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25. N ovember 2010 DIE ZEIT N o 48 9 POLITIK K ein Mensch erwartet von den Schlichtungsgesprächen im Stutt- garter Rathaus, dass Bauherrin Bahn, die baden-württemb ergische Landesregierung und die Gegner des Tiefbahnprojektes am Ende in neuer Freund- schaft auseinandergehen. Seit Ende Oktober re- den sie immerhin miteinander, und seither herrscht Waffenstillstand, freundlicher: »Frie- denspflicht«. Die neue Sachlichkeit in Stuttgart ist bereits ein Fortschritt, aber am kommenden Montag, den 29. November, ist alles vorbei. Dann wird in Stuttgart ein letztes Mal verhandelt. Da- nach wird der Schlichter ein Fazit ziehen, und dann werden die einen ihre Bagger wieder in Bewegung setzen, was die anderen noch immer verhindern wollen. Was also wird die Schlichtung gewesen sein? Hat Heiner Geißlers »Demokratie- experiment« die Republik tat- sächlich verändert? Öffentliche  Aufmerksamk eit hatte er jeden- falls genug. Oder wird es so enden, wie Schiller in den Räu- bern schrieb: »Da ging’s aus wie’s Schießen zu Hornberg und mussten abziehen mit lan- ger Nase.« Der Schlichter Geißler hat ein Format gefunden, in dem alle Interessen zu Wort kom- men und in dem unter Zeit- druck ein hohes Maß an Trans- parenz hergestellt wird. Manch- mal erinnern die Gespräche im Stuttgarter Rathaus an einen Zirkus, etwa wenn der Schlich- ter wegen Fremdwortmiss- brauchs sarkastisch mit einem Experten ins Gericht geht oder wenn die Politiker sich in den  Wahrnehmungsvermeidungs- ritualen üben, die man aus Parlamen tsdebatten und Ausschusssitzungen kennt. Dann wieder ist die Atmosphäre entspannt und doch konzen- triert. Nicht ganz uneitel, aber immer noch mit dem Gefühl für den richtigen politischen Augen- blick, inszeniert Geißler die Rederunde als de- mokratiepraktis ches Lehrstück. »Es werde künf- tig kein Großprojekt mehr in Deutschland ge- ben, das nach der bisherigen Methode durch- geführt wird«, befand Geißler . »Unsere Akzeptanz ist gestiegen«, sagen die Bahnhof-Gegner Nüchterner sehen es die Projektgegner, sie be- wegt vorläufig die Gegenwart. Die Contra-Seite besteht aus sehr unterschiedliche n Gruppen, die sich unter Reibereien zu einem Aktionsbündn is zusammengeschl ossen hatten. Ihr Erfolg besteht zunächst darin, zum ebenbürtigen Kontrahente n der Landespolitik aufgewertet zu sein. »Die Schlichtung hat unser Gewicht in der Öffent- lichkeit verändert«, meint Peter Conradi, Archi- tekt und früherer SPD-Bunde stagsabgeordne ter, »Geißler hat es geschafft, so etwas wie ein faires Gegenüber herzustellen.« Tats ächlich ist der Wi- derstand auf der Straße durch die Te ilnahme an der Runde gleichsam offiziell geworden, zu ei- nem anerkannten Faktor der Willensbildung in einer veränderten politischen Situation. Werner  Wölfle, Grünen-Stadtrat und Sprecher des Akti- onsbündn isses: »Unsere Akzeptanz ist gestiegen, keiner kann mehr sagen, wir wären nur Protest- ler. Wir haben gezeigt, dass wir mit K 21 ein al- ternatives Projekt zur Modernisierung des Stutt- garter Bahnknotens haben.« Denn auch das ist ein Resultat der Schlichtung: Die Idee eines er- neuerten Kopfbahnhofes, obgleich nicht durch- geplant, hat sich als technisch machbar und als mögliche Alternative erwiesen.  Auf der Pro-Seite entwickel te sich Vo lker Ke- fer, im Bahn-Vorstand für Infrastruktur zustän- dig, zur zentralen Figur. Beherrscht und kom- petent, erwarb er sich auch unter Widersachern Respekt. »Wir werden uns nicht einigen«, meint Kefer, »aber was wir auf jeden Fall erreichen, ist, die gesamten Argumente beider Seiten offenzu- legen. Wir stellen Zusammenhänge dar. Das ist etwas Neues. Über die Medien können wir per Statement immer nur Teilaspekte vorstellen, aber nie die Herleitung von Argumentationen, nie die storyline«. Die Bahn lieferte also ihre technische Gesamterzählung nach, legte den inneren Zu- sammenhang ihres Vorhabens offen, und zwar unter Verzicht auf den Modernisierungskitsch, der Stuttgart 21 seit 1994 begleitet hatte. Kefer versprach keine goldene Zukunft für die Stadt, und er strapazierte auch die ominöse Achse Pa- ris–Bratislava, die entstehen sollte, nicht länger. Kefer musste signalisieren, dass die Interessen seines Unternehmens nicht mit jenen der Lan- desregierung identisch sind. Denn die teilneh- menden Politiker sind längst im Wahlkampf und werben für ihre Parteien. Das gilt für die Grünen Boris Pal- mer und Winfried Kretsch- mann ebenso wie für die Ver- kehrsministerin Tanja Gönner (CDU), die bereits seit Länge- rem für einen Posten im Kabi- nett Merkel gehandelt wird.  Aber wie wird der Streit, der unauflöslich schien, nun enden? Über die grundsätzlichen Schluss- folgerungen sind sich die Teil- nehmer weitgehend einig: Die Frist zwischen Planung und Rea- lisierung muss sich bei künftigen Großprojekten drastisch ver- kürzen; es kann nicht sein, dass zwischen Erfindung und Erbau- ung 15 Jahre und zwei Politiker- generationen ins Land ziehen.  Auch wird die öffentliche Hand das Ziel eines Vorhabens deutli- cher markieren müssen – und es debattieren lassen. Die Position betroffener Bürger wird gestärkt werden. Als Kann-Vorschrift sind Me- diationsverfahren heute bereits im Baurecht ver- ankert, Einwände müssen geprüft werden, nicht  jedoch Alternativen. Ob der Mediator verpflichtend ins Gesetz soll, wie Ministerpräsident Mappus vor- schlug, kann man wohlwollend erörtern, in der Debatte ums Umweltgesetzbuch hatte man das vor  Jahren bereits getan. Wichtiger wäre es, die recht- liche Verpflichtung einer Mediation zu stärken. Bisher ist ein solcher Interessenkompromiss immer nur eine Empfehlung. Am Ende entscheiden dann doch die Gerichte oder die Landtage. Kniffliger ist die Frage, ob sich aus der Stutt- garter Erfahrung zwingend ableitet, dass wir ge- nerell mehr direkte Demokratie benötigen. Hei- ner Geißler ist in diesem Punkt eindeutig: »Was wir hier gemacht haben, war Teil eines Gesamt- verfahrens in unmittelbarer Demokratie. Wir benötigen Änderungen im Gesetz, vielleicht so- gar in der Verfassung, um plebiszitäre Elemente, Volksentscheidungen oder -befragungen ein- zuführen. Auch auf der Bundeseben e.« Dem von der Kanzlerin erhobenen Einwand, falls der Tief- bahnhof verhindert werde, sei in Deutschland überhaupt kein Infrastrukturvorhaben mehr möglich, widerspricht er: »Das heißt nicht, dass in Zukunft nichts mehr gebaut werden kann. Im Gegenteil, es wird demokratischer, friedlicher, bürgernäher.« Geißler markiert die optimistische Variante einer Entwicklung der parlamentari- schen Demokratie. Die Pessimisten werden wei- terhin vor den Gefahren einer »Stimmungs- demokratie« warnen. Leider haben die Stuttgarter Bürger so gar nichts von diesen Ausgriffen auf die Zukunft. Denn der konkrete Fall – Stuttgart 21 – hat sich auch mit der Schlichtung nicht verändert. Das Demokratieexperiment kam zu spät, und die große plebiszitäre Geste ist dort fehl am Platz. Einen Volk sentscheid über den Tiefbahnhof hat der baden-württembergische Landtag bereits ab- gelehnt, und an einer zeitnahen Volksbefragung ist die amtierende Landesregierun g nicht interes- siert. Sie stellt sich weiter auf den Standpunkt, es müsse gegraben werden, weil Beschlüsse nach Recht und Gesetz zustande gekommen seien. Letzteres bestreitet niemand – und trotzdem muss- te geschlichtet werden. Denn obwohl das Verfahren korrekt durchgeführt wurde, fehlt dem Projekt der nötige Rückhalt in der Bevölkerung. In kurzer Zeit waren Legalität und Legitimität eines zentralen poli- tischen Vorhabens dramatisch auseinandergefallen, so weit, dass die Teilnahme von amtierenden Ministern an der Schlichtung bereits ein Eingeständnis der Re- gierung darstellte, nicht länger über eine ausreichende Legitimationsgrundlage in dieser Sache zu verfügen. Das allein ist schon ein bemerkenswerter Vorgang. Die Stuttgarte r Schlichtung hat die Krise der Repräsenta- tionsdemokratie öffentlich gemacht, in Gestalt eines Rededuells am Runden Tisch, als Spektakel, das live im Fernsehen übertragen wurde und erstaunliche Ein- schaltquoten brachte. Geißler hat vorgeführt, dass niemand mehr die politische Kraft besitzt, Stuttgart 21 umzusetzen, weder die Exekutive noch das Parlament. Im Gegen- teil, das Festhalten an der reinen Legalitätsposition spaltete die Stadt bis hin zum Bruch des Rechtsfrie- dens. Geißler hat gezeigt, dass auch in Verträgen fest- gezurrte Vorhaben noch einmal dem Säurebad der politischen Willensbildung zuzuführen sind. Vielleicht geschieht das in Stuttgart zu spät, aber prinzipiell ist es möglich. Sogar Bahn-Vorstand Kefer räumt ein: »Das Rechtsstaatlichkeitsprinzip hat am Ende nicht zu einer Deeskalation beigetragen. Das muss man kon- statieren.« Er sagt weiter: »Ich halte es aber nach wie vor für unzulässig, daraus einen Gegensatz zwischen Legalität und Legitimität abzuleiten. Wenn wir daraus ein Präjudiz machen, dass künftig Legitimität über Legalität gestellt wird, hätte ich damit ein großes Pro- blem.« Heiner Geißler würde das anders sehen. Der Spruch des Schlichters wird Enttäuschun g hervorrufen Und das bleibt der Grundkonflikt: Dürfen die Bürger in einem geregelten Verfahren der Regierung auch nachträglich noch einmal in die Parade fahren und Parlamentsbeschlüsse revidieren? Ist das eine Gefahr für die Demokratie oder ihre Fortentwicklung? Recht- fertigen es politisch erhitzte Situationen wie in Stutt- gart, Legitimität höher zu gewichten als rechtsver- bindliche Entscheidungen? Diese Fragen hat die Stutt- garter Schlichtung gestellt, aber nicht beantwortet. Eine »Lösung« des Konfliktes kann allenfalls die Land- tagswahl im März bringen, wenn eine neue Regierung auf neuer Legitimationsgrundlage den Konflikt anders aufgreift – oder ihn rechtsstaatlich deckelt. Voraussichtlich am kommenden Dienstag wird der Schlichter seinen Spruch verkünden, und um diese Pflicht ist er nicht zu beneiden. Heiner Geiß- ler, Rebell und doch meistens loyal gegenüber der CDU, kann es sich nicht leisten, nur für Trans- parenz gesorgt zu haben, am Ende aber alles offen zu lassen. Er muss Farbe bekennen, aber was kann er schon sagen? Sein Votum wird Enttäuschung hervorrufen, weil sich aus den Gesprächen selbst kein eindeutiges Für oder Wider ableitete. Geißlers Schlichterspruch wird vermutlich das Zu- standekommen von Stuttgart 21 bemängeln, ebenso die politische Art seiner Durchsetzung. Er wird die Machbarkeit des Kopfbahnhof-Projektes hervorheben, aber auch dessen Planungsrückstand. Er wird emp- fehlen, angemahnte Verbesserungen der Gegner zu berücksichtigen. Die Bahnhofsbauer werden darauf eingehen und damit die Überschreitung des bisherigen Kostenplans rechtfertigen. Am Ende soll der Tiefbahn- hof wahrscheinlich gebaut werden, die rechtlichen und finanziellen Aufwendungen für einen Ausstieg sind zu hoch, die Alternative ist fern. Die Befürworter dürfen nicht auf ungestörten Weiterbau hoffen, das Aktions- bündnis der Gegner wird einer harten Belastungspro- be ausgesetzt sein. Was anderes als dieser Schluss in Moll wäre möglich? Ein Schluss in Moll Der Schlichter Heiner Geißler hat in Stuttgart ein großes Demokratie-Experiment gewagt. Lösen konnte er den Streit um den Bahnhof nicht VON THOMAS E. SCHMIDT Hohe Einschaltquoten. Heiner Geißler auf dem Kontrollmonitor eines TV-Teams Volkes Stimme Dürfen die Bürger der Regierung nach- träglich in die Parade fahren? Ist das eine Gefahr für die Demokratie oder ihre Fortentwicklung?  www.zeit.de/audio Hintergründe zum geplanten Bahnhofsneubau unter   www.zeit.de/stuttgart21    F   o    t   o   s    (    A   u   s   s   c    h   n    i    t    t   e    )   :    M   a   r    i   u   s    B   e   c    k   e   r    /   p    i   c    t   u   r   e   -   a    l    l    i   a   n   c   e    /    d   p   a   ;    A    l   e   x    D   o   m   a   n   s    k    i    /    R   e   u    t   e   r   s    (   u  .    )

Zeit: Ein Schluss in Moll

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8/8/2019 Zeit: Ein Schluss in Moll

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25. November 2010 DIE ZEIT No 48 9POLITIK

Kein Mensch erwartet von denSchlichtungsgesprächen im Stutt-garter Rathaus, dass BauherrinBahn, die baden-württembergischeLandesregierung und die Gegner

des Tiefbahnprojektes am Ende in neuer Freund-chaft auseinandergehen. Seit Ende Oktober re-

den sie immerhin miteinander, und seitherherrscht Waffenstillstand, freundlicher: »Frie-denspflicht«. Die neue Sachlichkeit in Stuttgartst bereits ein Fortschritt, aber am kommenden

Montag, den 29. November, ist alles vorbei. Dannwird in Stuttgart ein letztes Mal verhandelt. Da-nach wird der Schlichter ein Fazit ziehen, unddann werden die einen ihre Bagger wieder inBewegung setzen, was die anderen noch immerverhindern wollen. Was also wird die Schlichtung gewesen sein? Hat Heiner Geißlers »Demokratie-experiment« die Republik tat-ächlich verändert? Öffentliche

Aufmerksamkeit hatte er jeden-falls genug. Oder wird es soenden, wie Schiller in den Räu-bern schrieb: »Da ging’s aus

wie’s Schießen zu Hornberg und mussten abziehen mit lan-ger Nase.«

Der Schlichter Geißler hatein Format gefunden, in demalle Interessen zu Wort kom-men und in dem unter Zeit-druck ein hohes Maß an Trans-parenz hergestellt wird. Manch-mal erinnern die Gespräche imStuttgarter Rathaus an einenZirkus, etwa wenn der Schlich-er wegen Fremdwortmiss-

brauchs sarkastisch mit einemExperten ins Gericht geht oderwenn die Politiker sich in denWahrnehmungsvermeidungs-ritualen üben, die man aus Parlamentsdebattenund Ausschusssitzungen kennt. Dann wieder istdie Atmosphäre entspannt und doch konzen-riert. Nicht ganz uneitel, aber immer noch mit

dem Gefühl für den richtigen politischen Augen-blick, inszeniert Geißler die Rederunde als de-mokratiepraktisches Lehrstück. »Es werde künf-

ig kein Großprojekt mehr in Deutschland ge-ben, das nach der bisherigen Methode durch-geführt wird«, befand Geißler.

»Unsere Akzeptanz ist gestiegen«,sagen die Bahnhof-Gegner

Nüchterner sehen es die Projektgegner, sie be-wegt vorläufig die Gegenwart. Die Contra-Seitebesteht aus sehr unterschiedlichen Gruppen, dieich unter Reibereien zu einem Aktionsbündnis

zusammengeschlossen hatten. Ihr Erfolg bestehtzunächst darin, zum ebenbürtigen Kontrahentender Landespolitik aufgewertet zu sein. »DieSchlichtung hat unser Gewicht in der Öffent-ichkeit verändert«, meint Peter Conradi, Archi-ekt und früherer SPD-Bundestagsabgeordneter,

»Geißler hat es geschafft, so etwas wie ein fairesGegenüber herzustellen.« Tatsächlich ist der Wi-derstand auf der Straße durch die Teilnahme ander Runde gleichsam offiziell geworden, zu ei-nem anerkannten Faktor der Willensbildung ineiner veränderten politischen Situation. WernerWölfle, Grünen-Stadtrat und Sprecher des Akti-onsbündnisses: »Unsere Akzeptanz ist gestiegen,keiner kann mehr sagen, wir wären nur Protest-er. Wir haben gezeigt, dass wir mit K 21 ein al-ernatives Projekt zur Modernisierung des Stutt-

garter Bahnknotens haben.« Denn auch das istein Resultat der Schlichtung: Die Idee eines er-neuerten Kopfbahnhofes, obgleich nicht durch-geplant, hat sich als technisch machbar und alsmögliche Alternative erwiesen.

 Auf der Pro-Seite entwickelte sich Volker Ke-fer, im Bahn-Vorstand für Infrastruktur zustän-dig, zur zentralen Figur. Beherrscht und kom-petent, erwarb er sich auch unter WidersachernRespekt. »Wir werden uns nicht einigen«, meint

Kefer, »aber was wir auf jeden Fall erreichen, ist,die gesamten Argumente beider Seiten offenzu-legen. Wir stellen Zusammenhänge dar. Das istetwas Neues. Über die Medien können wir perStatement immer nur Teilaspekte vorstellen, abernie die Herleitung von Argumentationen, nie diestoryline«. Die Bahn lieferte also ihre technischeGesamterzählung nach, legte den inneren Zu-sammenhang ihres Vorhabens offen, und zwarunter Verzicht auf den Modernisierungskitsch,der Stuttgart 21 seit 1994 begleitet hatte. Keferversprach keine goldene Zukunft für die Stadt,und er strapazierte auch die ominöse Achse Pa-ris–Bratislava, die entstehen sollte, nicht länger.Kefer musste signalisieren, dass die Interessenseines Unternehmens nicht mit jenen der Lan-desregierung identisch sind. Denn die teilneh-menden Politiker sind längst im Wahlkampf und

werben für ihre Parteien. Dasgilt für die Grünen Boris Pal-mer und Winfried Kretsch-mann ebenso wie für die Ver-kehrsministerin Tanja Gönner(CDU), die bereits seit Länge-

rem für einen Posten im Kabi-nett Merkel gehandelt wird. Aber wie wird der Streit, der

unauflöslich schien, nun enden?Über die grundsätzlichen Schluss-folgerungen sind sich die Teil-nehmer weitgehend einig: DieFrist zwischen Planung und Rea-lisierung muss sich bei künftigenGroßprojekten drastisch ver-kürzen; es kann nicht sein, dasszwischen Erfindung und Erbau-ung 15 Jahre und zwei Politiker-generationen ins Land ziehen.

 Auch wird die öffentliche Handdas Ziel eines Vorhabens deutli-cher markieren müssen – und es

debattieren lassen. Die Position betroffener Bürgerwird gestärkt werden. Als Kann-Vorschrift sind Me-diationsverfahren heute bereits im Baurecht ver-ankert, Einwände müssen geprüft werden, nicht

 jedoch Alternativen. Ob der Mediator verpflichtendins Gesetz soll, wie Ministerpräsident Mappus vor-schlug, kann man wohlwollend erörtern, in der

Debatte ums Umweltgesetzbuch hatte man das vor Jahren bereits getan. Wichtiger wäre es, die recht-liche Verpflichtung einer Mediation zu stärken.Bisher ist ein solcher Interessenkompromiss immernur eine Empfehlung. Am Ende entscheiden danndoch die Gerichte oder die Landtage.

Kniffliger ist die Frage, ob sich aus der Stutt-garter Erfahrung zwingend ableitet, dass wir ge-nerell mehr direkte Demokratie benötigen. Hei-ner Geißler ist in diesem Punkt eindeutig: »Waswir hier gemacht haben, war Teil eines Gesamt-verfahrens in unmittelbarer Demokratie. Wirbenötigen Änderungen im Gesetz, vielleicht so-gar in der Verfassung, um plebiszitäre Elemente,Volksentscheidungen oder -befragungen ein-zuführen. Auch auf der Bundesebene.« Dem vonder Kanzlerin erhobenen Einwand, falls der Tief-bahnhof verhindert werde, sei in Deutschlandüberhaupt kein Infrastrukturvorhaben mehrmöglich, widerspricht er: »Das heißt nicht, dassin Zukunft nichts mehr gebaut werden kann. ImGegenteil, es wird demokratischer, friedlicher,bürgernäher.« Geißler markiert die optimistischeVariante einer Entwicklung der parlamentari-schen Demokratie. Die Pessimisten werden wei-terhin vor den Gefahren einer »Stimmungs-demokratie« warnen.

Leider haben die Stuttgarter Bürger so garnichts von diesen Ausgriffen auf die Zukunft.Denn der konkrete Fall – Stuttgart 21 – hat sichauch mit der Schlichtung nicht verändert. DasDemokratieexperiment kam zu spät, und diegroße plebiszitäre Geste ist dort fehl am Platz.Einen Volksentscheid über den Tiefbahnhof hatder baden-württembergische Landtag bereits ab-gelehnt, und an einer zeitnahen Volksbefragung ist die amtierende Landesregierung nicht interes-siert. Sie stellt sich weiter auf den Standpunkt, es

müsse gegraben werden, weil Beschlüsse nach Rechtund Gesetz zustande gekommen seien.Letzteres bestreitet niemand – und trotzdem muss-

te geschlichtet werden. Denn obwohl das Verfahrenkorrekt durchgeführt wurde, fehlt dem Projekt dernötige Rückhalt in der Bevölkerung. In kurzer Zeitwaren Legalität und Legitimität eines zentralen poli-tischen Vorhabens dramatisch auseinandergefallen, soweit, dass die Teilnahme von amtierenden Ministernan der Schlichtung bereits ein Eingeständnis der Re-gierung darstellte, nicht länger über eine ausreichendeLegitimationsgrundlage in dieser Sache zu verfügen.Das allein ist schon ein bemerkenswerter Vorgang. DieStuttgarter Schlichtung hat die Krise der Repräsenta-tionsdemokratie öffentlich gemacht, in Gestalt einesRededuells am Runden Tisch, als Spektakel, das liveim Fernsehen übertragen wurde und erstaunliche Ein-schaltquoten brachte.

Geißler hat vorgeführt, dass niemand mehr diepolitische Kraft besitzt, Stuttgart 21 umzusetzen,weder die Exekutive noch das Parlament. Im Gegen-teil, das Festhalten an der reinen Legalitätspositionspaltete die Stadt bis hin zum Bruch des Rechtsfrie-dens. Geißler hat gezeigt, dass auch in Verträgen fest-

gezurrte Vorhaben noch einmal dem Säurebad derpolitischen Willensbildung zuzuführen sind. Vielleichtgeschieht das in Stuttgart zu spät, aber prinzipiell istes möglich. Sogar Bahn-Vorstand Kefer räumt ein:

»Das Rechtsstaatlichkeitsprinzip hat am Ende nichtzu einer Deeskalation beigetragen. Das muss man kon-statieren.« Er sagt weiter: »Ich halte es aber nach wievor für unzulässig, daraus einen Gegensatz zwischenLegalität und Legitimität abzuleiten. Wenn wir darausein Präjudiz machen, dass künftig Legitimität überLegalität gestellt wird, hätte ich damit ein großes Pro-blem.« Heiner Geißler würde das anders sehen.

Der Spruch des Schlichters wird Enttäuschung hervorrufen

Und das bleibt der Grundkonflikt: Dürfen die Bürgerin einem geregelten Verfahren der Regierung auchnachträglich noch einmal in die Parade fahren undParlamentsbeschlüsse revidieren? Ist das eine Gefahrfür die Demokratie oder ihre Fortentwicklung? Recht-fertigen es politisch erhitzte Situationen wie in Stutt-gart, Legitimität höher zu gewichten als rechtsver-bindliche Entscheidungen? Diese Fragen hat die Stutt-garter Schlichtung gestellt, aber nicht beantwortet.Eine »Lösung« des Konfliktes kann allenfalls die Land-tagswahl im März bringen, wenn eine neue Regierung auf neuer Legitimationsgrundlage den Konflikt anders

aufgreift – oder ihn rechtsstaatlich deckelt.Voraussichtlich am kommenden Dienstag wirdder Schlichter seinen Spruch verkünden, und umdiese Pflicht ist er nicht zu beneiden. Heiner Geiß-

ler, Rebell und doch meistens loyal gegenüber derCDU, kann es sich nicht leisten, nur für Trans-parenz gesorgt zu haben, am Ende aber alles offenzu lassen. Er muss Farbe bekennen, aber was kanner schon sagen? Sein Votum wird Enttäuschung hervorrufen, weil sich aus den Gesprächen selbstkein eindeutiges Für oder Wider ableitete.

Geißlers Schlichterspruch wird vermutlich das Zu-standekommen von Stuttgart 21 bemängeln, ebensodie politische Art seiner Durchsetzung. Er wird dieMachbarkeit des Kopfbahnhof-Projektes hervorheben,aber auch dessen Planungsrückstand. Er wird emp-fehlen, angemahnte Verbesserungen der Gegner zuberücksichtigen. Die Bahnhofsbauer werden darauf eingehen und damit die Überschreitung des bisherigenKostenplans rechtfertigen. Am Ende soll der Tiefbahn-hof wahrscheinlich gebaut werden, die rechtlichen undfinanziellen Aufwendungen für einen Ausstieg sind zuhoch, die Alternative ist fern. Die Befürworter dürfennicht auf ungestörten Weiterbau hoffen, das Aktions-bündnis der Gegner wird einer harten Belastungspro-be ausgesetzt sein. Was anderes als dieser Schluss inMoll wäre möglich?

Ein Schluss

in MollDer Schlichter Heiner Geißler hat in Stuttgart eingroßes Demokratie-Experiment gewagt. Lösen konnte erden Streit um den Bahnhof nicht VON THOMAS E. SCHMIDT

Hohe Einschaltquoten.Heiner Geißler auf dem

Kontrollmonitor einesTV-Teams

Volkes Stimme

Dürfen die Bürgerder Regierung nach-träglich in die Paradefahren? Ist das eineGefahr für dieDemokratie oder ihreFortentwicklung?

 www.zeit.de/audio

Hintergründe zum geplanten Bahnhofsneubauunter   www.zeit.de/stuttgart21