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ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Vandenhoeck & Ruprecht Heſt 2 | 2017 | ISSN 2191-995X INDES Kardinal Reinhard Marx »Schluss mit der Klassengesellschaft!« Julia Schulze Wessel Krise! Welche Krise? Ulrike Guérot Das Ende der europäischen Friedenserzählung Gesine Schwan »Solidarität auf der primitivsten Ebene« Franz Walter Politische Prediger und Provokateure ohne Identität? EUROPA

ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT · Josef Foschepoth Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg 2017. Ca. 450 Seiten mit 38 Abbildungen, 14 Grafi ken und 1

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ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Vandenhoeck & Ruprecht Heft 2 | 2017 | ISSN 2191-995X

INDES

Kardinal Reinhard Marx »Schluss mit der Klassengesellschaft!«

Julia Schulze Wessel Krise! Welche Krise? Ulrike Guérot Das Ende der

europäischen Friedenserzählung Gesine Schwan »Solidarität auf der

primitivsten Ebene« Franz Walter Politische Prediger und Provokateure

ohne Identität? EUROPA

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www.v-r.de

Josef FoschepothVerfassungswidrig!Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg

2017. Ca. 450 Seiten mit 38 Abbildungen, 14 Grafi ken und 1 Tabelle, gebundenca. € 40,– DISBN 978-3-525-30181-4

Erscheint im September 2017

Der KPD-Prozess von 1951 bis 1965 war das größte und längste Parteiverbotsverfah-ren in der Geschichte der Bundesrepublik. Zugleich ist er ein bislang völlig unter-schätztes Schlüsselereignis der deutsch-deutschen Geschichte zwischen 1949 und 1969. Auf der Grundlage bislang unter Verschluss gehaltener Staatsakten ist Josef Foschepoth ein bahnbrechendes Buch gelungen. Es vermittelt eine Fülle neuer Er-kenntnisse zur Wirkmächtigkeit des Nationalsozialismus, zur Entstehung eines neuen Nationalismus, zur notwendigen Unterscheidung von Kaltem Krieg und Kaltem Bürgerkrieg und nicht zuletzt zur Frage der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

War das KPD-Verbot verfassungswidrig?

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219

INDES, Heft 2 / 2017

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EDITORIAL Ξ Matthias Micus / Marika Przybilla-Voß

Der »Brexit«, die Entscheidungsblockade beim Handelsvertrag CETA, die

Wahlerfolge von Rechtspopulisten bei Europawahlen, die Unfähigkeit der

Gemeinschaft zu gemeinsamem Handeln in der Flüchtlingskrise – diese

wenigen Stichpunkte genügen, um zu veranschaulichen, dass die Europäi-

sche Union und mit ihr die Idee eines geeinten Europa in einer tiefen Krise

stecken. Statt auf eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit setzen viele

Mitgliedsstaaten auf Renationalisierung, nicht zuletzt auch, weil sie sich da-

mit und mit der Kritik an Europa im Bund mit relevanten Teilen ihrer Bevöl-

kerungen wähnen. Und dennoch: Die Werte, Normen und Ideen Europas,

und mit ihnen Europa selbst, büßen auf internationaler Ebene keineswegs

an Attraktivität oder Bedeutung ein. Ganz im Gegenteil strahlen sie Anzie-

hungskraft und Hoffnung aus.

Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die vorliegende Ausgabe der

INDES im Schwerpunkt mit Europa und den mit diesem Begriff wie Raum

verknüpften Vorstellungen, Werten und historischen Bezügen, mit den – ge-

dachten wie manifesten – Gemeinsamkeiten nach innen und den Abgren-

zungen nach außen, kurzum: den europabezogenen Identitäten. Was macht

»Europa« aus? Gibt es gemeinsame Erzählungen, auf die sich in Krisen zum

Zwecke der Stabilisierung inneren Zusammenhaltes berufen werden kann?

Und gibt es eine benennbare europäische Idee?

In diesem Zusammenhang stellt sich noch grundsätzlicher die Frage, wie

Identifikationen mit Räumen und politischen Gebietseinheiten überhaupt ent-

stehen? Wieso also fühlen sich zahlreiche Menschen, wenn auch vielleicht

nicht in erster Linie als Europäer, so doch als Franzosen, Deutsche, Italiener?

In Verbindung damit soll desgleichen eruiert werden, woran es Europa

mangelt, wo seine Defizite liegen – und ob und inwiefern sich diese korrigie-

ren lassen: durch mehr oder weniger Integration; durch die Akzeptanz plu-

raler, entlang der Nationalstaatsgrenzen sich unterscheidender Einstellungen

zu Europa oder deren Überwindung; durch neue, attraktive Europa-Erzäh-

lungen. Aber welche wären das? Fragen über Fragen, deren Beantwortung

in Anbetracht der internationalen Entwicklungen drängender denn je ist.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219

INDES, Heft 2 / 2017

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INHALT

1 Editorial Ξ Matthias Micus / Marika Przybilla-Voß

>> INTERVIEW 5 »Solidarität auf der primitivsten Ebene« Ξ Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gesine Schwan über den Bedeutungsverlust

des Nationalstaats, Facetten der europäischen Identität und Potenziale von Gemeinden

>> ANALYSE 21 Die Europäische UnionEine demokratische Lagebeschreibung

Ξ Emanuel Richter

29 Gleichheit und DemokratieDas Ende der europäischen Friedenserzählung und die Neubegründung Europas

Ξ Ulrike Guérot

36 Polen, Europäische Union und IdentitätFünf Thesen zu einem Land der Gegensätze

Ξ Weronika Priesmeyer-Tkocz

47 Angst essen Europa aufDer Einfluss Europas auf die Präsidentschaftswahlen 2017

Ξ Daniela Kallinich

53 Europäische Identitäten in der KriseDrei Länder im Vergleich

Ξ Dennis Lichtenstein

61 Krise! Welche Krise?Von der »Flüchtlingskrise« zur Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik

Ξ Julia Schulze Wessel

69 Kompetenz und GrenzüberschreitungDie supranationale Rechtsprechung vor Gericht

Ξ Marcus Höreth / Jörn Ketelhut

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INDES, Heft 2 / 2017

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3Inhalt

81 Europa am AbgrundSystemintegration ohne Sozialintegration

Ξ Hauke Brunkhorst

88 »Brexit« und andere KrisenWelche Erkenntnisse liefern uns Theorien europäischer Integration?

Ξ Marius Guderjan

>> INTERVIEW 98 »Schluss mit der Klassengesellschaft!« Ξ Ein Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx über die Substanz der christlichen

Botschaft und ihren Beitrag zur Lösung der europäischen Identitätskrise

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 114 Politische Prediger und ProvokateureVom Verschwinden der Intellektuellen und der konzeptionellen Entleerung der Politik

Ξ Franz Walter

123 Die Geburt des KanzlerkandidatenNachrichten vom Wahlkampf

Ξ Klaus Wettig

137 Demokratie heißt nicht GleichberechtigungPolitische Pionierinnen der Linken zwischen Kaiserreich und Republik

Ξ Margret Karsch

145 Unter dem RadarProfitorientierte Wissenschaft mit unheimlichen Ansprüchen

Ξ Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219

INDES, Heft 2 / 2017

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SCHWERPUNKT:EUROPA

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INTERVIEW

»SOLIDARITÄT AUF DER PRIMITIVSTEN EBENE« Ξ Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gesine Schwan über den Bedeutungs-

verlust des Nationalstaats, Facetten der europäischen Identität und Potenziale von Gemeinden

In letzter Zeit ist immer wieder die Rede davon gewesen, dass sich Europa, die

Idee Europas, in einer tiefgreifenden Krise befinde. Sehen Sie diese Krise auch?

Wenn heute von Krise gesprochen wird, dann ist dies nicht die Krise

der europäischen Idee, sondern eine Krise der politischen Institutionen der

Europäischen Union gemeint. Von einer Krise der europäischen Idee als

einer historischen Idee zu sprechen, macht in meinen Augen keinen Sinn.

Die europäische Idee ist das normative Ziel einer politischen Konstruktion.

Denn natürlich wird es auch in Zukunft ein geografisches Europa und Län-

der geben, die sich europäisch nennen, auch ohne die Europäische Union.

Was dagegen zur Debatte steht, ist die politische Einheit der Europäischen

Union, die als Wirtschaftsgemeinschaft begonnen hat. Diese politische Ein-

heit umfasst alle Länder, die zur Europäischen Union gehören; sie begrenzt

sich nicht auf die Euro-Länder und erstreckt sich nicht auf all jene Länder,

die sich als europäisch verstehen, aber nicht zur EU gehören, wie die Ukraine

oder Weißrussland.

Worin besteht also die Krise der EU?

Zunächst einmal: Die Krise besteht. Sie ist im Kern eine Krise der Solida-

rität, des Zusammenhalts in Europa, und qualitativ sehr viel ernster zu neh-

men als sämtliche vorangegangenen Krisen, weil sie sich seit der Banken-

krise verschärft hat. Diese Krise hat viele Ursachen. Natürlich gab es immer

Rivalitäten zwischen den Nationalstaaten – deswegen ist ja die Europäische

Union auch gegründet worden. Aber vor dem ganzen Hintergrund der Glo-

balisierung und der neoliberalen Wirtschaftspolitik mit ihrem Kernbegriff

des Standortwett bewerbs ist verstärkend neben die ohnehin bestehenden

nationalen Unterschiede, Rivalitäten und Konflikte noch der ökonomische

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6 EURoPA — INTERVIEW

Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten als Standorten für Kapitalinvestitio-

nen getreten. Der Standortwettbewerb hat ganz massive Auswirkungen auch

auf die Menschen: Die Gewerkschaften geraten in Konkurrenz zueinander, alle

möglichen sozialpolitischen Errungenschaften, progressive Steuersätze, Lohn-

höhen, rechtliche Schutzbestimmungen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen – all

das steht unter Abwertungsdruck. Die aktuelle Verschärfung der Krise liegt

also zum einen in der beschriebenen Politik und Kultur des Neoliberalismus

begründet. Zum anderen hat die Globalisierung, eben weil sie sich unter neo-

liberalen statt keynesianischen Auspizien vollzieht, die Spaltung zwischen den

europäischen Staaten zugespitzt – ebenso wie sich ja auch innerhalb jeder ein-

zelnen Gesellschaft die soziale Schere öffnet.

Hat die Politik versagt?

Ich glaube, dass die deutsche Bundesregierung an ganz zentraler Stelle Ver-

antwortung trägt für die Desintegration der Europäischen Union. Die Bundes-

regierung hat, anders als alle ihre Vorgänger, sehr eindeutig das kurzfristige

nationale Interesse – richtiger: nicht das tatsächliche nationale Interesse, son-

dern das, wenn man so will, Regierungs-Wiederwahl-Interesse – zur Leitma-

xime ihrer Europapolitik gemacht. Die Krise Griechenland 2010 etwa hätte

ganz anders angepackt werden können, wenn es nicht die Wahl in Nordrhein-

Westfalen gegeben hätte. Und ich glaube, dass Angela Merkel ganz anders

als selbst Gerhard Schröder, der auch nicht gerade ein sentimentaler Europäer

war, einen inneren Bezug zur eigentlichen europäischen Idee nie hatte und

bis heute nicht hat. Sie hat gleichfalls keinen inneren Bezug zur Demokratie,

selbst wenn das jetzt denunziatorisch klingen mag. Jedenfalls dann nicht, wenn

Demokratie mehr sein soll als das Gewinnen von Wahlen. Wenn man unter

Demokratie die öffentliche Diskussion von Alternativen und die Begründung

politischer Entscheidungen versteht, dann hat die Merkel’sche Begründungs-

und Alternativlosigkeit die Demokratie systematisch unterminiert. Merkels

Politikstil besteht darin, an kleinen Stellschrauben zu drehen, um Krisen die

Spitze zu nehmen, sie ungefährlich zu machen. Auf diese Weise wird aber

keine Krise wirklich gelöst oder auch nur in ihren historischen Dimensionen

erkannt. Politik muss meiner Ansicht nach die Zukunft mit der Vergangenheit

verknüpfen, sie muss die systemischen Zusammenhänge chronologisch und

horizontal erfassen. Nichts davon ist auch nur ansatzweise bei Merkel vorhan-

den. Ebendieses Akteurshandeln hat in Kombination mit dem Neoliberalismus

und einer entsolidarisierenden Globalisierungspraxis zu der ungewöhnlichen

Art geführt, in der unter Merkel deutsche Dominanz exerziert wurde. Nicht

demonstrativ, macho mäßig oder gar chauvinistisch, doch sehr effektiv. Und

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7Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

vor allen Dingen so, dass außerhalb Deutschlands jeder den Oktroi einer be-

stimmten Wirtschaftspolitik bemerkt hat, die den anderen nicht gut getan hat,

Deutschland dagegen schon. Deshalb wurde das in Deutschland auch kein

relevantes Thema.

Ist das nicht ein wenig kurz gegriffen, die Schuld für die Krise Europas Angela

Merkel zuzuschreiben?

Angela Merkel ist seit dem Herbst des Jahres 2005 verantwortlich für die

Europapolitik. Wer praktisch zwölf Jahre hauptverantwortlich ist für die Wirt-

schaftspolitik und als Staatschefin die größte Macht besitzt, über den kann

man nicht sagen: Die Krise kam zufällig und er oder sie hat damit nichts zu

tun. Da spielt das eigene Zutun schon eine ganz entscheidende Rolle. Und

deswegen glaube ich auch, dass Merkels Politik in Verbindung mit dem Fest-

halten ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble an einer nationalistischen

und juristisch-autoritären Wirtschaftspolitik zugunsten deutscher Interessen

die Europäische Union zerstört.

Sie haben eingangs gesagt, von einer Krise der europäischen Idee könne eigent-

lich nicht gesprochen werden, Ihre letzten Äußerungen könnte man aber so ver-

stehen, eine verbindende europäische Idee sei angesichts der Dominanz natio-

nalegoistischer Wirtschaftsinteressen verloren gegangen. Was verstehen Sie denn

darunter, unter der europäischen Idee? Und welche Bedeutung hat diese euro-

päische Idee in Ihren Augen?

Ich verwende den Begriff der europäischen Idee ungern. Er ist ein Singu-

lar, der mir nicht so viel sagt. Bei denen, welche die Europäische Union ge-

gründet haben, verkörperte die europäische Idee wohl den Wunsch, in Eu-

ropa kriegerische Konflikte durch die Zusammenlegung von kriegswichtigen

Industrien, also Kohle und Stahl, zu überwinden. Und sie bedeutete nach

dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus grenzüberschreitende

Verständigung und Ausgleich. In den Römischen Verträgen etwa gibt es eine

Präambel, die ganz ausdrücklich auf ökonomischen und sozialen Ausgleich

zielt. Mit der europäischen Idee verband sich die Absicht, bei allen Entschei-

dungen immer die Auswirkungen auf die jeweils anderen Länder zu berück-

sichtigen und die zwischenstaatlichen Ungleichgewichte – politischer, aber

auch wirtschaftlicher Art – so zu handhaben, dass die Kleineren sich nicht

untergebuttert fühlten. In diesem Rahmen bewegte sich noch ganz eindeutig

das Denken Helmut Kohls. Diese europäische Idee ist aber spätestens in den

Krisen nach 2008 unter den sehr engstirnigen deutschen Dominanzpolitiken

untergegangen, also irrelevant geworden.

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8 EURoPA — INTERVIEW

Wie konnte es dazu kommen?

Bei der Politik ist es immer so: Politik besteht aus Handlungsweisen, die

eingebettet sind in ein Institutionengefüge. Wenn Sie so wollen: politische

Kultur und Institutionen; bei Montesquieu heißt der Unterschied: Natur

( Institutionen) und Prinzip (Kultur) der Regierungsweise. Natürlich besteht

sie auch noch aus mehr; aber der Kern des Politischen wird durch diese bei-

den Kategorien gut erfasst. Dass nun mit Blick auf Europa die Institutionen

unter dem Doppeldruck der Vereinbarung von fundamentalen Unterschieden,

von unterschiedlichen Potenzialen, unterschiedlichen historischen Traditionen

einerseits, der Anforderungen von Demokratie mit ihrem Gleichheitsprinzip

»One person, one vote« andererseits mit besonderen Schwierigkeiten kon-

frontiert sind, leuchtet unmittelbar ein. Die Analogie von Europäischer Union

und Nationalstaat war deshalb immer illusionär. Verglichen mit Letzterem

zeichnet sich Europa insofern wenig überraschend von Anfang an durch De-

mokratiedefizite aus. Diese hat man durch eine Stärkung des Europäischen

Parlaments zu überwinden versucht. Aber die Vermittlung von zwei grund-

sätzlichen Konfliktlinien – die eine weltanschaulich-politisch, die andere na-

tional – ist eben schwierig. Wir haben zwar im Europäischen Parlament Frak-

tionen, wir haben aber keine europäischen Parteien und noch wenig, wenn

auch jetzt wachsend, europäische Öffentlichkeit. Bei allen Abstimmungspro-

zeduren im Europäischen Parlament müssen für Mehrheiten die Abgeord-

neten von Parteien mehrerer Länder zusammengeführt werden. Obendrein

wurde die europäische Komplexität dann noch einmal durch die Eurozone

und die Einführung der gemeinsamen Währung gesteigert.

Inwiefern?

Man hat seinerzeit gedacht, dass die gemeinsame Währung das Ver-

halten prägen und quasi gesetzmäßig in eine gemeinsame Politik münden

würde. Die nationalen Regierungen würden sich einander nähern. Das ist

aber nicht geschehen; im Nachhinein zeigte sich, dass die Einführung des

Euro ohne eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik auf tönernen Füßen

stand. Deshalb gibt es unter den Fachleuten einen markanten Streit zwischen

denen, die sagen: Die Eurozone ist eine Fehlkonstruktion, die gehört insge-

samt abgeschafft. Vertreter der Linksparteien, aber etwa auch Fritz Scharpf

und Joseph Stiglitz argumentieren so. Tatsächlich zeigen die Erfahrungen

mit gemeinsamen Währungen in Wirtschaftsräumen mit großen regionalen

Ungleichgewichten, dass man in irgendeiner Weise Ausgleichsmechanis-

men braucht. Diese Ausgleichsmechanismen sind europäisch viel schwie-

riger durchzusetzen als national, obwohl die ewigen Diskussionen um den

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9Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

Länderfinanzausgleich auf Meinungsverschiedenheiten und Konflikte auch

im nationalstaatlichen Rahmen hinweisen.

Warum ist nun aber die europäische Gründungsidee – gültig, wie Sie sagten, noch

zu Zeiten Helmut Kohls – ausgerechnet im 21. Jahrhundert zusammengebrochen?

Die institutionellen Defizite fielen etwa seit dem Jahrtausendwechsel zu-

sammen mit einer Wirtschaftspolitiktheorie und -kultur, die Solidarität, wo

immer sie konnte, dementiert und unterminiert hat als Mangel an Verant-

wortung. Statt Hilfe von woanders zu erwarten, sollte ein jeder lieber für

sich selbst sorgen. Die Tatsache also, dass das fast unvermeidlich defizitäre

europäische Institutionengebäude nun erstens auf eine Kultur und Wirt-

schaftspolitik traf, die Solidarität regelrecht programmatisch unterminiert

hatte, und zweitens auf Personen in den Schaltzentralen, die aufgrund eines

negativen Menschenbildes der Meinung waren, dass Menschen eigentlich

nur unter Druck verantwortlich handeln und nicht freiwillig – das halte ich

für die Quintessenz des Menschenbildes sowohl von Frau Merkel als auch

von Herrn Schäuble –, diese Tatsache verbindet sich mit dem 21. Jahrhundert.

Diese Sachen kamen jetzt zusammen: ein Institutionengefüge, das defizitär

ist, eine global vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik, die kulturelle

Konsequenzen und Implikationen hatte, sowie handelnde Akteure, Entschei-

dungsträger, die mit Solidarität eigentlich nichts anfangen konnten. Man

kann aber nun mal nicht zu Solidarität oder zur Gemeinsamkeit zwingen.

Das heißt, ein wenig zugespitzt ausgedrückt: Mit ein bisschen gutem Willen ließe

sich die Krise der europäischen Idee auch wieder überwinden?

Wir hätten schon Griechenland, dieses kleine Land, viel früher ganz anders

behandeln können. Wir hätten die Schulden im Jahr 2010 anders zuordnen

können. Wir hätten vieles anders machen können, aber es ist nicht anders ge-

macht worden. Und ich habe relativ früh den Eindruck gehabt: Wenn diese

Komponenten sich nicht verändern, dann geht die Desintegration immer weiter.

Und sie ist ja auch weitergegangen. Das betrifft nicht nur den »Brexit«. Auch

das Schengen-Abkommen wird mehr und mehr unterminiert. Anstelle eines

gemeinsamen Projektes erleben wir auf der Ebene der nationalen Regierun-

gen ideologische Desintegration. Wobei es einen großen Unterschied zwischen

nationalen Regierungen und der Gesellschaft auf der Ebene von Kommunen,

Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen gibt; bei Letzteren sehe

ich große solidarische Potenziale. Das ist demokratietheoretisch kompliziert,

denn die nationalen Regierungen sind in Demokratien durch Wahlen legiti-

miert. Aber ich glaube, dass die Wettbewerbsmechanismen nationaler Wahlen,

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10 EURoPA — INTERVIEW

verbunden mit der Tat sache, dass die täglichen Probleme eher in den Kommu-

nen als auf der nationalen Ebene gelöst werden müssen, die nationalen Regie-

rungen von dem Druck, die täglichen Probleme zu lösen, entbinden. Das trifft

auf die Kommunen nicht zu.

Sie setzen Ihre Hoffnungen zur Revitalisierung der europäischen Idee auf die Ge-

meinden und die kommunale Ebene?

Auf der Ebene der nationalen Regierungen jedenfalls gibt es gegenwärtig

kein positives gemeinsames Projekt. Ich glaube nicht, dass man die Sicherung

der Grenzen und die Schließung der Balkanroute als ein positives, konstruk-

tives Projekt bezeichnen kann. Das ist eher Solidarität auf der primitivsten

Ebene der nationalen Sicherheitsbedürfnisse. Wenn ich von einem gemein-

samen Projekt spreche, dann im Sinne von etwas Konstruktivem, Positivem für

die Zukunft und für ganz Europa. Und da sehe ich auf der Regierungsebene

überhaupt nichts – das ist für mich auch ein Indiz für die aktuelle Desinte-

gration. Der gemeinsame Markt war so ein positives Projekt, die gemeinsame

Währung ebenfalls. Sicher, daneben wurden auch ökonomische Partikularin-

teressen verfolgt, das ist schon richtig. Dennoch waren das aufbauende, kons-

truktive Projekte. Jetzt dominieren die Tendenzen der Demontage und Ab-

schottung. Beides kostet die Europäische Union in meiner Sicht ihre Zukunft.

Wenn also ein gemeinsames Projekt der Kitt ist, der die europäische Struktur zu-

sammenhält und auf eine gemeinsame Zukunft orientiert: Was wäre dann dies-

seits historischer Beispiele ein positives Projekt der Zukunft?

Oh, da gibt es viele! Die Frage der Energieversorgung könnte ein solches

Projekt sein, oder die Frage des Klimaschutzes. Ein gemeinsames Projekt

könnte sein, die Armut zu bekämpfen, die Nachhaltigkeitsziele umzusetzen,

auch die Verbreitung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit in der inter-

nationalen Politik. Selbst wenn der Sozialstaat eigentlich kein europäisches,

sondern ein nationalstaatliches Phänomen ist. Aber die Grundidee eines glü-

ckenden menschlichen, sozialen und politischen Zusammenlebens, das sollte

ein europäisches Projekt, eine europäische Vision sein. Und wenn man dann

sieht, was alles an positiven, integrierenden Projekten auf der kommunalen

Ebene besteht, auch gerade aus Anlass der Flüchtlingsaufnahme, welche Fülle

an Fantasien und Initiativen, dann bestärkt dies meine Erfahrungen als Präsi-

dentin der Europa-Universität Viadrina, dass Menschen nicht dadurch zusam-

menkommen, dass sie Ansprüche für sich erheben und irgendwelche Renten

ausgezahlt bekommen. Verbindend wirken vielmehr Projekte, die sie gemein-

sam verfolgen. Ich habe zum Schluss an der Viadrina bei 5.000 Studierenden

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INDES, Heft 2 / 2017

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11Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

vierzig studentische Gruppen gehabt, die alles Mögliche auf die Beine gestellt

haben, etwa die Komposition eines Riesenmusicals mit Tanzeinlagen und der

Einbindung von Studierenden aus achtzig Nationen. Das hat die zusammenge-

schweißt. Oder wenn ich auf meine Jugendzeit schaue, 1943 geboren, Schülerin

in den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren habe ich studiert, und da gab es

eine Chorbewegung in Europa, die hieß Jeunesses Musicales. Die haben alle

möglichen Festivals veranstaltet, bei einem der Festivals in Aix-en- Provence

war ich dabei. Dann haben wir einen Ausflug gemacht in einen kleinen Ort,

der hieß Vaison-la-Romaine. Vaison-la-Romaine hat ein kleines Amphitheater,

da sind wir mit zehn, fünfzehn Chören hingefahren und haben dann einfach

zu singen angefangen – 1965, zwanzig Jahre nach Kriegsende. Wir hatten

alle unsere Repertoires und haben uns mit sichtlichem Vergnügen gegensei-

tig unsere Lieder vorgesungen. Paneuropäisch, von Skandinavien bis Spanien.

Wir schenkten uns gegenseitig etwas, weil wir uns mit Freude vorsangen und

zuhörten. Für mich ist das der Inbegriff eines positiven, verbindenden Pro-

jektes. Natürlich darf man sich auch der schnöden Wirklichkeit des Konkur-

renzdenkens und Profitstrebens nicht verschließen. Mich interessiert nicht, ob

Einzelne mit Projekten für sich auch individuelle materielle Gewinne erzielen

können. Ich lebe selbst gerne, ich trinke auch gerne Rotwein. Aber das Den-

ken, dass ich der Beste sein muss, besser als jemand anderes, und dass ich

das meiste bekommen muss und so weiter, das ist zerstörerisch.

Trotz aller in Zeiten ökonomischer Globalisierung und zunehmender grenzüber-

schreitender Verflechtung erlittenen Steuerungsverluste sind die Nationalstaa-

ten auch heute noch die dominanten Akteure der globalen Politik. Dennoch lei-

ten Sie – wie viele andere auch – aus der Fortschreibung bestehender Trends ein

Ende der nationalstaatlichen Zentralstellung im 21. Jahrhundert ab und dringen

alternativ auf eine Stärkung transnationaler Zusammenschlüsse. Kann denn Eu-

ropa den Nationalstaat tatsächlich ersetzen? Und wie sähe eine künftige europäi-

sche Identität anstelle der aktuellen Identifikation mit dem Nationalstaat aus?

Also ich sage zwar, und das ist tatsächlich nicht sonderlich originell, dass

der einzelne Nationalstaat aufgrund der Asymmetrien zwischen globaler Wirt-

schaft und nationaler Politik die Probleme nicht mehr lösen kann, die sich

aus der Wirtschaftsdynamik ergeben. Ich sage aber ganz und gar nicht, dass

der Nationalstaat abgeschafft gehören würde. Und ich weiß auch, dass sich

die politische Wirksamkeit mit den kulturellen Zugehörigkeitsgefühlen nicht

decken muss. Es wird weiterhin viele geben, die sich dem Nationalstaat kul-

turell zugehörig fühlen und die das gar nicht interessiert, was der National-

staat noch politisch kann. Mir geht es nun aber darum, dass demokratische

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12 EURoPA — INTERVIEW

Politik als institutionelle Ordnung, gewaltfreies Zusammenleben rechtsstaat-

lich und gerecht zu gestalten, gelingen können muss. Und das kann Politik

nicht mehr allein auf nationalstaatlicher Grundlage. Es gibt Bereiche, die dem

Nationalstaat vorbehalten bleiben können, auch in der Europäischen Union.

Der Nationalstaat soll überhaupt nicht weggeschoben werden. De facto be-

sitzt die übernationale Ebene im Übrigen auch jetzt schon eine ganze Reihe

von Kompetenzen. Problematisch aber finde ich die Sicht, die Integration der

Europäischen Union entweder durch die weitere Konzentration von politischer

Entscheidungsmacht in Brüssel zu vertiefen oder durch Renatio nalisierung

zurückzudrehen. Das ist die Alternative zwischen Scylla und Charybdis. Jede

Renationalisierung muss sowieso scheitern. Aber auch eine weitere Zentrali-

sation in Brüssel halte ich für kontraproduktiv, weil das den guten Gedanken

der Subsidiarität, der eben nicht nur die Nationalstaaten betrifft, sondern auch

die Regionen und die Kommunen, unterminiert. Ich halte die Subsidiarität

für ein gutes Prinzip. Und ich glaube an eine horizontale Integration durch

Städtekooperationen, an eine Integration also ausgehend von den Kommunen.

Das heißt was?

In der EU ist im vorigen Jahr unter der niederländischen (nationalen!) Rats-

präsidentschaft den Pakt von Amsterdam geschlossen worden, eine Zusam-

menarbeit von Städten, der EU-Kommission und von Nationalstaaten. Ziel

ist auch eine stärkere, bessere und direktere Finanzierung der Gemeinden

durch Brüssel. Wobei ich für eine Governance plädiere, die den gesellschaft-

lichen Zusammenhalt stärkt. Also einen Verbund, der nicht die kommunalen

Verwaltungen ersetzt, sondern Verständigungsprozesse von Politik und Zi-

vilgesellschaft sowie Wirtschaft organisiert. Sodass einerseits die Integration

der Gemeinden verstärkt wird und andererseits eine horizontale grenzüber-

schreitende Verständigung in Europa stattfinden kann. Das gibt es ja auch

in diesen Verbindungen jetzt schon, und zwar wiederum anhand von kon-

kreten Projekten, in denen die jeweiligen Akteure wechselseitig voneinander

lernen können. Die Flüchtlingsintegration ist ein solches Projekt, ebenso die

Einführung erneuerbarer Energien. Ich habe früher zahlreiche Energietria-

loge moderiert. Wenn Sie etwa mit Polen zu tun haben, dann liegt es im In-

teresse der großen polnischen Konzerne, die Kohle weiter abzubauen. Jetzt

habe ich gerade gehört, dass die polnischen Kohlekonzerne ähnlich wie die

Atomkraftwerke in Frankreich offenbar an Kühlwassermangel leiden. Von

daher erklärt sich, dass die immer mehr Strom in Deutschland kaufen, weil

sie ihren Energiebedarf trotz großer Kohlevorhaben aufgrund der Restrik-

tionen ihres Ökosystems nicht decken können. Wir haben schon vor Jahren

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13Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

mit polnischen Klimagruppen zusammengearbeitet. Und das ist natürlich

eine hochspannende Sache, wenn sie dann plötzlich in so einer Gemeinde

hören: Nein, wir wollen hier kein Atomkraftwerk um die Ecke, weil wir auch

gar nicht wissen, wie die Entsorgung funktioniert, sondern wir wollen die

erneuerbaren Energien fördern. Das zeigt, auf der Ebene der Gesellschaft

herrscht viel mehr Bewegung als auf der Ebene der nationalen Regierungen.

Auch frühere Regierungen setzten schon auf eine Industriepolitik, die natio-

nale Macht vorgaukelt, aber seit Jahren immer weniger Zukunft hat und im-

mer mehr Subventionierung verschlingt. Von den nationalen Regierungen

in Polen wird das ganze grüne Denken als Quatsch abgetan. Auf der kom-

munalen Ebene aber werden die Probleme ganz anders angegangen als auf

der Ebene des nationalen Prestiges. Und überhaupt: Wo werden denn die

nationalen Regierungen noch ernst genommen? Für alles, was über die In-

nenpolitik hinausgeht, wo kann denn da, auch bei uns, die Bundesregierung

eigentlich Lösungen anbieten? Nehmen wir TTIP: Das ist eine Sache, die von

der Europäischen Union verhandelt wird. Wenn man begriffen hat, dass TTIP

die globale Handelsarchitektur betrifft und damit eine demokratietheoreti-

sche Frage ist und keineswegs nur eine von Zöllen, wenn man das begrif-

fen hat, dann wird auch TTIP ein Gegenstand eines europäischen Projektes.

Ist das jetzt ein Plädoyer für ein wirtschaftsliberales Europa?

Mit der Grundwertekommission der SPD haben wir zu TTIP eine Stellung-

nahme entwickelt und ausdrücklich gesagt: Ja, wir wollen den Freihandel.

Aber wir müssen schauen, welche Implikationen bestimmte Prioritäten ha-

ben. Und wenn bei der Konstruktion von Entscheidungen die Unternehmen

einen Vorrang vor politisch beschlossenen Gesetzen haben, dann ist das mit

einer demokratischen Architektur nicht vereinbar. Und jetzt müssen sich die

Europäer darüber klar werden, weil plötzlich von beiden Seiten, von rechts

wie von links, Protektionismus gefordert wird, was Freihandel eigentlich heißt.

Welche Vorstellungen von wirtschaftlicher Entwicklung haben wir? Wollen wir

uns alle einschließen in kleine Mini waben oder wollen wir uns öffnen? Aber

was heißt das dann für Zugehörigkeiten? Was brauchen wir an Zugehörig-

keiten, was an ordnungspolitischen Vorstellungen und gemeinsamen demo-

kratiepolitischen Regelungen? Und was können wir dem Markt überlassen?

Das alles muss man sich gründlich überlegen, erst recht in einer Situation ra-

schen Wandels und tiefgreifender Umbrüche. Die Idee, dass der Freihandel

Interessen verbindet, finde ich durchaus plausibel. Aber man muss schauen,

wie unter den modernen, technologischen, arbeitsteiligen, finanzmarktmäßi-

gen Bedingungen Freihandel konkret aussieht.

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14 EURoPA — INTERVIEW

Läuft Ihr Verständnis des Subsidiaritätsprinzips darauf hinaus, dass die lokale

und die regionale Ebene das regeln sollen, was sie autonom regeln können? Und

die übergeordnete nationalstaatliche Ebene ist für das zuständig, was die Ge-

meinden nicht leisten können, während Europa übernimmt, wozu der National-

staat nicht mehr in der Lage ist? Ist Ihre europäische Zielperspektive also eine

Art von Bundes-Bundesstaat?

Nein. Der klassische Satz für die Definition von Subsidiarität, dass jede

Ebene das machen soll, was sie machen kann, ist im Gegenteil nicht sehr taug-

lich für die Beschreibung der Wirklichkeit. Denn was eine Gemeinde machen

kann, hängt schlicht und einfach von ihren Finanzen ab. Und insofern kann sie

viel mehr machen, wenn sie von Europa mehr Geld bekommt. Woran bemisst

sich denn, was eine Gemeinde machen kann? Bemisst sich das am geografi-

schen Wirkungskreis? Oder bemisst sich das an den intellektuellen, materiellen,

ökonomischen Potenzialen? Auch die sind ja beeinflussbar. Das heißt, wenn

die nationale spanische Regierung von Rajoy nicht erlaubt, dass zum Beispiel

Barcelona Flüchtlinge aufnimmt, weil das aus politischen Gründen nicht ge-

wollt ist, weshalb auch die Finanzmittel, die dafür vorhanden wären, nicht ge-

geben werden, dann kann man ja nicht sagen: Die Gemeinden können das nicht.

Noch einmal: Woran bemisst sich, was die Gemeinden können? Woran

bemisst sich, was der Nationalstaat kann? In der katholischen Soziallehre

geht man von einer personalen Idee aus und sagt: Was ich als Individuum

kann, das muss ich machen. Und erst danach kommt die Familie oder das

Umfeld an die Reihe. Die Ressourcen sind persönliche Fähigkeiten. Aber in

einem modernen Staat sind Ressourcen ganz stark Finanzen. Und insofern

ist nicht das Kriterium, was die jeweilige Ebene leisten kann. Das Kriterium

ist, dass die Gemeinden und Regionen der Ort sind, an dem sich das täg-

liche Leben der Menschen zum allergrößten Teil abspielt – wie sie wohnen,

wo sie Arbeit haben, welche Schulen sie besuchen, welche Infrastruktur sie

nutzen, wie umfangreich die Freizeitangebote sind. In ihrer politischen Orien-

tierung und in ihren Verfassungen sind die Gemeinden sehr viel stärker als

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15Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

die nationale Ebene auf Verständigung aus, anstelle des scharfen Konflikts

zwischen Mehrheit und Minderheit, Regierung und Opposition herrscht Aus-

gleich, Machtteilung, Konkordanz. Ich bin der Meinung, dass man die Ge-

meinden stärken und den Griff der nationalen Regierungen lockern muss. In

den Gemeinden sind die Aktivpotenziale, da findet die Wertschöpfung statt.

Als ich studierte, spielte die wirtschaftliche Wertschöpfungstheorie eine

große Rolle. Der Adel sagte, das Land ist die Wertschöpfungsquelle. Dann

kam das Bürgertum und sagte, die Arbeit ist die Wertschöpfungsquelle, die

Verarbeitung dessen, was das Land bringt. Heute ist das kein Thema mehr,

heute schafft das Wissen Werte, Kommunikation, die Organisation von Wis-

sen und Offenheit. Weshalb Protektionismus Abschottung und eine Beein-

trächtigung der Wertschöpfung bedeutet, weil man einfach auf viele Sachen

nicht kommt, wenn man abgeschottet ist. Die Wertschöpfungsfrage ist sehr

wichtig. Und ich glaube, dass die Wertschöpfungsfrage mittlerweile ihre

Antwort findet in der konkreten Begegnung von Menschen. In Unterneh-

men werden nicht zufällig Gemeinschaftsorte wie Teeküchen immer wich-

tiger, wo man sich trifft, sich austauscht und Ideen entwickelt. Die Orte, wo

man handfest und anschaulich die eigenen Erfahrungen austauschen kann

und wo man auf neue Ideen kommt, das sind die Orte, wo die Musik spielt.

Benjamin Barber hat schon vor zehn Jahren weitsichtig propagiert, dass die

großen Metropolen in der Welt das Sagen haben werden.

Aber warum soll die Gemeinde dieser Ort eher sein als der Nationalstaat? Wenn

es darum geht, wo sich das alltägliche Leben der Menschen abspielt, dann ist

das doch vielfach auch nicht die Gemeinde insgesamt, sondern das Viertel, die

Straße, der Wohnblock.

Auf der UN-Konferenz Habitat III in Quito haben sich die Städte und Ge-

meinden darüber beklagt, dass alle Programme, die durch den Filter der

nationalen Regierungen hindurch müssen, die von deren Zustimmung und

Zulassung abhängen, furchtbar schwierig sind, weil nationale Regierungen

sich ständig ändern oder sich im Wahlkampfmodus befinden und daher

nicht entscheiden. Eine solche Unterminierung von vernünftigen Entschei-

dungen können wir uns nicht mehr leisten, wenn wir weiterkommen wol-

len in dieser Welt. Und deswegen sage ich, dass die Städte, Kommunen und

Regionen mehr Chancen bekommen müssen, mehr finanzielle Chancen, et-

was zu machen. In Europa muss auf längere Sicht das gesamte Fördersys-

tem vereinfacht werden.

Ich habe schon als Universitätspräsidentin dieses gesamte Antragswesen

furchtbar gefunden, eine Katastrophe, was man alles miteinander abstimmen

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16 EURoPA — INTERVIEW

musste. Aber wenn eine Gemeinde sich entwickeln will und schaut: Was

habe ich für Potenziale, welche Unternehmen habe ich, welche ausgebildeten

Arbeitskräfte, wo habe ich weiteres Ausbildungspotenzial, was sind kulturelle

Traditionen, die ich beleben kann – dann reichen die besten Konzepte nicht,

auch wenn sie noch so viele Arbeitsplätze schaffen und Engagementmög-

lichkeiten bieten. Wenn man von Europa Geld bekommen will, dann muss

man völlig unübersichtliche Programme durchgehen, von denen auch die

Vertreter der Europäischen Union meistens keine Ahnung haben. Sie geben

das auch zu, weil die Programme so ausdifferenziert sind, dass die das gar

nicht alles im Kopf haben können. Wenn Sie dann einen Antrag stellen wol-

len, können Sie den zum Beispiel bei Urban Innovative Action einreichen.

Da können Sie etwas zur Kreislaufwirtschaft beantragen. Aber wenn Sie jetzt

mit der Gemeinde nicht nur den Abfall regeln, sondern vielleicht auch noch

die Energieeffizienz steigern wollen, dann müssen Sie drei Anträge stellen.

Das können Sie aber gar nicht; jeder Antrag kostet mindestens 30.000 Euro,

weil Sie einen Profi brauchen. Das können Sie nicht alleine. Und die Admi-

nistration hat gar nicht genug Kräfte, das zu machen. Das geht doch nicht!

Wenn ich merke, dass ich reihenweise Absagen von geeigneten Städten

für einen gemeinsamen Antrag bekomme, die sich nicht beteiligen, weil sie

nicht das Personal für das Antragsprozedere haben: Da stimmt doch etwas

nicht! Und dann macht die EU eine Bestandsaufnahme und stellt fest, dass

das Geld nicht abgerufen worden ist. Das wurde ja auch den Griechen im-

mer vorgeworfen: Es hieß, die müssen ihre Verwaltung verbessern, das Geld

wird gar nicht abgerufen. Na, wenn die Sache so kompliziert ist, dann ru-

fen die das Geld nicht ab, natürlich nicht, weil sie mit Mühe und Not über

die Runden kommen. Und in Brüssel jammern diejenigen, die den Irrsinn

durchschauen, über die Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit. Die tüfteln mühsam

die Verfahren aus und dann können die Leute das gar nicht in Anspruch

nehmen. Das ist ja auch frustrierend und keine sinnvolle Beschäftigung.

Dagegen anzugehen erscheint vielleicht wie frustrierendes Klein-Klein; aber

wenn man realistisch sein und wirklich etwas umsetzen und nicht nur große

Ideen propagieren will, dann kommt man um dieses Klein-Klein, um das

Bohren der berühmten dicken Bretter nicht herum. Und dann merkt man

auch, dass man es mit einem systemischen Problem zu tun hat.

Aber wenn man Kompetenzen von der nationalstaatlichen Ebene auf die regio-

nale oder lokale Ebene verschiebt: Kann man dann tatsächlich ausschließen,

dass die Gemeinden am Ende nicht genauso konkurrenzbezogen agieren wie

der Nationalstaat? Auch Gemeinden dürften doch angesichts der Begrenztheit

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17Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

der Finanzmittel versuchen, sich gegenseitig zu unterbieten, um möglichst hohe

Zuteilungen zu erhalten, vollkommen egal, ob das auf Kosten der Gesamtver-

antwortung etwa für Umweltgesichtspunkte geht. Müsste für die von Ihnen ge-

wünschten Ergebnisse nicht ganz im Gegenteil die Verantwortung auf noch hö-

here Ebenen als den Nationalstaat verlagert und statt einer Ermächtigung der

Gemeinden so etwas wie eine einheitliche Weltregierung als gemeinsamer Rah-

men angestrebt werden? Und ist dann nicht das zentrale Problem in diesem Zu-

sammenhang, dass wir zwar neben den nationalstaatlichen auch festverankerte

regionale und lokale Identitäten kennen, dass sich aber in der Vergangenheit al-

lenfalls ganz rudimentär und immer noch sehr defizitär so etwas wie ein trans-

nationales Selbstverständnis bspw. als Europäer herausgebildet hat?

Es gibt kein optimales Institutionengefüge ohne jegliche Missentwicklun-

gen. Natürlich gibt es einerseits eine starke Konkurrenz auch zwischen den

Gemeinden. Und sicherlich ist grundsätzlich der Konkurrenzkampf härter,

wenn die Ressourcen knapper sind. Andererseits gibt es auch einen anthro-

pologisch angelegten Wunsch nach Kooperation. Insofern gibt es zwar Riva-

litäten und Konkurrenz zwischen den Städten, aber eben auch Assoziationen.

Jeder Arbeitgeberverband hat mit Rivalitäten der in ihm organisierten Unter-

nehmen zu tun und besteht dennoch als gemeinsames Dach. Die Integra-

tion der widerstrebenden Kräfte erleichtert ein ernsthafter Gegner, etwa eine

starke IG Metall, gegen den sich die Reihen schließen. Oder, auf einer höheren

Ebene, der Staat, dem gegenüber Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften

als Kampfgenossen die Tarifautonomie verteidigen. Die Summe der vielge-

staltigen Gegnerschaften und Bündnisse ergibt unser demokratisches Sys-

tem von Checks and Balances. Und im Rahmen dieses Gesamtsystems sollten,

das meine ich schon, die Gemeinden gestärkt werden, die sehr viel koope-

rativer und pro-europäischer agieren als die Nationalstaaten. Auch weil das

nationale Machtpotenzial groß und stabil ist, während auf der kommunalen

Ebene die Konstellation von Regierung und Opposition viel unübersichtlicher

ist, sodass hier die Chance besteht, über politisch-kulturelle Konfliktlinien

hinweg zusammenzuarbeiten, auch ohne gemeinsamen Feind. Wir leben in

einer neuen Ära, wir können uns in der heutigen Welt nicht mehr gegen den

gemeinsamen Feind des real-existierenden Sozialismus zusammenschließen.

Wir müssen uns zusammenschließen ohne gemeinsamen Feind. Es sei denn,

wir bezeichnen den Hunger als Feind, oder die Zerstörung der Umwelt oder

dergleichen. Aber die Zeit der klar gegliederten Blockkonfrontation ist vorbei.

Wir müssen uns zusammenschließen auf der gesamten Welt oder müssen zu-

mindest zusammen agieren. Zusammenschließen ist vielleicht zu viel gesagt,

aber zusammen agieren, ohne dass uns eine gemeinsame Feindschaft dabei

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18 EURoPA — INTERVIEW

hilft. Dazu brauchen wir das europäische Bewusstsein, das Solidaritätsbe-

wusstsein, das auf Ebene der Kommunen, der Städte und der Regionen viel

stärker ist als auf Ebene der Nationalstaaten.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Gerade in der Flüchtlingsfrage, finde ich, wird das sehr deutlich. Während

sich kein Staat in der Frage der Flüchtlingsverteilung der Politik national-

egoistischer Abschottung widersetzt, tun dies lauter Städte. Die sagen dann:

Wir wollen aufnehmen! Wie jetzt bspw. Osnabrück, das fünfzig Flüchtlinge

aus Griechenland aufnehmen wollte. Natürlich stößt man dann sofort auf un-

gemein komplex verästelte Bestimmungen, die etwa regeln, dass die Griechen

die fünfzig Leute gar nicht so einfach nach Osnabrück weiterleiten können,

weil die nationale griechische Ebene nicht mit der kommunalen deutschen,

sondern nur mit der nationalen deutschen Ebene, also in diesem Fall dem

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem BAMF, verhandeln darf. Aber

allein die Tatsache, dass sich die kommunalen Entscheidungsträger in Osna-

brück zusammensetzen und sagen, wir wollen hier fünfzig Flüchtlinge auf-

nehmen, ist eine Dynamik, ein Potenzial, das ich Gold wert finde und das

man nicht einfach enttäuschen darf. Es ließen sich unzählige weitere Beispiele

nennen, in Berlin etwa offene Häuser, wo sich die Leute gegenseitig Arabisch

und Deutsch beibringen, und lauter ähnliche Sachen. Das sind alles Poten-

ziale, deren Bedeutung sich vielleicht erst in zwanzig Jahren vollständig zei-

gen wird, wenn sich daraus Handelsbeziehungen und dergleichen ergeben.

Statt diese Ressourcen freudig zu nutzen, verkomplizieren bei uns unzählige

rechtliche Bestimmungen und ein ganz engmaschiges Rechtsnetz jede Initia-

tive. Deren Funktion ist eigentlich Gerechtigkeit und Transparenz. In jungen

Jahren hatte ich ein großes Vertrauen in die Funktionalität der überkommenen

Systeme. Das habe ich nicht mehr, weil ich zu oft erlebt habe, dass wir uns

mit Verordnungen, Regelungen, Hierarchien geradezu erdrosseln. Das darf

nicht sein. Das muss man dann deutlich machen und andere Mechanismen

finden. Und das muss man auch aussprechen. Da darf man auch keinen fal-

schen Respekt haben, glaube ich. Sicher, man soll nicht polemisieren. Aber

man muss die Dinge, die dysfunktional laufen, deutlich aussprechen. Aktu-

ell ist es freilich bisweilen so weit gekommen, dass Sie nur noch mit Zynis-

mus reagieren können, wenn Sie merken, dass eine gute Idee durch innere

Systematiken pervertiert wird. Und das ist das Problem.

Das bedeutet doch letztendlich nichts anderes als eine grundlegende Reform der

gesamten europäischen Institutionenarchitektur. Sind die Europäer dazu in der

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19Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«

Lage? Gibt es auch nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner in dieser Frage?

Setzt das alles nicht einen verbindenden, identitätsstiftenden Europäischen Geist

voraus, der die europäischen Völker zusammenhält? Aber gibt es den überhaupt,

und wenn nicht, wie könnte er geschaffen werden?

Ich glaube schon, dass es ihn gibt. Und ich glaube, dass es in der gesam-

ten Welt der freiwilligen Initiativen sehr viel gibt, insbesondere eben auf der

kommunalen Ebene. Ich bin ganz klar eine Freundin der repräsentativen De-

mokratie; aber dennoch – oder gerade deswegen – sollten alle Gruppen und

Interessierte diesseits der Entscheidungsebene so stark wie möglich einbezo-

gen und zum Mitmachen und Mitgestalten eingeladen werden. Von Plebis-

ziten und Volksentscheiden halte ich gar nicht viel, auch wenn mein Freund

Hans-Jochen Vogel und meine Partei, die SPD, das z. T. anders sehen. Ich

will vielmehr Unternehmen, Zivilgesellschaft und Politik zusammenbringen

und konnte die Möglichkeiten dazu in ca. 45 Trialogen, die ich auf unserer

»HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform« moderiert habe, studieren.

Jede Seite folgt einer eigenen Logik: Die Unternehmen vertreten ein betriebs-

wirtschaftliches, partikulares Marktinteresse, müssen aber erkennen, dass sie

Regeln im Sinne des Corporate Citizenship beachten müssen; die Nichtregie-

rungsorganisationen, die weitreichende Ziele mit idealistischem Elan verfol-

gen und über Wahlperioden weit hinausdenken, müssen ihren Eifer und ihre

Rigorosität bremsen; und die Politik muss die verschiedenen Perspektiven in

Richtung Gemeinwohl asymptotisch verbinden. Keine der Gruppen hat von

vornherein recht. Deshalb müssen sie ihre Anliegen begründen. Wenn die

Arbeitgeberverbände mit Blick auf die Flexibilisierung der Arbeitszeit sagen:

Wir brauchen mehr Arbeitsvolumen und deswegen müssen wir jetzt flexi-

bilisieren, damit die Leute nicht nur acht Stunden, sondern auch mal zehn

oder zwölf Stunden arbeiten, dann sagen die anderen: Ja, aber das größere

Arbeitsvolumen kann man aber auch anders organisieren, ohne die Gesund-

heit der eigenen Leute so kaputtzumachen, dass die dann nicht mehr arbei-

ten können. Dann müssen sich die Vertreter der gegensätzlichen Positionen

treffen, zusammensetzen und schauen, worin das Problem eigentlich besteht,

wie die Problemdefinition lautet. Worin besteht das Problem? Welche Rolle

spielt die Gesundheit? Welche Rolle spielt die Vorstellung von Leben und

Freizeit, welche Rolle ein gutes Leben? Das kann gelingen, aber es ist eine

intellektuelle Anstrengung, die auch in den Universitäten heute nicht mehr

besonders trainiert wird angesichts der extremen Spezialisierung bspw. in

der Politikwissenschaft. Am Otto-Suhr-Institut hatten wir, als ich Dekanin

war, 38 oder 40 Professuren. Aber denken Sie, die konnten sagen, wozu die

Politikwissenschaft gut ist? Die haben völlig departementalisiert gearbeitet,

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20 EURoPA — INTERVIEW

aber zu den großen Fragen, dazu, was Politik eigentlich ist, in dem einen oder

in einem anderen Verständnis, ja worin die unterschiedlichen Verständnisse

begründet liegen: sehr wenig.

Was ist denn aber nun in Ihren Augen der Europäische Geist, was zeichnet ihn

aus, im Unterschied zu anderen Weltgegenden einerseits, als Bindeglied der

Regionen und Nationalitäten, die zu Europa gehören, andererseits? Wobei da

natürlich sofort die Frage im Raum steht: Wo fängt Europa an, wo hört es auf?

Das Abendland im traditionellen Verständnis endete ja bekanntlich östlich auf

Höhe der Elbe, weshalb noch Konrad Adenauer sagte, östlich der Elbe beginne

Sibirien. Was also ist Europa?

Ich glaube nicht, dass man den Europäischen Geist ohne eine eigene Wert-

entscheidung definieren kann. Jede Definition enthält eine Wertentscheidung,

eine Grenzziehung, definitio est negatio. Das heißt, immer wird etwas negiert.

Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, die Konzentrationslager gehören zum

Europäischen Geist, würden Sie sagen: Die ist verrückt geworden. Das heißt,

die Vorstellung von einem Europäischen Geist ist eine normative Vorstellung,

wie Europa sein sollte. Aber natürlich auch gespeist aus der Geschichte, der

empirischen Geschichte. Nun war Europa freilich keineswegs nur menschen-

rechtsorientiert, sondern auch totalitär, brutal, kriegerisch. Das alles wissen

wir, und wenn wir jetzt zum Beispiel die Menschenrechte nehmen, dann sind

die nun wahrhaftig nicht nur europäisch. Gleichwohl kann man sagen, es gibt

starke kulturelle und regionale Unterschiede. Wenn ich also vom Europäi-

schen Geist spreche, dann treffe ich eine klare normative Aussage. Ich sage:

Wofür ich kämpfe, ist eine Vorstellung von politischem Zusammenleben, das

große und historisch gewachsene kulturelle Unterschiede zur Kooperation

bringen muss. Eine Vorstellung, die Pluralität demokratisch so fruchtbar ge-

staltet, dass das Individuum nicht auf der Strecke bleibt. Der Europäische

Geist ist für mich das Bewusstsein der Vielfalt, mit der wir gemeinsam fried-

lich und demokratisch zurande kommen wollen. Das Bewusstsein, dass die

Ökonomie nicht dominieren darf, das Bewusstsein, dass der Sozialstaat und

Solidarität wichtig sind für menschliches Zusammenleben. Und das Bewusst-

sein, dass sich ein Kontinent zerstören kann, wenn er auf Gewalt setzt in der

Austragung von Konflikten. Ich sehe eine große Chance für Europa, aus der

Erfahrung der Brutalität gewaltmäßiger Konfliktaustragung zu intelligente-

ren, friedlicheren Formen des Zusammenlebens zu kommen und dafür auch

in der Welt zu werben. Damit sage ich jetzt nicht, ich bin Pazifistin von vorne

bis hinten, aber das ist meine Quintessenz. Und das ist meine Vorstellung von

einem gelungenen Leben im Unterschied zu Gewalt und Krieg.

Prof. Dr. Dr. h. c. Gesine Schwan, geb. 1943, Studium der Romanis-tik, Geschichte, Philosophie, Poli-tologie an der Freien Universität Berlin u. Universität Freiburg. Von 1977 bis 1999 Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin, von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.; jetzt Präsidentin der HUMBOLDT- VIADRINA Gover-nance Platform, Berlin. 2004 und 2009 Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Seit 2014 Vorsitzende der SPD-Grundwer-tekommission. Veröffentlichungen zu Demokratie und Governance, Politischer Kultur, Europa, Bil-dung, zur Sozialdemokratie und zu den normativen Grundlagen der Politik.

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21

ANALYSE

DIE EUROPÄISCHE UNIONEINE DEMOKRATISCHE LAGEBESCHREIBUNG

Ξ Emanuel Richter

Unter dem Eindruck der vielen Krisen, denen sich die Europäische Union

in den vergangenen Jahren ausgesetzt sah, hat sich die seit Jahrzehnten dis-

kutierte Demokratiefrage der europäischen Integration verschoben. Zum

Zeitpunkt der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979

und der Einführung einer Unionsbürgerschaft im Jahr 1992 konzentrierten

sich die Hoffnungen noch auf eine nachträgliche, aber umfassende Demo-

kratisierung des 1951 ins Leben gerufenen, supranationalen europäischen

Einigungsprojekts. Die erkennbar werdende Staatsähnlichkeit der EU sollte

nach dem Muster einer parlamentarischen Demokratie ausgestaltet und le-

gitimiert werden. Neben der Volkswahl von Europaabgeordneten hoffte man

auf eine sich allmählich ausprägende supranationale Parteienlandschaft, auf

eine starke Präsenz des supranationalen Geschehens in den Medien und in

der Öffentlichkeit sowie auf die wachsende Bereitschaft der europäischen Be-

völkerung, sich politisch zunehmend mit der EU statt mit ihren jeweiligen

Nationalstaaten zu identifizieren.

Das Projekt einer nachträglichen demokratischen Legitimation, einer brei-

ten öffentlichen Akzeptanz des staatsähnlichen Gebildes und der belas-

tungsfesten Bürgerloyalität stieß jedoch auf unüberwindliche Grenzen. Eine

freiwillig gesuchte Nähe der Bürgerinnen und Bürger zu dem neuen Macht-

gebilde kam nicht auf. Infolgedessen versuchte man mit allgemeinen öffentli-

chen Appellen an die Alternativlosigkeit des europäischen Einigungsprojekts,

aber auch sehr konkret mit zentralen Anreizstrukturen wie der Unionsbür-

gerschaft, größere Bürgernähe und Transparenz zu schaffen, die Zusammen-

gehörigkeit und Solidarität untereinander zu stimulieren. Entsprechende

Kampagnen und Projekte fruchteten jedoch kaum. Vielmehr wurden ihre

Misserfolge begleitet von strukturellen Defekten, die sich in das supranatio-

nale System einschlichen. Als sich in den 1990er Jahren herausstellte, dass

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22 EURoPA — ANALySE

der europäische Binnenmarkt, das tragende Instrument der supranationalen

Einigungsdynamik, nicht für alle Beteiligten gleichmäßig verteilte Erfolge zei-

tigte, sondern zu einer Spaltung zwischen nord- und südeuropäischen Mit-

gliedstaaten und auch zwischen ost- und westeuropäischen Mitgliedstaaten

führte und nur den exportorientierten Mitgliedstaaten großen ökonomischen

Nutzen verschaffte, wurden die Grenzen des Zusammenhalts, der Solidari-

tät, der Loyalität und des demokratischen Engagements der europäischen

Bürgerinnen und Bürger für die supranationale Integration offenkundig. Die

Griechenland-Krise steht symptomatisch für diesen Prozess der Ernüchterung

und der Artikulation nationaler Vorbehalte gegenüber einer politisch starken,

handlungsmächtigen und damit staatsähnlichen Union. Als schließlich auch

noch im Jahr 2016 die Briten die im Lissabon-Vertrag von 2009 neu geschaf-

fene Option des opt out nutzten, die eigentlich gar nicht als Anreiz zu ihrer

Inanspruchnahme, sondern als symbolische Versicherung über die freiwil-

lig gewählte Zusammengehörigkeit gedacht war, brachen die ursprünglichen

demokratischen Erwartungen endgültig zusammen. Die öffentliche Bereit-

schaft zum demokratischen Einverständnis mit der EU erwies sich nicht nur

als brüchig, sondern konnte sogar unversehens ins Gegenteil umschlagen:

Demokratische Prozesse konnten auch völlig unerwartet zu einer Verweige-

rung der Zustimmungsbereitschaft zur europäischen Integration führen. Ein

demokratischer Gewinn, nämlich die öffentliche Aufmerksamkeit der Bür-

gerinnen und Bürger für das supranationale Geschehen, schien zwar erzielt,

doch ließ er sich nicht mehr unversehens in Systemloyalität ummünzen. In

dieser Ausgangslage stellt sich die demokratische Frage der europäischen

Integration in neuem Licht dar, wozu die folgenden Ausführungen einige

Klärungen beitragen sollen.

DIE GRENZEN EINER DEMOKRATISCH LEGITIMIERTEN STAATSÄHNLICHKEIT

Die EU entspringt in ihrer ursprünglichen historischen Entwicklungslogik

dem Versuch, die demokratische Legitimation des supranationalen Systems

schrittweise durch nachträgliche Formen der bürgerschaftlichen Akzeptanz-

beschaffung für die bereits in Gang gesetzten Kooperationsprozesse herzu-

stellen. Allmählich ausgebaute repräsentative Mechanismen in Anlehnung

an das Muster einer parlamentarischen Demokratie sollen das Einverständ-

nis der Betroffenen mit ihrem Herrschaftsverband hervorbringen und ge-

währleisten. Von Anfang an war keine demokratische Verfügungsgewalt

über das EU- System als Ganzes vorgesehen. Weder gab es in der Gründungs-

phase oder zum Zeitpunkt entscheidender Weichenstellungen öffentliche

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23Emanuel Richter — Die Europäische Union

Grundsatzdebatten über das Für und Wider, noch gab es in den betroffenen

Ländern Referenden über neue Vertragswerke oder markante Einigungs-

schritte. Lange Zeit fehlte auch jegliches bürgerschaftliche Interventionsrecht

gegen die überaus eifrige supranationale Gesetzgebung. Die Staatsähnlich-

keit gewann zwar an Konturen, aber die demokratische Infrastruktur hinkte

durchweg der zunächst rasanten Entwicklungsdynamik hinterher.1 Die EU

ist kein Ergebnis einer umfassenden politischen Selbstbestimmung, sondern

ein zunächst aus Friedenserwägungen, später vor allem aus wirtschaftspoli-

tischen Sachzwängen erwachsenes Regulierungssystem, dessen Herrschafts-

kompetenz rückwirkend demokratischen Legitimationsbedarf aufwirft. Dem-

entsprechend gibt es jenseits der Fraktionen des Europäischen Parlaments

keine Möglichkeit, eine gehaltvolle Opposition gegen die Eigendynamik des

Integrationsgeschehens auszuüben und wirkungsvoll politische Alternativen

geltend zu machen. Sobald einmal in einzelnen Mitgliedstaaten Referenden

zu europäischen Grundsatzfragen stattfinden, wie anlässlich der Debatte

über den Vertrag einer Verfassung für Europa 2005 in Frankreich und in den

Niederlanden sowie 2008 in Irland, bleibt den Bürgerinnen und Bürgern als

dezidiert kritische Willensbekundung nur ein pauschales »nein« zu allem –

wie es in den Referenden auch tatsächlich geschehen ist. Anstatt eine diffe-

renzierte Opposition gegen einzelne Politikfelder der EU ausüben zu kön-

nen, bleibt nur die Misstrauensbekundung gegen die gesamte polity.2 Auch

das »Brexit«-Votum unterliegt dieser fatalen Einengung der Artikulation des

Volkswillens auf die binären Optionen des »alles oder nichts«.

Mittlerweile ist allerdings der einst kraftvolle Trend zur wachsenden

Staatsähnlichkeit gebrochen. Es mehren sich Formen einer abgestuften Inte-

gration oder einer géometrie variable, die konzentrische oder sich überlap-

pende Kreise der Kooperation zulässt, sodass sich die Mitgliedstaaten nicht

allen Formen der Zusammenarbeit zum gleichen Zeitpunkt mit der gleichen

Intensität anschließen müssen. Es mehren sich damit auch Tendenzen zu einer

Desintegration.3 Das Leitbild der parlamentarischen Demokratie verliert an

Überzeugungskraft. Damit wird zugleich deutlich, dass die supranationale

Einigung nicht in einer unrevidierbaren, nicht steuerbaren Eigendynamik in

Richtung der Staatsähnlichkeit verläuft, sondern vor alternativen Szenarien

steht, die nach einem politischen Gestaltungswillen rufen. Jüngst hat die EU-

Kommission in ihrem neuen Weißbuch zur Lage der EU fünf verschiedene

Szenarien alternativer Entwicklungsverläufe der EU vorgestellt und damit

erstmals von oben die Verfügbarkeit sehr unterschiedlicher Optionen der In-

tegration verkündet.4 Die breite Angebotspalette wirkt ungewöhnlich offen-

herzig. Ob diese Vielfalt an Szenarien aber tatsächlich als Angebot für eine

1 Vgl. Andreas Hofmann u. Wolfgang Wessels, Der

Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende

Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, in: Integration,

Jg. 31 (2008), H. 1, S. 3–20.

2 Vgl. Peter Mair, Political Op-position and the European Union,

in: Government and Opposition, Jg. 42 (2007), H. 1, S. 1–17.

3 Vgl. Hubert Zimmermann u. Andreas Dür (Hg.), Key Controversies in European Integration, London 2012.

4 Europäische Kommis-sion, Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen

und Szenarien, Brüssel 2017.

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24 EURoPA — ANALySE

öffentliche Kontroverse im Kreis der europäischen Bürgerschaft verstanden

wird, bleibt höchst fraglich, denn wiederum kündigen sich erst einmal Gipfel-

gespräche über die Alternativen an statt öffentliche Informationsveranstal-

tungen oder Beratungsprozesse. Aber zumindest lässt sich ein Abrücken von

dem Beharren auf einer supranationalen Eigendynamik erkennen, die ledig-

lich der nachträglichen Legitimation durch öffentliche Wahlakte zum Euro-

päischen Parlament und künstlich beförderter Identifikationsanreize bedarf,

um das Siegel der Demokratiefähigkeit beanspruchen zu dürfen.

Unter diesen Bedingungen schöpft die Legitimation der EU vor allem aus

einer erfolgreichen Regulierung in Bereichen, die von der Bevölkerung als

angemessene Rahmenordnung für die Sicherung ihres materiellen Wohl-

ergehens wahrgenommen werden. Der stetige output an wirtschaftspoliti-

scher Zweckerfüllung entbindet teilweise vom Anspruch auf demokratische

Verfügungsgewalt, weil das System als eine technokratische Notwendigkeit

bewertet wird, die im Sinne eines Pareto-Optimums einen größtmöglichen

Nutzen für alle hervorbringt.5 Anstelle partizipativer Interventionsmöglich-

keiten dominieren mittelbare demokratische Legitimationsformen: die in den

einzelnen Nationalstaaten vollzogene Wahl der in Brüssel präsenten politi-

schen Exekutiven, die Existenz von Organen wie dem Wirtschafts- und So-

zialausschuss, öffentliche Hearings, einige Formen des Lobbying durch Nicht-

regierungsorganisationen oder die Möglichkeit, zumindest punktuell mediale

Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auch das öffentliche Wirken substaatlicher Or-

ganisationen in Brüssel, wie zum Beispiel von regionalen oder kommunalen

Büros und Vertretungen, trägt zur Festigung der repräsentativen Mechanis-

men einer funktionstüchtigen mittelbaren Demokratie bei.6 Bemerkenswer-

terweise gelingt es der EU besser, außenpolitisch als kraftvolle Hüterin der

Demokratie in Erscheinung zu treten als in ihrer Innenperspektive. Denn in

Gestalt der Kopenhagener Kriterien und der Standards für Beitrittsverhand-

lungen, aber auch in Form der Europäischen Nachbarschaftspolitik konfron-

tieren die supranationalen Akteure Drittstaaten mit anspruchsvollen Forde-

rungskatalogen demokratischer Politikgestaltung, die teilweise gehaltvoller

erscheinen als die eigens gepflegte demokratische Kultur.

TRANSNATIONALE DEMOKRATIE UNTER DEN BEDINGUNGEN EINER ANHALTENDEN EU-KRISE

Seit Längerem verharrt nun die EU im Krisenmodus. Dazu gehören Heraus-

forderungen wie die Auswirkungen der weltweiten Banken- und Finanz-

krise, das wachsende wirtschaftliche Gefälle innerhalb der EU, die Erschüt-

terungen, die der gemeinsame Währungsraum des Euro erfahren hat, die

5 Vgl. Fritz W. Scharpf, Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, in: Gunnar Folke Schuppert u. a. (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 705–741.

6 Christopher Lord u. Paul Magnette, E Pluribus Unum? Creative Disagreement about Legitimacy in the EU, in: Journal of Common Market Studies, Jg. 42 (2004), H. 1, S. 183–202.

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25Emanuel Richter — Die Europäische Union

drohende Staatspleite von Mitgliedstaaten und verstärkt die integrationsfeind-

lichen Ressentiments in der Bevölkerung, die populistischen Parteien und

Bewegungen, mit dem unverhohlen propagierten Ziel einer EU-Auflösung,

Auftrieb verschaffen. Im Moment der Krise drohen demokratische Leitbilder

Schaden zu nehmen. Gefragt sind nämlich Institutionen und Mechanismen,

die eine resolute Krisenbewältigung ermöglichen. In solchen Konstellationen

schlägt die Stunde aktionsfreudig auftretender Exekutiven, während die For-

derungen nach einer Demokratieverträglichkeit der trans- und supranatio-

nalen Gestaltungserfordernisse verblassen. Alle eilfertig getroffenen Maß-

nahmen geschehen immerhin im Namen und zum größtmöglichen Nutzen

der betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Solange das Volk die entgrenzte,

nicht mehr auf die Gesetzesherrschaft fokussierte, sondern auf die persona-

lisierte Handlungskompetenz gestützte Verdichtung von Entscheidungskom-

petenz nicht als Bedrohung oder Fremdherrschaft wahrnimmt, sondern nur

als eine Dienstleistung, die jedem Einzelnen als einem Betroffenen zuträg-

lich ist, bleibt vermutlich ein vages legitimatorisches Einverständnis mit der

Herrschaft der Exekutive erhalten.

Solche Dynamiken lassen sich in der EU genauso beobachten wie in wei-

teren Feldern internationaler Krisenbewältigung. Die mit dem akuten Hand-

lungsbedarf begründete Politikgestaltung führt zur Verselbstständigung

transnationaler Expertenherrschaft. Diese Exekutivlastigkeit, die durch perso-

nalisierte Handlungskompetenz die demokratisch legitimierte Gesetzesherr-

schaft überlagert oder sogar außer Kraft setzt, gelangt in allen neueren Kri-

senkonstellationen der EU deutlich zum Ausdruck. Im Rahmen der globalen

Finanz- und Eurokrise waren die entscheidungsfreudigen Regierungschefs

gefragt, nicht hingegen die beratungsorientierten Parlamentarier auf europäi-

scher und auf nationaler Ebene. Die europäischen Staats- und Regierungs-

chefs missachteten bspw. gezielt das bestehende supranationale Gesetzes-

werk, indem sie mit ihren Beschlüssen dessen No-Bailout-Klausel, die externe

Eingriffe in den Staatshaushalt einzelner Mitgliedstaaten verhindern sollte,

umgingen und indem sie zusätzlich noch Regelungen wie die verschiedenen

Stabilisierungsmechanismen trafen, die als situationsbezogene Vereinbarun-

gen in inhaltlichen Widerspruch zu den bestehenden EU-Verträgen traten.

Bei der versuchten Bewältigung der Flüchtlingskrise wird die unvermittelte

Entwertung der Gesetzesherrschaft zugunsten einer Expertenherrschaft noch

deutlicher. Das Dublin- und das Schengen-Abkommen – jeweils mühselig aus-

gehandelte Verträge mit dem Ziel, den europäischen Zusammenhalt im Sinne

des Schutzes der europäischen Bevölkerung zu gestalten – verloren unverse-

hens ihre Verbindlichkeit zugunsten tagesaktuell erneuerter Vereinbarungen

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