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ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT
Vandenhoeck & Ruprecht Heft 2 | 2017 | ISSN 2191-995X
INDES
Kardinal Reinhard Marx »Schluss mit der Klassengesellschaft!«
Julia Schulze Wessel Krise! Welche Krise? Ulrike Guérot Das Ende der
europäischen Friedenserzählung Gesine Schwan »Solidarität auf der
primitivsten Ebene« Franz Walter Politische Prediger und Provokateure
ohne Identität? EUROPA
www.v-r.de
Josef FoschepothVerfassungswidrig!Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg
2017. Ca. 450 Seiten mit 38 Abbildungen, 14 Grafi ken und 1 Tabelle, gebundenca. € 40,– DISBN 978-3-525-30181-4
Erscheint im September 2017
Der KPD-Prozess von 1951 bis 1965 war das größte und längste Parteiverbotsverfah-ren in der Geschichte der Bundesrepublik. Zugleich ist er ein bislang völlig unter-schätztes Schlüsselereignis der deutsch-deutschen Geschichte zwischen 1949 und 1969. Auf der Grundlage bislang unter Verschluss gehaltener Staatsakten ist Josef Foschepoth ein bahnbrechendes Buch gelungen. Es vermittelt eine Fülle neuer Er-kenntnisse zur Wirkmächtigkeit des Nationalsozialismus, zur Entstehung eines neuen Nationalismus, zur notwendigen Unterscheidung von Kaltem Krieg und Kaltem Bürgerkrieg und nicht zuletzt zur Frage der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.
War das KPD-Verbot verfassungswidrig?
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219
INDES, Heft 2 / 2017
1
EDITORIAL Ξ Matthias Micus / Marika Przybilla-Voß
Der »Brexit«, die Entscheidungsblockade beim Handelsvertrag CETA, die
Wahlerfolge von Rechtspopulisten bei Europawahlen, die Unfähigkeit der
Gemeinschaft zu gemeinsamem Handeln in der Flüchtlingskrise – diese
wenigen Stichpunkte genügen, um zu veranschaulichen, dass die Europäi-
sche Union und mit ihr die Idee eines geeinten Europa in einer tiefen Krise
stecken. Statt auf eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit setzen viele
Mitgliedsstaaten auf Renationalisierung, nicht zuletzt auch, weil sie sich da-
mit und mit der Kritik an Europa im Bund mit relevanten Teilen ihrer Bevöl-
kerungen wähnen. Und dennoch: Die Werte, Normen und Ideen Europas,
und mit ihnen Europa selbst, büßen auf internationaler Ebene keineswegs
an Attraktivität oder Bedeutung ein. Ganz im Gegenteil strahlen sie Anzie-
hungskraft und Hoffnung aus.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die vorliegende Ausgabe der
INDES im Schwerpunkt mit Europa und den mit diesem Begriff wie Raum
verknüpften Vorstellungen, Werten und historischen Bezügen, mit den – ge-
dachten wie manifesten – Gemeinsamkeiten nach innen und den Abgren-
zungen nach außen, kurzum: den europabezogenen Identitäten. Was macht
»Europa« aus? Gibt es gemeinsame Erzählungen, auf die sich in Krisen zum
Zwecke der Stabilisierung inneren Zusammenhaltes berufen werden kann?
Und gibt es eine benennbare europäische Idee?
In diesem Zusammenhang stellt sich noch grundsätzlicher die Frage, wie
Identifikationen mit Räumen und politischen Gebietseinheiten überhaupt ent-
stehen? Wieso also fühlen sich zahlreiche Menschen, wenn auch vielleicht
nicht in erster Linie als Europäer, so doch als Franzosen, Deutsche, Italiener?
In Verbindung damit soll desgleichen eruiert werden, woran es Europa
mangelt, wo seine Defizite liegen – und ob und inwiefern sich diese korrigie-
ren lassen: durch mehr oder weniger Integration; durch die Akzeptanz plu-
raler, entlang der Nationalstaatsgrenzen sich unterscheidender Einstellungen
zu Europa oder deren Überwindung; durch neue, attraktive Europa-Erzäh-
lungen. Aber welche wären das? Fragen über Fragen, deren Beantwortung
in Anbetracht der internationalen Entwicklungen drängender denn je ist.
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219
INDES, Heft 2 / 2017
2
INHALT
1 Editorial Ξ Matthias Micus / Marika Przybilla-Voß
>> INTERVIEW 5 »Solidarität auf der primitivsten Ebene« Ξ Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gesine Schwan über den Bedeutungsverlust
des Nationalstaats, Facetten der europäischen Identität und Potenziale von Gemeinden
>> ANALYSE 21 Die Europäische UnionEine demokratische Lagebeschreibung
Ξ Emanuel Richter
29 Gleichheit und DemokratieDas Ende der europäischen Friedenserzählung und die Neubegründung Europas
Ξ Ulrike Guérot
36 Polen, Europäische Union und IdentitätFünf Thesen zu einem Land der Gegensätze
Ξ Weronika Priesmeyer-Tkocz
47 Angst essen Europa aufDer Einfluss Europas auf die Präsidentschaftswahlen 2017
Ξ Daniela Kallinich
53 Europäische Identitäten in der KriseDrei Länder im Vergleich
Ξ Dennis Lichtenstein
61 Krise! Welche Krise?Von der »Flüchtlingskrise« zur Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik
Ξ Julia Schulze Wessel
69 Kompetenz und GrenzüberschreitungDie supranationale Rechtsprechung vor Gericht
Ξ Marcus Höreth / Jörn Ketelhut
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219
INDES, Heft 2 / 2017
3Inhalt
81 Europa am AbgrundSystemintegration ohne Sozialintegration
Ξ Hauke Brunkhorst
88 »Brexit« und andere KrisenWelche Erkenntnisse liefern uns Theorien europäischer Integration?
Ξ Marius Guderjan
>> INTERVIEW 98 »Schluss mit der Klassengesellschaft!« Ξ Ein Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx über die Substanz der christlichen
Botschaft und ihren Beitrag zur Lösung der europäischen Identitätskrise
PERSPEKTIVEN
>> ANALYSE 114 Politische Prediger und ProvokateureVom Verschwinden der Intellektuellen und der konzeptionellen Entleerung der Politik
Ξ Franz Walter
123 Die Geburt des KanzlerkandidatenNachrichten vom Wahlkampf
Ξ Klaus Wettig
137 Demokratie heißt nicht GleichberechtigungPolitische Pionierinnen der Linken zwischen Kaiserreich und Republik
Ξ Margret Karsch
145 Unter dem RadarProfitorientierte Wissenschaft mit unheimlichen Ansprüchen
Ξ Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525800218 — ISBN E-Book: 9783647800219
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SCHWERPUNKT:EUROPA
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INTERVIEW
»SOLIDARITÄT AUF DER PRIMITIVSTEN EBENE« Ξ Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gesine Schwan über den Bedeutungs-
verlust des Nationalstaats, Facetten der europäischen Identität und Potenziale von Gemeinden
In letzter Zeit ist immer wieder die Rede davon gewesen, dass sich Europa, die
Idee Europas, in einer tiefgreifenden Krise befinde. Sehen Sie diese Krise auch?
Wenn heute von Krise gesprochen wird, dann ist dies nicht die Krise
der europäischen Idee, sondern eine Krise der politischen Institutionen der
Europäischen Union gemeint. Von einer Krise der europäischen Idee als
einer historischen Idee zu sprechen, macht in meinen Augen keinen Sinn.
Die europäische Idee ist das normative Ziel einer politischen Konstruktion.
Denn natürlich wird es auch in Zukunft ein geografisches Europa und Län-
der geben, die sich europäisch nennen, auch ohne die Europäische Union.
Was dagegen zur Debatte steht, ist die politische Einheit der Europäischen
Union, die als Wirtschaftsgemeinschaft begonnen hat. Diese politische Ein-
heit umfasst alle Länder, die zur Europäischen Union gehören; sie begrenzt
sich nicht auf die Euro-Länder und erstreckt sich nicht auf all jene Länder,
die sich als europäisch verstehen, aber nicht zur EU gehören, wie die Ukraine
oder Weißrussland.
Worin besteht also die Krise der EU?
Zunächst einmal: Die Krise besteht. Sie ist im Kern eine Krise der Solida-
rität, des Zusammenhalts in Europa, und qualitativ sehr viel ernster zu neh-
men als sämtliche vorangegangenen Krisen, weil sie sich seit der Banken-
krise verschärft hat. Diese Krise hat viele Ursachen. Natürlich gab es immer
Rivalitäten zwischen den Nationalstaaten – deswegen ist ja die Europäische
Union auch gegründet worden. Aber vor dem ganzen Hintergrund der Glo-
balisierung und der neoliberalen Wirtschaftspolitik mit ihrem Kernbegriff
des Standortwett bewerbs ist verstärkend neben die ohnehin bestehenden
nationalen Unterschiede, Rivalitäten und Konflikte noch der ökonomische
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6 EURoPA — INTERVIEW
Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten als Standorten für Kapitalinvestitio-
nen getreten. Der Standortwettbewerb hat ganz massive Auswirkungen auch
auf die Menschen: Die Gewerkschaften geraten in Konkurrenz zueinander, alle
möglichen sozialpolitischen Errungenschaften, progressive Steuersätze, Lohn-
höhen, rechtliche Schutzbestimmungen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen – all
das steht unter Abwertungsdruck. Die aktuelle Verschärfung der Krise liegt
also zum einen in der beschriebenen Politik und Kultur des Neoliberalismus
begründet. Zum anderen hat die Globalisierung, eben weil sie sich unter neo-
liberalen statt keynesianischen Auspizien vollzieht, die Spaltung zwischen den
europäischen Staaten zugespitzt – ebenso wie sich ja auch innerhalb jeder ein-
zelnen Gesellschaft die soziale Schere öffnet.
Hat die Politik versagt?
Ich glaube, dass die deutsche Bundesregierung an ganz zentraler Stelle Ver-
antwortung trägt für die Desintegration der Europäischen Union. Die Bundes-
regierung hat, anders als alle ihre Vorgänger, sehr eindeutig das kurzfristige
nationale Interesse – richtiger: nicht das tatsächliche nationale Interesse, son-
dern das, wenn man so will, Regierungs-Wiederwahl-Interesse – zur Leitma-
xime ihrer Europapolitik gemacht. Die Krise Griechenland 2010 etwa hätte
ganz anders angepackt werden können, wenn es nicht die Wahl in Nordrhein-
Westfalen gegeben hätte. Und ich glaube, dass Angela Merkel ganz anders
als selbst Gerhard Schröder, der auch nicht gerade ein sentimentaler Europäer
war, einen inneren Bezug zur eigentlichen europäischen Idee nie hatte und
bis heute nicht hat. Sie hat gleichfalls keinen inneren Bezug zur Demokratie,
selbst wenn das jetzt denunziatorisch klingen mag. Jedenfalls dann nicht, wenn
Demokratie mehr sein soll als das Gewinnen von Wahlen. Wenn man unter
Demokratie die öffentliche Diskussion von Alternativen und die Begründung
politischer Entscheidungen versteht, dann hat die Merkel’sche Begründungs-
und Alternativlosigkeit die Demokratie systematisch unterminiert. Merkels
Politikstil besteht darin, an kleinen Stellschrauben zu drehen, um Krisen die
Spitze zu nehmen, sie ungefährlich zu machen. Auf diese Weise wird aber
keine Krise wirklich gelöst oder auch nur in ihren historischen Dimensionen
erkannt. Politik muss meiner Ansicht nach die Zukunft mit der Vergangenheit
verknüpfen, sie muss die systemischen Zusammenhänge chronologisch und
horizontal erfassen. Nichts davon ist auch nur ansatzweise bei Merkel vorhan-
den. Ebendieses Akteurshandeln hat in Kombination mit dem Neoliberalismus
und einer entsolidarisierenden Globalisierungspraxis zu der ungewöhnlichen
Art geführt, in der unter Merkel deutsche Dominanz exerziert wurde. Nicht
demonstrativ, macho mäßig oder gar chauvinistisch, doch sehr effektiv. Und
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7Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
vor allen Dingen so, dass außerhalb Deutschlands jeder den Oktroi einer be-
stimmten Wirtschaftspolitik bemerkt hat, die den anderen nicht gut getan hat,
Deutschland dagegen schon. Deshalb wurde das in Deutschland auch kein
relevantes Thema.
Ist das nicht ein wenig kurz gegriffen, die Schuld für die Krise Europas Angela
Merkel zuzuschreiben?
Angela Merkel ist seit dem Herbst des Jahres 2005 verantwortlich für die
Europapolitik. Wer praktisch zwölf Jahre hauptverantwortlich ist für die Wirt-
schaftspolitik und als Staatschefin die größte Macht besitzt, über den kann
man nicht sagen: Die Krise kam zufällig und er oder sie hat damit nichts zu
tun. Da spielt das eigene Zutun schon eine ganz entscheidende Rolle. Und
deswegen glaube ich auch, dass Merkels Politik in Verbindung mit dem Fest-
halten ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble an einer nationalistischen
und juristisch-autoritären Wirtschaftspolitik zugunsten deutscher Interessen
die Europäische Union zerstört.
Sie haben eingangs gesagt, von einer Krise der europäischen Idee könne eigent-
lich nicht gesprochen werden, Ihre letzten Äußerungen könnte man aber so ver-
stehen, eine verbindende europäische Idee sei angesichts der Dominanz natio-
nalegoistischer Wirtschaftsinteressen verloren gegangen. Was verstehen Sie denn
darunter, unter der europäischen Idee? Und welche Bedeutung hat diese euro-
päische Idee in Ihren Augen?
Ich verwende den Begriff der europäischen Idee ungern. Er ist ein Singu-
lar, der mir nicht so viel sagt. Bei denen, welche die Europäische Union ge-
gründet haben, verkörperte die europäische Idee wohl den Wunsch, in Eu-
ropa kriegerische Konflikte durch die Zusammenlegung von kriegswichtigen
Industrien, also Kohle und Stahl, zu überwinden. Und sie bedeutete nach
dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus grenzüberschreitende
Verständigung und Ausgleich. In den Römischen Verträgen etwa gibt es eine
Präambel, die ganz ausdrücklich auf ökonomischen und sozialen Ausgleich
zielt. Mit der europäischen Idee verband sich die Absicht, bei allen Entschei-
dungen immer die Auswirkungen auf die jeweils anderen Länder zu berück-
sichtigen und die zwischenstaatlichen Ungleichgewichte – politischer, aber
auch wirtschaftlicher Art – so zu handhaben, dass die Kleineren sich nicht
untergebuttert fühlten. In diesem Rahmen bewegte sich noch ganz eindeutig
das Denken Helmut Kohls. Diese europäische Idee ist aber spätestens in den
Krisen nach 2008 unter den sehr engstirnigen deutschen Dominanzpolitiken
untergegangen, also irrelevant geworden.
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INDES, Heft 2 / 2017
8 EURoPA — INTERVIEW
Wie konnte es dazu kommen?
Bei der Politik ist es immer so: Politik besteht aus Handlungsweisen, die
eingebettet sind in ein Institutionengefüge. Wenn Sie so wollen: politische
Kultur und Institutionen; bei Montesquieu heißt der Unterschied: Natur
( Institutionen) und Prinzip (Kultur) der Regierungsweise. Natürlich besteht
sie auch noch aus mehr; aber der Kern des Politischen wird durch diese bei-
den Kategorien gut erfasst. Dass nun mit Blick auf Europa die Institutionen
unter dem Doppeldruck der Vereinbarung von fundamentalen Unterschieden,
von unterschiedlichen Potenzialen, unterschiedlichen historischen Traditionen
einerseits, der Anforderungen von Demokratie mit ihrem Gleichheitsprinzip
»One person, one vote« andererseits mit besonderen Schwierigkeiten kon-
frontiert sind, leuchtet unmittelbar ein. Die Analogie von Europäischer Union
und Nationalstaat war deshalb immer illusionär. Verglichen mit Letzterem
zeichnet sich Europa insofern wenig überraschend von Anfang an durch De-
mokratiedefizite aus. Diese hat man durch eine Stärkung des Europäischen
Parlaments zu überwinden versucht. Aber die Vermittlung von zwei grund-
sätzlichen Konfliktlinien – die eine weltanschaulich-politisch, die andere na-
tional – ist eben schwierig. Wir haben zwar im Europäischen Parlament Frak-
tionen, wir haben aber keine europäischen Parteien und noch wenig, wenn
auch jetzt wachsend, europäische Öffentlichkeit. Bei allen Abstimmungspro-
zeduren im Europäischen Parlament müssen für Mehrheiten die Abgeord-
neten von Parteien mehrerer Länder zusammengeführt werden. Obendrein
wurde die europäische Komplexität dann noch einmal durch die Eurozone
und die Einführung der gemeinsamen Währung gesteigert.
Inwiefern?
Man hat seinerzeit gedacht, dass die gemeinsame Währung das Ver-
halten prägen und quasi gesetzmäßig in eine gemeinsame Politik münden
würde. Die nationalen Regierungen würden sich einander nähern. Das ist
aber nicht geschehen; im Nachhinein zeigte sich, dass die Einführung des
Euro ohne eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik auf tönernen Füßen
stand. Deshalb gibt es unter den Fachleuten einen markanten Streit zwischen
denen, die sagen: Die Eurozone ist eine Fehlkonstruktion, die gehört insge-
samt abgeschafft. Vertreter der Linksparteien, aber etwa auch Fritz Scharpf
und Joseph Stiglitz argumentieren so. Tatsächlich zeigen die Erfahrungen
mit gemeinsamen Währungen in Wirtschaftsräumen mit großen regionalen
Ungleichgewichten, dass man in irgendeiner Weise Ausgleichsmechanis-
men braucht. Diese Ausgleichsmechanismen sind europäisch viel schwie-
riger durchzusetzen als national, obwohl die ewigen Diskussionen um den
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9Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
Länderfinanzausgleich auf Meinungsverschiedenheiten und Konflikte auch
im nationalstaatlichen Rahmen hinweisen.
Warum ist nun aber die europäische Gründungsidee – gültig, wie Sie sagten, noch
zu Zeiten Helmut Kohls – ausgerechnet im 21. Jahrhundert zusammengebrochen?
Die institutionellen Defizite fielen etwa seit dem Jahrtausendwechsel zu-
sammen mit einer Wirtschaftspolitiktheorie und -kultur, die Solidarität, wo
immer sie konnte, dementiert und unterminiert hat als Mangel an Verant-
wortung. Statt Hilfe von woanders zu erwarten, sollte ein jeder lieber für
sich selbst sorgen. Die Tatsache also, dass das fast unvermeidlich defizitäre
europäische Institutionengebäude nun erstens auf eine Kultur und Wirt-
schaftspolitik traf, die Solidarität regelrecht programmatisch unterminiert
hatte, und zweitens auf Personen in den Schaltzentralen, die aufgrund eines
negativen Menschenbildes der Meinung waren, dass Menschen eigentlich
nur unter Druck verantwortlich handeln und nicht freiwillig – das halte ich
für die Quintessenz des Menschenbildes sowohl von Frau Merkel als auch
von Herrn Schäuble –, diese Tatsache verbindet sich mit dem 21. Jahrhundert.
Diese Sachen kamen jetzt zusammen: ein Institutionengefüge, das defizitär
ist, eine global vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik, die kulturelle
Konsequenzen und Implikationen hatte, sowie handelnde Akteure, Entschei-
dungsträger, die mit Solidarität eigentlich nichts anfangen konnten. Man
kann aber nun mal nicht zu Solidarität oder zur Gemeinsamkeit zwingen.
Das heißt, ein wenig zugespitzt ausgedrückt: Mit ein bisschen gutem Willen ließe
sich die Krise der europäischen Idee auch wieder überwinden?
Wir hätten schon Griechenland, dieses kleine Land, viel früher ganz anders
behandeln können. Wir hätten die Schulden im Jahr 2010 anders zuordnen
können. Wir hätten vieles anders machen können, aber es ist nicht anders ge-
macht worden. Und ich habe relativ früh den Eindruck gehabt: Wenn diese
Komponenten sich nicht verändern, dann geht die Desintegration immer weiter.
Und sie ist ja auch weitergegangen. Das betrifft nicht nur den »Brexit«. Auch
das Schengen-Abkommen wird mehr und mehr unterminiert. Anstelle eines
gemeinsamen Projektes erleben wir auf der Ebene der nationalen Regierun-
gen ideologische Desintegration. Wobei es einen großen Unterschied zwischen
nationalen Regierungen und der Gesellschaft auf der Ebene von Kommunen,
Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen gibt; bei Letzteren sehe
ich große solidarische Potenziale. Das ist demokratietheoretisch kompliziert,
denn die nationalen Regierungen sind in Demokratien durch Wahlen legiti-
miert. Aber ich glaube, dass die Wettbewerbsmechanismen nationaler Wahlen,
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10 EURoPA — INTERVIEW
verbunden mit der Tat sache, dass die täglichen Probleme eher in den Kommu-
nen als auf der nationalen Ebene gelöst werden müssen, die nationalen Regie-
rungen von dem Druck, die täglichen Probleme zu lösen, entbinden. Das trifft
auf die Kommunen nicht zu.
Sie setzen Ihre Hoffnungen zur Revitalisierung der europäischen Idee auf die Ge-
meinden und die kommunale Ebene?
Auf der Ebene der nationalen Regierungen jedenfalls gibt es gegenwärtig
kein positives gemeinsames Projekt. Ich glaube nicht, dass man die Sicherung
der Grenzen und die Schließung der Balkanroute als ein positives, konstruk-
tives Projekt bezeichnen kann. Das ist eher Solidarität auf der primitivsten
Ebene der nationalen Sicherheitsbedürfnisse. Wenn ich von einem gemein-
samen Projekt spreche, dann im Sinne von etwas Konstruktivem, Positivem für
die Zukunft und für ganz Europa. Und da sehe ich auf der Regierungsebene
überhaupt nichts – das ist für mich auch ein Indiz für die aktuelle Desinte-
gration. Der gemeinsame Markt war so ein positives Projekt, die gemeinsame
Währung ebenfalls. Sicher, daneben wurden auch ökonomische Partikularin-
teressen verfolgt, das ist schon richtig. Dennoch waren das aufbauende, kons-
truktive Projekte. Jetzt dominieren die Tendenzen der Demontage und Ab-
schottung. Beides kostet die Europäische Union in meiner Sicht ihre Zukunft.
Wenn also ein gemeinsames Projekt der Kitt ist, der die europäische Struktur zu-
sammenhält und auf eine gemeinsame Zukunft orientiert: Was wäre dann dies-
seits historischer Beispiele ein positives Projekt der Zukunft?
Oh, da gibt es viele! Die Frage der Energieversorgung könnte ein solches
Projekt sein, oder die Frage des Klimaschutzes. Ein gemeinsames Projekt
könnte sein, die Armut zu bekämpfen, die Nachhaltigkeitsziele umzusetzen,
auch die Verbreitung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit in der inter-
nationalen Politik. Selbst wenn der Sozialstaat eigentlich kein europäisches,
sondern ein nationalstaatliches Phänomen ist. Aber die Grundidee eines glü-
ckenden menschlichen, sozialen und politischen Zusammenlebens, das sollte
ein europäisches Projekt, eine europäische Vision sein. Und wenn man dann
sieht, was alles an positiven, integrierenden Projekten auf der kommunalen
Ebene besteht, auch gerade aus Anlass der Flüchtlingsaufnahme, welche Fülle
an Fantasien und Initiativen, dann bestärkt dies meine Erfahrungen als Präsi-
dentin der Europa-Universität Viadrina, dass Menschen nicht dadurch zusam-
menkommen, dass sie Ansprüche für sich erheben und irgendwelche Renten
ausgezahlt bekommen. Verbindend wirken vielmehr Projekte, die sie gemein-
sam verfolgen. Ich habe zum Schluss an der Viadrina bei 5.000 Studierenden
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INDES, Heft 2 / 2017
11Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
vierzig studentische Gruppen gehabt, die alles Mögliche auf die Beine gestellt
haben, etwa die Komposition eines Riesenmusicals mit Tanzeinlagen und der
Einbindung von Studierenden aus achtzig Nationen. Das hat die zusammenge-
schweißt. Oder wenn ich auf meine Jugendzeit schaue, 1943 geboren, Schülerin
in den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren habe ich studiert, und da gab es
eine Chorbewegung in Europa, die hieß Jeunesses Musicales. Die haben alle
möglichen Festivals veranstaltet, bei einem der Festivals in Aix-en- Provence
war ich dabei. Dann haben wir einen Ausflug gemacht in einen kleinen Ort,
der hieß Vaison-la-Romaine. Vaison-la-Romaine hat ein kleines Amphitheater,
da sind wir mit zehn, fünfzehn Chören hingefahren und haben dann einfach
zu singen angefangen – 1965, zwanzig Jahre nach Kriegsende. Wir hatten
alle unsere Repertoires und haben uns mit sichtlichem Vergnügen gegensei-
tig unsere Lieder vorgesungen. Paneuropäisch, von Skandinavien bis Spanien.
Wir schenkten uns gegenseitig etwas, weil wir uns mit Freude vorsangen und
zuhörten. Für mich ist das der Inbegriff eines positiven, verbindenden Pro-
jektes. Natürlich darf man sich auch der schnöden Wirklichkeit des Konkur-
renzdenkens und Profitstrebens nicht verschließen. Mich interessiert nicht, ob
Einzelne mit Projekten für sich auch individuelle materielle Gewinne erzielen
können. Ich lebe selbst gerne, ich trinke auch gerne Rotwein. Aber das Den-
ken, dass ich der Beste sein muss, besser als jemand anderes, und dass ich
das meiste bekommen muss und so weiter, das ist zerstörerisch.
Trotz aller in Zeiten ökonomischer Globalisierung und zunehmender grenzüber-
schreitender Verflechtung erlittenen Steuerungsverluste sind die Nationalstaa-
ten auch heute noch die dominanten Akteure der globalen Politik. Dennoch lei-
ten Sie – wie viele andere auch – aus der Fortschreibung bestehender Trends ein
Ende der nationalstaatlichen Zentralstellung im 21. Jahrhundert ab und dringen
alternativ auf eine Stärkung transnationaler Zusammenschlüsse. Kann denn Eu-
ropa den Nationalstaat tatsächlich ersetzen? Und wie sähe eine künftige europäi-
sche Identität anstelle der aktuellen Identifikation mit dem Nationalstaat aus?
Also ich sage zwar, und das ist tatsächlich nicht sonderlich originell, dass
der einzelne Nationalstaat aufgrund der Asymmetrien zwischen globaler Wirt-
schaft und nationaler Politik die Probleme nicht mehr lösen kann, die sich
aus der Wirtschaftsdynamik ergeben. Ich sage aber ganz und gar nicht, dass
der Nationalstaat abgeschafft gehören würde. Und ich weiß auch, dass sich
die politische Wirksamkeit mit den kulturellen Zugehörigkeitsgefühlen nicht
decken muss. Es wird weiterhin viele geben, die sich dem Nationalstaat kul-
turell zugehörig fühlen und die das gar nicht interessiert, was der National-
staat noch politisch kann. Mir geht es nun aber darum, dass demokratische
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12 EURoPA — INTERVIEW
Politik als institutionelle Ordnung, gewaltfreies Zusammenleben rechtsstaat-
lich und gerecht zu gestalten, gelingen können muss. Und das kann Politik
nicht mehr allein auf nationalstaatlicher Grundlage. Es gibt Bereiche, die dem
Nationalstaat vorbehalten bleiben können, auch in der Europäischen Union.
Der Nationalstaat soll überhaupt nicht weggeschoben werden. De facto be-
sitzt die übernationale Ebene im Übrigen auch jetzt schon eine ganze Reihe
von Kompetenzen. Problematisch aber finde ich die Sicht, die Integration der
Europäischen Union entweder durch die weitere Konzentration von politischer
Entscheidungsmacht in Brüssel zu vertiefen oder durch Renatio nalisierung
zurückzudrehen. Das ist die Alternative zwischen Scylla und Charybdis. Jede
Renationalisierung muss sowieso scheitern. Aber auch eine weitere Zentrali-
sation in Brüssel halte ich für kontraproduktiv, weil das den guten Gedanken
der Subsidiarität, der eben nicht nur die Nationalstaaten betrifft, sondern auch
die Regionen und die Kommunen, unterminiert. Ich halte die Subsidiarität
für ein gutes Prinzip. Und ich glaube an eine horizontale Integration durch
Städtekooperationen, an eine Integration also ausgehend von den Kommunen.
Das heißt was?
In der EU ist im vorigen Jahr unter der niederländischen (nationalen!) Rats-
präsidentschaft den Pakt von Amsterdam geschlossen worden, eine Zusam-
menarbeit von Städten, der EU-Kommission und von Nationalstaaten. Ziel
ist auch eine stärkere, bessere und direktere Finanzierung der Gemeinden
durch Brüssel. Wobei ich für eine Governance plädiere, die den gesellschaft-
lichen Zusammenhalt stärkt. Also einen Verbund, der nicht die kommunalen
Verwaltungen ersetzt, sondern Verständigungsprozesse von Politik und Zi-
vilgesellschaft sowie Wirtschaft organisiert. Sodass einerseits die Integration
der Gemeinden verstärkt wird und andererseits eine horizontale grenzüber-
schreitende Verständigung in Europa stattfinden kann. Das gibt es ja auch
in diesen Verbindungen jetzt schon, und zwar wiederum anhand von kon-
kreten Projekten, in denen die jeweiligen Akteure wechselseitig voneinander
lernen können. Die Flüchtlingsintegration ist ein solches Projekt, ebenso die
Einführung erneuerbarer Energien. Ich habe früher zahlreiche Energietria-
loge moderiert. Wenn Sie etwa mit Polen zu tun haben, dann liegt es im In-
teresse der großen polnischen Konzerne, die Kohle weiter abzubauen. Jetzt
habe ich gerade gehört, dass die polnischen Kohlekonzerne ähnlich wie die
Atomkraftwerke in Frankreich offenbar an Kühlwassermangel leiden. Von
daher erklärt sich, dass die immer mehr Strom in Deutschland kaufen, weil
sie ihren Energiebedarf trotz großer Kohlevorhaben aufgrund der Restrik-
tionen ihres Ökosystems nicht decken können. Wir haben schon vor Jahren
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INDES, Heft 2 / 2017
13Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
mit polnischen Klimagruppen zusammengearbeitet. Und das ist natürlich
eine hochspannende Sache, wenn sie dann plötzlich in so einer Gemeinde
hören: Nein, wir wollen hier kein Atomkraftwerk um die Ecke, weil wir auch
gar nicht wissen, wie die Entsorgung funktioniert, sondern wir wollen die
erneuerbaren Energien fördern. Das zeigt, auf der Ebene der Gesellschaft
herrscht viel mehr Bewegung als auf der Ebene der nationalen Regierungen.
Auch frühere Regierungen setzten schon auf eine Industriepolitik, die natio-
nale Macht vorgaukelt, aber seit Jahren immer weniger Zukunft hat und im-
mer mehr Subventionierung verschlingt. Von den nationalen Regierungen
in Polen wird das ganze grüne Denken als Quatsch abgetan. Auf der kom-
munalen Ebene aber werden die Probleme ganz anders angegangen als auf
der Ebene des nationalen Prestiges. Und überhaupt: Wo werden denn die
nationalen Regierungen noch ernst genommen? Für alles, was über die In-
nenpolitik hinausgeht, wo kann denn da, auch bei uns, die Bundesregierung
eigentlich Lösungen anbieten? Nehmen wir TTIP: Das ist eine Sache, die von
der Europäischen Union verhandelt wird. Wenn man begriffen hat, dass TTIP
die globale Handelsarchitektur betrifft und damit eine demokratietheoreti-
sche Frage ist und keineswegs nur eine von Zöllen, wenn man das begrif-
fen hat, dann wird auch TTIP ein Gegenstand eines europäischen Projektes.
Ist das jetzt ein Plädoyer für ein wirtschaftsliberales Europa?
Mit der Grundwertekommission der SPD haben wir zu TTIP eine Stellung-
nahme entwickelt und ausdrücklich gesagt: Ja, wir wollen den Freihandel.
Aber wir müssen schauen, welche Implikationen bestimmte Prioritäten ha-
ben. Und wenn bei der Konstruktion von Entscheidungen die Unternehmen
einen Vorrang vor politisch beschlossenen Gesetzen haben, dann ist das mit
einer demokratischen Architektur nicht vereinbar. Und jetzt müssen sich die
Europäer darüber klar werden, weil plötzlich von beiden Seiten, von rechts
wie von links, Protektionismus gefordert wird, was Freihandel eigentlich heißt.
Welche Vorstellungen von wirtschaftlicher Entwicklung haben wir? Wollen wir
uns alle einschließen in kleine Mini waben oder wollen wir uns öffnen? Aber
was heißt das dann für Zugehörigkeiten? Was brauchen wir an Zugehörig-
keiten, was an ordnungspolitischen Vorstellungen und gemeinsamen demo-
kratiepolitischen Regelungen? Und was können wir dem Markt überlassen?
Das alles muss man sich gründlich überlegen, erst recht in einer Situation ra-
schen Wandels und tiefgreifender Umbrüche. Die Idee, dass der Freihandel
Interessen verbindet, finde ich durchaus plausibel. Aber man muss schauen,
wie unter den modernen, technologischen, arbeitsteiligen, finanzmarktmäßi-
gen Bedingungen Freihandel konkret aussieht.
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Läuft Ihr Verständnis des Subsidiaritätsprinzips darauf hinaus, dass die lokale
und die regionale Ebene das regeln sollen, was sie autonom regeln können? Und
die übergeordnete nationalstaatliche Ebene ist für das zuständig, was die Ge-
meinden nicht leisten können, während Europa übernimmt, wozu der National-
staat nicht mehr in der Lage ist? Ist Ihre europäische Zielperspektive also eine
Art von Bundes-Bundesstaat?
Nein. Der klassische Satz für die Definition von Subsidiarität, dass jede
Ebene das machen soll, was sie machen kann, ist im Gegenteil nicht sehr taug-
lich für die Beschreibung der Wirklichkeit. Denn was eine Gemeinde machen
kann, hängt schlicht und einfach von ihren Finanzen ab. Und insofern kann sie
viel mehr machen, wenn sie von Europa mehr Geld bekommt. Woran bemisst
sich denn, was eine Gemeinde machen kann? Bemisst sich das am geografi-
schen Wirkungskreis? Oder bemisst sich das an den intellektuellen, materiellen,
ökonomischen Potenzialen? Auch die sind ja beeinflussbar. Das heißt, wenn
die nationale spanische Regierung von Rajoy nicht erlaubt, dass zum Beispiel
Barcelona Flüchtlinge aufnimmt, weil das aus politischen Gründen nicht ge-
wollt ist, weshalb auch die Finanzmittel, die dafür vorhanden wären, nicht ge-
geben werden, dann kann man ja nicht sagen: Die Gemeinden können das nicht.
Noch einmal: Woran bemisst sich, was die Gemeinden können? Woran
bemisst sich, was der Nationalstaat kann? In der katholischen Soziallehre
geht man von einer personalen Idee aus und sagt: Was ich als Individuum
kann, das muss ich machen. Und erst danach kommt die Familie oder das
Umfeld an die Reihe. Die Ressourcen sind persönliche Fähigkeiten. Aber in
einem modernen Staat sind Ressourcen ganz stark Finanzen. Und insofern
ist nicht das Kriterium, was die jeweilige Ebene leisten kann. Das Kriterium
ist, dass die Gemeinden und Regionen der Ort sind, an dem sich das täg-
liche Leben der Menschen zum allergrößten Teil abspielt – wie sie wohnen,
wo sie Arbeit haben, welche Schulen sie besuchen, welche Infrastruktur sie
nutzen, wie umfangreich die Freizeitangebote sind. In ihrer politischen Orien-
tierung und in ihren Verfassungen sind die Gemeinden sehr viel stärker als
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15Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
die nationale Ebene auf Verständigung aus, anstelle des scharfen Konflikts
zwischen Mehrheit und Minderheit, Regierung und Opposition herrscht Aus-
gleich, Machtteilung, Konkordanz. Ich bin der Meinung, dass man die Ge-
meinden stärken und den Griff der nationalen Regierungen lockern muss. In
den Gemeinden sind die Aktivpotenziale, da findet die Wertschöpfung statt.
Als ich studierte, spielte die wirtschaftliche Wertschöpfungstheorie eine
große Rolle. Der Adel sagte, das Land ist die Wertschöpfungsquelle. Dann
kam das Bürgertum und sagte, die Arbeit ist die Wertschöpfungsquelle, die
Verarbeitung dessen, was das Land bringt. Heute ist das kein Thema mehr,
heute schafft das Wissen Werte, Kommunikation, die Organisation von Wis-
sen und Offenheit. Weshalb Protektionismus Abschottung und eine Beein-
trächtigung der Wertschöpfung bedeutet, weil man einfach auf viele Sachen
nicht kommt, wenn man abgeschottet ist. Die Wertschöpfungsfrage ist sehr
wichtig. Und ich glaube, dass die Wertschöpfungsfrage mittlerweile ihre
Antwort findet in der konkreten Begegnung von Menschen. In Unterneh-
men werden nicht zufällig Gemeinschaftsorte wie Teeküchen immer wich-
tiger, wo man sich trifft, sich austauscht und Ideen entwickelt. Die Orte, wo
man handfest und anschaulich die eigenen Erfahrungen austauschen kann
und wo man auf neue Ideen kommt, das sind die Orte, wo die Musik spielt.
Benjamin Barber hat schon vor zehn Jahren weitsichtig propagiert, dass die
großen Metropolen in der Welt das Sagen haben werden.
Aber warum soll die Gemeinde dieser Ort eher sein als der Nationalstaat? Wenn
es darum geht, wo sich das alltägliche Leben der Menschen abspielt, dann ist
das doch vielfach auch nicht die Gemeinde insgesamt, sondern das Viertel, die
Straße, der Wohnblock.
Auf der UN-Konferenz Habitat III in Quito haben sich die Städte und Ge-
meinden darüber beklagt, dass alle Programme, die durch den Filter der
nationalen Regierungen hindurch müssen, die von deren Zustimmung und
Zulassung abhängen, furchtbar schwierig sind, weil nationale Regierungen
sich ständig ändern oder sich im Wahlkampfmodus befinden und daher
nicht entscheiden. Eine solche Unterminierung von vernünftigen Entschei-
dungen können wir uns nicht mehr leisten, wenn wir weiterkommen wol-
len in dieser Welt. Und deswegen sage ich, dass die Städte, Kommunen und
Regionen mehr Chancen bekommen müssen, mehr finanzielle Chancen, et-
was zu machen. In Europa muss auf längere Sicht das gesamte Fördersys-
tem vereinfacht werden.
Ich habe schon als Universitätspräsidentin dieses gesamte Antragswesen
furchtbar gefunden, eine Katastrophe, was man alles miteinander abstimmen
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16 EURoPA — INTERVIEW
musste. Aber wenn eine Gemeinde sich entwickeln will und schaut: Was
habe ich für Potenziale, welche Unternehmen habe ich, welche ausgebildeten
Arbeitskräfte, wo habe ich weiteres Ausbildungspotenzial, was sind kulturelle
Traditionen, die ich beleben kann – dann reichen die besten Konzepte nicht,
auch wenn sie noch so viele Arbeitsplätze schaffen und Engagementmög-
lichkeiten bieten. Wenn man von Europa Geld bekommen will, dann muss
man völlig unübersichtliche Programme durchgehen, von denen auch die
Vertreter der Europäischen Union meistens keine Ahnung haben. Sie geben
das auch zu, weil die Programme so ausdifferenziert sind, dass die das gar
nicht alles im Kopf haben können. Wenn Sie dann einen Antrag stellen wol-
len, können Sie den zum Beispiel bei Urban Innovative Action einreichen.
Da können Sie etwas zur Kreislaufwirtschaft beantragen. Aber wenn Sie jetzt
mit der Gemeinde nicht nur den Abfall regeln, sondern vielleicht auch noch
die Energieeffizienz steigern wollen, dann müssen Sie drei Anträge stellen.
Das können Sie aber gar nicht; jeder Antrag kostet mindestens 30.000 Euro,
weil Sie einen Profi brauchen. Das können Sie nicht alleine. Und die Admi-
nistration hat gar nicht genug Kräfte, das zu machen. Das geht doch nicht!
Wenn ich merke, dass ich reihenweise Absagen von geeigneten Städten
für einen gemeinsamen Antrag bekomme, die sich nicht beteiligen, weil sie
nicht das Personal für das Antragsprozedere haben: Da stimmt doch etwas
nicht! Und dann macht die EU eine Bestandsaufnahme und stellt fest, dass
das Geld nicht abgerufen worden ist. Das wurde ja auch den Griechen im-
mer vorgeworfen: Es hieß, die müssen ihre Verwaltung verbessern, das Geld
wird gar nicht abgerufen. Na, wenn die Sache so kompliziert ist, dann ru-
fen die das Geld nicht ab, natürlich nicht, weil sie mit Mühe und Not über
die Runden kommen. Und in Brüssel jammern diejenigen, die den Irrsinn
durchschauen, über die Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit. Die tüfteln mühsam
die Verfahren aus und dann können die Leute das gar nicht in Anspruch
nehmen. Das ist ja auch frustrierend und keine sinnvolle Beschäftigung.
Dagegen anzugehen erscheint vielleicht wie frustrierendes Klein-Klein; aber
wenn man realistisch sein und wirklich etwas umsetzen und nicht nur große
Ideen propagieren will, dann kommt man um dieses Klein-Klein, um das
Bohren der berühmten dicken Bretter nicht herum. Und dann merkt man
auch, dass man es mit einem systemischen Problem zu tun hat.
Aber wenn man Kompetenzen von der nationalstaatlichen Ebene auf die regio-
nale oder lokale Ebene verschiebt: Kann man dann tatsächlich ausschließen,
dass die Gemeinden am Ende nicht genauso konkurrenzbezogen agieren wie
der Nationalstaat? Auch Gemeinden dürften doch angesichts der Begrenztheit
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17Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
der Finanzmittel versuchen, sich gegenseitig zu unterbieten, um möglichst hohe
Zuteilungen zu erhalten, vollkommen egal, ob das auf Kosten der Gesamtver-
antwortung etwa für Umweltgesichtspunkte geht. Müsste für die von Ihnen ge-
wünschten Ergebnisse nicht ganz im Gegenteil die Verantwortung auf noch hö-
here Ebenen als den Nationalstaat verlagert und statt einer Ermächtigung der
Gemeinden so etwas wie eine einheitliche Weltregierung als gemeinsamer Rah-
men angestrebt werden? Und ist dann nicht das zentrale Problem in diesem Zu-
sammenhang, dass wir zwar neben den nationalstaatlichen auch festverankerte
regionale und lokale Identitäten kennen, dass sich aber in der Vergangenheit al-
lenfalls ganz rudimentär und immer noch sehr defizitär so etwas wie ein trans-
nationales Selbstverständnis bspw. als Europäer herausgebildet hat?
Es gibt kein optimales Institutionengefüge ohne jegliche Missentwicklun-
gen. Natürlich gibt es einerseits eine starke Konkurrenz auch zwischen den
Gemeinden. Und sicherlich ist grundsätzlich der Konkurrenzkampf härter,
wenn die Ressourcen knapper sind. Andererseits gibt es auch einen anthro-
pologisch angelegten Wunsch nach Kooperation. Insofern gibt es zwar Riva-
litäten und Konkurrenz zwischen den Städten, aber eben auch Assoziationen.
Jeder Arbeitgeberverband hat mit Rivalitäten der in ihm organisierten Unter-
nehmen zu tun und besteht dennoch als gemeinsames Dach. Die Integra-
tion der widerstrebenden Kräfte erleichtert ein ernsthafter Gegner, etwa eine
starke IG Metall, gegen den sich die Reihen schließen. Oder, auf einer höheren
Ebene, der Staat, dem gegenüber Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften
als Kampfgenossen die Tarifautonomie verteidigen. Die Summe der vielge-
staltigen Gegnerschaften und Bündnisse ergibt unser demokratisches Sys-
tem von Checks and Balances. Und im Rahmen dieses Gesamtsystems sollten,
das meine ich schon, die Gemeinden gestärkt werden, die sehr viel koope-
rativer und pro-europäischer agieren als die Nationalstaaten. Auch weil das
nationale Machtpotenzial groß und stabil ist, während auf der kommunalen
Ebene die Konstellation von Regierung und Opposition viel unübersichtlicher
ist, sodass hier die Chance besteht, über politisch-kulturelle Konfliktlinien
hinweg zusammenzuarbeiten, auch ohne gemeinsamen Feind. Wir leben in
einer neuen Ära, wir können uns in der heutigen Welt nicht mehr gegen den
gemeinsamen Feind des real-existierenden Sozialismus zusammenschließen.
Wir müssen uns zusammenschließen ohne gemeinsamen Feind. Es sei denn,
wir bezeichnen den Hunger als Feind, oder die Zerstörung der Umwelt oder
dergleichen. Aber die Zeit der klar gegliederten Blockkonfrontation ist vorbei.
Wir müssen uns zusammenschließen auf der gesamten Welt oder müssen zu-
mindest zusammen agieren. Zusammenschließen ist vielleicht zu viel gesagt,
aber zusammen agieren, ohne dass uns eine gemeinsame Feindschaft dabei
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hilft. Dazu brauchen wir das europäische Bewusstsein, das Solidaritätsbe-
wusstsein, das auf Ebene der Kommunen, der Städte und der Regionen viel
stärker ist als auf Ebene der Nationalstaaten.
Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Gerade in der Flüchtlingsfrage, finde ich, wird das sehr deutlich. Während
sich kein Staat in der Frage der Flüchtlingsverteilung der Politik national-
egoistischer Abschottung widersetzt, tun dies lauter Städte. Die sagen dann:
Wir wollen aufnehmen! Wie jetzt bspw. Osnabrück, das fünfzig Flüchtlinge
aus Griechenland aufnehmen wollte. Natürlich stößt man dann sofort auf un-
gemein komplex verästelte Bestimmungen, die etwa regeln, dass die Griechen
die fünfzig Leute gar nicht so einfach nach Osnabrück weiterleiten können,
weil die nationale griechische Ebene nicht mit der kommunalen deutschen,
sondern nur mit der nationalen deutschen Ebene, also in diesem Fall dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem BAMF, verhandeln darf. Aber
allein die Tatsache, dass sich die kommunalen Entscheidungsträger in Osna-
brück zusammensetzen und sagen, wir wollen hier fünfzig Flüchtlinge auf-
nehmen, ist eine Dynamik, ein Potenzial, das ich Gold wert finde und das
man nicht einfach enttäuschen darf. Es ließen sich unzählige weitere Beispiele
nennen, in Berlin etwa offene Häuser, wo sich die Leute gegenseitig Arabisch
und Deutsch beibringen, und lauter ähnliche Sachen. Das sind alles Poten-
ziale, deren Bedeutung sich vielleicht erst in zwanzig Jahren vollständig zei-
gen wird, wenn sich daraus Handelsbeziehungen und dergleichen ergeben.
Statt diese Ressourcen freudig zu nutzen, verkomplizieren bei uns unzählige
rechtliche Bestimmungen und ein ganz engmaschiges Rechtsnetz jede Initia-
tive. Deren Funktion ist eigentlich Gerechtigkeit und Transparenz. In jungen
Jahren hatte ich ein großes Vertrauen in die Funktionalität der überkommenen
Systeme. Das habe ich nicht mehr, weil ich zu oft erlebt habe, dass wir uns
mit Verordnungen, Regelungen, Hierarchien geradezu erdrosseln. Das darf
nicht sein. Das muss man dann deutlich machen und andere Mechanismen
finden. Und das muss man auch aussprechen. Da darf man auch keinen fal-
schen Respekt haben, glaube ich. Sicher, man soll nicht polemisieren. Aber
man muss die Dinge, die dysfunktional laufen, deutlich aussprechen. Aktu-
ell ist es freilich bisweilen so weit gekommen, dass Sie nur noch mit Zynis-
mus reagieren können, wenn Sie merken, dass eine gute Idee durch innere
Systematiken pervertiert wird. Und das ist das Problem.
Das bedeutet doch letztendlich nichts anderes als eine grundlegende Reform der
gesamten europäischen Institutionenarchitektur. Sind die Europäer dazu in der
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19Gesine Schwan — »Solidarität auf der primitivsten Ebene«
Lage? Gibt es auch nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner in dieser Frage?
Setzt das alles nicht einen verbindenden, identitätsstiftenden Europäischen Geist
voraus, der die europäischen Völker zusammenhält? Aber gibt es den überhaupt,
und wenn nicht, wie könnte er geschaffen werden?
Ich glaube schon, dass es ihn gibt. Und ich glaube, dass es in der gesam-
ten Welt der freiwilligen Initiativen sehr viel gibt, insbesondere eben auf der
kommunalen Ebene. Ich bin ganz klar eine Freundin der repräsentativen De-
mokratie; aber dennoch – oder gerade deswegen – sollten alle Gruppen und
Interessierte diesseits der Entscheidungsebene so stark wie möglich einbezo-
gen und zum Mitmachen und Mitgestalten eingeladen werden. Von Plebis-
ziten und Volksentscheiden halte ich gar nicht viel, auch wenn mein Freund
Hans-Jochen Vogel und meine Partei, die SPD, das z. T. anders sehen. Ich
will vielmehr Unternehmen, Zivilgesellschaft und Politik zusammenbringen
und konnte die Möglichkeiten dazu in ca. 45 Trialogen, die ich auf unserer
»HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform« moderiert habe, studieren.
Jede Seite folgt einer eigenen Logik: Die Unternehmen vertreten ein betriebs-
wirtschaftliches, partikulares Marktinteresse, müssen aber erkennen, dass sie
Regeln im Sinne des Corporate Citizenship beachten müssen; die Nichtregie-
rungsorganisationen, die weitreichende Ziele mit idealistischem Elan verfol-
gen und über Wahlperioden weit hinausdenken, müssen ihren Eifer und ihre
Rigorosität bremsen; und die Politik muss die verschiedenen Perspektiven in
Richtung Gemeinwohl asymptotisch verbinden. Keine der Gruppen hat von
vornherein recht. Deshalb müssen sie ihre Anliegen begründen. Wenn die
Arbeitgeberverbände mit Blick auf die Flexibilisierung der Arbeitszeit sagen:
Wir brauchen mehr Arbeitsvolumen und deswegen müssen wir jetzt flexi-
bilisieren, damit die Leute nicht nur acht Stunden, sondern auch mal zehn
oder zwölf Stunden arbeiten, dann sagen die anderen: Ja, aber das größere
Arbeitsvolumen kann man aber auch anders organisieren, ohne die Gesund-
heit der eigenen Leute so kaputtzumachen, dass die dann nicht mehr arbei-
ten können. Dann müssen sich die Vertreter der gegensätzlichen Positionen
treffen, zusammensetzen und schauen, worin das Problem eigentlich besteht,
wie die Problemdefinition lautet. Worin besteht das Problem? Welche Rolle
spielt die Gesundheit? Welche Rolle spielt die Vorstellung von Leben und
Freizeit, welche Rolle ein gutes Leben? Das kann gelingen, aber es ist eine
intellektuelle Anstrengung, die auch in den Universitäten heute nicht mehr
besonders trainiert wird angesichts der extremen Spezialisierung bspw. in
der Politikwissenschaft. Am Otto-Suhr-Institut hatten wir, als ich Dekanin
war, 38 oder 40 Professuren. Aber denken Sie, die konnten sagen, wozu die
Politikwissenschaft gut ist? Die haben völlig departementalisiert gearbeitet,
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20 EURoPA — INTERVIEW
aber zu den großen Fragen, dazu, was Politik eigentlich ist, in dem einen oder
in einem anderen Verständnis, ja worin die unterschiedlichen Verständnisse
begründet liegen: sehr wenig.
Was ist denn aber nun in Ihren Augen der Europäische Geist, was zeichnet ihn
aus, im Unterschied zu anderen Weltgegenden einerseits, als Bindeglied der
Regionen und Nationalitäten, die zu Europa gehören, andererseits? Wobei da
natürlich sofort die Frage im Raum steht: Wo fängt Europa an, wo hört es auf?
Das Abendland im traditionellen Verständnis endete ja bekanntlich östlich auf
Höhe der Elbe, weshalb noch Konrad Adenauer sagte, östlich der Elbe beginne
Sibirien. Was also ist Europa?
Ich glaube nicht, dass man den Europäischen Geist ohne eine eigene Wert-
entscheidung definieren kann. Jede Definition enthält eine Wertentscheidung,
eine Grenzziehung, definitio est negatio. Das heißt, immer wird etwas negiert.
Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, die Konzentrationslager gehören zum
Europäischen Geist, würden Sie sagen: Die ist verrückt geworden. Das heißt,
die Vorstellung von einem Europäischen Geist ist eine normative Vorstellung,
wie Europa sein sollte. Aber natürlich auch gespeist aus der Geschichte, der
empirischen Geschichte. Nun war Europa freilich keineswegs nur menschen-
rechtsorientiert, sondern auch totalitär, brutal, kriegerisch. Das alles wissen
wir, und wenn wir jetzt zum Beispiel die Menschenrechte nehmen, dann sind
die nun wahrhaftig nicht nur europäisch. Gleichwohl kann man sagen, es gibt
starke kulturelle und regionale Unterschiede. Wenn ich also vom Europäi-
schen Geist spreche, dann treffe ich eine klare normative Aussage. Ich sage:
Wofür ich kämpfe, ist eine Vorstellung von politischem Zusammenleben, das
große und historisch gewachsene kulturelle Unterschiede zur Kooperation
bringen muss. Eine Vorstellung, die Pluralität demokratisch so fruchtbar ge-
staltet, dass das Individuum nicht auf der Strecke bleibt. Der Europäische
Geist ist für mich das Bewusstsein der Vielfalt, mit der wir gemeinsam fried-
lich und demokratisch zurande kommen wollen. Das Bewusstsein, dass die
Ökonomie nicht dominieren darf, das Bewusstsein, dass der Sozialstaat und
Solidarität wichtig sind für menschliches Zusammenleben. Und das Bewusst-
sein, dass sich ein Kontinent zerstören kann, wenn er auf Gewalt setzt in der
Austragung von Konflikten. Ich sehe eine große Chance für Europa, aus der
Erfahrung der Brutalität gewaltmäßiger Konfliktaustragung zu intelligente-
ren, friedlicheren Formen des Zusammenlebens zu kommen und dafür auch
in der Welt zu werben. Damit sage ich jetzt nicht, ich bin Pazifistin von vorne
bis hinten, aber das ist meine Quintessenz. Und das ist meine Vorstellung von
einem gelungenen Leben im Unterschied zu Gewalt und Krieg.
Prof. Dr. Dr. h. c. Gesine Schwan, geb. 1943, Studium der Romanis-tik, Geschichte, Philosophie, Poli-tologie an der Freien Universität Berlin u. Universität Freiburg. Von 1977 bis 1999 Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin, von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.; jetzt Präsidentin der HUMBOLDT- VIADRINA Gover-nance Platform, Berlin. 2004 und 2009 Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Seit 2014 Vorsitzende der SPD-Grundwer-tekommission. Veröffentlichungen zu Demokratie und Governance, Politischer Kultur, Europa, Bil-dung, zur Sozialdemokratie und zu den normativen Grundlagen der Politik.
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21
ANALYSE
DIE EUROPÄISCHE UNIONEINE DEMOKRATISCHE LAGEBESCHREIBUNG
Ξ Emanuel Richter
Unter dem Eindruck der vielen Krisen, denen sich die Europäische Union
in den vergangenen Jahren ausgesetzt sah, hat sich die seit Jahrzehnten dis-
kutierte Demokratiefrage der europäischen Integration verschoben. Zum
Zeitpunkt der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979
und der Einführung einer Unionsbürgerschaft im Jahr 1992 konzentrierten
sich die Hoffnungen noch auf eine nachträgliche, aber umfassende Demo-
kratisierung des 1951 ins Leben gerufenen, supranationalen europäischen
Einigungsprojekts. Die erkennbar werdende Staatsähnlichkeit der EU sollte
nach dem Muster einer parlamentarischen Demokratie ausgestaltet und le-
gitimiert werden. Neben der Volkswahl von Europaabgeordneten hoffte man
auf eine sich allmählich ausprägende supranationale Parteienlandschaft, auf
eine starke Präsenz des supranationalen Geschehens in den Medien und in
der Öffentlichkeit sowie auf die wachsende Bereitschaft der europäischen Be-
völkerung, sich politisch zunehmend mit der EU statt mit ihren jeweiligen
Nationalstaaten zu identifizieren.
Das Projekt einer nachträglichen demokratischen Legitimation, einer brei-
ten öffentlichen Akzeptanz des staatsähnlichen Gebildes und der belas-
tungsfesten Bürgerloyalität stieß jedoch auf unüberwindliche Grenzen. Eine
freiwillig gesuchte Nähe der Bürgerinnen und Bürger zu dem neuen Macht-
gebilde kam nicht auf. Infolgedessen versuchte man mit allgemeinen öffentli-
chen Appellen an die Alternativlosigkeit des europäischen Einigungsprojekts,
aber auch sehr konkret mit zentralen Anreizstrukturen wie der Unionsbür-
gerschaft, größere Bürgernähe und Transparenz zu schaffen, die Zusammen-
gehörigkeit und Solidarität untereinander zu stimulieren. Entsprechende
Kampagnen und Projekte fruchteten jedoch kaum. Vielmehr wurden ihre
Misserfolge begleitet von strukturellen Defekten, die sich in das supranatio-
nale System einschlichen. Als sich in den 1990er Jahren herausstellte, dass
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22 EURoPA — ANALySE
der europäische Binnenmarkt, das tragende Instrument der supranationalen
Einigungsdynamik, nicht für alle Beteiligten gleichmäßig verteilte Erfolge zei-
tigte, sondern zu einer Spaltung zwischen nord- und südeuropäischen Mit-
gliedstaaten und auch zwischen ost- und westeuropäischen Mitgliedstaaten
führte und nur den exportorientierten Mitgliedstaaten großen ökonomischen
Nutzen verschaffte, wurden die Grenzen des Zusammenhalts, der Solidari-
tät, der Loyalität und des demokratischen Engagements der europäischen
Bürgerinnen und Bürger für die supranationale Integration offenkundig. Die
Griechenland-Krise steht symptomatisch für diesen Prozess der Ernüchterung
und der Artikulation nationaler Vorbehalte gegenüber einer politisch starken,
handlungsmächtigen und damit staatsähnlichen Union. Als schließlich auch
noch im Jahr 2016 die Briten die im Lissabon-Vertrag von 2009 neu geschaf-
fene Option des opt out nutzten, die eigentlich gar nicht als Anreiz zu ihrer
Inanspruchnahme, sondern als symbolische Versicherung über die freiwil-
lig gewählte Zusammengehörigkeit gedacht war, brachen die ursprünglichen
demokratischen Erwartungen endgültig zusammen. Die öffentliche Bereit-
schaft zum demokratischen Einverständnis mit der EU erwies sich nicht nur
als brüchig, sondern konnte sogar unversehens ins Gegenteil umschlagen:
Demokratische Prozesse konnten auch völlig unerwartet zu einer Verweige-
rung der Zustimmungsbereitschaft zur europäischen Integration führen. Ein
demokratischer Gewinn, nämlich die öffentliche Aufmerksamkeit der Bür-
gerinnen und Bürger für das supranationale Geschehen, schien zwar erzielt,
doch ließ er sich nicht mehr unversehens in Systemloyalität ummünzen. In
dieser Ausgangslage stellt sich die demokratische Frage der europäischen
Integration in neuem Licht dar, wozu die folgenden Ausführungen einige
Klärungen beitragen sollen.
DIE GRENZEN EINER DEMOKRATISCH LEGITIMIERTEN STAATSÄHNLICHKEIT
Die EU entspringt in ihrer ursprünglichen historischen Entwicklungslogik
dem Versuch, die demokratische Legitimation des supranationalen Systems
schrittweise durch nachträgliche Formen der bürgerschaftlichen Akzeptanz-
beschaffung für die bereits in Gang gesetzten Kooperationsprozesse herzu-
stellen. Allmählich ausgebaute repräsentative Mechanismen in Anlehnung
an das Muster einer parlamentarischen Demokratie sollen das Einverständ-
nis der Betroffenen mit ihrem Herrschaftsverband hervorbringen und ge-
währleisten. Von Anfang an war keine demokratische Verfügungsgewalt
über das EU- System als Ganzes vorgesehen. Weder gab es in der Gründungs-
phase oder zum Zeitpunkt entscheidender Weichenstellungen öffentliche
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23Emanuel Richter — Die Europäische Union
Grundsatzdebatten über das Für und Wider, noch gab es in den betroffenen
Ländern Referenden über neue Vertragswerke oder markante Einigungs-
schritte. Lange Zeit fehlte auch jegliches bürgerschaftliche Interventionsrecht
gegen die überaus eifrige supranationale Gesetzgebung. Die Staatsähnlich-
keit gewann zwar an Konturen, aber die demokratische Infrastruktur hinkte
durchweg der zunächst rasanten Entwicklungsdynamik hinterher.1 Die EU
ist kein Ergebnis einer umfassenden politischen Selbstbestimmung, sondern
ein zunächst aus Friedenserwägungen, später vor allem aus wirtschaftspoli-
tischen Sachzwängen erwachsenes Regulierungssystem, dessen Herrschafts-
kompetenz rückwirkend demokratischen Legitimationsbedarf aufwirft. Dem-
entsprechend gibt es jenseits der Fraktionen des Europäischen Parlaments
keine Möglichkeit, eine gehaltvolle Opposition gegen die Eigendynamik des
Integrationsgeschehens auszuüben und wirkungsvoll politische Alternativen
geltend zu machen. Sobald einmal in einzelnen Mitgliedstaaten Referenden
zu europäischen Grundsatzfragen stattfinden, wie anlässlich der Debatte
über den Vertrag einer Verfassung für Europa 2005 in Frankreich und in den
Niederlanden sowie 2008 in Irland, bleibt den Bürgerinnen und Bürgern als
dezidiert kritische Willensbekundung nur ein pauschales »nein« zu allem –
wie es in den Referenden auch tatsächlich geschehen ist. Anstatt eine diffe-
renzierte Opposition gegen einzelne Politikfelder der EU ausüben zu kön-
nen, bleibt nur die Misstrauensbekundung gegen die gesamte polity.2 Auch
das »Brexit«-Votum unterliegt dieser fatalen Einengung der Artikulation des
Volkswillens auf die binären Optionen des »alles oder nichts«.
Mittlerweile ist allerdings der einst kraftvolle Trend zur wachsenden
Staatsähnlichkeit gebrochen. Es mehren sich Formen einer abgestuften Inte-
gration oder einer géometrie variable, die konzentrische oder sich überlap-
pende Kreise der Kooperation zulässt, sodass sich die Mitgliedstaaten nicht
allen Formen der Zusammenarbeit zum gleichen Zeitpunkt mit der gleichen
Intensität anschließen müssen. Es mehren sich damit auch Tendenzen zu einer
Desintegration.3 Das Leitbild der parlamentarischen Demokratie verliert an
Überzeugungskraft. Damit wird zugleich deutlich, dass die supranationale
Einigung nicht in einer unrevidierbaren, nicht steuerbaren Eigendynamik in
Richtung der Staatsähnlichkeit verläuft, sondern vor alternativen Szenarien
steht, die nach einem politischen Gestaltungswillen rufen. Jüngst hat die EU-
Kommission in ihrem neuen Weißbuch zur Lage der EU fünf verschiedene
Szenarien alternativer Entwicklungsverläufe der EU vorgestellt und damit
erstmals von oben die Verfügbarkeit sehr unterschiedlicher Optionen der In-
tegration verkündet.4 Die breite Angebotspalette wirkt ungewöhnlich offen-
herzig. Ob diese Vielfalt an Szenarien aber tatsächlich als Angebot für eine
1 Vgl. Andreas Hofmann u. Wolfgang Wessels, Der
Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende
Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, in: Integration,
Jg. 31 (2008), H. 1, S. 3–20.
2 Vgl. Peter Mair, Political Op-position and the European Union,
in: Government and Opposition, Jg. 42 (2007), H. 1, S. 1–17.
3 Vgl. Hubert Zimmermann u. Andreas Dür (Hg.), Key Controversies in European Integration, London 2012.
4 Europäische Kommis-sion, Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen
und Szenarien, Brüssel 2017.
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24 EURoPA — ANALySE
öffentliche Kontroverse im Kreis der europäischen Bürgerschaft verstanden
wird, bleibt höchst fraglich, denn wiederum kündigen sich erst einmal Gipfel-
gespräche über die Alternativen an statt öffentliche Informationsveranstal-
tungen oder Beratungsprozesse. Aber zumindest lässt sich ein Abrücken von
dem Beharren auf einer supranationalen Eigendynamik erkennen, die ledig-
lich der nachträglichen Legitimation durch öffentliche Wahlakte zum Euro-
päischen Parlament und künstlich beförderter Identifikationsanreize bedarf,
um das Siegel der Demokratiefähigkeit beanspruchen zu dürfen.
Unter diesen Bedingungen schöpft die Legitimation der EU vor allem aus
einer erfolgreichen Regulierung in Bereichen, die von der Bevölkerung als
angemessene Rahmenordnung für die Sicherung ihres materiellen Wohl-
ergehens wahrgenommen werden. Der stetige output an wirtschaftspoliti-
scher Zweckerfüllung entbindet teilweise vom Anspruch auf demokratische
Verfügungsgewalt, weil das System als eine technokratische Notwendigkeit
bewertet wird, die im Sinne eines Pareto-Optimums einen größtmöglichen
Nutzen für alle hervorbringt.5 Anstelle partizipativer Interventionsmöglich-
keiten dominieren mittelbare demokratische Legitimationsformen: die in den
einzelnen Nationalstaaten vollzogene Wahl der in Brüssel präsenten politi-
schen Exekutiven, die Existenz von Organen wie dem Wirtschafts- und So-
zialausschuss, öffentliche Hearings, einige Formen des Lobbying durch Nicht-
regierungsorganisationen oder die Möglichkeit, zumindest punktuell mediale
Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auch das öffentliche Wirken substaatlicher Or-
ganisationen in Brüssel, wie zum Beispiel von regionalen oder kommunalen
Büros und Vertretungen, trägt zur Festigung der repräsentativen Mechanis-
men einer funktionstüchtigen mittelbaren Demokratie bei.6 Bemerkenswer-
terweise gelingt es der EU besser, außenpolitisch als kraftvolle Hüterin der
Demokratie in Erscheinung zu treten als in ihrer Innenperspektive. Denn in
Gestalt der Kopenhagener Kriterien und der Standards für Beitrittsverhand-
lungen, aber auch in Form der Europäischen Nachbarschaftspolitik konfron-
tieren die supranationalen Akteure Drittstaaten mit anspruchsvollen Forde-
rungskatalogen demokratischer Politikgestaltung, die teilweise gehaltvoller
erscheinen als die eigens gepflegte demokratische Kultur.
TRANSNATIONALE DEMOKRATIE UNTER DEN BEDINGUNGEN EINER ANHALTENDEN EU-KRISE
Seit Längerem verharrt nun die EU im Krisenmodus. Dazu gehören Heraus-
forderungen wie die Auswirkungen der weltweiten Banken- und Finanz-
krise, das wachsende wirtschaftliche Gefälle innerhalb der EU, die Erschüt-
terungen, die der gemeinsame Währungsraum des Euro erfahren hat, die
5 Vgl. Fritz W. Scharpf, Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, in: Gunnar Folke Schuppert u. a. (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 705–741.
6 Christopher Lord u. Paul Magnette, E Pluribus Unum? Creative Disagreement about Legitimacy in the EU, in: Journal of Common Market Studies, Jg. 42 (2004), H. 1, S. 183–202.
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INDES, Heft 2 / 2017
25Emanuel Richter — Die Europäische Union
drohende Staatspleite von Mitgliedstaaten und verstärkt die integrationsfeind-
lichen Ressentiments in der Bevölkerung, die populistischen Parteien und
Bewegungen, mit dem unverhohlen propagierten Ziel einer EU-Auflösung,
Auftrieb verschaffen. Im Moment der Krise drohen demokratische Leitbilder
Schaden zu nehmen. Gefragt sind nämlich Institutionen und Mechanismen,
die eine resolute Krisenbewältigung ermöglichen. In solchen Konstellationen
schlägt die Stunde aktionsfreudig auftretender Exekutiven, während die For-
derungen nach einer Demokratieverträglichkeit der trans- und supranatio-
nalen Gestaltungserfordernisse verblassen. Alle eilfertig getroffenen Maß-
nahmen geschehen immerhin im Namen und zum größtmöglichen Nutzen
der betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Solange das Volk die entgrenzte,
nicht mehr auf die Gesetzesherrschaft fokussierte, sondern auf die persona-
lisierte Handlungskompetenz gestützte Verdichtung von Entscheidungskom-
petenz nicht als Bedrohung oder Fremdherrschaft wahrnimmt, sondern nur
als eine Dienstleistung, die jedem Einzelnen als einem Betroffenen zuträg-
lich ist, bleibt vermutlich ein vages legitimatorisches Einverständnis mit der
Herrschaft der Exekutive erhalten.
Solche Dynamiken lassen sich in der EU genauso beobachten wie in wei-
teren Feldern internationaler Krisenbewältigung. Die mit dem akuten Hand-
lungsbedarf begründete Politikgestaltung führt zur Verselbstständigung
transnationaler Expertenherrschaft. Diese Exekutivlastigkeit, die durch perso-
nalisierte Handlungskompetenz die demokratisch legitimierte Gesetzesherr-
schaft überlagert oder sogar außer Kraft setzt, gelangt in allen neueren Kri-
senkonstellationen der EU deutlich zum Ausdruck. Im Rahmen der globalen
Finanz- und Eurokrise waren die entscheidungsfreudigen Regierungschefs
gefragt, nicht hingegen die beratungsorientierten Parlamentarier auf europäi-
scher und auf nationaler Ebene. Die europäischen Staats- und Regierungs-
chefs missachteten bspw. gezielt das bestehende supranationale Gesetzes-
werk, indem sie mit ihren Beschlüssen dessen No-Bailout-Klausel, die externe
Eingriffe in den Staatshaushalt einzelner Mitgliedstaaten verhindern sollte,
umgingen und indem sie zusätzlich noch Regelungen wie die verschiedenen
Stabilisierungsmechanismen trafen, die als situationsbezogene Vereinbarun-
gen in inhaltlichen Widerspruch zu den bestehenden EU-Verträgen traten.
Bei der versuchten Bewältigung der Flüchtlingskrise wird die unvermittelte
Entwertung der Gesetzesherrschaft zugunsten einer Expertenherrschaft noch
deutlicher. Das Dublin- und das Schengen-Abkommen – jeweils mühselig aus-
gehandelte Verträge mit dem Ziel, den europäischen Zusammenhalt im Sinne
des Schutzes der europäischen Bevölkerung zu gestalten – verloren unverse-
hens ihre Verbindlichkeit zugunsten tagesaktuell erneuerter Vereinbarungen
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