseine der an jedem Standort einzurichtenden vier Professuren im Fach Politikwissen-schaft der Lehre von den internationalen Beziehungen zu widmen. Dieses Zielwurde aber nicht an allen Universitäten, an denen das Fach eingerichtet wurde,sogleich erreicht. Es dauerte bis zum Beginn der 1970er-Jahre, ehe es im Zuge einerzweiten Gründungswelle und befördert durch die Entspannungspolitik im Ost-West-Verhältnis einerseits und dem sich zuspitzenden Nord-Süd-Konflikt andererseits zurEtablierung von weiteren Instituten und Lehrstühlen für Internationale Beziehungenebenso wie für Friedens- und Konfliktforschung kam (Menzel 1999: 24).22

Diese im internationalen Vergleich späte Verankerung der Internationalen Bezie-hungen in den deutschen Universitäten mag mit ausschlaggebend gewesen sein fürdrei tief greifende Defizite, die Volker Rittberger und Hartwig Hummel noch 1990 ineiner Bestandsaufnahme beklagten. Zum Ersten monierten sie die unzureichendeTheorieorientierung des Faches und zum Zweiten das überwiegend passiv-rezipie-rende Verhältnis zu den International Relations, dem anglo-amerikanischen Pendant.So hatte sich die Disziplin im deutschsprachigen Raum bis zu jenem Zeitpunkt »dar-auf beschränkt, vor allem US-amerikanische Forschungsansätze zu rezipieren, mög-licherweise zu modifizieren und empirisch anzuwenden oder sich mit der politikana-lytischen Deskription mehr oder weniger wichtiger Gegenwartsfragen zufrieden zugeben« (Rittberger/Hummel 1990: 34). Und zum Dritten sahen sich die Internationa-len Beziehungen mit einer unzureichenden Förderung der Grundlagenforschung kon-frontiert.

21 So kam es im Jahre 1920 zur Einrichtung des American Institute of International Affairs(aus dem 1922 der Council on Foreign Relations mit Sitz in New York hervorging) unddes Royal Institute of International Affairs (Chatham House, London). Der weltweiterste Lehrstuhl für Internationale Beziehungen wurde bereits 1919 an der Universitätvon Wales in Aberystwyth als Stiftungsprofessur eingerichtet. Es folgte die Gründungvon Zeitschriften und Schriftenreihen wie z. B. Foreign Affairs und International Affairs(Menzel 1999: 21f).

22 Zu diesen Instituten zählten insbesondere die 1970 in Frankfurt a. M. gegründete Hessi-sche Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sowie das 1971 errichtete Institut fürFriedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

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Seit dieser Bewertung des Entwicklungsstandes des Faches ist es freilich zubeachtlichen Verbesserungen bei allen drei genannten Aspekten gekommen. Soattestiert Michael Zürn (2003: 23-25) der Teildisziplin in seiner jüngsten Bestands-aufnahme einen deutlichen Zuwachs theorieorientierter Beiträge, eine Verbesserungder internationalen »Markt«-Position der deutschsprachigen Internationalen Bezie-hungen – unter anderem ablesbar am deutlichen Anstieg von Beiträgen aus demdeutschsprachigen Raum in US-amerikanischen high quality journals – sowie einenReputationsgewinn innerhalb der Sozialwissenschaften in Deutschland. Die Lehrevon den internationalen Beziehungen schließt sich damit dem Aufwärtstrend dergesamten deutschen Politikwissenschaft an. So stellt Thomas Plümper, der in seinerStudie ebenfalls die Sichtbarkeit in den bedeutsamsten internationalen Fachjourna-len als Evaluationskriterium anlegt, fest, dass Deutschland »im Hinblick auf dieabsolute Anzahl an Publikationen in politikwissenschaftlichen Journalen eineneuropäischen Spitzenplatz« (Plümper 2003: 535) einnimmt. Freilich wird dieserSpitzenplatz nur dann besetzt, »wenn man die bevorzugten englischsprachigen Län-der weglässt« (Plümper 2003: 534) und wenn man die Bevölkerungszahl als relati-vierenden Maßstab nicht berücksichtigt.23 Trotz dieser deutlichen Einschränkungbleibt aber auch für die deutsche Politikwissenschaft im Allgemeinen ein positiverTrend festzuhalten. Denn die Anzahl der Veröffentlichungen der Mitarbeiter politik-wissenschaftlicher Einrichtungen hierzulande hat über Zeit kontinuierlich zugenom-men – in den von Plümper (2003) ausgewerteten 92 Fachjournalen von zehn bisfünfzehn Artikeln zu Beginn der 1990er-Jahre zu rund 40 Publikationen im Jahre2002.

Diese positiven Entwicklungen gingen für die deutschen Internationalen Bezie-hungen einher mit einer weiteren institutionellen Aufwertung, z. B. durch die erfolg-reiche Gründung einer eigenen Fachzeitschrift Zeitschrift für Internationale Bezie-hungen 1994 oder durch die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschungim Oktober 2000, die sich vorrangig der Forschungsprojekt- und der Nachwuchsför-derung widmet. Darüber hinaus gilt es hervorzuheben, dass es in jüngster Zeit –nicht zuletzt im Zuge des Bologna-Prozesses – zur Einrichtung zahlreicher politik-wissenschaftlicher Bachelor of Arts (BA)- und Master of Arts (MA)-Studiengängegekommen ist. So zählte die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft(DVPW) im Mai 2004 insgesamt 35 BA- und 48 MA-Studiengänge, die entweder inPlanung oder bereits angelaufen sind. Neun dieser MA-Studiengänge (an den Stand-orten Berlin, Bremen [2x], Dresden, Eichstätt, Freiburg, Magdeburg, Marburg undTübingen) sind vorrangig der Teildisziplin der Internationalen Beziehungen zuzu-rechnen zuzüglich des in Dresden angebotenen BA »Internationale Beziehungen«

23 Außerdem ist der deutsche Anteil an Publikationen in internationalen politikwissen-schaftlichen Fachzeitschriften niedriger als die deutschen Quoten in wirtschafts- odernaturwissenschaftlichen Journalen. »Während beispielsweise die deutsche Beteiligungam weltweiten Publikationsoutput in der Volkswirtschaftslehre mit etwa zwei Prozentfür den Wissenschaftsrat bereits kritikwürdig gering ausfiel, liegt der deutsche Publikati-onsanteil in den politikwissenschaftlichen Journalen mit 1,27 Prozent deutlich darunter.Dieser Anteil sinkt sogar auf lediglich 0,67 Prozent, wenn man nur die Publikationen derPolitikwissenschaftler beachtet« (Plümper 2003: 536).

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und des MA in »Transatlantic Studies« der Berliner Humboldt-Universität.24 Hinzukommen die in der Zählung der DVPW noch nicht berücksichtigten Masterstudien-gänge in Hamburg, Hagen (in Planung) und Frankfurt (in Planung).25 Schließlichöffnete im April 2004 unter der akademischen Federführung von Michael Zürn dieHertie School of Governance in Berlin ihre Pforten, welche beispielhaft für einenneuen Trend der Internationalisierung der Lehre steht. Die Hertie School wird einestaatlich anerkannte Hochschule in privater Trägerschaft sein, eine europäische Pro-fessional School of Public Policy, die ab Herbst 2005 Nachwuchskräfte in denBereichen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft aus- und weiterbilden wird.

Neben dieser institutionellen Aufwertung suchte die Lehre von den internationa-len Beziehungen der Veränderung ihres Gegenstandes seit dem Ende des KaltenKrieges gerecht zu werden, indem sie eine thematische Erweiterung, vollzog, inderen Zuge auch größeres Augenmerk auf Fragen der Global Governance und GoodGovernance, des Weltregierens und der guten Regierungsführung, gelegt wurde(Zürn 2003: 25f). In diesem Rahmen ist es in den letzten Jahren zu einer weiterenIntensivierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit internationalen Institutio-nen im Allgemeinen und internationalen Organisationen wie dem Verband der Ver-einten Nationen im Besonderen gekommen. Hierbei wird unter anderem auch derwachsende Einfluss zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Akteure aufsolche Organisationen verstärkt in den Blickwinkel gerückt. Dies spiegelt den in denletzten Jahren in der deutschen IB-Forschung beobachtbaren allgemeinen Trend zurPublikation von Studien wider, die sich mit transnationalen Akteuren beschäftigen.Im Gegensatz zur Forschung der späten 1980er-Jahre wird »die damals dominie-rende regierungszentrische Heuristik heute häufig in Frage gestellt und nach kon-zeptionellen Alternativen gesucht« (Nölke 2003: 519). Mit ihrer stetigen Weiterent-wicklung spiegelt die Teildisziplin Internationale Beziehungen somit selbst dieInternationalisierung sowohl der Lehre als auch ihres Forschungsgegenstands wider.

4. Aus der Internationalisierung erwachsende Anforderungen an die Lehre

Als Zwischenfazit des bisherigen Abrisses der zunehmenden Internationalisierungder Lehre an deutschen Universitäten lässt sich festhalten, dass sowohl die substanzi-elle als auch die formelle Internationalisierung des Lehrangebots – gerade auch in derPolitikwissenschaft – aus unterschiedlichen Gründen einen notwendigen und weiterzu intensivierenden Prozess bilden. Dies gilt einerseits aus dem mehrfach genanntenGrund, den Wissenschaftsstandort Deutschland international konkurrenzfähig zu hal-ten und dessen Wettbewerbsposition auf dem globalen »Markt« weiter zu verbessern.Andererseits – und dies ist unser eigentlicher Auftrag – müssen bei diesen Überle-gungen, die auch die aktuelle Diskussion über »Spitzenhochschulen […], die auch

24 Vgl. http://www.dvpw.de/dummy/fileadmin/docs/Studiengange.pdf; 27.8.2004.25 Vgl. Brühl (2004). Damit wären maximal sechs Master-Programme dem Bereich der

Friedens- und Konfliktforschung zuzurechnen (Frankfurt, Hagen, Hamburg, Magdeburg,Marburg und Tübingen).

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weltweit in der ersten Liga mitspielen […] können« (SPD-Parteivorstand 2004: 5)prägen, (mehr noch als die Chancen unserer Standorte auf dem internationalen Bil-dungsmarkt) die Chancen unserer Studierenden auf dem internationalen Arbeits-markt im Mittelpunkt stehen. Anders formuliert: Es muss darum gehen, unsereStudierenden adäquat für anspruchsvolle berufliche Tätigkeiten in einer globalisier-ten Welt auszubilden, z. B. für internationale Dienste unterschiedlicher Art in öffent-licher oder privater Trägerschaft. Diesem Bildungsdesiderat muss in einer Zeit wieder heutigen, in welcher der Welthorizont zur maßgeblichen Bezugsgröße unseressozialen Handelns geworden ist, Rechnung getragen werden.

4.1. Anforderungen an die politikwissenschaftliche Lehre in Deutschland

Die Politikwissenschaft und in besonderer Weise – sozusagen als ein Produkt dieserInternationalisierungsentwicklung – die Teildisziplin der Internationalen Beziehun-gen müssen versuchen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden materiellen und per-sonellen Ressourcen den Anforderungen einer formellen und substanziellenInternationalisierung gerecht zu werden. Wir möchten unsere folgenden Ausführun-gen über den Auftrag als Lehrende insbesondere dahin gehend konkretisieren, dasswir uns um die erfolgreiche Anwerbung international diversifizierter Studierenderund in der Folge auch um die Betreuung dieser Studierenden sowohl in fachlicherals auch in berufsorientierender Hinsicht kümmern müssen.

Um diesen Auftrag zu erfüllen, muss das hierzulande angebotene Studium derInternationalen Beziehungen drei Bedingungen erfüllen: Es muss zügig sein, zielge-richtet sein und die Mobilität der Studierenden fördern. Insbesondere die an vielenpolitikwissenschaftlichen Instituten in Deutschland erfolgte oder demnächst erfol-gende Studiengangsreform mit der Einführung von BA-/MA-Studiengängen scheinthierfür der richtige Weg zu sein, sofern gewisse Bedingungen bei der Gestaltungdieser Programme erfüllt werden. Diese Studiengänge werden sich als zügig undzielgerichtet erweisen, insofern sie den Studierenden – durch geeignete Schwer-punkt-Module und Zeittafeln, aber auch durch ausreichende studienbegleitendeBeratung – eine klare und verbindliche inhaltliche und zeitliche Strukturierung vor-geben, auf deren Grundlage nach bereits sechs Semestern mit dem Bachelor-Grad inPolitikwissenschaft (zuzüglich eines frei wählbaren Pflichtnebenfachs) ein, wennnicht berufsqualifizierender, so doch berufsfeldorientierender Abschluss erzielt wer-den kann, und insofern mit den Masterstudiengängen inhaltliche Schwerpunktset-zungen erfolgen können, die die Studierenden gezielt auf eine spätere beruflicheLaufbahn als wissenschaftlich hoch qualifizierte Fachkraft vorbereiten. Schließlichkann diese Studiengangsstruktur auch die wünschenswerte und notwendige Mobili-tät gewährleisten: Für deutsche Studierende wird der Studienortwechsel ins Auslandaufgrund der wachsenden Kompatibilität der Studienabschlüsse und Bewertungenvon Studienleistungen – Stichwort: Credit Point System – wesentlich vereinfacht;26

26 Aufgrund von bisher oft mangelnder Kompatibilität wurde von ausländischen Universi-täten zumeist nur ein Bruchteil der in Deutschland erbrachten Studienleistungen aner-kannt und deutsche Studierende somit zurückgestuft.

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für ausländische Studierende wächst der Anreiz, einen in der eigenen Heimat aner-kannten Studienabschluss in Deutschland zu erwerben. Auf die Anwerbung auslän-discher Studierender negativ wirkt sich freilich der oft im Juni oder Juli eines Jahresliegende und damit international nicht konkurrenzfähige Bewerbungsschluss deut-scher BA-/MA-Programme aus. Wollen die deutschen Universitäten für ausländi-sche Bachelor- oder Master-Studierende wirklich eine ernsthafte Alternative darstel-len, dann müssen neben den Studiengängen auch die Bewerbungsfristeninternational angeglichen, d. h. auf das Frühjahr vorverlegt werden.

Neben den genannten drei Kriterien ist es ebenso wichtig, dass die Studierendensowohl im fachlichen als auch im berufspraktischen oder berufsorientierenden Sinneangemessen betreut werden. Hinsichtlich der berufsorientierenden Betreuung habendie deutschen Universitäten einen nicht zu unterschätzenden Reform- und Nachhol-bedarf. Wollen wir die wissenschaftliche Lehre von der Politik ebenenübergreifend,d. h. von der Kommune bis zum internationalen System, mit studienbegleitenderBerufsqualifikation im Interesse der Studierenden zusammenführen, bedarf es einerverbesserten Koordination von Lehre und berufsorientierender Betreuung. Zurzeiterfolgt diese Betreuung häufig gemäß dem Steuerungsmodell der horizontalenSelbstkoordination auf beklagenswert niedrigem Niveau. Von einer transparenten,pro-aktiven Praktikumsvermittlung und Praktikumsnachbetreuung für die Studie-renden kann in vielen Fällen nicht gesprochen werden, da sie – wenn sie denn überdas Institut erfolgt – vornehmlich im Rahmen der Sprechstunden der einzelnen Leh-renden geschieht. Ziel muss daher eine deutliche Aufwertung der Beratungskapazi-täten auf Institutsebene sein. Denn die Aufgabe der berufsorientierenden Beratungkann am effektivsten subsidiär erfüllt werden, da jedes Studienfach eigene Bera-tungsprofile erfordert. Wünschenswert wäre daher, die Position und vor allem Zahlder Akademischen Räte abhängig von der Zahl der Hauptfachstudierenden in jedemFach derart zu stärken, dass wenigstens ein Akademischer Rat als fachlich einge-bundener und informierter Dienstleister den Studierenden eine angemessene »Bera-tung nach außen« – also für Beruf und Praktikum – bieten kann, ohne dass hierdurchdie Qualität der »Beratung nach innen« – also für das Studium selbst – beeinträch-tigt wird. An dieser Stelle besteht mithin im Interesse der Integration von wissen-schaftlicher Grundausbildung und berufspraktischer Orientierung erheblicherReformbedarf, dem – wie so oft – nur mit der Bereitstellung zusätzlicher Mittel ent-sprochen werden kann.

Auch die effektive fachliche und berufspraktische Betreuung unserer Studieren-den, zumal der ausländischen, ist aufgrund unzureichender materieller und personel-ler Ressourcen nicht gewährleistet. Die rechnerische Betreuungsrelation an deut-schen politikwissenschaftlichen Instituten verbietet zumeist eine auf die Bedürfnissedes individuellen Studierenden zugeschnittene fachliche Betreuung im Rahmen vonSeminaren und Sprechstunden. Eigene Lehrerfahrungen vor allem im anglo-ameri-kanischen Ausland offenbaren hingegen regelmäßig die Vorzüge kleinerer Seminareund intensiverer Kontakte zwischen Dozenten und Studierenden. Dass freilich selbstmit der oft unzureichenden personellen Ausstattung hierzulande innovative, Theorieund Praxis verbindende Lehrangebote in unserer Disziplin möglich sind, wollen wir

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im Folgenden beispielhaft anhand unserer Erfahrungen an der Abteilung Internatio-nale Beziehungen/Friedens- und Konfliktforschung des Tübinger Instituts für Poli-tikwissenschaft belegen.

4.2. Eigene Erfahrungen hinsichtlich der Anforderungen einer substanziellen Internationalisierung

Gerade im Hinblick auf die Nutzbarmachung unserer Erfahrungen für andere Insti-tute, die wir im Sinne des bundesweiten Lehrangebots der Internationalen Beziehun-gen ausdrücklich begrüßen würden, muss dieser Darstellung ein einschränkenderHinweis vorausgehen, der an die oben zur Sprache gebrachte Ressourcenknappheitanschließt: Es sind erwartungsgemäß gerade solche Veranstaltungen, in denen empi-risch-analytisch ausgerichtete Forschung einerseits und praxisnahe Bearbeitunginternationaler Problemstellungen andererseits ausgewogen kombiniert werden, dieeinen Großteil der personellen Ressourcen unserer Abteilung binden. So stehen unsetwa für das weiter unten ausführlich beschriebene Seminar »The United NationsSystem – Politics and Policies« mit begleitendem Workshop und anschließenderExkursion nach New York in jedem Wintersemester vier Betreuer (zwei hauptamt-lich Lehrende und zwei stundenweise bezahlte studentische Hilfskräfte) für 25 bis30 Studierende zur Verfügung, was (umgerechnet) einer Betreuungsrelation vonungefähr eins zu zehn entspricht – eine Relation, die sich für das Lehrangebot unse-res Instituts (und der meisten anderen politikwissenschaftlichen Institute in Deutsch-land) insgesamt nicht reproduzieren lässt, von der notwendigen Einwerbung vonDrittmitteln von externen Gebern in Höhe von bis zu 15.000 Euro pro Jahr allein fürdiese Lehrveranstaltung ganz zu schweigen.

Dennoch: Auch wenn, wie dargestellt, der Theorie-Praxis-Nexus als Bestandteilformeller Internationalisierung bei weitem nicht ausreichend institutionalisiert wor-den ist, möchten wir im Folgenden zeigen, dass – freilich mittels der Bindungbeträchtlicher personeller Ressourcen und der ausreichenden Einwerbung von Dritt-mitteln – zumindest für einen Teil des Lehrangebots sinnvolle Anstrengungen aufdem Gebiet der substanziellen Internationalisierung unternommen werden können,von denen die Studierenden zweifellos profitieren. Beispielhaft genannt zu werdenverdient zum einen das von unserem Kollegen Thomas Nielebock angebotene Semi-nar über Europäische Sicherheitsinstitutionen, welches das intensive Studium pro-minenter Institutionen wie EU, NATO und OSZE mit einer zweiwöchigen Exkur-sion an die Hauptsitze dieser Organisationen von Wien bis Brüssel kombiniert undim Zuge dieser Besuche vor Ort in einen intellektuell fruchtbaren wie berufspers-pektivisch Gewinn bringenden praxisorientierten Dialog zwischen Praktikern undStudierenden mündet. Die Liste der Studierenden, die diese Gelegenheit zur Kon-taktaufnahme zwecks studienbegleitender Praktika oder Netzwerkaufbau nutzen,wächst stetig. Und ganz offensichtlich honorieren die Studierenden derart zeit-,arbeits- und kostenintensive Lehrveranstaltungen durch ein im regulären Studienbe-trieb nicht immer anzutreffendes außergewöhnliches Engagement.

Das Hauptaugenmerk soll an dieser Stelle aber auf einer Lehrveranstaltung liegen,der wir unter anderem die Zuerkennung des baden-württembergischen Landeslehr-

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preises 2003 verdanken, nämlich auf dem Seminar »The United Nations System –Politics and Policies«, das gleich in mehrfacher Hinsicht die zuvor beschriebenenTrends von Entgrenzung und Denationalisierung in der Welt von heute widerspie-gelt: Erstens hat es eine internationale Themenstellung; zweitens findet es – ebensowie der begleitende Workshop und die weiteren zugehörigen Veranstaltungen – inenglischer Sprache statt (auch die Leistungsnachweise der Studierenden müssen inenglischer Sprache erbracht werden); drittens bietet es den Studierenden die Mög-lichkeit, als Mitglieder einer Delegation der Universität Tübingen an einem Plan-spiel der Vereinten Nationen in New York teilzunehmen; und viertens weist dieVeranstaltung in jedem Jahr einen sehr hohen Prozentsatz internationaler Studieren-der auf (z. B. 40% im Jahre 2003).

Mit der Durchführung dieses Seminars, des begleitenden Workshops sowie deranschließenden Exkursion zum Sitz der Vereinten Nationen hat sich die UniversitätTübingen in den vergangenen acht Jahren auf das inzwischen gut bevölkerte Feldvon Planspielen im Bereich der internationalen Politik begeben, das wir hierzunächst skizzieren wollen, bevor wir auf die Vorbereitung und Durchführung dereigentlichen Lehrveranstaltung eingehen. Die Ursprünge solcher Planspiele reichenin das Jahr 1922 zurück, als Vertreter des Völkerbundes das Abhalten einesjährlichen Model League of Nations anregten. Nach Gründung der Vereinten Natio-nen trat 1946 das National Model United Nations (NMUN) an seine Stelle (Wittke2001). Bei dieser weltweit größten Simulation der Vereinten Nationen in New Yorknehmen jährlich rund 3000 Studierende aus Nord- und Lateinamerika, Asien undEuropa teil. Jede der über 190 teilnehmenden Hochschulen vertritt mit ihrer Delega-tion entweder einen Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen, eine internationaleOrganisation mit Beobachterstatus oder eine Nichtregierungsorganisation mit Kon-sultativstatus bei den Vereinten Nationen. Die Delegationen sind – entsprechend derRealität – in unterschiedlichen Gremien der VN vertreten. Bei der NMUN-Konfe-renz werden jeweils zwischen 20 und 25 dieser Gremien simuliert. In jedes dieserGremien werden maximal zwei Studierende jeder Delegation entsandt. Dazu zählenneben den »klassischen« VN-Gremien wie dem Sicherheitsrat, der Generalver-sammlung oder der Menschenrechtskommission auch die Welthandelsorganisation(WTO) oder regionale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit undZusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Organisation der Islamischen Konfe-renz (OIC). Die Aufgabe der Studierenden bzw. Delegierten besteht nun darin, indem jeweiligen Gremium den Standpunkt ihres Landes so gut und realistisch wiemöglich (in character) darzustellen. In Zusammenarbeit mit den Delegationen ande-rer Länder werden sinnvolle, diplomatische Lösungsvorschläge zu den vorgegebe-nen Themen der Tagesordnungen erarbeitet. Um in den Abstimmungen die »eige-nen« Positionen durchzusetzen, müssen also andere Länder von diesen Ideen undVorschlägen überzeugt werden.

Spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich auch diese Form despraxisnahen Lernens mittels Planspielen internationalisiert. So existieren neben derNMUN-Konferenz mittlerweile in mehr als 35 Staaten weitere VN-Simulationen,allein in Deutschland sind es ungefähr zwei Dutzend, an denen weltweit jährlich

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über 200.000 SchülerInnen und Studierende teilnehmen. Mit der wachsendenBedeutung internationaler Organisationen für die konstruktive Bearbeitung vonInterdependenzen und Konflikten zwischen Staaten, ihren Gesellschaften und Kul-turen ging eine Reihe von Planspiel-Innovationen einher. Neben den die Arbeit desInternationalen Gerichtshofes (IGH) simulierenden Moot Courts sticht hierbei dieGründung eines jährlichen Model WTO in St. Gallen hervor. Das Hauptanliegen derOrganisatoren all dieser Planspiele richtete sich von Anfang an – und unabhängigdavon, ob die Arbeit internationaler Organisationen von einer Gruppe von Sechst-klässlern in Des Moines, Iowa, oder von einer Gruppe junger Studierender in SanktPetersburg, Russland, simuliert wird – auf die Förderung interkultureller Kompetenzdurch wechselseitige Empathie und Toleranz sowie die Vermittlung von Konfliktbe-arbeitungsverfahren, welche sich an Maximen eines fairen Interessenausgleichs ori-entieren.

Für teilnehmende Studierende hat eine konferenzdiplomatische Praxiserfahrung,wie sie durch die genannten Planspiele vermittelt wird, also nachhaltige Vorteile.Neben der Möglichkeit, professionelle und private Kontakte zu knüpfen, erfahrensie die Vorzüge experimentellen Lernens – hier vor allem eine signifikante Steige-rung ihrer kognitiven Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit –, die Vorzüge koope-rativen Lernens – hier vor allem die Stärkung von Motivation und Selbstbewusst-sein durch Autonomie und Teamarbeit – und schließlich die Vorzügeinterkulturellen Lernens – hier vor allem die Ausbildung von Fähigkeiten zu Empa-thie und verständigungsorientiertem Handeln.27 Unter anderem auch aufgrund deswachsenden Engagements deutscher Institute hinsichtlich solcher Planspiele lässtsich für die Lehre von den internationalen Beziehungen hierzulande feststellen: Wardie deutsche Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie Demo-kratiewissenschaft, so ist der die internationalen Themenstellungen der GlobalGovernance und Good Governance bearbeitende Teil der Politikwissenschaft des21. Jahrhunderts unter Einbeziehung ihrer Praxiselemente auch als globale Friedens-wissenschaft zu begreifen.

Wie sieht nun die Lehrveranstaltung aus, in der wir unsere Studierenden unteranderem auf das National Model United Nations-Planspiel in New York vorberei-ten? Das Seminar »The United Nations System – Politics and Policies« bildet dasKernelement dieser Vorbereitung. Durch die Teilnahme soll den Mitgliedern derTübinger Delegation, aber auch den übrigen Studierenden, die einen Seminarscheinim Hauptstudium erwerben wollen, wissenschaftlich reflektiertes Grundlagenwissenüber Aufbau, Aufgaben und Arbeitsweise der VN vermittelt werden, wobei beson-dere Aufmerksamkeit der Effektivität des VN-Systems gilt. Zwecks Erfüllung dieserZielsetzung ist das Seminar in drei Teile gegliedert. Ein fünf Sitzungen umfassenderEinführungsteil bietet den Studierenden einen Überblick über Struktur und Entwick-lung des VN-Systems und stellt die wichtigsten Theorien über internationale Organi-sationen – Realismus, neoliberaler Institutionalismus, Konstruktivismus und Princi-pal-Agent-Ansätze – vor, die in den Fallanalysen der Studierenden zur Anwendung

27 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen McIntosh (2001); Turunc (2001).

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kommen sollen. Dieser erste Teil des Seminars wird abgeschlossen durch dieBetrachtung der VN-Politik von wichtigen Mitgliedsstaaten wie den USA, Deutsch-land und dem – jährlich wechselnden, von den Veranstaltern zugewiesenen – Land,das die Studierenden während des Planspiels in New York vertreten werden. Ineinem zweiten Teil werden dann Rolle und Wirksamkeit des VN-Systems in ver-schiedenen Politikfeldern wie beispielsweise der Sicherheits-, Wirtschafts-, Ent-wicklungs- und Umweltpolitik theoriegeleitet analysiert. Dabei wird erneut besonde-res Augenmerk auf die jeweilige Politik des von unserer Delegation zu vertretendenVN-Mitgliedsstaates gelegt. Auf diese Weise können die Ergebnisse unserer Semi-nardiskussion zugleich für die Vorbereitung der Studierenden auf ihre Arbeit in denverschiedenen Gremien der NMUN-Konferenz genutzt werden, in denen ebenfallsverschiedene Politikfelder behandelt werden. In den vier abschließenden Sitzungen,die den dritten Teil des Seminars bilden, wird der Wandel des VN-Systems im Zugeder Globalisierung behandelt. Zum einen konzentrieren wir uns dabei auf den wach-senden Einfluss nicht-staatlicher – konkret: zivilgesellschaftlicher und privatwirt-schaftlicher – Akteure; zum anderen werden die Reformbemühungen der VN im All-gemeinen, insbesondere hinsichtlich ihrer demokratischen und legitimatorischenAufwertung, sowie des Sicherheitsrates und der internationalen Finanzinstitutionenim Besonderen analysiert. Auch in diesem Teil kommen die vorgestellten Theorienüber internationale Organisationen zur Anwendung. Da das Seminar vollständig inenglischer Sprache gehalten wird, werden den Studierenden somit von Beginn anwesentliche Termini sowohl unserer wissenschaftlichen Teildisziplin als auch derVN-Politik in dieser – in beiden Bereichen dominierenden – Sprache vermittelt.

Neben diesem Seminar wird ein für alle Teilnehmer des Planspiels verpflichtenderWorkshop angeboten, der von zwei simulationserprobten Hilfskräften geleitet wird.In diesem im zweiwöchigen Rhythmus stattfindenden Workshop werden die Studie-renden intensiv auf ihre Aufgaben während der Konferenz vorbereitet. Hierzu gehörtzunächst ein englisches Sprachtraining, in dessen Verlauf der in den VN-Organengängige Diplomatenjargon mittels Verhandlungs- und Rhetorikübungen einstudiertwird. Außerdem gehört zu den Zielen des Workshops die Einübung der VN-Geschäftsordnungen, der Abstimmungsverfahren sowie bestimmter konferenzdiplo-matischer Verhaltens-Kodizes. Weitere Inhalte sind das Verfassen von Resolutionen,die Erarbeitung der Positionen des von der Tübinger Delegation zu vertretenden VN-Mitgliedsstaates sowie das darauf basierende Verfassen von Positionspapieren zu denunterschiedlichen Themen in den Gremien.

Um die im Workshop erlernten diplomatischen Verfahrensregeln einzuüben, spie-len die Studierenden unter der Leitung der beiden Hilfskräfte insgesamt fünf Mal imLaufe des Wintersemesters eine Sitzung der VN-Generalversammlung in internenganztägigen Probe-Simulationen nach. Außerdem entsenden wir unsere Studieren-den in andere deutsche Städte zu inter-universitären Vorbereitungssimulationen.Den Höhepunkt dieser Vorbereitungen bildet das eigene Tübingen Model UnitedNations, das über die Jahre großen Zuspruch von regelmäßig teilnehmenden exter-nen NMUN-Delegationen aus Süddeutschland und der Schweiz erfahren hat.

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Im Anschluss an das Seminar und den Workshop veranstalten wir zudem einWochenendseminar im Heinrich-Fabri-Institut der Universität Tübingen in Blau-beuren. Dort wird der Schwerpunkt noch stärker auf die VN-Politik »unseres« Mit-gliedsstaates gelegt, unter anderem durch Gastvorträge von zu diesem Zweck einge-ladenen VN- und Länderexperten. Schließlich organisieren wir für unsereStudierenden Exkursionen nach Berlin zum Auswärtigen Amt und zur Botschaft desjeweils von der Tübinger Delegation vertretenen Landes, um dort mit weiterenExperten Informationsgespräche zu führen.

Im Zuge der ausführlichen Beschreibung dieser Lehrveranstaltung ist deutlichgeworden, dass diese allein aufgrund der an unserer Abteilung verfügbaren perso-nellen und finanziellen Ressourcen nicht durchführbar wäre. Ein wesentlicher Bau-stein für die Realisierbarkeit dieses Lehrangebots ist daher die Eigeninitiative derStudierenden. Sie werden derart in das Projekt mit einbezogen, dass sie lernen,sowohl inhaltliche als auch organisatorische Problemstellungen im Team zu lösen.Dazu gehört auch, dass Fakten und Positionen untereinander abgestimmt werden,um eine konsequente und einheitliche Arbeit in den Gremien in New York zugewährleisten. Auch wesentliche organisatorische Aufgaben werden von den Teil-nehmern in insgesamt vier Teams übernommen. So sind zwei Teams für einen Teilder Projekt-Finanzierung zuständig: Eine Gruppe sucht nach lokalen Sponsoren,während eine andere eine Studentenparty organisiert. Beide Aktivitäten sollen denStudierenden dazu dienen, die Reise nach New York teilzufinanzieren. Zwar könnenTeilnahmegebühr und Unterkunft durch die von uns eingeworbenen Zuschüssemehrerer Großsponsoren ganz abgegolten werden, für einen Teil der Flugkosten undVerpflegung müssen die Studierenden aber selbst aufkommen. Ein drittes Teamkümmert sich um die Medienarbeit, indem es Pressemeldungen verfasst und einePressekonferenz am Rande des Tübingen Model United Nations organisiert, um dasProjekt landesweit bekannt zu machen. Ein viertes Team ist schließlich mit Verwal-tungsarbeiten betraut, z. B. mit der Gestaltung einer Homepage sowie mit dem Ent-wurf von Visitenkarten für die Delegierten, mit der Bereitstellung von Laptops undDruckern für die Probe-Simulationen oder mit dem Anfertigen eines Abschlussbe-richts an die Organisatoren, Teilnehmer und Geldgeber.

Wie bereits Young et al. (2003: 185-188) am Ende der Darstellung ihrer arbeitsin-tensiven Distance-Learning-Seminare festgestellt haben, ist es auch unsere Erfah-rung, dass die Studierenden – angesichts des hohen Nutzens, den sie aus der Teil-nahme an einer solch aufwändigen Veranstaltung ziehen können – die weit über dienormale Seminarzeit hinausgehende Mit- und Mehrarbeit gerne auf sich nehmen. Indiesem Zusammenhang ist es freilich wichtig, die Teilnehmer von Beginn an – amBesten bereits während der Orientierungsveranstaltung – über den anstehendenArbeitsaufwand so genau wie möglich zu informieren. Im Laufe der dann folgendenMonate hat die Eigeninitiative der Studierenden oft sogar eine Dynamik entfaltet,aufgrund derer wir unser Rahmenprogramm, z. B. durch zusätzliche Exkursionen,noch ausdehnen konnten. Folglich sind auch am jeweiligen Ende der Veranstaltungdie Reaktionen der Tübinger Studierenden in den vergangenen acht Jahren durch-weg sehr positiv gewesen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bezeichnen die

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während der Vorbereitung und der Konferenz in New York gemachten Erfahrungenals überaus lohnend und teilen diese wiederum anderen Studierenden mit. Eine Kon-sequenz hieraus ist, dass das Seminar zum VN-System jedes Jahr eine der am stärks-ten besuchten Veranstaltungen im Hauptstudium an unserem Institut ist.

Es wäre also falsch zu glauben, dass sich die beschriebene multidimensionaleLernerfahrung bei den Studierenden erst während des Planspiels einstellen würde.Unsere Erfahrungen deuten vielmehr darauf hin, dass die teilnehmenden Studieren-den über mehr als die Dauer eines Semesters hinweg einen überdurchschnittlichhohen Lernerfolg bei den inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitungen für dieTeilnahme am National Model United Nations verbuchen können. Dabei spielt dieVerbindung von Theorie und Praxis eine zentrale Rolle, denn das im Seminar ver-mittelte Wissen kann für die Konferenzvorbereitung in einem doppelten Sinnegenutzt werden: Es dient den Studierenden nicht nur zur Erarbeitung des empiri-schen Rüstzeugs; vielmehr können sie durch die im Seminar gestellten theoretischenAnforderungen das erlernte Fachwissen in strukturierte Kausalbezüge übersetzen,die sie wiederum als Hintergrundwissen in der praktischen Verhandlungssituationdes Planspiels nutzen können – mindestens im Sinne einer Einsicht in die Notwen-digkeiten der Diplomatie. In anderen Worten: Gerade das Erlebnis der Diskrepanzzwischen strukturiertem Hintergrundwissen einerseits und diplomatischer Rhetorikandererseits bereitet die Studierenden realistisch auf eine mögliche spätere Aufgabeim diplomatischen Dienst oder in einer internationalen Organisation vor, bei der esunter anderem ebenfalls um das Umsetzen von fundiertem Wissen und eigenen Inte-ressen in eine behutsame und Erfolg versprechende Verhandlungstaktik geht.

Dem beschriebenen, Respekt einflößenden Arbeitseinsatz der Studierenden stehtein nicht minder großes Engagement der Lehrenden gegenüber. Und wie bereitserwähnt führt uns ein derartig zeit-, arbeits- und auch kostenintensives Lehr- undAusbildungsangebot an die Grenzen des derzeit Möglichen. Eingedenk dieser Tatsa-che darf die vorangegangene Darstellung unserer Veranstaltung nicht als handlungs-anleitend in allen Details verstanden werden. Noch viel weniger darf sie als Plädo-yer dafür interpretiert werden, dass solche Veranstaltungen das Lehrangebot andeutschen IB-Abteilungen dominieren sollten. Wir wollten zwar aufzeigen, inwie-fern im Rahmen der momentan gesteckten Grenzen ein Seminar der InternationalenBeziehungen eine attraktive Kombination aus Theorie und Praxis bieten kann. Esversteht sich aber von selbst, dass eine solch aufwändige Veranstaltung in derSemesterplanung jedes Instituts eine Ausnahme bilden wird. Ebenso selbstverständ-lich stellen sich von Institut zu Institut andere personelle und finanzielle Bedingun-gen und stehen vor allem andere inhaltliche und didaktische Zielsetzungen im Vor-dergrund. Zweifelsohne sind also einige Elemente des von uns angebotenenRahmenprogramms, z. B. Berlin-Exkursion und Wochenendseminar, als besonde-rer, gegebenenfalls entbehrlicher Aufwand zu betrachten, zu dem es sicher auchAlternativen gibt.

Zur Nutzbarmachung des beschriebenen Erfolgs an anderen Instituten seien abernoch einmal folgende Elemente genannt, auf die – sofern die Teilnahme an eineminternationalen Planspiel vorgesehen ist – unseres Erachtens nicht verzichtet werden

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sollte: erstens das Abhalten sämtlicher Veranstaltungen in englischer Sprache, alleinschon zur Vermittlung wesentlicher Fachbegriffe aus Wissenschaft und VN-Politik;zweitens die Vorbereitung und Durchführung theoriegeleiteter Analysen im Rah-men des Seminars; drittens das Anbieten eines Workshops, der Kommunikations-und Rhetoriktraining beinhaltet, die Studierenden mit diplomatischen Regeln undVerhandlungspraktiken vertraut macht und – gemeinsam mit dem Seminar – in diePolitik des zu vertretenden Landes einführt; viertens zumindest interne Probesimu-lationen zum Einüben des erlernten konferenzdiplomatischen Rüstzeugs; fünftensdas von Beginn an klar umrissene Einfordern von studentischer Eigeninitiative undsechstens – soweit notwendig – das Einwerben von Drittmitteln.

5. Fazit: Notwendigkeit institutioneller Innovationen

Nachdem wir anhand unserer Lehrveranstaltung zum VN-System sehr ausführlichdargestellt haben, wie ein gelungenes Beispiel für substanzielle Internationalisie-rung im Rahmen des momentan Möglichen aussehen kann, wollen wir freilich nichtdahingehend missverstanden werden, dass wir uns mit den gegenwärtigen Hand-lungsspielräumen der deutschen Politikwissenschaft einverstanden erklären. NebenInnovationen des Lehrangebots muss es auch künftig darum gehen, Überlegungenanzustellen, inwiefern der bisher gegebene Rahmen im Zuge institutioneller Refor-men erweitert werden kann. Die Bereitschaft hierfür scheint bei großen Teilen derwissenschaftspolitisch Verantwortlichen in Deutschland gegeben zu sein. So ist dieFörderung und Verwirklichung formeller und substanzieller Internationalisierungder Lehre eine handlungsleitende Maxime, zu der sich diese Entscheidungsträgerwiederholt bekannt und die sich die Universitäten in zunehmendem Maße zu eigengemacht haben. Die historischen Makrotrends der Entgrenzung und Internationali-sierung sozialer Handlungszusammenhänge schlagen sich nicht nur in der Art undWeise wirtschaftlicher Produktion und Distribution oder öffentlichen Regierens nie-der. Beide Prozesse prägen in zunehmendem Maße die Ausbildungsinfrastrukturund Ausbildungsinhalte junger Menschen. Dies ist uneingeschränkt begrüßenswert.Doch existieren nach wie vor trotz oder auch gerade wegen mannigfacher Erfolgversprechender Reformanstrengungen erhebliche Kapazitätslücken, die das doppelteZiel eines international wettbewerbsfähigen Wissenschaftsstandorts Deutschlandund einer wissenschaftlich gut fundierten und berufsorientierend ergänzten Ausbil-dung junger Menschen für Berufe auf internationalen Märkten oder in internationa-len Diensten zurzeit schwer erreichbar erscheinen lassen.

Wir möchten daher nicht schließen, ohne kurz anzudeuten, wie aus unserer Sichteine in die Zukunft weisende institutionelle Innovation aussehen könnte, die uns derErreichung dieses doppelten Ziels deutlich näher brächte und die aus den an deut-schen Standorten zur Verfügung stehenden Ressourcen optimalen Nutzen ziehenkönnte: Wir möchten hiermit die Gründung von interdisziplinären Zentren für inter-nationale und globale Studien an deutschen Universitäten anregen. Ein solches Zen-trum könnte analog zum Institut für Weltgesellschaft der Universität Bielefeld undzum Zentrum für Globalisierung und Governance der Universität Hamburg oder zu

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den Schools of Public and International Affairs der führenden amerikanischenUniversitäten zwei Dinge produktiv erreichen:

Erstens wäre ein solches Zentrum in der Lage, die in einer Mehrzahl von geistes-und sozialwissenschaftlichen Fächern einer Universität stattfindende Forschung imQuerschnittsbereich der Internationalen Beziehungen intensiver zu fördern und zukoordinieren. Die Universitäten würden damit nicht nur auf beständig vorgetrageneeinschlägige Anregungen prominenter wissenschaftsfördernder Institutionen wieder Fritz Thyssen Stiftung (2001: VII, 184f; 2002: VIII, 216f) reagieren, welche dieinterdisziplinäre Vernetzung der Forschungsaktivitäten in diesem Bereich mit demZiel des Aufbaus breiter wissenschaftlicher Kompetenz sowie der Steigerung vonDialogfähigkeit mit der politischen Praxis fördert und fordert. Sie würde sich darü-ber hinaus die unter anderem im Entwurf zu einem neuen Landeshochschulgesetzfür Baden-Württemberg enthaltenen Leitlinien für die Gründung von Zentren inter-disziplinärer Forschung28 zu eigen machen und den Anregungen seitens der PolitikTaten folgen lassen.

Zweitens erlaubte ein solches Zentrum für internationale und globale Studien, dieReformimpulse aufzunehmen, die sich der unter dem Stichwort »Bologna-Prozess«voranschreitenden Studiengangsreform verdanken, und in Richtung auf verstärkteInterdisziplinarität auch in der Lehre zu bündeln. So könnte beispielsweise der inter-disziplinäre Ansatz des BA-Studiengangs Politikwissenschaft an einigen Universi-täten institutionelle Unterstützung oder gar eine Ergänzung, z. B. durch die Einrich-tung eines grundständig interdisziplinären BA-Studiengangs Internationale Bezie-hungen/Studien erfahren, wie er derzeit nur in Dresden angeboten wird. Gleichesgilt für das Angebot von Master-Studiengängen. Insgesamt ergäbe sich eine effek-tive interdisziplinäre Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und des hochqualifizierten Fachkräftenachwuchses auf allen Ebenen: Vermittlung von Grundla-genwissen und -fertigkeiten sowie Berufsfeldorientierung im Bachelor-Studiengang,Vermittlung von Vertiefungswissen und Erwerb wissenschaftlich-methodischerSelbstständigkeit für eine wissenschaftliche oder wissenschaftsnahe Berufstätigkeitin den Master-Studiengängen, Heranbildung des hoch qualifizierten wissenschaftli-chen Nachwuchses im Rahmen von eigens dafür eingerichteten Promotionskollegs.

6. Schluss

Wir begrüßen die schon erfolgte formelle und substanzielle Internationalisierung derLehre an deutschen Universitäten, halten jedoch eine großzügige Förderung ihrerraschen Weiterentwicklung für unverzichtbar.

Im Hinblick auf die formelle Internationalisierung dringen wir auf das zügigeVoranbringen des Bologna-Prozesses zur Schaffung eines europäischen Hochschul-raums. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es

28 Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (2003: § 40,Abs. 5).

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– der einheitlichen und vollständigen Einführung einer dreigliedrigen Studien-gangsstruktur mit international kompatiblen Studienabschlüssen und Qualifi-kationsnachweisen;

– der europaweiten Vereinheitlichung von Bewerbungsfristen;– der Schließung von Kapazitätslücken, um bessere fachliche Betreuungsange-

bote für ausländische Studierende in Deutschland sowie eine nachhaltige stu-dienbegleitende berufsorientierende Betreuung für alle in Deutschland Studie-renden schaffen zu können.

Im Hinblick auf die substanzielle Internationalisierung verweisen wir auf das Dik-tum des Wissenschaftsrates, wonach die Geistes- und Sozialwissenschaften als derBereich der Wissenschaft betrachtet werden müssen, in dem die Ursachen und man-nigfachen Auswirkungen von Internationalisierungsprozessen intellektuell und pra-xeologisch verarbeitet werden. Die intensive Selbstreflexion von Fachvertreterinnenund -vertretern dieser Fächer in den letzten Jahren hat bewiesen, dass wir niemalszuvor besser gerüstet waren, um diese für unsere Gesellschaft wichtige Aufgabeintellektuell zu meistern. Was uns fehlt, sind institutionelle Innovationen wie inter-disziplinäre Zentren für internationale und globale Studien, die diese intellektuellenKapazitäten bündeln und sowohl in der Forschung als auch in der Lehre zur produk-tiven Entfaltung bringen.

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419Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 419-427

Harald Bluhm/Anna Geis

Den Krieg überdenkenKriegstheorien und Kriegsbegriffe in der Kontroverse – ein Tagungsbericht

1. Krieg in der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung

»Krieg« erlebt in öffentlichen und wissenschaftlichen Kontroversen seit Ende der1990er-Jahre eine anhaltende Konjunktur, die beinahe den Eindruck erweckt, eshätte Phasen gegeben, in denen es keine Kriege in der internationalen Politik gab.Diese Täuschung gilt freilich selbst für Europa nur eingeschränkt. Politisch ist dasThema durch die lebhaften öffentlichen Debatten zu den Kriegen in Kosovo, Afgha-nistan und Irak stark ins öffentliche Bewusstsein der westlichen Demokratiengerückt, wissenschaftlich ist es jüngst vor allem die Literatur zum »Neuen Krieg«und zum Wandel der Gewaltformen, die in der internationalen Politikwissenschaftwieder die Aufmerksamkeit auf den gewaltsamen Austrag von Konflikten fokus-siert. Die wissenschaftliche Diskussion reflektiert seit einiger Zeit, in welchemMaße unser gewohntes Denken über den Krieg der Realität hinterher hinkt, weilunsere Begriffe von »Krieg« nach wie vor relativ stark an den Staat europäischerPrägung gebunden bleiben und weil das öffentliche Reden vom »Krieg« zu wenigzwischen unterschiedlichen Formen politischer Gewalt (Krieg, Terrorismus, privati-sierte Gewalt, Gewaltkriminalität u. a.) differenziert. Dies ist alles andere als einbloß akademisches Problem, da zum einen defizitäre Auffassungen westlicher Ent-scheidungsträger über Ursachen, Verlauf und Eskalationsdynamiken von mög-licherweise neuen Gewalttypen wirkungslose oder gar riskante Interventions- undBefriedungsstrategien befördern. Zum anderen ist die Bezeichnung von kollektiverpolitischer Gewalt als »Krieg« immer auch als Versuch zu interpretieren, politischeLegitimation für militärische Gegenmaßnahmen zu beschaffen.

Vor diesem Hintergrund zielte die Tagung »Neuere Kriegstheorien – eine Zwi-schenbilanz«1 darauf ab, die im letzten Jahrzehnt aufgekommenen Begriffe, Kon-zepte und Theorien des Krieges zu sichten und kritisch zu beleuchten (wobei es sichteils um neue Begrifflichkeiten, teils um die Akzentuierung alter Konzepte wie des»gerechten Kriegs« handelt): Welche empirischen Phänomene können sie jeweilserklären, welche analytischen Stärken und Schwächen haben sie, welche normativenFragen werfen sie auf? Da Konsens darüber herrscht, dass es nicht eine Theorie desKrieges, nicht eine Definition oder eine Typologie des Krieges geben kann, führtedie Konferenz Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Politischer Theorie

1 Die Tagung wurde von der DVPW-Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte inKooperation mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) vom25. bis 27. März 2004 an der Universität Frankfurt a. M. durchgeführt und von der Deut-schen Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert.

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und den Internationalen Beziehungen zusammen, um eine konzeptionelle Reflexionüber ganz unterschiedliche Deutungen von politischer Gewalt im Lichte empirischerForschungsarbeiten und öffentlicher Debatten anzuregen. Das verbindende Band derTagungsbeiträge bildete die Erörterung der Frage, ob sich das internationaleGewaltgeschehen tatsächlich so stark verändert (hat), wie einige Autoren und Kon-zepte behaupten, oder ob sich im Wesentlichen doch nur unsere Wahrnehmungsicherheitspolitischer Herausforderungen seit dem »Epochenwechsel« 1990 undnoch einmal seit den Terroranschlägen vom 11.9.2001 verändert (hat).

2. Die Zukunft des zwischenstaatlichen Krieges

Ein Vorwurf der Literatur zum Formwandel politischer Gewalt lautet, dass in denNATO-Staaten politische Gewalt immer noch mit den Kategorien erfasst würde, diegalten, als der Staat der Monopolist des Krieges war. Das heißt, grundlegendeGrenzziehungen vorauszusetzen, die im Rahmen einer höchst kontingenten histori-schen Entwicklung des zentraleuropäischen Staatensystems so nur die europäischenTerritorialstaaten entwickeln und gewährleisten konnten: Innen – Außen (Polizei –Militär), Krieg – Frieden, Freund – Feind, Kombattanten – Nichtkombattanten,Kriegshandlungen – Gewaltkriminalität, Gewaltanwendung und Erwerbsleben. DieWirklichkeit des Krieges lässt sich mit diesen Kategorien jedoch vielfach nicht mehrerfassen. Das idealisierte Modell des »klassischen« zwischenstaatlichen Krieges des18. und 19. Jahrhunderts befindet sich im internationalen Kriegsgeschehen seit 1945auf dem Rückzug, während der dominierende Kriegstyp der innerstaatliche Kriegist. Erscheint es auf den ersten Blick plausibel, dass mit dem in der gesamten Poli-tikwissenschaft viel diskutierten Wandel der Staatlichkeit durch vielfältige Prozesseder Denationalisierung auch die soziale Institution »Krieg«, die stark an den klassi-schen Staat gebunden war, einem enormen Wandel unterliegt, so darf dies dennochnicht dazu verleiten, die Entstaatlichung des Krieges als einzigen oder gar irrever-siblen Trend zu interpretieren.

Durch die neue Betonung innerstaatlicher Kriege gerät der Überblick über dasGesamtgeschehen in den Hintergrund, da anstelle der Entstaatlichung des Kriegeseine weltpolitische Gemengelage von gleichzeitiger Entstaatlichung und fortgesetzterVerstaatlichung des Krieges zu konstatieren ist. Anna Geis wies darauf hin, dassKrieg und Staatlichkeit in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. So wirdder Westen weiterhin versuchen, in die failed states Staatlichkeit nach seinem Musterzu exportieren, notfalls gewaltsam, d. h., misslingende Staatsbildung wird auch vonerneuten Versuchen der Rekonstruktion von Staatlichkeit ergänzt. Entgegen der vor-eiligen These vom Verschwinden zwischenstaatlicher Kriege kann man drei Kon-texte identifizieren, in denen auch in Zukunft zwischenstaatliche Kriege nicht auszu-schließen sind: Erstens bestehen klassische Sicherheitsdilemmata z. B. im Nahen undMittleren Osten und Südasien fort; zweitens müssen Regime, die gravierende Men-schenrechtsverletzungen begehen oder UN-Resolutionen missachten (»Schurken«-oder »Problemstaaten«), zunehmend damit rechnen, faktisch ihre Souveränität zuverlieren und schließlich zum Objekt militärischer Aktionen zu werden. Drittens

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führt die Reaktion westlicher Staaten auf den transnationalen Terrorismus zur Stär-kung ihrer Sicherheitsapparate und zur Schwächung demokratischer Prozesse; Mili-täraktionen gegen (vermeintliche) harbouring states von Terroristen könnten vor die-sem Hintergrund als Recht zur Selbstverteidigung deklariert und nach eigenemErmessen durchgeführt werden. Dass Staat/Staatlichkeit und Souveränität zentraleReferenzpunkte sowohl von Konfliktakteuren als auch der internationalen Konflikt-forschung bleiben, unterstrich auch Sven Chojnacki in seinem Kommentar. Jedochsollte man sich dabei vor einer euro-zentrierten Sicht hüten, da eine solche dieUngleichzeitigkeiten und Ungleichförmigkeiten des Krieges nur schwer wahrzuneh-men vermag (und die möglicherweise auch den »klassischen«, »Clausewitzschen«Kriegstyp in Europa idealisiert hat, da es diesen wohl selten wirklich gab).

Dass die jüngste Diskussion von »neuen« Einzelphänomenen oft den Blick auf diegesamte weltpolitische Sicherheitsarchitektur und die in dieser fortbestehenden»alten« Elemente wie z. B. Sicherheitsdilemmata verstellt, betonten auch HerfriedMünkler und Dieter Senghaas in ihrem Podiumsgespräch.2 Analysen aktueller Kon-flikte und Szenarien potenzieller Konfliktkonstellationen sollten sich nicht nur mit»Neuen Kriegen«, sondern auch stärker mit hegemonialen Konfliktkonstellationen(z. B. der zukünftigen Rolle Chinas), der Entstehung imperialer Ordnungen alsAlternative zum territorialstaatlichen Ordnungsmodell des Politischen sowie denEntwicklungsdilemmata von Regionen und der möglichen Unregierbarkeit ganzerTerritorien auseinandersetzen.

3. Neue Kriege oder alte Thesen?

An der Theorie bzw. der Debatte zum »Neuen Krieg« wird zunehmend Kritik laut.Kriegsursachen- und Konfliktforscher, die sich schon lange mit innerstaatlichenKriegen v. a. in Afrika und Asien befassen, vermögen bei weitem nicht so viel»Neues« in der Debatte zu erkennen, wie die Rede von den »Neuen« Kriegen nahe-legt. Nicht nur sind prinzipielle Zweifel angebracht, ob der Begriff »neu« sinnvollist, um nützliche Unterscheidungen und theoretisch gehaltvolle Fragen hervorzu-bringen. Auch einige der hierunter behandelten Phänomene wie Asymmetrie, mas-sive Regelverletzungen im Krieg oder die Kriegführung durch nicht-staatlicheAkteure gibt es seit langem bzw. sind teils so alt wie der Krieg selbst. Sie sind jüngstallenfalls neu entdeckt worden, wie Harald Müller in seinem Eingangsstatementhervorhob. Dass zahlreiche Erkenntnisse nunmehr als »neu« präsentiert werden, diebereits seit langem in der Kriegsursachenforschung diskutiert werden, führte auchKlaus Schlichte in seinem Beitrag aus: So würden einige Thesen wie jene der Barba-risierung von Gewalt oder der Dominanz ökonomischer Motive nicht durch syste-matische vergleichende Forschung untermauert, stattdessen bleibe die Opera-tionalisierungsbasis dieser Behauptungen unklar und beruhe eher auf anekdotischerEvidenz.

2 Eine Dokumentation des Gesprächs findet sich unter dem Titel »Alte Hegemonie undNeue Kriege« in: Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004): 5, 539-552.

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Warum aber gibt es gegenwärtig einen Diskurs über das »Neue« des Krieges?Klaus Schlichtes These lautet, dass mit diesem Diskurs in der sicherheitspolitischenUmbruchphase seit 1990 und insbesondere seit dem 11.9.2001 eine neue »legitimeProblematik« etabliert werden soll. In dieser vermischen sich politische Ordnungs-vorstellungen mit theoretischen Haltungen und werden für die unterschiedlichenLegitimationsdiskurse in Öffentlichkeit, politischer Praxis und Sozialwissenschaftenverwendbar. Bei aller Kritik an der Debatte zu den »Neuen« Kriegen ist festzuhal-ten, dass sie wissenschaftlich Weiterführendes enthält, indem sie stärker als zuvordie Aufmerksamkeit auf das soziale und politische Geschehen im Krieg lenkt. Diesunterstreicht die Notwendigkeit einer stärkeren Verknüpfung von Kriegstheorienmit Gesellschaftstheorien. Eine solche Verknüpfung könnte dazu beitragen, die hin-ter vielen nicht-westlichen Konfliktphänomenen stehende Informalisierung desPolitischen angemessener zu erfassen; westliche Forscherinnen und Forscher über-tragen bislang noch zu häufig die eigenen etablierten Vorstellungen vom Politischenauf andere Regionen.

Nimmt man das gesamte Kriegsgeschehen seit 1990 in den Blick, kommt nichtnur den in der jüngsten Debatte besonders akzentuierten low-intensity-Konflikten,den Bürgerkriegen und der privatisierten Gewalt ein besonderes Gewicht zu, son-dern zunehmend auch »Weltordnungskriegen«, die sowohl auf Seiten der wechseln-den westlichen Bündnisse als auch der verschiedenen islamistischen Gruppierungenseit dem 11.9.2001 die weltpolitischen Konfliktkonstellationen zu prägen beginnen.Im Gegensatz zur Akzentuierung ökonomischer Motive in den »Neuen Kriegen«sind bei solchen »Weltordnungskriegen« eine fundamentale Re-Ideologisierung undRe-Politisierung des Krieges und der Gewalt zu beobachten, worauf Andreas Her-berg-Rothe in seinem Kommentar hinwies.

4. Die Theorie des Kleinen Krieges »revisited«

Neben den »Neuen Kriegen« stellt der »Kleine Krieg«, der immer schon eineBegleiterscheinung des »Großen Krieges« war und u. a. bereits von Clausewitz undMao Tse Tung thematisiert wurde, ein weiteres nunmehr viel diskutiertes Konzeptdar. Christopher Daase (1999), der dieses Konzept zu einer Theorie mit Prognosenüber die Folgen einer solchen Kriegführung für die betroffenen staatlichen undnicht-staatlichen Akteure und für das internationale System ausgearbeitet hat, wiesauf drei Bereiche hin, in denen die Theorie in Zukunft weiterentwickelt werdenkönnte: So müsste in weiteren systematisierenden Vergleichen spezifiziert werden,unter welchen Bedingungen eine Stärkung und wann eine Schwächung des kämp-fenden staatlichen Akteurs eintritt, und unter welchen Bedingungen es zu einer Poli-tisierung und wann es zu einer Entpolitisierung bzw. Kriminalisierung der nicht-staatlichen Akteure kommt. Gewinnbringend wäre zudem bei der Analyse des staat-lichen Akteurs, diesen nach Demokratie und Nicht-Demokratie zu differenzieren.Das würde es ermöglichen, an die intensive Forschung zum »demokratischen Frie-den« anzuschließen, der zufolge Demokratien in zwischenstaatlichen Kriegen häu-figer gewinnen, mehr Ressourcen aufwenden, ihre Soldaten besser ausbilden und

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opfersensibler sind – es wäre systematisch zu überprüfen, ob dies alles auch auf dieKleinkriegführung von Demokratien zutrifft.

Vielversprechend erscheint schließlich eine Überprüfung von Erwartungen derTheorie des Kleinen Krieges im Lichte des globalen »Krieges gegen den Terroris-mus«. Zwar sind Krieg und Terrorismus keinesfalls gleichzusetzen, jedoch erzeugenbeide durch die Reaktionen der betroffenen Staaten durchaus ähnliche Folgen fürdie internationale Politik. Die Globalisierung des Counterterrorismus kann mandaher wie einen Kleinen Krieg im Weltmaßstab betrachten: Zentrale Normen desVölker- und Kriegsrechts werden verletzt oder untergraben, Institutionen des inter-nationalen Systems transformiert, und auch innenpolitisch zeichnen sich Verände-rungen wie die Einschränkung von Bürgerrechten oder die Stärkung der Staatsappa-rate ab. Angesichts der ideologischen Unterfütterung z. B. des islamistischenTerrorismus sollte man zudem die inhaltlichen Ziele und Motivationen der nicht-staatlichen Akteure systematisch in die Analyse und die qualitative Bestimmungvon Kriegen einbeziehen, wie Tine Stein in ihrem Kommentar hervorhob.

5. Die Aktualität der Theorie des »gerechten Krieges«

In demokratischen Systemen müssen Militäreinsätze immer öffentlich legitimiertwerden, zumal sich zahlreiche Demokratien zu »post-heroischen« Gesellschaftenentwickeln, in denen das Opfern von Soldaten stärker abgelehnt wird als früher.Dass westliche Demokratien nicht unbedingt zu umfassendem »militärischenHumanismus« neigen, wie Ulrich Beck (1999: 989) dies einst im Gefolge desKosovo-Krieges prognostizierte, liegt neben ihrer Opfersensibilität auch an denerheblichen finanziellen Belastungen, die mit der Intervention, der Friedenssiche-rung und dem Wiederaufbau eines Staates verbunden sind. Vor diesem Hintergrundkann die Renaissance von Konzepten des »gerechten Krieges« als eine Antwort aufsolche Legitimationsprobleme in westlichen Demokratien gelesen werden: Die häu-fig »zögerliche« politische Öffentlichkeit soll mit moralischen Argumenten für eineZustimmung zum Militäreinsatz mobilisiert werden, der von den politischen Ent-scheidungsträgern als richtig erachtet wird. Freilich wirft die Inanspruchnahme derFormel des »gerechten Krieges«, wie sie insbesondere im Zuge des Kosovo-Kriegesund des jüngsten Irak-Krieges wieder zu beobachten war, jahrzehntelange Entwick-lungen im Völkerrecht über Bord. Letzteres bindet das Recht zum Krieg bis aufstrikt geregelte Ausnahmefälle an das Votum des UN-Sicherheitsrates, währendgleichzeitig keine Diskriminierung zwischen souveränen Staaten vorgenommenwerden darf, d. h., wer jenseits davon »gerechte Kriege« zu führen vorgibt, ermäch-tigt sich selbst und setzt sich über das Völkerrecht hinweg. Dabei werden oftmachtrealistische mit normativen Positionen vermischt.

Die Theorie des »gerechten Krieges«, die in der Regel für Situationen der Not-wehr (Selbstverteidigung) und der Nothilfe (»humanitäre Intervention«) inAnspruch genommen wird, steht massiv in der Kritik: Zum einen ist schwer zubegründen, wie Kriege jemals gerecht sein können, da immer Unschuldige sterben;zum anderen öffnet die Vagheit und die normative Aufladung der unterschiedlichen

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Kriterien des ius ad bellum und des ius in bello der eigeninteressierten undwillkürlichen Auslegung Tür und Tor. Wer legitimierte seine Gewalt nicht gerne mitdem Etikett »gerecht«? Trotz der berechtigten Kritik an Theorien des »gerechtenKrieges« verwiesen Mattias Iser in seinem Beitrag und Peter Mayer in seinem Kom-mentar auf die Nützlichkeit der Moralphilosophie als inhaltliches Korrektiv für diekritische Begleitung und materiale Fortschreibung des Völkerrechts. Denn schließ-lich muss jedes Recht auch normative Geltung haben, es weist also einen internenBezug zu moralischen Überlegungen auf. Da sich das Spannungsverhältnis vonMoral und Recht, Legalität und Legitimität niemals ganz auflösen lässt, müsstediese Spannung durch institutionelle Vorkehrungen zumindest verringert werden.Daraus folgt, dass tiefgreifende Reformen des UN-Systems unabdingbar sind, umeigenmächtige militärische Schritte von einzelnen Staaten oder Staatengruppen, dieals »gerecht« oder »gerechtfertigt« ausgegeben werden, zu verhindern. Nun tretenjedoch mit dem transnationalen Terrorismus und der gewaltsamen Reaktion der atta-ckierten Staaten neue (auch begriffliche) Herausforderungen auf, die die Anwen-dung der Theorie des »gerechten Krieges« noch weiter in Frage stellen. Nützlicherals diese Theorie erscheint daher die Entwicklung einer ausdifferenzierten Theorielegitimer allgemeiner (polizeilicher, militärischer und revolutionärer) Gewalt – einesolche Theorie ist aber nicht einmal ansatzweise in Sicht.

6. Vom »demokratischen Frieden« zum »demokratischen Krieg«?

Langanhaltende Bürgerkriege, gravierende Menschenrechtsverletzungen und grenz-überschreitende Flüchtlingsströme rufen seit dem Ende des Kalten Krieges früheroder später eine Reaktion der wirtschaftlich und militärisch stärksten Staaten derWelt hervor; teils wird ihre Intervention erbeten, teils wird sie von den intervenie-renden Staaten selbst als unumgänglich erachtet. Angesichts dieses verstärktenInterventionismus werden auch einige der Hauptprämissen einer der wichtigstenFriedenstheorien der Internationalen Beziehungen fragwürdig, der des »demokrati-schen Friedens«. Durch die zahlreichen Militäraktionen der Demokratien wird zwarnicht die dyadische Variante des demokratischen Friedens in Frage gestellt, diebesagt, dass Demokratien lediglich gegeneinander (fast) keine Kriege führen; diemonadische Variante behauptet jedoch, dass Demokratien generell friedlicher inihrem Außenverhalten sind als andere Herrschaftstypen. Die relativ häufige Beteili-gung von Demokratien an militärischen Konflikten, insbesondere seit 1990, bedarfim Lichte dieser monadischen Variante einer besonderen Beachtung und Erklärung.Es erscheint angebracht, neben der viel diskutierten Theorie des »democratic peace«über eine komplementäre Theorie des »democratic war« nachzudenken, die klärenmüsste, ob Demokratien eben nicht nur eine spezifische Friedensfähigkeit eignet,sondern sie gleichzeitig Ansätze zu einer ebenso demokratiespezifischen Kriegsnei-gung entwickeln.

Eine solche demokratiespezifische Kriegsneigung könnte sich seit 1990 im Führenvon »Erzwingungskriegen« zeigen, wie Lothar Brock darlegte: Dies sind Kriege zurDurchsetzung substanzieller Normen (insbesondere Menschenrechte) unter Miss-

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achtung oder unvollkommener Anwendung prozeduraler Normen. Der internatio-nale Handlungsbedarf ist dabei von den Demokratien selbst stark erhöht worden, dasie es waren (und sind), die die Positivierung substanzieller Rechte des Individuums,die Förderung von Demokratie und good governance als Gegenstand staatenüber-greifenden Rechts vorangetrieben haben (und weiter vorantreiben) – gleichzeitigallerdings verweigern sich Demokratien der entsprechenden Ausweitung internatio-naler kollektiver Handlungsfähigkeit zur Umsetzung dieses immer komplexer wer-denden Normengefüges. Dahinter könnte auch die Furcht vor dem Verlust national-staatlicher demokratischer Selbstbestimmung durch ein Übermaß an internationalerSelbstbindung stehen, die sich derzeit noch demokratischer Kontrolle entzieht. EinDemokratiebegriff, der sich auf Volkssouveränität gründet, verwehrt sich schließ-lich globalen Verfassungsprozessen und der Entstehung von Weltstaatlichkeit. Dassdie Herausbildung prozeduraler Normen nicht Schritt hält mit der Ausbreitung sub-stanzieller Normen führt dazu, dass der Handlungsbedarf eher über eine eigenmäch-tige Interpretation prozeduraler Völkerrechtsnormen zur Durchsetzung substanziel-ler Normen abgearbeitet wird (Erzwingungskriege) als über den Ausbau einerkollektiven Friedenssicherung. Ein konstruktiver Umgang mit dem Widerspruch,das machte Brocks Beitrag deutlich, müsste drei Aufgaben bewältigen: Beharren aufdem Legitimationsmonopol des UN-Sicherheitsrates für die Anwendung vonGewalt, Ausbau der internationalen Gerichtsbarkeit und strikte Berücksichtigungdes Subsidiaritätsprinzips bei der Verregelung und Verrechtlichung der internatio-nalen Beziehungen.

Überlegungen zur Entwicklung einer Theorie des »demokratischen Krieges« tra-gen möglicherweise auch zur Überwindung einiger Schwächen und Blindstellen derTheorie des »demokratischen Friedens« bei, da diese nach wie vor nicht den kausa-len Zusammenhang zwischen Demokratie und Frieden nachweisen kann, sondernsich auf Korrelationen stützt. So könnte die Friedlichkeit von liberalen, demokrati-schen Verfassungsstaaten z. B. auch eher auf ihre Rechtsstaatlichkeit als auf ihr»Demokratisch-Sein« zurückzuführen sein, wie Bernd Ladwig in seinem Kommen-tar zu bedenken gab. Träfe diese Diagnose zu (und bezweifelte man die Gleich-ursprünglichkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit), wäre in politisch-prakti-scher Hinsicht der »Export« von Rechtsstaatlichkeit der größere Garant friedlicherStaatenbeziehungen als der bislang vorrangig betriebene »Export« von Demokratie.

7. Makrotheoretische Deutungen des Konfliktgeschehens

Neben der Entwicklung einzelner Konzepte, Begriffe und Theorien des Krieges, wieNeuer Krieg, Kleiner Krieg, gerechter Krieg und demokratischer Krieg gibt es auchim makrotheoretischen Bereich bislang vernachlässigtes innovatives Analysepoten-zial. So könnte z. B. die Theorie der Weltgesellschaft zur Erklärung der gemischtenBefunde der empirischen Kriegsforschung beitragen. Thorsten Bonacker erläuterte,dass der Schlüssel zu einer derartigen Erklärung von empirischen Befunden in derAmbivalenz der Evolution der Weltgesellschaft liegt. Diese Ambivalenz kann ambesten durch das Theorem der Entgrenzung beschrieben werden: Entgrenzung

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bedeutet nicht das Verschwinden von Grenzen, sondern verweist auf den institutio-nellen Wandel von Grenzen hin, d. h. den Bedeutungsverlust bestimmter Grenzen,auf Veränderungen im Verhältnis von Grenzen zueinander und auf die Entstehungneuer Grenzen (Rebordering). Entgrenzungsprozesse sind nicht nur als Entkopplun-gen räumlich-territorialer Art zu verstehen, sondern sie umfassen auch die Entkopp-lung funktionaler und symbolischer Grenzen. Das Neuziehen von Grenzen kannunter bestimmten Bedingungen, die näher untersucht werden müssten, zu starkenKonflikten bis hin zu Kriegen führen. »Neue Kriege« resultieren, so gesehen, ausder Entkopplung von nationalstaatlich organisierter Inklusion, politischer Verge-meinschaftung und territorialer Integrität. Jedoch ist nicht nur der Krieg entgrenzt,sondern auch der Frieden, wie Verrechtlichungsprozesse, Peace-Keeping-Einsätze,OSZE-Missionen und die Institutionalisierung eines transnationalen Menschen-rechtsregimes zeigen. Diese Ambivalenz von Entgrenzungsprozessen ist kongruentmit den zwiespältigen Ergebnissen der Kriegsforschung: einerseits die Zivilisierungzwischenstaatlicher Beziehungen, die durch transnationale Regime- und Institutio-nenbildungen vorangetrieben wird, andererseits die Zunahme von innerstaatlichenKonflikten. Zukünftige Forschung im Rahmen des Weltgesellschaftskonzeptsmüsste empirisch näher bestimmen, unter welchen Umständen Grenzen konfliktver-schärfend und wann sie konfliktdämmend wirken, wie Alex Demirovic in seinemKommentar unterstrich.

8. Ergebnisse und Ausblick

Fachwissenschaftlich scheint das Problem des »Krieges« nach Jahren der Marginali-sierung in Deutschland derzeit ins Zentrum der Politikwissenschaft zurückzukehren.Es war geradezu überfällig, dass das Gros der IB-Forschung, das sich nach demEnde des Ost-West-Konflikts hauptsächlich den zivilen Formen des Regierens jen-seits des Nationalstaates widmet, durch eine verstärkte Thematisierung gewaltsamerFormen »politischer Regulierung« ergänzt wird. Ähnlich könnte für die deutschepolitische Theorie und Philosophie die prinzipielle Auseinandersetzung mit Gewaltund Krieg neben den auch hier wesentlich besser integrierten »zivilen« Themenbe-reichen – wie insbesondere Demokratietheorie, normative politische Theorie undMoralphilosophie – wichtige Impulse erbringen. Über die Kooperation von Zweig-disziplinen und die Verknüpfung von Themen wie Krieg und Frieden und Unterent-wicklung hinaus erscheint auch mehr Interdisziplinarität mit Fächern wie derSoziologie, Ethnologie und Anthropologie nötig.

Bilanziert man die jüngsten Debatten über den Krieg, drängt sich der Schluss auf,dass vieles, was als »neu« diskutiert wird, nur teilweise dieses Attribut auch ver-dient. Besonders wichtig ist, dass sich seit 1990 der Kontext unserer Wahrnehmungwesentlich verändert hat: Lange Zeit wurden alle Konflikte und mögliche Bewälti-gungsstrategien in der Logik der Blockkonfrontation gedeutet (wie sich z. B. amBegriff der »Stellvertreterkriege« zeigen lässt), inzwischen werden neue Strategiendes Umgangs mit diesen Konflikten gesucht. Die vielfache Betonung von »Neuem«hat zur Vernachlässigung der Erforschung »alter« Konfliktfaktoren wie Hegemonie-

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konstellationen, Sicherheits- und Entwicklungsdilemmata geführt, die wieder stär-ker aufgegriffen werden sollten, zumal sie für die Bestimmung von Misch- undÜbergangsformen von »Altem« und »Neuem« relevant sind. Betrachtet man gegen-wärtig dominante westliche Diskurse über Krieg und Gewalt, sollte man zudem inRechnung stellen, dass unsere Beschreibungen dieser Gewalt in die Selbstbeschrei-bungen der betroffenen Akteure eingehen und möglicherweise auch deren Praxisbeeinflussen könnten. Dieser Fragenkomplex wurde in der abschließenden Podi-umsdiskussion nochmals kritisch erörtert (Klaus Jürgen Gantzel, Andreas Hasencle-ver, Marcus Llanque und Matthias Lutz-Bachmann).

Zukünftige Forschung zum Krieg sollte sich stärker mit der Kriegführung vonDemokratien, mit der Erhaltung des Primats des Politischen im Krieg und mit denEntscheidungen politischer Eliten befassen. Die Theoriebildung müsste sich wesent-lich stärker auf vergleichende empirische Untersuchungen stützen und einen Pers-pektivenwechsel von Globaltheorien hin zu lokalen Bedingungen vollziehen. Insge-samt sollten Kriegsursachen, Kriegsgeschehen und Kriegsfolgen zusammen in denBlick genommen werden. Zudem erscheint eine systematische Verknüpfung vonKriegs- und Friedenstheorien erforderlich. Die Tagung hat verdeutlicht, dass zurBewältigung dieser Aufgaben eine verstärkte Kooperation der InternationalenBeziehungen, der Politischen Theorie und der Soziologie sehr förderlich ist und inübergreifenden Forschungsprojekten institutionalisiert werden sollte.

Tagungspapiere:3

Bonacker, Thorsten (Universität Marburg): Krieg und die Theorie der Weltgesellschaft. Aufdem Weg zu einer Konflikttheorie der Weltgesellschaft.

Brock, Lothar (Universität Frankfurt a. M.): Umrisse einer Theorie des Demokratischen Krie-ges.

Daase, Christopher (University of Canterbury at Kent): »Kleine Kriege« revisited.Geis, Anna (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt a. M.): Das staatli-

che Gewaltmonopol zwischen Behauptung und Infragestellung.Iser, Mattias (Freie Universität Berlin): Zur Aktualität des »gerechten« Krieges.Schlichte, Klaus (Humboldt-Universität Berlin): Neue Kriege oder alte Thesen? Wirklichkeit

und Repräsentation kriegerischer Gewalt in der Politikwissenschaft.

Literatur

Beck, Ulrich 1999: Über den postnationalen Krieg, in: Blätter für deutsche und internationalePolitik 44: 8, 984-990.

Daase, Christopher 1999: Kleine Kriege – Große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegfüh-rung die internationale Politik verändert, Baden-Baden.

3 Ein Tagungsband mit weiteren Beiträgen von KommentatorInnen und Podiumsteilneh-merInnen wird 2005 in der Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideenge-schichte im Nomos-Verlag erscheinen.

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Neuerscheinungen

Die Redaktion der Zeitschrift für Internationale Beziehungen bittet vor Erscheineneines jeden Heftes die Mitglieder des Review-Panels der ZIB, einige wenige, ausihrer Sicht besonders wichtige und interessante Neuerscheinungen aus ihren jeweili-gen Fachgebieten zu empfehlen. Aus diesen Literaturempfehlungen ergibt sich fol-gende Liste.

1. Theorien der Internationalen Beziehungen / Allgemeine Publikationen

Behr, Hartmut: Entterritoriale Politik. Von den Internationalen Beziehungen zur Netzwerk-analyse. Mit einer Fallstudie zum globalen Terrorismus, Wiesbaden: VS-Verlag fürSozialwissenschaften 2004.

Buzan, Barry: From International to World Society? English School Theory and the SocialStructure of Globalisation, Cambridge: Cambridge University Press 2004.

Battistella, Dario: Théories des relations internationales, Paris: Presses de Sciences Po 2003.Friedrichs, Jörg: European Approaches to International Relations Theory, London: Routledge

2004.Hauck, Gerhard: Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes. Wider den Eurozentrismus der

Sozialwissenschaften, Münster: Westfälisches Dampfboot 2003.Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 2. Auflage,

Frankfurt: Campus 2004.Jackson, Patrick Thaddeus: Hegel’s House, or »People are States Too«, in: Review of Interna-

tional Studies 30 (2004): 2, 281-287.Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen (Qualita-

tive Sozialforschung, Band 14), Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2004.Lewicki, Roy J./ Barry, Bruce/Saunders, David M./Minton, John W. : Essentials of Negotiation,

3. überarbeitete Auflage, Boston, MA: McGraw Hill/Irwin 2004.Meier-Walser, Reinhard C./Stein, Peter (Hrsg.): Globalisierung und Perspektiven internatio-

naler Verantwortung. Problemstellungen, Analysen, Lösungsstrategien: Eine systemati-sche Bestandsaufnahme, München: K. G. Saur Verlag 2004.

Neumann, Iver B.: Beware of Organicism: The Narrative Self of the State, in: Review of Inter-national Studies 30 (2004): 2, 259-267.

Neyer, Jürgen: Postnationale politische Herrschaft. Vergesellschaftung und Verrechtlichungjenseits des Staates (Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Band 11), Baden-Baden: Nomos2004.

Riescher, Gisela (Hrsg.): Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen vonAdorno bis Young, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2004

Slaughter, Anne Marie: A New World Order, Princeton, NJ: Princeton University Press 2004.van Kersbergen, Kees/van Waarden, Frans : »Governance« as a Bridge Between Disciplines:

Cross-Disciplinary Inspiration Regarding Shifts in Governance and Problems of Gover-nability, Accountability and Legitimacy, in: European Journal of Political Research 43(2004): 2, 143-171.

Wendt, Alexander: The State as Person in International Theory, in: Review of InternationalStudies 30 (2004): 2, 289-316.

Wight, Colin: State Agency: Social Action without Human Activity?, in: Review of Internatio-nal Studies 30 (2004): 2, 269-280.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 429 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Neuerscheinungen

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Zangl, Bernhard/Zürn, Michael (Hrsg.): Verrechtlichung – Baustein für Global Governance?(Eine Welt. Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Band 18), Bonn: J. H. W.Dietz-Verlag 2004.

2. Außenpolitikanalyse / Deutsche Außenpolitik

Carlsnaes, Walter/Sjursen, Helene/White, Brian (Hrsg.): Contemporary European ForeignPolicy, London: Sage 2004.

Farnham, Barbara: Impact of the Political Context on Foreign Policy Decision-Making, in:Political Psychology 25 (2004): 3, 441-463.

Piotrowski, Ralph: Sprache und Außenpolitik. Der deutsche und US-amerikanische Diskurszur Anerkennung Kroatiens (Dissertation an der Freien Universität Berlin 2003), in:http://www.diss.fu-berlin.de/cgi-bin/zip.cgi/2004/23/Fub-diss200423.zip; 1.9.2004.

Scott, Shirley V.: Is There Room for International Law in Realpolitik? Accounting for the US»Attitude« towards International Law, in: Review of International Studies 30 (2004): 1,71-88.

3. Internationale Institutionen

Cronin, Bruce: Institutions für the Common Good: International Protection Regimes in Inter-national Society, Cambridge: Cambridge University Press 2003.

Fukuyama, Francis: State-Building: Governance and World Order in the 21st Century, Ithaca,NY: Cornell University Press 2004.

Karns, Margaret P./Mingst, Karen A.: International Organizations: The Politics and Processesof Global Governance, Boulder, CO: Lynne Rienner 2004.

Reinalda, Bob/Verbeek, Bertjan (Hrsg.): Decision Making Within International Organisations,London: Routledge 2004.

Senghaas-Knobloch, Eva/Dirks, Jan/Liese, Andrea : Internationale Arbeitsregulierung in Zei-ten der Globalisierung. Politisch-organisatorisches Lernen in der InternationalenArbeitsorganisation (IAO) (Arbeitsgestaltung – Technikbewertung – Zukunft, Band 17),Münster: LIT Verlag 2003.

4. Europäische Integration

Aalberts, Tanja E.: The Future of Sovereignty in Multilevel Governance Europe – A Construc-tivist Reading, in: Journal of Common Market Studies 42 (2004): 1, 23-46.

Beckmann, Martin/Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank (Hrsg.): »Euro-Kapitalimsus« undglobale politische Ökonomie, Hamburg: VSA-Verlag 2003.

Dyson, Kenneth/Goetz, Klaus (Hrsg.): Germany, Europe and the Politics of Constraint,Oxford: Oxford University Press 2003.

Héritier, Adrienne/Stolleis, Michael/Scharpf, Fritz W. (Hrsg.): European and InternationalRegulation after the Nation State: Different Scopes and Multiple Levels (Gemeinschafts-güter: Recht, Politik und Ökonomie, Band 12), Baden-Baden: Nomos 2004.

Koenig-Archibugi, Mathias: Explaining Government Preferences for Institutional Change inEU Foreign and Security Policy, in: International Organization 58 (2004): 1, 137-174.

Kohler-Koch, Beate/Conzelmann, Thomas/Knodt, Michèle : Europäische Integration – Europä-isches Regieren (Grundwissen Politik, Band 34), Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwis-senschaften 2004.

Marks, Gary/Steenbergen, Marco R. (Hrsg.): European Integration and Political Conflict,Cambridge: Cambridge University Press 2004.

Nugent, Neill: The Government and Politics of the European Union, 5. Auflage, Basingstoke:Palgrave Macmillan 2002.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 430 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Neuerscheinungen

431ZIB 2/2004

Smith, Michael E.: Europe’s Foreign and Security Policy: The Institutionalization of Coopera-tion, Cambridge: Cambridge University Press 2003.

5. Sicherheit und Frieden

Albert, Mathias/Moltmann, Bernhard/Schoch, Bruno (Hrsg.): Die Entgrenzung der Politik.Internationale Beziehungen und Friedensforschung (Studien der Hessischen StiftungFriedens- und Konfliktforschung, Band 47), Frankfurt: Campus 2004.

Barber, Benjamin R.: Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt, München:C.H. Beck 2003.

Conlomb, Fanny: Economic Theories of Peace and War, London: Routledge 2004.Martin Beck: Aussicht auf Frieden in Nahost? Fahrplan und Genfer Abkommen im Lichte

konflikttheoretischer Überlegungen, in: S+F Sicherheit und Frieden 21 (2003): 3-4, 115-120.

Eckern, Ulrich/Herwartz-Emden, Leonie/Schultze, Rainer-Olaf (Hrsg.): Friedens- und Kon-fliktforschung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme (Politikwissenschaftliche Paper-backs, Band 37), Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2004.

Etzioni, Amitai: From Empire to Community: A New Approach to International Relations,New York, NY: Palgrave Macmillan 2004.

Fearon, James D./Laitin, David D.: Neotrusteeship and the Problem of Weak States, in: Inter-national Security 28 (2004): 4, 5-43.

Habermas, Jürgen: Der gespaltene Westen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.Reiter, Dan/Stam, Allen C.: Democracies at War, Princeton, NJ: Princeton University Press

2002.Schröfl, Josef/Pankratz, Thomas (Hrsg.): Asymmetrische Kriegsführung – ein neues Phäno-

men der Internationalen Politik?, Baden-Baden: Nomos 2003.Senghaas, Dieter: Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt a. M.:

Suhrkamp 2004.Sommer, Gert/Fuchs, Albert (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Frie-

denspsychologie, Weinheim: Beltz 2004.

6. Internationale Politische Ökonomie

Bhagwati, Jagdish N.: In Defense of Globalization, New York, NY: Oxford University Press2004.

Hay, Colin: Common Trajectories, Variable Paces, Divergent Outcomes? Models of EuropeanCapitalism under Conditions of Complex Economic Interdependence, in: Review ofInternational Political Economy 11 (2004): 2, 231-262.

Pratt, Nicola: Bringing Politics Back in: Examining the Link between Globalization andDemocratization, in: Review of International Political Economy 11 (2004): 2, 311-336.

Schefold, Bertram: Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte, ausgewählt und herausge-geben von Volker Caspari (Klassiker der Nationalökonomie, Band 10), Düsseldorf: Ver-lag Wirtschaft und Finanzen 2004.

Schirm, Stefan A.: Internationale Politische Ökonomie: Eine Einführung. Baden-Baden:Nomos 2004.

7. Nord-Süd-Beziehungen / Entwicklungspolitik

Berthelot, Yves (Hrsg.): Unity and Diversity in Development Ideas: Perspectives from the UNRegional Commissions, Bloomington, IN: Indiana University Press 2004.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 431 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Neuerscheinungen

432

Faath, Sigrid (Hrsg.): Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mit-telost. Inhalte, Träger, Perspektiven (Mitteilungen, Band 72), Hamburg: Deutsches Ori-ent-Institut 2004.

Neß, Oliver: Das Menschenrecht auf Entwicklung. Sozialpolitisches Korrektiv der neolibera-len Globalisierung (Politikwissenschaft, Band 110), Münster: LIT Verlag 2004.

Schmitz, Hubert (Hrsg.): Local Enterprises in the Global Economy. Issues of Governance andUpgrading, Cheltenham: Edward Elgar 2004.

United Nations Development Programme (Hrsg.): Arab Human Development Report 2003:Building a Knowledge Society, Amman: National Press 2003.

8. Internationales Problemfeld: Kulturbeziehungen

al-Haj, Majid: Immigration and Ethnic Formation in a Deeply Divided Society. The Case ofthe 1990s Immigrants from the Former Soviet Union in Israel, Leiden: Brill 2004.

Buruma, Ian/Margalit, Avishai: Occidentalism: The West in the Eyes of its Enemies, NewYork, NY: Penguin Press 2004.

9. Internationales Problemfeld: Menschenrechte

Klein, Eckart (Hrsg.): Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht. Kolloquium 26.-28.September 2002 (Schriftenreihe des Menschenrechtszentrums der Universität Potsdam,Band 18), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2003.

Lauren, Paul Gordon: The Evolution of International Human Rights: Visions Seen, 2. Auf-lage, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2003.

Liang-Fenton, Debra (Hrsg.): Implementing U.S. Human Rights Policy: Agendas, Policies,and Practices, Washington, DC: United States Institute of Peace Press 2004.

Oestreich, Joel E.: The Human Rights Responsibilities of the World Bank: A Business Para-digm, in: Global Social Policy 4 (2004): 1, 55-76.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 432 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

433Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 433-437

Mitteilungen der Sektion

1. Tagung der Sektion Internationale Politik der DVPW

»Zum Verhältnis Wissenschaft, Gesellschaft und Politik: Die neuen (I)nternationalen Beziehungen an der Schnittstelle eines alten Problems«; Berlin, 17.-19. März 2005

Vorläufiges Tagungsprogramm

Einleitung: Zum Verhältnis Wissenschaft, Gesellschaft und PolitikGunther Hellmann, Frankfurt am Main

I. Zur Verortung der Politikwissenschaft in der Wissensgesellschaft

Politikberatung als Netzwerkkonfiguration – ein konstruktivistischer Ansatz Renate Martinsen, Leipzig

(IB-)Theorie als Praxis: Begründung und PerformanzJörg Meyer, Magdeburg

Ist Kritik noch möglich? Zum Verhältnis von Politik und WissenschaftKlaus Schlichte, Berlin

II. Expertise der (i)nternationalen Beziehungen

Theorielose Politikberatung – praxisfremde Grundlagenforschung?Zur Kommunikation zwischen IB-Forschung und außenpolitischer Praxis

Thomas Risse, Berlin

Politikwissenschaft und die (Außen-)Politik (in) der WissensgesellschaftChristian Büger, Frankfurt am Main

Frank Gadinger, Mainz

Ethnographische IB-Forschung auf der Brücke zwischen Wissenschaft und PolitikRainer Hülsse, München

Benedikt Köhler, München

Das »Feld« der außenpolitischen Expertise: Bourdieus Feldtheorie und die IBStefano Guzzini, Kopenhagen

III. Studien zur politikwissenschaftlichen Konstruktion von (Nicht-)Wissen

Die Grenzen des Wissens und die Konstruktion von Gefahr in der internationalen Politik: Ein Plädoyer für eine reflexive Politikberatung

Christopher Daase, Brüssel

ZU_ZIB_2_2004 Seite 433 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Mitteilungen der Sektion

434

Performanz von Risiko und die Politische Ökonomie der internationalen Finanzmärkte

Oliver Kessler, Bielefeld

Revolving Doors: Perspektiven für eine nützliche PolitikwissenschaftDieter Kerwer, München

IV. Wissenskommunikation an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Medien und Gesellschaft

Wissenschaft und Beratung in der deutschen UmweltaußenpolitikDetlef Sprinz, Potsdam

Moderation und Mediation in der Politikberatung: Ein Instrument zur Vermittlung im Verhältnis Wissenschaft, Gesellschaft und Politik?

Marianne Beisheim, Berlin

Waldwissenschaft im globalen MediendiskursDaniela Krumland, Göttingen

Die soziale Konstruktion des »Terrorexperten«:Gewaltforschung zwischen Sozialwissenschaft, Medien und Politikberatung

Ulrich Schneckener, Berlin

»Was brauche ich die, ich habe doch den Steiner«: Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als Akteur im Spannungsverhältnis von IB und praktischer Politik

Sebastian Enskat, Frankfurt am Main

Politikberatung in unterschiedlichen KontextenHarald Müller, Frankfurt am Main

2. Ankündigung »Offene Sektionstagung« 2005

Die Offene Sektionstagung wird von Donnerstag, 6., bis Samstag, 8. Oktober 2005,an der Universität Mannheim stattfinden. Eine Beteiligung aus benachbarten Sektio-nen, Arbeitskreisen und Ad hoc-Gruppen ist sehr erwünscht. Der Schlusstermin fürdie Einreichung von einzelnen Papieren und Panels ist der 15. April 2005. WeitereInformationen folgen auf der Internet-Seite der Sektion und über die IB-Mailing-liste.

3. Call for Papers: »Nord und Süd im Globalen Regieren – Versuch einer Wiederannäherung«

Tagung am 23./24. Juni 2005 am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE)in Bonn mit Unterstützung der DVPW-Sektionen »Internationale Politik« und »Ent-wicklungstheorie und Entwicklungspolitik« sowie der Ad-hoc-Gruppe »Internatio-nale Politische Ökonomie«

ZU_ZIB_2_2004 Seite 434 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Mitteilungen der Sektion

435ZIB 2/2004

Das Verhältnis zwischen »Industrie-« und »Entwicklungs-« bzw. »Schwellenländern«wurde bis in die 1980er-Jahre vorwiegend als globale Konfliktstruktur, als »Nord-Süd-Konflikt« diskutiert. In diesem Zugriff verband sich eine dependenztheoretischinspirierte Erklärung von Unterentwicklung mit der Auffassung, dass die aus derBlockkonfrontation zwischen Ost und West und der Rohstoffabhängigkeit der Erstenund Zweiten Welt resultierenden Machtpotenziale zur Revision »ungerechter« globa-ler Strukturen eingesetzt werden könnten. Dass sich diese Interpretationen und Erwar-tungen allenfalls teilweise und begrenzt auf bestimmte Zeiträume als haltbar erwiesenhaben, ist unter dem Stichwort vom »Ende der Dritten Welt« vielfach diskutiert wor-den. An die Stelle der alten Einseitigkeiten trat nach 1989/1990 häufig eine neue Ver-engung, indem die »Nord-Süd-Beziehungen« (und die Entwicklungsländerforschung)auf die Fragen des Gelingens von Entwicklungs- und Transitionsprozessen und dieDiskussion erfolgversprechender Entwicklungspolitik im Rahmen der kapitalistischenWeltwirtschaft reduziert wurden. Zugleich ist bei der den IB-Mainstream prägendenDiskussion um effektives und legitimes globales Regieren auffällig, dass sie sich häu-fig eigentlich nicht mit einer »globalen«, sondern nur mit einer »OECD-Governance«befasst, ohne dass dies jedoch zum Anlass einer selbstkritischen Prüfung der eigenenAnnahmen und Theoreme genommen wird.

Vor diesem Hintergrund setzt sich die geplante Tagung zum Ziel, das Verhältniszwischen Nord und Süd im Rahmen des globalen Regierens wieder genauer in denBlick zu nehmen. Als »Süden« werden dabei staatliche wie nicht-staatliche Akteureaus den Entwicklungs- und Schwellenländern verstanden, ohne jedoch diesen a pri-ori die Qualität einer kohärent und mit gleichlaufenden Interessen auftretendenAkteurskonstellation zuzusprechen. Dabei sollen drei Fragestellungen im Mittel-punkt der Tagung stehen:

(1) Zu reflektieren ist erstens die eigentliche Governance-Dimension, also dieFrage, ob bzw. in welchem Ausmaß etablierte internationale Verhandlungssysteme(wie die Europäische Union, die WTO, verschiedene Umweltregime, aber auch pri-vate Regulierungssysteme wie ISO 14000) ökonomische und politische Ungleich-heit sowohl in ihren materiellen Auswirkungen als auch in ihrer institutionellenAusgestaltung reproduzieren und mit welchen Strategien sie diesem Problem gege-benenfalls begegnen.

(2) Zweitens geht es um die normative Dimension, also die Frage, in welchemAusmaß die Diskussion um Effektivität und Legitimität globalen Regierens auch aufFragen der Gerechtigkeit von Verteilung und Teilhabe abstellen sollte.

(3) Drittens ist die methodische Dimension angesprochen, also die Frage, ob undin welchem Umfang jene die IB-Disziplin beherrschenden Debatten und Strömun-gen (etwa der neue konstruktivistische Mainstream oder die Diskussionen um »Ver-rechtlichung« und öffentlich-private Vernetzung) auch deshalb reüssieren konnten,weil sich die empirischen Bezüge häufig nicht eigentlich auf eine »globale«, son-dern eine »OECD-Governance« richten, die sich durch ein hohes Maß an kulturel-len/institutionellen Gemeinsamkeiten, eine größere Homogenität der beteiligtenAkteure und daher vermutlich auch eine geringere Konfliktintensität auszeichnet.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 435 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Mitteilungen der Sektion

436

Mit der Ansiedlung der Veranstaltung an der Schnittstelle von InternationalenBeziehungen und Entwicklungsforschung verbinden die Veranstalter die Hoffnung,zu einer Wiederannäherung der beiden Teilgebiete der Politikwissenschaft beizutra-gen und gemeinsame Forschungsinteressen und -desiderata identifizieren zu kön-nen. Die Veranstaltung wird von der DVPW-Sektion »Entwicklungstheorie/Ent-wicklungspolitik«, der DVPW-Sektion »Internationale Politik« sowie der Ad-hoc-Gruppe »Internationale Politische Ökonomie« der DVPW unterstützt.

Kontaktadressen:

4. World International Studies Committee (WISC)

»First Global International Studies Conference«; Istanbul, 24.-27. August 2005Die Sektion Internationale Politik ist Gründungsmitglied von WISC, einem neueninternationalen Zusammenschluss nationaler »International Studies«-Organisatio-nen. Im August 2005 findet der erste internationale Kongress statt. Termin für Vor-schläge für panels und/oder papers ist der 1. Februar 2005. Detaillierte Informatio-nen zum »Call for Proposals« finden sich unter http://www.essex.ac.uk/ecpr/events/wisc/proposals.aspx.

Für Rückfragen stehen die Sprecher der Sektion unter folgenden Adressen zurVerfügung:

Prof. Dr. Gunther HellmannJohann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am MainInstitut für Vergleichende Politikwissenschaft und internationale BeziehungenRobert-Mayer-Straße 5, Fach 10260054 Frankfurt am Main

Tel: 0 69/7 98-2 51 91 oder -2 26 67

E-Mail: [email protected]://www.soz.uni-frankfurt.de/hellmann/start.htm

Dr. Thomas ConzelmannTU DarmstadtInstitut für PolitikwissenschaftResidenzschloss64283 Darmstadt Tel. 06151/16-2542E-Mail: [email protected]

Dr. Jörg FaustDIE Deutsches Institut für EntwicklungspolitikTulpenfeld 4D-53113 BonnTel. 0228/94927-184E-Mail: [email protected]

ZU_ZIB_2_2004 Seite 436 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Mitteilungen der Sektion

437ZIB 2/2004

PD Dr. Frank Schimmelfennig(Geschäftsführung vom 1.10.2004-30.9.2005)Universität MannheimMannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung68131 Mannheim

Tel: 06 21/1 81-28 13

E-Mail: [email protected]://www.mzes.uni-mannheim.de/users/schimmelfennig/Homepage.html

PD Dr. Peter RudolfStiftung Wissenschaft und PolitikLudwigkirchplatz 3-410719 Berlin

Tel: 0 30/8 80 07-2 42

E-Mail: [email protected]://www.swp-berlin.org/mitarb/rdf.html

Verantwortlich für die Zusammenstellung dieser Rubrik ist derVorstand der Sektion Internationale Politik der DVPW

ZU_ZIB_2_2004 Seite 437 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

ZU_ZIB_2_2004 Seite 438 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

439Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 439-441

Abstracts

Sieglinde Gstöhl/Robert KaiserNetworked Governance in Global Trade PolicyThe Role of International Standards in the World Trade OrganizationZIB, Vol. 11, No. 2, pp. 179-202

Non-tariff barriers to trade, and in particular standards, have considerably gained inimportance in global trade policy over the past few years. This article explores towhat extent the World Trade Organization (WTO) goes beyond negative, market-creating integration in its dealings with standards as a form of positive, market-cor-recting integration and what the consequences are. The WTO does not set its ownstandards but »imports« standards of other international bodies and treaties eitherthrough reference in its agreements or through its dispute settlement rulings. In thisnew form of networked governance, the WTO member states may generally applytheir national product standards to imported goods, but not their regulations of pro-cess and production methods. This »double standard« is a corollary of the WTO’sinstitutional structure and the conflicting interests of its member states, and it islikely to remain for the foreseeable future.

Steffi FrankePolitical Spaces and National IdentityThe Discourse on Central Europe in the Czech RepublicZIB, Vol. 11, No. 2, pp. 203-238

Political spaces are continuously changing. They do not only describe geographic orstrategic coordinates, but create resources of legitimation as well. The article exam-ines the intimate relationship between the development of a political culture and thepolitico-spatial positioning of societies. Drawing on an analysis of the discourse ofthe political elites in the Czech Republic on Central Europe (»Mitteleuropa«), thearticle demonstrates how the politico-spatial positioning of the Czech republic haschanged and how this change is linked to the political culture. Contrasting the dis-course in the 1980s with the current discourse on »Central Europe«, it can be shownthat after the end of the Cold War, the importance of the politico-spatial concept of»Central Europe« has dramatically declined in the discourse of political elites.Instead, the current discourse links national identity to the political space of »theWest« and the self-perception of a »small state«, which in turn forms the politicalobjectives.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 439 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Abstracts

440

Heidrun ZineckerRegime Hybridity in Developing CountriesAchievements and Limitations of New Research on TransitionsZIB, Vol. 11, No. 2, pp. 239-272

Research on transitions has reached a crossroads. Should it be abandoned becausethe third wave of transitions to democracy has ended or should it be continuedbecause so much has remained unaccounted for regarding the fate of the third wave?The article suggests that regime hybridity constitutes a widespread institutional set-ting resulting from incomplete transitions. Hybridity is understood as a specificregime type in which some segments of the political regime are democratic whileothers are non-democratic though not necessarily authoritarian. Underlying the con-cept is the assumption that the political regime stretches beyond the institutions ofthe state. It includes civil society as well. It is at this level that the research on transi-tions can be connected to the research on the dynamics of economic exclusion in thecontext of rent-economies. The article develops a check-list for identifying regimesegments which constitute regime hybridity. It applies this check-list to the case ofColombia and identifies linkage points between political transition and socio-eco-nomic transformation.

Christoph WellerObservations of Scientific Self-controlQuality, Weaknesses and the Future of Peer ReviewZIB, Vol. 11, No. 2, pp. 365-394

When the German Journal of International Relations (Zeitschrift für InternationaleBeziehungen – ZIB) was founded, its editors decided in favor of a double-blindpeer-review procedure, and from then on their decisions have been guided by theverdicts of the reviewers. How valid can the ZIB’s procedure claim to be? An analy-sis conducted for 452 reviews found no significant negative distortions for genderand qualification levels of authors and reviewers. As far as review quality is concer-ned, however, the analysis did find a marked correlation with reviewer qualificationlevels. Against this background, the article seeks to develop some quality standardsfor reviews and advances some proposals on improving the peer-review procedure.Apart from the assistance they provide for the editors in reaching decisions, peerreviews are above all important elements of intra-disciplinary communication, andone of the aims of improving review quality is to enhance this communication.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 440 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Abstracts

441ZIB 2/2004

Volker Rittberger/Fariborz ZelliThe Internationalization of Teaching at German UniversitiesChallenges for Political Science and International Relations DepartmentsZIB, Vol. 11, No. 2, pp. 395-418

The article links the debate about reforming the German university system to theinternationalization of higher education in the country. Whereas the period before1945 witnessed an oscillation between internationalization and re-nationalization,indicators such as the increase in academic exchange and the introduction of interna-tional programs have since revealed a clear tendency towards formal and substantialinternationalization. Subsequently, German Political Science and International Rela-tions departments face the double challenge of improving the competitiveness ofboth facilities and students. Regarding these problems, the authors place their pro-posals on two tracks: on the one hand, based on their own teaching experience, theyoutline how an innovative International Relations class could look like consideringthe resources currently at disposal; on the other hand, they make suggestions abouthow to expand these resources, e. g. by closing capacity gaps in student counselingand by establishing interdisciplinary centers of public and international affairs.

ZU_ZIB_2_2004 Seite 441 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

ZU_ZIB_2_2004 Seite 442 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

443Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 443-445

Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Mathias Albert Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld und Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand des Instituts für Weltgesellschaft, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Postfach 100 131, 33501 Bielefeld,E-Mail: [email protected]

Harald Bluhm Dr., Privatdozent am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, E-Mail: [email protected]

Tanja Börzel Dr., Professorin für Politikwissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg, Marstallstraße 6, 69117 Heidelberg,E-Mail: [email protected]

Christopher Daase Dr., Lecturer in International Relations an der University of Kent at Canterbury und Direktor des Programms für internationale Konfliktanalyse an der Brussels School of International Studies, Vesalius College, Pleinlaan 2, B-1050 Brüssel, Belgien,E-Mail: [email protected]

Hartmut Elsenhans Dr., Professor für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig, Beethovenstraße 15, 04109 Leipzig,E-Mail: [email protected]

Steffi Franke M.A., Schnorrstraße 11, 04229 Leipzig, E-Mail: [email protected]

Thomas Gehring Dr., Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Inter-nationale Politik, an der Fakultät Sozial- und Wirtschafts-wissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Feldkirchenstraße 21, 96045 Bamberg,E-Mail: [email protected]

Anna Geis Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt a. M.,E-Mail: [email protected]

ZU_ZIB_2_2004 Seite 443 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Autorinnen und Autoren

444

Sieglinde Gstöhl Dr., wissenschaftliche Assistentin an der Humboldt- Universität zu Berlin, Institut für Sozialwissenschaften, Lehrbereich Internationale Beziehungen, Unter den Linden 6, 10099 Berlin,E-Mail: [email protected]

Sebastian Harnisch Dr., Leiter der Arbeitsstelle für Internationale Beziehungen der Universität Trier, 54286 Trier,E-Mail: [email protected]

Gunther Hellmann Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Robert-Mayer-Straße 5, Fach 102, 60054 Frankfurt a. M.,E-Mail: [email protected]

Robert Kaiser Dr., wissenschaftlicher Assistent an der Ludwig-Maximi-lians-Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Oettingenstraße 67, 80538 München, E-Mail: [email protected]

Friedrich Kratochwil Ph.D., Professor for International Politics, Department of Political and Social Sciences, European University Institute, Via dei Roccettini 9, San Domenico di Fiesole (FI), Italien, E-Mail: [email protected]

Hanns W. Maull Dr., Professor für Außenpolitik und Internationale Beziehungen, Fachbereich Politikwissenschaft, Universität Trier, 54286 Trier,E-Mail: [email protected]

Harald Müller Dr., Geschäftsführendes Vorstandsmitglied und For-schungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Professor für Politikwissen-schaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frank-furt a. M., HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt a. M.,E-Mail: [email protected]

Thomas Risse Dr., Professor für internationale Politik am Otto Suhr Institut für Politische Wissenschaft, Freie Universität Berlin, Ihnestraße 22, 14195 Berlin,E-Mail: [email protected]

Volker Rittberger Ph.D., Professor für Politikwissenschaft und Internatio-nale Beziehungen an der Universität Tübingen und Vorsitzender der Deutschen Stiftung Friedensforschung, Melanchthonstraße 36, 72074 Tübingen,E-Mail: [email protected]

ZU_ZIB_2_2004 Seite 444 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Autorinnen und Autoren

445ZIB 2/2004

Jürgen Rüland Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts Freiburg, Rempartstraße 15, 79085 Freiburg, E-Mail: [email protected]

Christoph Scherrer Dr., Professor für Globalisierung und Politik am Fachbe-reich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel, Nora-Platiel-Straße 1, 34127 Kassel,E-Mail: [email protected]

Siegfried Schieder Dipl.-Pol., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Außenpolitik und Internationale Beziehungen, Fachbereich Politikwissenschaft, Universität Trier, 54286 Trier,E-Mail: [email protected]

Frank Schimmelfennig Dr., PD, Fellow am Mannheimer Zentrum für Euopäische Sozialforschung, Universität Mannheim, 68131 Mannheim,E-Mail: [email protected]

Christoph Weller Dr., Projektleiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen (ehemaliger Redakteur der Zeitschrift für Internationale Beziehungen) INEF, Geibelstr. 41, 47057 Duisburg, E-Mail: [email protected]

Reinhard Wolf Dr., Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Greifswald, Baderstraße 6/7, 17489 Greifswald,E-Mail: [email protected]

Fariborz Zelli M.A., Promotionsstipendiat der Deutschen Bundesstiftung Umwelt an der Abteilung Internationale Beziehungen/Friedens- und Konfliktforschung am Institut für Politik-wissenschaft der Universität Tübingen, Im Grund 9, 69118 Heidelberg;E-Mail: [email protected]

Heidrun Zinecker Dr. habil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Leipzig, HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt a. M., E-Mail: [email protected]

ZU_ZIB_2_2004 Seite 445 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

ZU_ZIB_2_2004 Seite 446 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

447Zeitschrift für Internationale Beziehungen11. Jg. (2004) Heft 2, S. 447-450

Zeitschrift für Internationale Beziehungen(ZIB)

Herausgegeben im Auftrag der Sektion Internationale Politik der Deutschen Vereinigung Politische Wissenschaft (DVPW) von:

Michael Zürn, Klaus Dieter Wolf, Harald Müller (geschäftsf.), Reinhard Meyers, Gunther Hellmann (geschäftsf.)

Redaktion: Nicole Deitelhoff

INHALTSVERZEICHNIS

11. Jahrgang (2004)

Mathias AlbertZehn Jahre ZIB: Erfolg und erfolgreiches Scheitern ..................................... 281

Hartmut BehrTerrorismusbekämpfung vor dem Hintergrund transnationaler HerausforderungenZur Anti-Terrorismuspolitik der Vereinten Nationen seit der Sicherheitsrats-Resolution 1373 .............................................................. 27

Harald Bluhm/Anna GeisDen Krieg überdenkenKriegstheorien und Kriegsbegriffe in der Kontroverse – ein Tagungsbericht ..... 419

Tanja BörzelEuropäisches RegierenPolicy matters! ...................................................................................................... 347

Christopher DaaseEin Jahrzehnt ZIBThemen und Anathemen in der friedens- und sicherheitspolitischen Forschung ......................................................................... 325

James Der Derian9/11 and Its Consequences for the Discipline .................................................. 89

Hartmut ElsenhansKonstruktivismus, Kooperation, Industrieländer – IB .................................. 301

Steffi FrankePolitische Räume und nationale IdentitätDer Mitteleuropadiskurs in der Tschechischen Republik .................................... 203

Thomas GehringInternationale Institutionen, Global Governance und Steuerungsfragen.... 333

ZU_ZIB_2_2004 Seite 447 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Jahresregister 2004

448

Sieglinde Gstöhl/Robert KaiserVernetztes Regieren in der globalen HandelspolitikZur Rolle internationaler Standards in der Welthandelsorganisation .................. 179

Stefano GuzziniIn den IB nichts NeuesDer 11. September und die Rollenverständnisse der Disziplin ............................ 135

Benjamin HerborthDie via media als konstitutionstheoretische EinbahnstraßeZur Entwicklung des Akteur-Struktur-Problems bei Alexander Wendt ............. 61

Friedrich KratochwilKompetenz und Relevanz in der PolitikforschungDas erste Jahrzehnt der ZIB ................................................................................ 321

Charles A. KupchanNew Research Agenda? Yes. New Paradigm? No .......................................... 101

Hanns W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried SchiederDie ZIB als Forum der deutschen IB?Eine kritische Bestandsaufnahme ........................................................................ 357

Harald MüllerDer 11. September und seine Konsequenzen für die Internationalen BeziehungenThink Big! ............................................................................................................ 123

Harald Müller/Gunther HellmannEinleitung: Zehn Jahre Zeitschrift für Internationale BeziehungenWas wir aus den Geburtstagsgrüßen lernen ........................................................ 273

Thomas RisseDer 9.11. und der 11.9.Folgen für das Fach Internationale Beziehungen ................................................ 111

Thomas RisseWe Did Much Better!Warum es (auch) »auf amerikanisch« sein musste .............................................. 287

Volker Rittberger/Fariborz ZelliDie Internationalisierung der Lehre an deutschen UniversitätenAnforderungen an die politikwissenschaftliche Teildisziplin derInternationalen Beziehungen ............................................................................... 395

ZU_ZIB_2_2004 Seite 448 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Jahresregister 2004

449ZIB 2/2004

Jürgen RülandTheoriediskurs auf hohem Niveau Mit eurozentrischer Schieflage? ........................................................................... 307

Christoph Scherrer»Armut und Entwicklung« in der ZIB = Fehlanzeige? .................................. 293

Frank SchimmelfennigLost in Translation?Zehn Jahre ZIB und die Europaforschung ........................................................... 341

Wolfgang Wagner/Frank Schimmelfennig/Michèle KnodtAuswärtiges Regieren in der Europäischen UnionEin Tagungsbericht .............................................................................................. 147

Christoph WellerBeobachtungen wissenschaftlicher SelbstkontrolleQualität, Schwächen und die Zukunft des Peer Review-Verfahrens ................... 365

Andreas WimmelTransnationale DiskurseZur Analyse politischer Kommunikation in der europäischen Medienöffentlichkeit ...................................................................... 7

Reinhard WolfMacht und Recht in der ZIB ............................................................................. 313

Heidrun ZineckerRegime-Hybridität in EntwicklungsländernLeistungen und Grenzen der neueren Transitionsforschung ............................... 239

Editorial(1/2004) ................................................................................................................ 3(2/2004) ................................................................................................................ 173

Aufsätze(1/2004) ................................................................................................................ 7(2/2004) ................................................................................................................ 179

Forum(1/2004) ................................................................................................................ 89(2/2004) ................................................................................................................ 365

Geburtstagssymposium(2/2004) ................................................................................................................ 273

Literaturberichte(1/2004) ................................................................................................................ 111

ZU_ZIB_2_2004 Seite 449 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09

Jahresregister 2004

450

Curriculares(2/2004) ............................................................................................................... 395

Tagungsberichte(1/2004) ............................................................................................................... 147(2/2004) ............................................................................................................... 419

Neuerscheinungen(1/2004) ............................................................................................................... 155(2/2004) ............................................................................................................... 429

Mitteilungen der Sektion(1/2004) ............................................................................................................... 159(2/2004) ............................................................................................................... 433

Abstracts(1/2004) ............................................................................................................... 165(2/2004) ............................................................................................................... 439

Autorinnen und Autoren(1/2004) ............................................................................................................... 169(2/2004) ............................................................................................................... 443

ZU_ZIB_2_2004 Seite 450 Mittwoch, 17. November 2004 9:43 09