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Nr. 02/04 • März - April 2004 www.kulturrat.de 3,00 • ISSN 1619-4217 • B 58 662 Soziale Lage Nach der sozialen und wirtschaft- lichen Lage der Künstler wurde in der Großen Anfrage der CDU/ CSU-Fraktion und der FDP-Frak- tion im Deutschen Bundestag ge- fragt. Die Bundesregierung hat nun ihre Antwort vorgelegt. Über das Zahlenwerk hinaus sind nun politische Maßnahmen gefragt. Seiten 1, 26 - 27 Kultur als Pflichtaufgabe Pro und Contra der Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe wer- den durch Beiträge von Hans-Joa- chim Meyer und Bernd Meyer ge- genübergestellt. Max Fuchs und Olaf Zimmermann fragen nach der kulturellen Grundversorgung. Deut- lich wird, dass die Kulturförderung neu begründet werden muss. Seiten 3 - 4, 9 Europa Der polnische Kulturminister Wal- demar Dabrowski, Kulturstaatsmi- nisterin Christina Weiss und Staats- ministerin Kerstin Müller skizzieren die kulturelle Herausforderung der EU-Erweiterung. Kultur muss eine wichtige Rolle beim Erweiterungs- prozess spielen, sie spiegelt Unter- schiede und kann Brücken bilden. Seiten 1, 13 - 17 Bildungsreform Kulturelle Bildung muss in allen Schulfächern Gegenstand werden, fordert Ute Erdsiek-Rave. Sie zeigt auf, dass Kultur und Naturwissen- schaft sich im Schulunterricht ver- binden lassen. Die Bürgermeister aus Detmold und aus Marburg plä- dieren für mehr Zusammenarbeit in der Bildungsreform. Seiten 18 - 20 The English Supplement Polish and German Culture Minis- ters W. Dabrowski and C. Weiss on the importance of culture for EU enlargement, State Minister K. Müller on European cultural po- licy, debate on culture as a service of general interest continues with contributions by M. Fuchs, B. Meyer and H. J. Meyer. Pages 5 - 8 Zeitung des Deutschen Kulturrates K ünstlerinnen und Künstler ver- fügen über ein durchschnittli- ches Jahreseinkommen von rund 11.100 Euro. Das ist nur 1/3 des Ein- kommens eines normalen Arbeit- nehmers. Den Vergleich zu anderen freiberuflich arbeitenden Berufs- gruppen, wie Rechtsanwälten, Steu- erberatern und Ärzten will ich erst gar nicht anstellen. Das geringe Ein- kommen der Künstler zieht automa- tisch eine kleine Rente nach sich. Nach vierzig Versicherungsjahren können Künstler mit einer Rente von rund 400,— Euro im Monat rechnen. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Noch bedrückender ist die Lage der Künstlergeneration, die jetzt und in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen. Sie können die geforderten vierzig Versicherungsjahre gar nicht errei- chen, da die Künstlersozialversiche- rung erst 1983 gegründet wurde. Sie müssen mit durchschnittlich 200 Euro im Monat auskommen und sind auf die staatliche Grundsiche- rung angewiesen. Bei der Altersabsicherung hat die Künstlersozialversicherung, im Gegensatz zur Krankenabsicherung, den entscheidenden sozialen Durchbruch für Künstlerinnen und Künstler nicht gebracht. Ging man bei der Gründung der Künstlerso- zialkasse noch davon aus, dass die Altersarmut von Künstlern ein zeit- lich begrenzter Umstand sei, ist heute festzustellen, dass das Prob- lem der Altersarmut nach wie vor besteht und sich für die Generation der heute 45-65jährigen Künstlerin- nen und Künstler, auf Grund der zu geringen Versicherungszeit, zu ei- nem immer größer werdenden so- zialen Problem entwickelt. Eine Rettung vom Staat, für diese von der Politik schmeichelhaft ge- nannten „Altlasten“, ist kaum zu er- warten. Die aktuelle sozialpolitische Diskussion ist dadurch geprägt, dass über Leistungskürzungen und nicht über eine Ausweitung der Sozialleis- tungen diskutiert wird. Alle Bevölke- rungs- und Berufsgruppen müssen zur Zeit massive Einschnitte in den sozialen Sicherungssystemen wie der Krankenversicherung, der Pfle- geversicherung und der Rentenver- sicherung hinnehmen. Bezieher ge- ringer Einkommen, so auch Künst- ler, treffen diese Einschnitte beson- ders hart. Vor dem Hintergrund die- ser Debatten wird es äußerst schwer sein, neue zusätzliche Unterstüt- zungsmaßnahmen in der Sozialge- setzgebung für Künstler zu errei- chen. Die Bundesregierung hat ge- rade erst unmissverständlich er- klärt, dass sie in dieser Legislaturpe- riode keine Maßnahmen in der Sozi- algesetzgebung plant, um die so- ziale Lage der Künstler zu verbes- sern. Trotzdem muss jetzt gehandelt werden. Wir brauchen einen Ren- tenfonds, der dauerhaft Künstlern Hilfe zum Lebensunterhalt im Alter gewährt. Die Mittel könnten aus Sondermarken, ähnlich der Sonder- marke „Für den Sport“ und aus Son- dermünzprägungen erwirtschaftet werden. Auch könnte der Erlös aus speziellen Kulturveranstaltungen an den Rentenfonds gehen. Zu denken ist an Konzerte und Galas, deren Er- löse zu Gunsten des Fonds gehen oder dass an einem Tag im Jahr die Einnahmen aus allen Theater- und Konzertveranstaltungen sowie der Eintritt in Museen und auch in Ki- nos an den Fonds fließen. Um die fi- nanzielle Katastrophe für die alten Künstlerinnen und Künstler zu ver- hindern, darf nicht weiter auf ein Wunder gehofft werden. Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates Editorial Wunderglaube Während des diesjährigen Pariser Treffens der Kulturminister, das von Minister Aillagon im schönen Pariser Palais Royal veranstaltet wurde, ist mir bewusst geworden, wie verschie- den die polnischen Erfahrungen von denen der westlichen EU-Mitglied- staaten sind, und weiter noch – die Erfahrungen aller Länder und Völker, die erst jetzt, nachdem sie Jahr- zehnte von Europa getrennt waren, in die Strukturen der Union aufge- nommen werden. Mir wurde klar, dass wir nun die Möglichkeit haben, unsere eigene, souveräne Stimme vorzubringen, die Bedeutung für die Herausforderungen, vor denen Eu- ropa heute steht, haben kann. Jene Herausforderungen, die auch die Ver- fassung der Kultur betreffen. W ir alle wurden an verschieden Orten in Europa geboren und ebenso an verschiedenen Orten ha- ben wir unsere Kindheit verbracht. Auch das Leben unserer Eltern und Großeltern wurde durch unter- schiedliche geschichtliche, soziale und religiöse Erfahrungen be- stimmt. Ebenso waren die Traditio- nen, mit denen sie aufwuchsen, an- ders als unsere heutigen. Doch dies charakterisierte unser Heim, unsere erste Heimat. Große Schöpfer wis- sen, dass das Wichtigste im schöpfe- rischen Prozess zunächst das ist, was als gegeben gilt. Das Gegebene, die Heimat, bestimmt maßgebend die Entwicklung unserer Identität, doch im Laufe des Lebens wird sie um neue Erfahrungen, neue Bezugs- elemente bereichert und stellt bes- tenfalls ein Gleichgewicht zwischen Gegebenem und Erworbenem her. Unsere europäische, kulturelle Realität wird durch ihre Vielfältigkeit charakterisiert. Jeder Einzelne von uns, als Privatperson und auch in unserer gesellschaftlichen und poli- tischen Rolle des Kulturministers, stammt aus seiner eigenen, konkre- ten Kultur, die sich durch verschie- dene Aspekte von anderen Kulturen unterscheidet. In der Position einer Instanz ausübender Gewalt kom- men wir immer wieder mit kulturel- ler Vielfältigkeit in Berührung. Je besser wir die Eigenart der unter- schiedlichen Kulturen kennen und verstehen, desto besser können wir auch die Spannung zwischen diesen und den unsere Gegenwart bestim- menden, oberflächlichen Kräften wahrnehmen und verstehen. Ich sage das, damit die „kulturelle Viel- fältigkeit“ weiterhin existieren kann und sich nicht bald zu einer Utopie entwickelt. Damit die Authentizität jeder eigenen Kultur weiter beste- hen kann und nicht zur administra- tiven „Unrealität“ wird. Man muss die unterschiedlichen kulturellen Charaktere in ihrer Sou- veränität und Unabhängigkeit stär- ken, ihre Herausbildung unterstüt- zen. Es bedarf fester Überzeugung, Erfahrung und starken Glaubens, um die Authentizität der Realität ei- ner Kultur zu wahren. Wie sieht heute in Europa diese Erfahrung, diese Überzeugung, dieser Glaube wirklich aus? Und wie in Polen? Wie in unserem Inneren? Die Amerikanerin Susan Sontag hat Ende der 80er Jahre in Berlin ei- nen ergreifenden Vortrag („Elegie zum Tod Europas“) gehalten, in dem sie sagte, dass es nicht ausgeschlos- sen sei, dass der dominierende Teil Europas künftig zu dem „Euro- Land” werde, in welchem die Euro- päer die bestehende „kulturelle Viel- fältigkeit“ so maßlos und gierig wie Touristen konsumieren würden. Es scheint mir, dass der Papst mit sei- ner Aussage:„Europa braucht Polen und alle heute der Union beitreten- den Länder“, die Wahrheit in ihrem Kern getroffen hat. Dabei geht es nicht um eine Form von Messianis- mus oder Größenwahn von unserer Seite aus. Das, worüber Susan Son- tag gesprochen hat, ist wirklich eine gemeinsame Herausforderung für die Europäer. Und indem wir Eu- ropa beitreten, werden seine He- rausforderungen und Rechte auch zu unseren. Sehr oft, wenn wir heute über Europa nachdenken, über die Ver- fassung seiner Völker, den Kapitalis- mus, den Standort und die Qualität der Kultur im individuellen und ge- sellschaftlichen Leben, beziehen wir unser Denken auf die Zeiten des „Ei- sernen Vorhangs“, welcher uns, die Authentizität der Kulturen Ein Essay des polnischen Kulturministers Waldemar Dabrowski 4<BUFJTM=gadaai>:V;n Kultur-Mensch Doris Ahnen Als die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Staatsministerin Doris Ahnen, am 14. Januar dieses Jahr ihr Amt antrat, begann sie mit einem Novum. Sie bekannte sich ausdrücklich zur Kulturpolitik als dritter Säule des Aufgabenbereiches der Kultusministerkonferenz. Ahnen setzte damit ein Signal in Richtung Bundesregierung, dass nämlich nach wie vor die Länder die Kulturpolitik als ureigenstes Politikfeld für sich beanspruchen. Ebenso deutlich signalisierte sie in Richtung der Länder bzw. der Staatskanzleien, dass Kulturpolitik in den Ländern von den Kulturministern und als koordinierendem Gremium der Kultusministerkonferenz gestaltet wird. Dieses Selbstbewusstsein wird der Kulturpolitik hoffentlich Aufwind geben. Foto: t.w.klein photography Polnisches Kulturinstitut Berlin in der Karl-Liebknecht-Straße Foto: Polnisches Kulturinstitut Weiter auf Seite 2

Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

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Page 1: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

Nr. 02/04 • März - April 2004 www.kulturrat.de 3,00 € • ISSN 1619-4217 • B 58 662

Soziale Lage Nach der sozialen und wirtschaft-lichen Lage der Künstler wurde inder Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak-tion im Deutschen Bundestag ge-fragt. Die Bundesregierung hatnun ihre Antwort vorgelegt. Überdas Zahlenwerk hinaus sind nunpolitische Maßnahmen gefragt.

Seiten 1, 26 - 27

Kultur als PflichtaufgabePro und Contra der Verankerungvon Kultur als Pflichtaufgabe wer-den durch Beiträge von Hans-Joa-chim Meyer und Bernd Meyer ge-genübergestellt. Max Fuchs undOlaf Zimmermann fragen nach derkulturellen Grundversorgung. Deut-lich wird, dass die Kulturförderungneu begründet werden muss.

Seiten 3 - 4, 9

EuropaDer polnische Kulturminister Wal-demar Dabrowski, Kulturstaatsmi-nisterin Christina Weiss und Staats-ministerin Kerstin Müller skizzierendie kulturelle Herausforderung derEU-Erweiterung. Kultur muss einewichtige Rolle beim Erweiterungs-prozess spielen, sie spiegelt Unter-schiede und kann Brücken bilden.

Seiten 1, 13 - 17

BildungsreformKulturelle Bildung muss in allenSchulfächern Gegenstand werden,fordert Ute Erdsiek-Rave. Sie zeigtauf, dass Kultur und Naturwissen-schaft sich im Schulunterricht ver-binden lassen. Die Bürgermeisteraus Detmold und aus Marburg plä-dieren für mehr Zusammenarbeit inder Bildungsreform.

Seiten 18 - 20

The English SupplementPolish and German Culture Minis-ters W. Dabrowski and C. Weiss onthe importance of culture for EUenlargement, State Minister K.Müller on European cultural po-licy, debate on culture as a serviceof general interest continues withcontributions by M. Fuchs, B.Meyer and H. J. Meyer.

Pages 5 - 8

Zeitung des Deutschen Kulturrates

Künstlerinnen und Künstler ver-fügen über ein durchschnittli-

ches Jahreseinkommen von rund11.100 Euro. Das ist nur 1/3 des Ein-kommens eines normalen Arbeit-nehmers. Den Vergleich zu anderenfreiberuflich arbeitenden Berufs-gruppen, wie Rechtsanwälten, Steu-erberatern und Ärzten will ich erstgar nicht anstellen. Das geringe Ein-kommen der Künstler zieht automa-tisch eine kleine Rente nach sich.Nach vierzig Versicherungsjahrenkönnen Künstler mit einer Rentevon rund 400,— Euro im Monatrechnen. Zum Leben zu wenig, zumSterben zu viel. Noch bedrückenderist die Lage der Künstlergeneration,die jetzt und in den kommendenJahren das Rentenalter erreichen.Sie können die geforderten vierzigVersicherungsjahre gar nicht errei-chen, da die Künstlersozialversiche-rung erst 1983 gegründet wurde. Siemüssen mit durchschnittlich 200Euro im Monat auskommen undsind auf die staatliche Grundsiche-rung angewiesen.

Bei der Altersabsicherung hatdie Künstlersozialversicherung, imGegensatz zur Krankenabsicherung,den entscheidenden sozialenDurchbruch für Künstlerinnen undKünstler nicht gebracht. Ging manbei der Gründung der Künstlerso-zialkasse noch davon aus, dass dieAltersarmut von Künstlern ein zeit-lich begrenzter Umstand sei, istheute festzustellen, dass das Prob-lem der Altersarmut nach wie vorbesteht und sich für die Generationder heute 45-65jährigen Künstlerin-nen und Künstler, auf Grund der zugeringen Versicherungszeit, zu ei-nem immer größer werdenden so-zialen Problem entwickelt.

Eine Rettung vom Staat, für diesevon der Politik schmeichelhaft ge-nannten „Altlasten“, ist kaum zu er-warten. Die aktuelle sozialpolitische

Diskussion ist dadurch geprägt, dassüber Leistungskürzungen und nichtüber eine Ausweitung der Sozialleis-tungen diskutiert wird. Alle Bevölke-rungs- und Berufsgruppen müssenzur Zeit massive Einschnitte in densozialen Sicherungssystemen wieder Krankenversicherung, der Pfle-geversicherung und der Rentenver-sicherung hinnehmen. Bezieher ge-ringer Einkommen, so auch Künst-ler, treffen diese Einschnitte beson-ders hart. Vor dem Hintergrund die-ser Debatten wird es äußerst schwersein, neue zusätzliche Unterstüt-zungsmaßnahmen in der Sozialge-setzgebung für Künstler zu errei-chen. Die Bundesregierung hat ge-rade erst unmissverständlich er-klärt, dass sie in dieser Legislaturpe-riode keine Maßnahmen in der Sozi-algesetzgebung plant, um die so-ziale Lage der Künstler zu verbes-sern.

Trotzdem muss jetzt gehandeltwerden. Wir brauchen einen Ren-tenfonds, der dauerhaft KünstlernHilfe zum Lebensunterhalt im Altergewährt. Die Mittel könnten ausSondermarken, ähnlich der Sonder-marke „Für den Sport“ und aus Son-dermünzprägungen erwirtschaftetwerden. Auch könnte der Erlös ausspeziellen Kulturveranstaltungen anden Rentenfonds gehen. Zu denkenist an Konzerte und Galas, deren Er-löse zu Gunsten des Fonds gehenoder dass an einem Tag im Jahr dieEinnahmen aus allen Theater- undKonzertveranstaltungen sowie derEintritt in Museen und auch in Ki-nos an den Fonds fließen. Um die fi-nanzielle Katastrophe für die altenKünstlerinnen und Künstler zu ver-hindern, darf nicht weiter auf einWunder gehofft werden.

Olaf Zimmermann, Geschäftsführerdes Deutschen Kulturrates ■

Editorial Wunderglaube

Während des diesjährigen PariserTreffens der Kulturminister, das vonMinister Aillagon im schönen PariserPalais Royal veranstaltet wurde, istmir bewusst geworden, wie verschie-den die polnischen Erfahrungen vondenen der westlichen EU-Mitglied-staaten sind, und weiter noch – dieErfahrungen aller Länder und Völker,die erst jetzt, nachdem sie Jahr-zehnte von Europa getrennt waren,in die Strukturen der Union aufge-nommen werden. Mir wurde klar,dass wir nun die Möglichkeit haben,unsere eigene, souveräne Stimmevorzubringen, die Bedeutung für dieHerausforderungen, vor denen Eu-ropa heute steht, haben kann. JeneHerausforderungen, die auch die Ver-fassung der Kultur betreffen.

Wir alle wurden an verschiedenOrten in Europa geboren und

ebenso an verschiedenen Orten ha-ben wir unsere Kindheit verbracht.Auch das Leben unserer Eltern undGroßeltern wurde durch unter-schiedliche geschichtliche, sozialeund religiöse Erfahrungen be-stimmt. Ebenso waren die Traditio-nen, mit denen sie aufwuchsen, an-ders als unsere heutigen. Doch diescharakterisierte unser Heim, unsereerste Heimat. Große Schöpfer wis-sen, dass das Wichtigste im schöpfe-rischen Prozess zunächst das ist,was als gegeben gilt. Das Gegebene,die Heimat, bestimmt maßgebenddie Entwicklung unserer Identität,doch im Laufe des Lebens wird sieum neue Erfahrungen, neue Bezugs-elemente bereichert und stellt bes-tenfalls ein Gleichgewicht zwischenGegebenem und Erworbenem her.

Unsere europäische, kulturelleRealität wird durch ihre Vielfältigkeitcharakterisiert. Jeder Einzelne vonuns, als Privatperson und auch inunserer gesellschaftlichen und poli-tischen Rolle des Kulturministers,

stammt aus seiner eigenen, konkre-ten Kultur, die sich durch verschie-dene Aspekte von anderen Kulturenunterscheidet. In der Position einerInstanz ausübender Gewalt kom-men wir immer wieder mit kulturel-ler Vielfältigkeit in Berührung. Jebesser wir die Eigenart der unter-schiedlichen Kulturen kennen undverstehen, desto besser können wirauch die Spannung zwischen diesenund den unsere Gegenwart bestim-menden, oberflächlichen Kräftenwahrnehmen und verstehen. Ichsage das, damit die „kulturelle Viel-fältigkeit“ weiterhin existieren kannund sich nicht bald zu einer Utopieentwickelt. Damit die Authentizitätjeder eigenen Kultur weiter beste-hen kann und nicht zur administra-tiven „Unrealität“ wird.

Man muss die unterschiedlichenkulturellen Charaktere in ihrer Sou-veränität und Unabhängigkeit stär-ken, ihre Herausbildung unterstüt-zen. Es bedarf fester Überzeugung,Erfahrung und starken Glaubens,

um die Authentizität der Realität ei-ner Kultur zu wahren. Wie siehtheute in Europa diese Erfahrung,diese Überzeugung, dieser Glaubewirklich aus? Und wie in Polen? Wiein unserem Inneren?

Die Amerikanerin Susan Sontaghat Ende der 80er Jahre in Berlin ei-nen ergreifenden Vortrag („Elegiezum Tod Europas“) gehalten, in demsie sagte, dass es nicht ausgeschlos-sen sei, dass der dominierende TeilEuropas künftig zu dem „Euro-Land” werde, in welchem die Euro-päer die bestehende „kulturelle Viel-fältigkeit“ so maßlos und gierig wieTouristen konsumieren würden. Esscheint mir, dass der Papst mit sei-ner Aussage:„Europa braucht Polenund alle heute der Union beitreten-den Länder“, die Wahrheit in ihremKern getroffen hat. Dabei geht esnicht um eine Form von Messianis-mus oder Größenwahn von unsererSeite aus. Das, worüber Susan Son-tag gesprochen hat, ist wirklich einegemeinsame Herausforderung fürdie Europäer. Und indem wir Eu-ropa beitreten, werden seine He-rausforderungen und Rechte auchzu unseren.

Sehr oft, wenn wir heute überEuropa nachdenken, über die Ver-fassung seiner Völker, den Kapitalis-mus, den Standort und die Qualitätder Kultur im individuellen und ge-sellschaftlichen Leben, beziehen wirunser Denken auf die Zeiten des „Ei-sernen Vorhangs“, welcher uns, die

Authentizität der KulturenEin Essay des polnischen Kulturministers Waldemar Dabrowski

4<BUFJTM=gadaai>:V;n

Kultur-MenschDoris Ahnen

Als die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Staatsministerin Doris Ahnen, am 14. Januar dieses Jahr ihrAmt antrat, begann sie mit einem Novum. Sie bekannte sich ausdrücklich zur Kulturpolitik als dritter Säule desAufgabenbereiches der Kultusministerkonferenz.Ahnen setzte damit ein Signal in Richtung Bundesregierung, dass nämlich nach wie vor die Länder die Kulturpolitikals ureigenstes Politikfeld für sich beanspruchen. Ebenso deutlich signalisierte sie in Richtung der Länder bzw. derStaatskanzleien, dass Kulturpolitik in den Ländern von den Kulturministern und als koordinierendem Gremium derKultusministerkonferenz gestaltet wird. Dieses Selbstbewusstsein wird der Kulturpolitik hoffentlich Aufwind geben.

Foto: t.w.klein photography

Polnisches Kulturinstitut Berlin in der Karl-Liebknecht-StraßeFoto: Polnisches Kulturinstitut

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Page 2: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

KULTURENQUETE politik und kultur • März - April 2004 • Seite 2

Authentizität der Kulturenwir nach der freien Welt so begierigwaren, vom Westen trennte. Wirdenken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Dreigroßen Dekaden“: Vom Ende der40er bis Ende der 70er Jahre. Vondiesen „Drei großen Dekaden“ fandsich seine „goldene“ in den 60er Jah-ren wieder: „La Dolce Vita“ – sowunderbar beschrieben von Fellini.

Doch jenes Europa existiert so

nicht mehr. Es ist bereits Geschichteund nur eine Täuschung unseresnostalgischen Gedächtnisses. DieseNostalgie war uns auch bis gesternnicht fremd. Sie lebt immer noch inden Herzen von Rumänen, Bulgarenoder Ukrainern. Warum spreche ichdarüber? Alles, was die heutige Wirk-lichkeit bestimmt hat, die Wirklich-keit, mit der wir heute konfrontiertwerden, wurde maßgebend von denletzten zwei Jahrzehnten des Jahr-hunderts bestimmt.

Sowohl von der Sensibilität fürEigenheiten kultureller Merkmale,

als auch von der Fähigkeit, Realitätund Schein voneinander unterschei-den zu können, hängt die Qualitätund Kreativität der Bindungen Po-lens mit Europa ab. Aus der Authen-tizität dieser Bindungen wiederumentwickelt sich die Qualität undDurchsetzbarkeit dessen, was wir inGemeinden, Städten, Regionen undim Kulturministerium schaffen wol-len: Den Erhalt kultureller Vielfältig-keit, statt der „Barbarei der Täu-schung von Kulturuniversalismus“,wie es einst Leszek Kolakowski um-schrieb. Ein Europa verschiedenar-

tigster und doch vereinter kulturellerProfile: Freundschaften, Begegnun-gen, die Schönheit der Städte, derspezifische Lauf der Flüsse Narewoder Biebrza, Traditionen von Berlin,dessen Vereinigung wir miterlebt ha-ben, Gdansk in Augen der jungenSchriftsteller, die seine verwickelteIdentität als eigene annehmen, Mik-rokosmos von Wroclaw, wie es letz-tens von Norman Davis gesehenwurde, oder die Schönheit desSchattenbildes von Tum bei Leczyca– eines der schönsten Zeichen unse-res „jüngeren Europas“.

Das „Familiäre Europa“ und „Eu-ropa in der Familie“ – Diese Buch-titel zweier polnischer Emigranten(Czeslaw Milosz und Maria Czapska)beschreiben treffend den Kern unse-rer gemeinsamen, anstehenden pol-nischen und europäischen Heraus-forderungen.

Der Verfasser ist Kulturminister Polens ■

Kulturelle Diskurse, kulturpolitische KlärungenErwartungen an die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland • Von Gerd Harms

Der Deutsche Bundestag hat mitdem überfraktionellen Einsetzungs-beschluss der Enquete-Kommissionein wichtiges Zeichen gesetzt. EinZeichen an die Kulturpolitik inDeutschland ebenso, wie eines andie Menschen, die im Kulturbereicharbeiten.

Dieses Zeichen kommt zu einerZeit, in der die einmalige Kul-

turlandschaft der Bundesrepublikunter starkem Druck steht. Kaumein Tag, an dem nicht neue Nach-richten über Kürzungen der öffentli-chen Zuwendungen, Schließungenvon Einrichtungen oder Reduzie-rungen der Angebote die Feuilletonsebenso beschäftigen wie die regio-nale Politik. Kulturelle Einrichtun-gen werden in zunehmendem Maßeunter Nützlichkeitserwägungen un-tersucht und betrachtet, die Kunstals „Antithese zur Gesellschaft“(Adorno) wird von den Problemender Gesellschaft in plötzlicher Härteeingeholt.

Dabei ist die Situation keines-wegs verheerend. Das KulturlandDeutschland verfügt nach wie vorüber ein breites und vielfältiges An-gebot im kulturellen Bereich. Allein10.325 professionelle Orchestermu-siker, so ist zu lesen, während ichdieses schreibe, sind in Deutschlandbeschäftigt; um 120 ist ihre Zahl inden letzten 2 Jahren gesunken. EineVeränderung, die manchen Bereichin Industrie und Handel glücklichmachen würde.

Aber es stellen sich viele Fragen.Die nach der künstlerischen Güteunserer kulturellen Einrichtungen,

die nach dem Publikumsinteresseund der realisierten Nachfrage, dienach der Kostendeckung und derBeiträge der Nutzer, die nach demVerhältnis zwischen den öffentlichhochsubventionierten „Tankern“ imTheater- und Orchesterbereich undden in geringem Maße oder gar

nicht subventionierten Projekten.Lange waren Fragen wie diese tabu,jetzt werden sie in einer Härte ge-stellt, die geeignet ist, erheblichenSchaden anzurichten, weil sie kultu-relle Fragen einer Betrachtung un-terwirft, die dem Zweck eben nichtentspricht.

Ähnliches finden wir auf demFeld des Erhalts kultureller Substanzin der Denkmalpflege. Die bundes-deutsche Debatte verkehrt sich ineigentümlicher Weise. Novellen der

Denkmalschutzgesetze werdennicht etwa damit begründet, dassdie kulturelle Substanz besser ge-schützt würde. Nein: die Frage derEffizienz des Verwaltungshandelnsund die Sicherheit von Investitionenstehen im Vordergrund der Begrün-dungen.

Die Enquete-Kommissionnimmt ihre Arbeit zu einem Zeit-punkt auf, an dem eine intensiveDebatte über die Ausgestaltung derföderalen Ordnung der Bundesre-publik stattfindet. Die Kulturhoheitder Länder wird als Kern ihrer Ei-genstaatlichkeit definiert. Die Rolledes Bundes in der Kulturförderung,die Kooperation zwischen Bund undLändern auf diesem Feld, ist not-wendigerweise Gegenstand dieserDebatte. Das erbärmliche Schau-spiel um die Fusion der Kulturstif-tungen des Bundes und der der Län-der hat uns verdeutlicht, wie not-wendige Entwicklungen durch dieÜberlagerung mit Grundsatzposi-tionen zu Lasten der Kultur verhin-dert werden. Ein solcher Umgangmit den Ergebnissen der Kommis-sion muss verhindert werden.

Was kann die Enquete-Kommis-sion vor diesem Hintergrund leis-ten? Die Erwartungen sind hoch.Die Enquete sollte sich die Aufgabestellen, die kulturpolitische Diskus-sion in Deutschland kräftig zu bele-ben. Kulturelle Vielfalt, kulturelleBildung und der Erhalt und die Ent-wicklung der Kulturlandschaft inDeutschland sind Ziele, für die essich einzusetzen lohnt, und die kei-ner anderen Begründung bedürfenals die der Bedeutung des kulturel-

len Lebens für die Selbstvergewisse-rung der Gesellschaft. Der kulturelleDiskurs hat seine Bedeutung für dieGesellschaft deshalb, weil er sichkeinem anderen Zweck unterordnet.Und damit ist er eben nicht zweck-frei, sondern widersteht als wesent-licher Teil dessen, was eine leben-dige und lebenswerte Gesellschaftausmacht: der Vereinnahmung.

Darüber hinaus sollte sich dieEnquete-Kommission der Aufgabestellen, Klärungen herbei zu führen.Diese halte ich vor allem auf folgen-den Feldern für notwendig:• Lage der Kulturförderung im öf-

fentlichen und privaten Bereich;• Erhalt der kulturellen Substanz in

den Neuen Ländern;• Förderung der Kultur in der Bun-

deshauptstadt;• Strukturfragen und Organisations-

fragen;• soziale Lage der Künstlerinnen

und Künstler;• kulturelle Bildung als Grundlage

der Teilhabe an kultureller Praxis;• Definition des Anspruchs auf kul-

turelle Grundversorgung.

Dabei habe ich die Hoffnung,dass es der Enquete-Kommissiongelingen kann, eine konstruktiveDiskussion mit den Vertretern derLänder zu erreichen, die sich nichtin den Ritualen der Zuständigkeits-verweise erschöpft. Es geht nicht umdie Frage von Kompetenzen auf Sei-ten des Bundes oder der Länder, esgeht um den Erhalt und die Ent-wicklung der kulturellen Substanzunseres Landes als eine gemein-same Aufgabe aller Ebenen. Dabei

ist das Grundgesetz Basis unsererArbeit, es sollte aber nicht als Be-gründung für Denkverbote herange-zogen werden.

Die Bestandaufnahme der kultu-rellen Landschaft in der Bundesre-publik Deutschland allein ist bereitseine lohnende Aufgabe. Die Darstel-lung der Entwicklungen, vor allemauch der Gefahren, die diese für diekulturelle Substanz bedeuten,schafft die Grundlage für eine kon-struktive Diskussion von Lösungen.Ich hoffe, dass es uns gelingt, diesich andeutende überfraktionelleZusammenarbeit zu erhalten unddurch die Zusammenarbeit dersachverständigen Mitglieder der En-quete-Kommission zu untermau-ern. Von der Enquete-Kommissionwerden konkrete Empfehlungen anden Gesetzgeber und an die auf al-len Ebenen Handelnden erwartet.Es geht um Vorschläge, wie die Ent-wicklung der kulturellen Landschaftin Zeiten knapper öffentlicher Mittelgestaltet werden kann. Eine außer-ordentlich spannende Aufgabe.

Damit diese Diskussion nichtnur in den Räumen des DeutschenBundestages stattfindet, sollte dieKommission in ihrer zweijährigenArbeit regelmäßig auswärtig tagenund dabei die Diskussion mit Vertre-terinnen und Vertretern der Kulturvor Ort suchen.

Der Verfasser ist SachverständigesMitglied der Enquete-Kommissiondes Deutschen Bundestags „Kultur

in Deutschland“ ■

puk-Preis 2004 politik und kultur sucht den besten kulturpolitischen Artikel

Mit der Auszeichnung soll eine außergewöhnliche journalistische Arbeit, die sichdurch eine allgemeinverständliche Vermittlung von kulturpolitischen Themen aus-zeichnet, gewürdigt werden.

Zugelassen sind Beiträge aus Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Monatszeitungenund Fachzeitschriften mit einem dezidiert kulturpolitischen Inhalt, die im Jahr2003 in Deutschland erschienen sind. Jeder kann Vorschläge einreichen, Eigenbe-werbungen sind möglich. Einsendeschluss ist der 30.04.2004. Die Auszeichnung istundotiert. Die öffentliche Preisverleihung findet im Juni 2004 in Berlin statt.

Jury: Gitta Connemann, MdB, Vorsitzende der Enquete-Kommission des DeutschenBundestags „Kultur in Deutschland“, Ernst Elitz, Intendant DeutschlandRadio,Prof. Dr. Max Fuchs, Vorsitzender des Deutschen Kulturrates, Theo Geißler, He-rausgeber politik und kultur, Herausgeber der neuen musikzeitung, Olaf Zimmer-mann, Herausgeber politik und kultur, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates

Vorschläge bitte bis zum 30.04.2004 senden an: politik und kultur, Zeitung desDeutschen Kulturrates, Chausseestraße 103, 10115 Berlin

Fortsetzung von Seite 1

Gerd Harms Foto: privat

English text page 5

Page 3: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

ZUR DISKUSSION GESTELLT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 3

Pflichtaufgabe Kultur?Kultur als gleichberechtigtes Thema in der öffentlichen Debatte • Von Hans Joachim Meyer

Kultur als Pflichtaufgabe? Dasscheint manchen keine einsichtigeForderung. Den einen, weil Kulturder Ausdruck von Kreativität undgeistiger Freiheit ist. Den anderen,weil wir in der Zeit der Deregulierun-gen leben, in welche die Definitioneiner neuen Rechtspflicht nicht zupassen scheint. Der erste Einwandkommt mit dem Gestus intellektuel-ler Überlegenheit daher und zieltgleichwohl voll daneben. Denn dieKurzformel „Kultur als Pflichtauf-gabe“ meint ja nicht den Inhalt oderdas Niveau kultureller Tätigkeit, son-dern will die politische Verantwor-tung dafür festschreiben, dass kultu-relle Tätigkeit und Teilhabe an Kulturermöglicht werden. Der zweite Ein-wand kommt dagegen zur Sache undmuss ernst genommen werden.Letztlich geht es dabei nämlich umdie Frage, ob unsere seit Langem ge-wachsene öffentliche Verantwortungfür die Existenz von Kultur aufgege-ben werden soll.

Aus geschichtlichen Gründen istin Deutschland die Ermögli-

chung eines kulturellen Lebens fastausschließlich eine Sache der Län-der und Kommunen. Diese stehenin der Tradition der Landesfürstenund städtischen Bürgerschaften, de-nen die Förderung von Kultur glei-chermaßen eine Sache der Selbst-darstellung wie des Selbstverständ-nisses war. Das ungleiche Maß imkulturellen Engagement der Länderist denn auch meist fürstliches oderhanseatisch-republikanisches Erbe.Unabhängig davon tragen die Kom-munen den größten Anteil an finan-ziellen Leistungen für das kulturelleLeben in Deutschland. Diese Fest-stellung ist für unser Thema vongroßer Bedeutung. Es geht nämlich

nicht darum, mit dem Mittel desRechts eine neue gesellschaftlicheWirklichkeit zu schaffen. Sonderndie Forderung, Kultur in den Rangeiner Pflichtaufgabe zu erheben, solljuristisch bekräftigen und verteidi-gen, was politisch weithin aner-kannt ist und gelebt wird. Kultur alsPflichtaufgabe heißt darum auchnicht, den Kommunen durch denBund oder die Länder zusätzlicheAufgaben oder Institutionen zuübertragen, die künftig von denKommunen zu finanzieren wären.

Auch in rechtlicher Hinsicht istKultur als Pflichtaufgabe nichts völ-lig Neues. Viele Landesverfassungendefinieren das Land als einen Kultur-staat oder schreiben ihm eine kultu-relle Verpflichtung zu. So gut wie alleLandeskommunalgesetze reden vonder Verantwortung der Städte undGemeinden für ihr wirtschaftliches,soziales und kulturelles Leben. Den-noch gibt es hier einen gewichtigenund folgenreichen Unterschied. DasKommunalrecht unterscheidet näm-lich zwischen Pflichtaufgaben undfreiwilligen Aufgaben. Kultur ist fastüberall eine freiwillige Aufgabe. Wasdas praktisch bedeutet, zeigt sich so-fort, wenn der kommunale Haushaltunausgeglichen ist. Auch wenn sichdennoch die kommunalen Entschei-dungsgremien öffentlich für ihre kul-turellen Einrichtungen und Projekteentschieden haben, kann das zu-ständige Regierungspräsidium beider Kontrolle und Bestätigung derkommunalen Haushalte diesen Teilnichtöffentlich streichen oder kür-zen. Denn Kultur ist ja nur eine frei-willige Aufgabe. So ist landauf,landab die gängige Praxis.

Kultur zur Pflichtaufgabe zu ma-chen, heißt also nichts anderes alsihr den gleichen rechtlichen Rangeinzuräumen, wie z.B. dem Schul-unterhalt oder der Müllabfuhr. Da-durch wird Kultur zum gleichbe-rechtigten Thema der öffentlichenDebatte über kommunale Entschei-dungen, die nicht einfach durch die

staatliche Kommunalaufsicht ausformalen Gründen aufgehoben wer-den können. Freilich schafft dieskein neues Geld. Es enthebt also dieKommunalpolitik nicht der Not-wendigkeit, öffentlich abzuwägen

und zu entscheiden, wie viel vondem real zu Verfügung stehendenGeld denn nun für Kultur als eineder kommunalen Pflichtaufgabenzu verwenden ist. Es unterstreichtaber, dass Kultur zum Profil einerStadt oder eine Gemeinde gehörtund entspricht damit der kommu-nalen Wirklichkeit in Deutschland.

Diese geschichtlich gewachseneWirklichkeit ist freilich heute inDeutschland nicht mehr selbstver-ständlich. Damit kommen wir zurübergreifenden Bedeutung der For-derung, Kultur den rechtlichen Rang

einer Pflichtaufgabe zu geben. Esgibt nämlich durchaus einflussrei-che und ernstzunehmende Stim-men, die nicht nur die Frage stellen,ob Kultur weiterhin ein Teil der öf-fentlichen Verantwortung sein soll,

sondern die diese Frage auch ver-neinen. Sie träumen von einemStaat, der sich auf einen kleinenKern hoheitlicher Aufgaben zurück-zieht, und von einer Gesellschaft,die nur vom Wettbewerb bestimmtwird. Kultur wird damit ausschließ-lich zu einer Sache der individuellenEntscheidung. Und wenn sich da-raus keine tragfähige Basis für einkulturelles Leben ergibt, dannbraucht dies die öffentliche Verant-wortung – sei es im Staat oder in derKommune – nicht zu interessieren.Dahinter steht die geschichtslose

und realitätsferne Illusion, mankönne unseren Kultur- und Sozial-staat gegen ein völlig anderes Mo-dell von Staat und Gesellschaft aus-tauschen. Gewiss ist bürgerschaftli-ches Engagement auch für unser

kulturelles Leben wichtig. Wer aberKultur in der öffentlichen Verant-wortung grundsätzlich nur als einenfreiwilligen Zusatz ansieht oder siegar völlig zur Privatangelegenheitmacht, gefährdet die wichtigstegeistige Quelle für unsere Zukunft.

Der Verfasser war Staatsminister fürKultur und Wissenschaft in Sachsen ■

Freiwillige Aufgaben sind unverzichtbarer Kern kommunaler Selbstverwaltung • Von Bernd Meyer

Die Diskussion über die Frage, obKultur (-Förderung) zu einer gesetzli-chen Pflichtaufgabe der Kommunen(und doch wohl auch der Länder!) er-hoben werden soll, ist eine Phantom-debatte. Niemand in den Ländern,die hier die Gesetzeshoheit haben,denkt ernsthaft an ein solches Vor-haben. Schon gar nicht in der gegen-wärtig und in absehbarer Zukunftäußerst schwierigen Finanzlage deröffentlichen Hände. Dies gilt für dieLänder auch dann, wenn es sich nurum eine kommunale Verpflichtunghandeln würde, denn auch das wäreheute nur durchsetzbar, wenn nachdem Konnexitätsprinzip auch einentsprechender, ausreichender Mit-teltransfer stattfinden würde.

Das immer wieder zitierte sächsi-sche Kulturraumgesetz ist keine

taugliche Bezugsgröße: ein Zwecks-verbandspflichtgesetz, das – immer-hin – ein Detailproblem für Sachsenlöst: die in vielen Regionen Deutsch-lands nicht gesicherte Umlandfi-nanzierung überörtlich wirkenderKulturinstitutionen. Wobei der Ge-rechtigkeit halber gesagt werdenmuss, dass eine ganze Reihe von

Ländern dies anders über eine ent-sprechende Landesförderung oderüber die Gemeindefinanzierungsge-setze kompensiert. Dennoch lohntes sich, diese Diskussion zu führen,weil sie hinführt zu Grundsatzfragenunseres Kulturverständnisses imSpannungsverhältnis zwischenStaat und Gesellschaft.

Zunächst einmal sind die Be-zeichnungen „Pflichtaufgabe“ und„freiwillige Leistungen“ ungenau.Rechtlich ist zu unterscheiden zwi-schen „freiwilligen Selbstverwal-tungsaufgaben“ (z.B. Unterhaltungeines Theaters), „pflichtigen Selbst-verwaltungsaufgaben“ (z.B. Aufstel-lung von Bebauungsplänen) und„Pflichtaufgaben zu Erfüllung nachWeisung“ (i.d.R. durch das Land, z.B.Ausgabe von Personalausweisen). Imvorliegenden Fall kann es sich nurum die Überführung der Aufgabe„Kulturförderung“ von der ersten indie zweite Kategorie handeln. Nunzeigt aber die Erfahrung, dass dabeidie Grenzen zur letzten Kategorieimmer schwächer werden, d. h. dieGefahr ist groß, dass letztlich kom-munale Handlungsspielräume ein-geschränkt und neue, in der Regel ni-vellierende, Normen und Standardsgesetzt würden. Und zwar ohne dassauf Dauer auch eine ausreichendeFinanzierung gesichert würde. Dasnordrhein-westfälische Weiterbil-dungsgesetz und jetzt aktuell das

Musikschulgesetz des Landes Bran-denburg sind dafür gute Beispiele.

Für mich macht die Debatte er-kennbar, dass wir nach wie vor in ei-nem obrigkeitsstaatlich geprägtenLand leben. Das greift durch bis aufdie einzelnen Bürgerinnen und Bür-ger, gesellschaftliche Gruppen etc.Und wir verhalten uns auch so: aufdem Berliner Kongress „Bündnis fürTheater“ war die Rede davon, dasswir die Kultur in die Herzen der Men-schen bringen müssen. Brauchenwir dazu immer gleich ein Gesetz?

Jenseits der Finanzierungsprob-lematik steckt hinter dieser Diskus-sion die wohlfahrtsstaatliche Vor-stellung, dass der Staat es ist, der diegesellschaftlichen Fragen lösenmuss. Dies gilt auch für die Vorstel-lung von „Kultur als Daseinsvor-sorge“ und einer „kulturellenGrundversorgung“. Der Vorsitzendedes Deutschen Kulturrates, Prof. Dr.Fuchs, hat in einem bemerkenswer-ten Artikel in der letzten Ausgabedieser Zeitung (politik und kultur1/2004) auf die Widersprüchlichkeitdieser Haltung zwischen einem pa-ternalistischen Bild vom Staat undder Bedeutung des Einzelnen bzw.des individuellen Charakters desKunstumgangs aufmerksam ge-macht. Fuchs weist meines Erach-tens überzeugend auf die Problema-tik eines im Idealismus des 19. Jahr-hunderts wurzelnden Kulturstaats-

gedankens hin, wie er auch schon1952 Grundlage der „Leitsätze zurkommunalen Kulturarbeit“ desDeutschen Städtetages war: „Kulturals Weltdeutung“, so Fuchs, „alsSinnstiftung, als Wertbegründungzum Zwecke der Integration des Ein-zelnen und der Schaffung einer ge-meinsamen (nationalen) Identität“(puk Januar/Februar 2004, Seite 3).Zu Recht kommt Fuchs zu dem Er-gebnis, dass ein solcher Kulturbe-griff (der übrigens auch verantwort-lich ist für Fehlleistungen und fal-sche Erwartungen der Kulturpolitikim vereinten Deutschland nach1990) nicht Grundlage einer leben-digen Kulturentwicklung in der Ge-sellschaft von heute sein kann.

Kultur soll und muss auch in Zu-kunft von der öffentlichen Hand ge-tragen bzw. gefördert werden. Dies istin den allermeisten Ländern derBundesrepublik Verfassungsauftrag.Eine Garantie für einzelne Kunst-sparten oder Kultureinrichtungenbedeutet das allerdings nicht. Ent-scheidend bleibt immer die finanzi-elle Leistungsfähigkeit der Kom-mune. Erst jüngst hat der VGH Ba-den-Württemberg darauf hingewie-sen, dass eine Gemeinde grundsätz-lich nicht berechtigt ist, ohne haus-haltsrechtliche Grundlage finanzielleZuschüsse für den Betrieb einer kul-turellen Einrichtung zu leisten. Da-ran würde eine wie auch immer gear-

tete Kulturverpflichtung der Ge-meinde nichts ändern. Vielleichtkönnte sie erreichen, dass Kultur „aufgleicher Augenhöhe“ anderen kom-munalen Aufgaben gegenübertretenwürde. Sie würde aber mit Sicherheitdie Verteilungskämpfe innerhalb derKulturetats wesentlich verschärfen.

Will die Kultur öffentliche Förde-rung beanspruchen, muss sie sichdemokratisch legitimieren, indemsie der Politik ihre Bedeutung fürden Einzelnen wie für die Gemein-schaft nachweist. So bequem es seinmag, sich auf eine Staatsverpflich-tung berufen zu können: der Ret-tungsanker ist nur ein vermeintli-cher. Angesichts einer immer weiterfortschreitenden Einschnürung dergrundgesetzlich garantierten kom-munalen Selbstverwaltung gilt es,die Erfüllung freiwilliger Aufgabenals unverzichtbaren Kern dieserSelbstverwaltung zu bewahren. Kul-tur gehört zu diesem Kern. Sie zu ei-ner weiteren Gesetzeserfüllung zudegradieren, führt nicht in die Mitte,sondern an den Rand von Kommu-nalpolitik.

Der Verfasser ist Beigeordneter fürKultur des Deutschen Städtetags ■

Kulturfinanzierung am Beispiel Weimar: Das Land Thüringen zahlt – aber nicht für alles. Das Goethe-Schiller-Archiv bleibt im Besitzder Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen. Darauf einigten sich das Land Thüringen und das Großherzogliche HausSachsen-Weimar-Eisenach. Wie Kulturstaatssekretär Aretz mitteilte, verzichtet die Adelsfamilie auch auf alle weiteren Rückübertra-gungsansprüche. Als Entschädigung erhalte sie 15,5 Millionen Euro. Zudem werde ihr eine angemessene Vertretung in der Stiftungeingeräumt. Gleichzeitig ist die laufende Arbeit des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar wegen Geldmangels gefährdet. Die Chefindes ältesten deutschen Literaturarchivs, Wollkopf, rief dazu auf, durch Spenden die Projekte und den Bestand der Sammlungen zuretten. Rund 100.000 Euro genügten, um die Einschränkungen durch eine weitgehende Haushalts- und vollständige Einstellungs-sperre in diesem und im kommenden Jahr aufzufangen. Foto: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen

PRO

CONTRA

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Page 4: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

ZUR DISKUSSION GESTELLT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 4

Staat oder Markt?Kulturpolitik im Begründungsnotstand • Von Max Fuchs

Markt und Staat als Ordnungsmodelle

„Das wenige an Kulturpolitik, daswir brauchen, das machen wirselbst!“ so kommentierte in Cancunanlässlich der letzten WTO-Ver-handlung eine führende Vertreterinder US-amerikanischen Filmwirt-schaft die (alt-)europäische Forde-rung, dass es eine staatliche Kultur-politik geben sollte. Recht schnellkönnte man dies als Beispiel dafürabwerten, wie der Geist des Kapita-lismus in den USA auch solche Le-bensbereiche erfasst, die wir gernevor rigorosem Wettbewerb und bru-talem Gewinndenken geschützt hät-ten. Nun hat die oben zitierte Film-wirtschaftlerin den Satz nachge-schoben, dass man der Entschei-dungsfreiheit des Einzelnen auch inkulturellen Fragen vertrauen solle,ohne staatliche Schutzmechanis-men aufzubauen.

Spätestens an dieser Stelle wirddeutlich, dass es auf der Seite derMarkt-Liberalen nicht immer nurum Gewinnmaximierung geht. Viel-mehr könnte es sein, dass in diesemStreit zwischen Staat und Markt alskulturpolitischen Ordnungsmodel-len recht unterschiedliche Traditio-nen eine Rolle spielen.

Betrachten wir zunächst denMarkt. Man erinnere sich, dass dererste Systematiker des Marktden-kens, der Schotte Adam Smith, vonHaus aus Moralphilosoph war, derdarüber nachdachte, wie eine gutegesellschaftliche Ordnung aussehenkönnte. Nachdem Gott oder Königals „natürliche“ Ordnungsprinzi-pien obsolet geworden waren, gingdas aufstrebende Bürgertum daran,sich eine soziale und politische Ord-nung zu schaffen, die ein gutes Le-ben des Einzelnen in erträglichensozialen und politischen Verhältnis-sen ermöglichte. Der Wirtschaftshis-toriker Albert O. Hirschmann (Lei-denschaften und Interessen, 1987)

hat gezeigt, wie groß die zivilisatori-sche Wirkung war, die man sichdurch die Kanalisierung und Züge-lung wilder Leidenschaften zuGunsten eines sozialverträglichenEgoismus versprach. Die Ökonomieschien das geeignete Feld zu sein, indem sich die ungezügelten Emotio-nen, die oft genug zu Gewalt undKrieg geführt haben, ertragreichaustoben konnten – zu Gunsten derAllgemeinheit. Der Markt, so AdamSmith, ist der geeignete Ort, an demsich ein wohlverstandener Egois-mus durch das Wirken einer „un-sichtbaren Hand“ in Gemeinwohlverwandelt. Der Markt war der Ortder Freiheit des Einzelnen, er kulti-vierte und erzog die Marktteilneh-mer, er weckte das Gute im Men-schen und er bringt Friede zwischenden Völkern.

Allerdings gab es auch schonfrüh Kritiker. Selbst Adam Smithentwickelt eine Theorie öffentlicherGüter, bei deren Produktion undVerteilung der Staat dafür sorgenmüsse, dass eine Form von Vertei-lungsgerechtigkeit entsteht: Bildunggehört ausdrücklich dazu.

Mit der Ausbreitung des kapita-listischen Systems wurde die Kritikhärter. Neben der Radikalkritikdurch Sozialisten und Kommunis-ten gab es zunehmend eine Kapita-lismuskritik von Konservativen bzw.eine immanente liberale (Selbst-)Kritik: Der Markt zerstöre die mora-lischen Grundlagen, die er zu seinerFunktionsweise benötige. Es gäbeeinen quasi gesetzmäßigen Drangdes Marktes zum Krieg, weil andersRohstoff-, Absatz- oder Arbeits-märkte nicht zu bekommen seien.

Krieg, so liest man andererseitsin Darstellungen zur Genese des So-zialstaates, war ebenfalls eine wich-tige Ursache für die Sozialgesetzge-bung. Es ging nämlich zum einenum den Erhalt der Wehrbereitschaft,es ging zudem um den Erhalt vonMassenloyalität angesichts einer er-

starkenden Arbeiterbewegung. Esging also weniger oder gar nicht umMenschenliebe, Altruismus, Barm-herzigkeit, sondern um harte Fragendes Machterhaltes. Der Staat sorgtenicht mehr länger nur für Ordnungund Ruhe, sondern auch für indivi-duelles Wohlbefinden, freilich umden Preis eines Verzichts auf indivi-duelle Freiheitsrechte.

Hier haben wir die zwei bis heuterelevanten Polaritäten: Zum eineneine liberale Marktrhetorik, die dieindividuelle Freiheit des Einzelnengegen staatliche Gewalt schützt unddie im Markt das dafür ideale Ord-nungsinstrument sieht. Auf der an-deren Seite findet sich eine Sozial-staatsrhetorik, die die Gemeinschaftin der Verantwortung gegenüberdem Einzelnen sieht. Neben diesentheoretischen Positionen findet sichein breites Spektrum unterschiedli-cher Kapitalismusmodelle in derRealität. Eine vergleichende Kapita-lismusforschung studiert solche na-tionalen Modelle, bei denen deut-lich wird, dass der Kapitalismus mitsehr unterschiedlichen politischenOrdnungsformen verträglich ist. DieKapitalismusforschung zeigt auch,dass bei aller (neo-)liberalen Rheto-rik eines sich bei Wirtschaftsdingenzurückhaltenden Staates, es bislangkeine nachhaltige ökonomischeWachstumsphase gegeben hat, beider nicht staatliche Investitionspro-gramme die Initialzündung gegebenhätten.

Beide theoretisch-philosophi-schen Konzeptionen von Staat, Ge-sellschaft und Einzelnem findensich in der Allgemeinen Erklärungder Menschenrechte, die mit dieserIntegration von individuellenSchutz- und sozialen Teilhaberech-ten einen „Dritten Weg“ zwischenKapitalismus und Staatssozialismusformulieren wollte.

Beide Positionen haben aller-dings auch gemeinsam, dass sie im-mer wieder als Ideologien zur Be-

schönigung einer Praxis herhaltenmüssen, bei der es im ersten Fall umrigorose ökonomische Ausbeutung,im zweiten Fall um eine politischeHerrschaft durch eine Minderheitgeht, die im Namen eines vorgebli-chen Gemeinwohls die Freiheits-rechte des Einzelnen unterdrücken.

Überlegungen zur Kulturpolitik

Der Hinweis auf die Menschen-rechte als normativer Grundlage po-litischen Handelns ist hochrelevantangesichts der zunehmenden Inter-nationalisierung nationaler Kultur-politik. Im Bereich der Sozialpolitikgibt es profunde vergleichende Stu-dien zwischen nationalen Politik-konzeptionen, die zeigen, wie starknationale Werte-Traditionen beidurchaus vergleichbaren Problem-lagen zu einer großen Verschieden-heit der jeweiligen politischen Stra-tegien führen (vgl. F. X. Kaufmann,Varianten des Wohlfahrtsstaates,2003).

Ein Blick auf die derzeitige Kul-turpolitik zeigt, dass man durchausParadoxes erreichen möchte: EineKulturpolitik der Freiheit, die denGemeinsinn nicht vernachlässigt;ein staatsfernes kulturelles Leben,für das der Staat nicht nur die Rah-menbedingungen optimieren, son-dern auch Mittel bereitstellen soll.Wir pflegen eine Rhetorik der Kunst-autonomie und wollen gleichzeitigein System von Kunstbetrieben er-halten, die bei ihrer Gründung eineklare politische und soziale Aufgabefür das Bürgertum zu erfüllen hat-ten. Wir vertreten die These, dass„Kunst“ im emphatischen Sinn un-serer Weimarer Klassik mit derZweckfreiheit ihrer spielerischenAusübung eine menschgemäße, jasogar überlebensnotwendige Praxis-form ist, und sind nach wie vor rela-tiv blind gegenüber der Erkenntnis,wie gering der Bevölkerungsanteil

ist, der an dieser allgemeinmensch-lichen Segnung teilhat. Denn die Fä-higkeit und Bereitschaft zu einemderart anspruchsvollen Umgang mitKunst ist äußerst voraussetzungs-voll: Muße; zumindest die zeitwei-lige Abwesenheit des Zwanges, dieeigene Existenz sichern zu müssen –also sich die „Zweckmäßigkeit ohneZweck“ auch leisten zu können; dieFähigkeit und Möglichkeit einerDistanz zu sich selbst (vgl. Bourdieu,P., Meditationen, 2001). Neben ma-teriellen Ressourcen ist es zudemauch eine Frage der Bildung, ob undwie man die Möglichkeiten einersolchen Kunstpraxis nutzen kann.Ohne bildungspolitisches Engage-ment läuft Kulturpolitik daher insLeere.

Mit diesen überhaupt nichtneuen Widersprüchen des kulturpo-litischen Alltags ließ sich bislangganz gut leben. Möglicherweise istaber nunmehr der Zeitpunkt ge-kommen, mehr Mühe in das Sortie-ren der Ziele zu investieren unddiese mit der harten Realität ihrerUmsetzung zu vergleichen. Die Ge-sellschaft braucht die Künste – zwei-fellos. Doch ist es eine Bringschuldder Kulturpolitik, dies argumentativins Bewusstsein möglichst vielerMenschen zu rufen, die dann viel-leicht sogar von sich aus die Politikunter Druck setzen, für angemes-sene kulturelle Angebote zu sorgen.Der lapidare Rückbezug auf „Kunst-autonomie“ oder die Forderung,dass Tanz, Musik, Theater etc. „seinmüssten“, genügt jedenfalls nichtmehr.

Der Verfasser ist Vorsitzender desDeutschen Kulturrates ■

Wird in der Zukunft nur noch auf elektronischenInstrumenten musiziert? Werden künftig im Theatervornehmlich Videoaufnahmen von Künstlerinnen und Künstlerzu sehen sein? Oder bleibt alles beim Alten? Und wie mußdie Ausbildung und die Weiterbildung in den Kulturberufenaussehen? Mit diesen Fragen befasst sich das Buch desDeutschen Kulturrates „Kulturelle Bildung in der Wissens-gesellschaft – Zukunft der Kulturberufe”. Ausgehend vonder Frage nach der Zukunft der Kulturberufe wird dieAusbildung in künstlerischen Berufen diskutiert.

Wird der Computer den Pinsel ersetzenWird der Computer den Pinsel ersetzen?

Weitere Buchempfehlungen

English text page 7

Page 5: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

ENGLISH SUPPLEMENT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 5

During this year’s Meeting of Cul-ture Ministers, hosted by MinisterJean-Jacques Aillagon in the magni-ficent Palais Royal in Paris, I be-came conscious of how different ourPolish experience has been – and,moreover, the experience of allthose countries and peoples who,after being separated from Europefor decades, are only now being in-tegrated into European Union struc-tures. I realised we now have an op-portunity to make our own, autono-mous voice heard, and how this canhave a significant part to play in thechallenges facing today’s Europe –those challenges which equally af-fect cultural conditions.

We were all born in differentplaces across Europe, and we

all spent our childhoods in differentplaces too. The lives of our parentsand grandparents were defined byvarious historical, social and religi-ous experiences. The traditions in-forming their childhoods were, inturn, different from those we are fa-miliar with today. But this is whatshapes our home, and our first ho-meland. Great artists know thatwhat is innate to us is the key factorin the creative process. The innatelygiven, our homeland, largely deter-mines how our identity evolves, alt-hough in the course of our lives itbecomes enriched by new experi-ences, new points of reference, and,given a fortunate turn of events, itbecomes possible to achieve a ba-lance between the innate and theacquired.

Our cultural reality in Europe ismarked by its diversity. Each one ofus, whether as a private person or inour social and political role as mi-nisters of culture, comes from ourown, concrete culture, differing incertain respects from all other cul-tures. In our positions as instancesof executive power, we are con-

stantly confronted with cultural di-versity. The better we know and un-derstand the special features ofthese different cultures, the betterwe will be able to perceive and un-derstand the tension between theseand the surface forces determiningour contemporary life. And I saythis in support of a continued “cul-tural diversity”, to ensure it does notrapidly turn into yet another ideo-logy, and to allow the authenticity ofeach individual culture to continueand not merely become an admi-nistrative “non-reality”.

We must support the various so-vereign autonomous cultural cha-racters, buttressing their develop-ment. We need the deep conviction,experience and staunch faith thatcultural reality has an authenticityworth preserving – but how doesthis experience, this conviction,and this faith, really look in Europe

today? And, indeed, what does itlook like in Poland? Or inside our-selves?

At the end of the 1980s, SusanSontag held a poignant and movinglecture in Berlin (“Elegy on the deathof Europe”) where she suggested itwas by no means inconceivable that,in future, the dominant part of Eu-rope would become the “Euro-Land” where Europeans would con-sume their existing “cultural diver-sity”, eagerly and keenly, as tourists.It seems to me that the Pope’s state-ment “Europe needs Poland and allthe States acceding to the Union to-day” succinctly summarised thevery heart of the matter. This is notto be misunderstood as expressingsome kind of Messianic belief or de-lusions of grandeur on our part. Theissues Susan Sontag addressed aregenuinely a shared challenge facingall Europeans, and when we join Eu-

rope, these rights and challengeswill become ours too.

Frequently, when we reflect onEurope today, about its social con-dition, about capitalism, about theplace and quality of culture in the li-ves of individuals and social lives ofEuropeans, our thoughts often referto the times of the Iron Curtain,which divided us, so eager for thefree world, from the West. We thinkof a post-war Europe from the per-spective of its “Three Great Deca-des” from the end of the 1940s tothe end of the 1970s. Of these ‘GreatDecades’, the “Golden” one was the1960s: “La Dolce Vita”, so percepti-vely portrayed by Fellini.

But really this Europe no longerexists. It is already history, and onlythe illusion of a nostalgic memory.This nostalgia was not alien to usuntil yesterday, and remains in thehearts of Rumanians, Bulgarians, or

Ukrainians. But why have I mentio-ned this? Because everything thatdefined today’s reality, the realitywe are now confronted with, waslargely determined by the final de-cades of the twentieth century.

The quality and creativity of Po-land’s ties to Europe depend bothon a sensitivity towards the specialnature of cultural features and theability to distinguish between rea-lity and illusion. Yet, in turn, the va-lue and enforceability of what wewant to create at the communal,state and regional levels, and in theculture ministry itself, comes fromthe authenticity of these ties safe-guarding cultural diversity, insteadof what Leszek Kolakowski oncedescribed as the “barbarianism ofthe illusion of a cultural universa-lism”. A Europe with a most variedand yet united cultural profile: fri-endships, encounters, the beauty ofthe cities, the particular course ofthe rivers Narew or Biebrza, the tra-ditions of Berlin, a city whose reuni-fication was a part of our experi-ence, Gdansk in the eyes of theyoung writers, adopting its tangledidentity as their own, the micro-cosm of Wroclaw, as most recentlycited by Norman Davis, or thebeauty of the bas-reliefs at the Tumarchcollegiate church near Leczyca– one of the loveliest signs of our“younger Europe” .

“Family Europe” and “Europe inthe Family” – these book titles bytwo Polish emigrants (CzeslawMilosz und Maria Czapska) suc-cinctly summarise the core of thecommon Polish and European chal-lenges facing us all.

The author is Poland’s Minister of Culture ■

Thoughts from the Terrace of the Palais RoyalBy Waldemar Dabrowski

European integration is the bestanswer we can give to a twentiethcentury that has cost the lives of somany people. Integration representsthe attempt to shape our future join-tly, peacefully and with mutual re-spect, and over the last fifty years,this aim has become a reality in thewestern half of Europe. It is nowtime to ensure the eastern half canbecome the location where this suc-cess story can be continued – andthat is indeed the task facing us.

However, we cannot make this areality merely by introducing

funding programmes. We need toradically rethink our position, take aquantum leap forward in the waywe perceive Europe and evolve analtered and expanded sense of cul-tural awareness. Then – and onlythen – will we grasp the challengesand chances in a new Europe, fa-cing them and shaping them so wecan all benefit from the outcome.

Such a path cannot succeed,though, without investing the neces-sary work in reciprocal understan-ding. Our neighbours have becomeunfamiliar to us. We know littleabout them, and do not speak theirlanguage. Half a century of post-warhistory has left us the legacy of a vast,unknown no-man’s-land.

The key experiences were toodifferent, the material and social

conditions in our lives too dissimi-lar, the amount of joy and sufferingtoo unequally distributed, and theutopian hopes and dreams too di-vergent, and frequent contradic-tory. Those fears and prejudices,rooted in arrogance, guilt, or a lackof knowledge, are obstinately per-sistent – fed by the decade-longalienation generated by the IronCurtain, a barrier that may still befound, in part, informing our waysof thinking.

On both sides, only a few peopleare still aware of what had onceconnected us – and, whether in Po-land or the Baltic states, in theUkraine or in Hungary, one hardlyneeds to be a historian to find tracesof a shared culture, now decayed,but once linking an area encompas-sing Frankfurt am Main and Tallinn,Berlin and Lwiw.

Consider, for a moment, the ar-tistic revolution at the start of thetwentieth century, a wave not onlysweeping across the whole of Eu-rope, but breaking over its easternedges too.

Dadaism, for example, was notborn in Zurich, but came into theworld in Jassy, Romania;

The Czech Cubist and Futuristsaround Bohumil Kubista exhibitedtheir works in Herwarth Wladen’sSturm Gallery in Berlin, togetherwith paintings by Pechstein, Kirch-

ner and Heckel, and with works bytheir Paris mentors, Picasso, Braqueand Gris.

What the young generationsbetween Paris and Belgrade allshared, what bound them together,was the notion that the old orderwas collapsing, an order finallyshattered in the hail of bullets onthe battlefields of the First WorldWar. The search for new forms,sounds and words was intrinsicallylinked to the dream of a new andfairer world.

The “next cultural vision” mightwell come from central Europe – atleast, this is the hope expressed bythe British-Hungarian historian Ge-orge Schöpflin, and there are signshe may be right. The Poles, Hunga-rians, Slovaks, and Czechs are retur-ning to Europe, a place that, in theirown view, they had never left. Andthey are discovering it anew.

Europe is a challenge for us all,but also a task we share, and Iwould like to make seven suggesti-ons to facilitate an approach to-wards this task called “Europe”:

1. Intercultural dialogue takesplace everyday on many differentlevels, but it does need to be sup-ported by balanced policies adop-ting a longer future perspective.Culture, after all, is a long-term pro-ject. The life’s blood of our Euro-pean community is not the Euro,

but speaking and listening, askingand explaining.

We need to “package” the Euro-pean idea in a new way, generatingan effective image and creating thebest possible impact – in multi-lin-gual cultural journals, for example,like “Kafka”, a journal financed bythe Goethe Institut and publishedin four language editions in CentralEuropean countries, or by exploringthe music scene across the Balticseaboard, from Szczecin to St. Pe-tersburg with the floating danceevent venue “Motorschiff Stubnitz”.

2. As Wilhelm von Humboldtpointed out, the multitude of langu-ages directly increases the riches ofthe world for us, and the range ofthings we can find in it. The expan-ded linguistic diversity in Europewill enrich both the people andtheir languages, with life-time lear-ning becoming a widely acceptednorm and learning facilitated viacross-border projects and city part-nerships. We need to ensure tran-slation is encouraged and suppor-ted so that we give a voice to the ri-ches of great literature in lesser-known languages.

Universities need to maintainand develop departments teachingSlavonic languages and literature,the Baltic languages and Finno-Ugrian, offering more places forstudents wanting to train as inter-

preters or translators with theselanguage combinations.

3. In the process of European in-tegration, eastern, south-easternand north-eastern European his-tory, culture, politics, the history ofideas, etc, has acquired a specialsignificance in both teaching andresearch. With the opening up ofeastern European archives, rese-arch is facing the enormous task offilling in the gaps in our reading oftwentieth-century history.

4. In a discussion on the plan-ned “Zentrum gegen Vertreibung”,(Centre against forced migration),the German historian Ute Frevertcalled for the new Europe to haveshared places of remembrance. Thismay not be a completely novel idea,but it does deserve the most tho-rough consideration. It is not yetcommonly accepted for Germansand Czechs, Lithuanians and Poles,Rumanian and Hungarians to adopta joint approach in confrontingtheir history – here, the GörlitzSchlesische Museum has set a stan-dard for others to follow. In ourview, the core concern in the debategenerated by the “Zentrum gegenVertreibung” does not relate to aspecific location. Instead, it dealswith a process.

The Cultural Dimension in EU Enlargement By Christina Weiss

The Polish Cultural Center in Berlin, Karl-Liebknecht-Straße Foto: Polish Cultural Center

Deutscher Text auf Seite 1

Continued on page 6

Page 6: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

ENGLISH SUPPLEMENT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 6

The Cultural Dimension inEU Enlargement

This process embraces understan-ding, research, review and reassess-ment. For this reason, it is my inten-tion to set up an international net-work allowing contacts to be esta-blished between those directly af-fected, as well as scientists, acade-mics, and politicans.

5. Europe can only grow toge-ther in a “bottom-up” process – theinvolvement of ordinary citizens inthe towns and regions needs to befostered and encouraged. Whetherit is a local history museum that isneeded, or the goal is to renovate anentire street, such initiatives do notonly safeguard cultural substance,they also create employment. For

an example of the significance ofcultural projects as a stabilising fac-tor, and their importance in the so-cial-political arena, one need lookno further than the projects in theGerman-Polish and German-Czechborder regions.

The future belongs to culturaltourism – throughout Europe. Yetwhy the proposed EU list for thenext 16 years contains not one sin-gle eastern European country mustremain a Brussels’ secret for now.But I would like to state here quiteunequivocally – this cannot be thefinal word. I will be encouraging myfellow ministers to review this pro-cedure, accepting and integratingnew suggestions. It might also be fe-asible to initiate partnerships bet-ween the European cultural capitalsin the old and the new Member Sta-tes. Such a move would indeed re-present a genuine act of bridge-

building, and I believe that Germancandidate cities could well supportsuch an idea.

6. The annual programmes weare initiating with all eastern Euro-pean Member States might well beentitled “Unknown Neighbours –Culture in the New Europe”. Theseprogrammes are scheduled to rununtil 2015, with Poland in the centreof interest in 2005 and 2006. This sort of cultural season is desig-ned to mediate the knowledge la-cking on both sides, disseminatinginformation in a range of campaignsand programmes, using touring ex-hibitions (e.g., on various cities), anartist exchange programme, a youthprogramme, etc. Artists, writers,musicians, actors and directors pre-sent their work – works that couldalso change our perceptions be-cause they adopt different aestheticbenchmarks as their standards.

I am very glad to note that theFederal Cultural Foundation (Kul-turstiftung des Bundes) has recog-nised the chances the new Europeoffers, and I would specifically liketo highlight just one project here .“Relations” is designed to initiate arange of projects in various easternEuropean countries in contempo-rary arts, culture and science. Themain thrust of these projects is di-rected to local and regional issues,with “relations” as a means to focusattention on cultural diversity, andthe huge variety found in individualplaces and across regions.

7. Preparatory steps are neededto organise a “Cultural Lighthousesin Eastern Europe” programme.Lighthouses shed their rays of lightinto the darkness, a metaphoricalimage capturing the essence of en-lightenment, while the cultural ligh-thouses themselves represent infor-

mative institutions, disseminatingknowledge across entire countries.These countries have been envelo-ped in darkness long enough. Manyof their institutions and buildingshave been destroyed or severely da-maged. An eastern, central, nor-thern and southern Europe BlueBook project is designed to detailEuropean cultural space – possiblyfocusing, first and foremost, on fu-ture lighthouses beyond the currentEU borders, since once these werethe beacons spreading their light tous, a reminder of something weshould never again forget.

The author is the State Minister atthe Federal Chancellery for Media

and Culture ■

Continued from page 5

Is culture a mandatory public task?To some this does not seem a reaso-nable claim. There are those whothink culture to be the expression ofcreativity and of spiritual freedom.For others the definition of a newstatutory duty does not seem to besuitable in the period of deregula-

tion that we live in. The first objec-tion comes along in the manner ofintellectual superiority and yet itcompletely misses the point be-cause the short formula „Culture asa mandatory task“ does not meanthe content or the standard of cultu-ral activity but aims at fixing the po-litical responsibility for allowing cul-tural activity and participation inculture. The second objection co-mes to the point and has to be ta-

ken seriously. The ultimate questionis whether we should relinquish ourlong standing public responsibilityfor the existence of culture.

Historically seen, the promotionof culture in Germany is al-

most exclusively the concern of thefederal states and local authorities.These political bodies are in tradi-tion with their former principalitiesor municipal corporations who re-garded the promotion of culture asan equally balanced matter of re-

presentation and self-conception.Thus, the disproportionate culturalcommitment of individual federalstates usually is due to their formerruling aristocracy or its hanseatic-republican legacy. But in fact, thelocal authorities bear the biggestshare of the costs for the cultural lifein Germany. This conclusion is ofgreat importance. The question isnot how to create a new social rea-lity by legislative means. The de-

mand to make culture a mandatorytask is rather meant to legally en-dorse and to defend what politicallyis widely accepted in every day life.Culture as a mandatory task there-fore does not want to imply that thefederal government or the states de-legate further functions or instituti-ons to local authorities which inturn would have to bear the costs.

From a legal point view cultureas a mandatory task is not a com-pletely new idea. Many of the fe-deral states’ constitutions contain

definitions such as „Kulturstaat“(cultural states) or commit themsel-ves to a serious cultural obligation.Practically all of the federal states’municipal laws stress their local au-thorities’ responsibility for theirown economic, social and culturallife. Yet, there exists a grave andconsequential difference. The mu-nicipal laws differentiate betweenmandatory and voluntary duties.Almost everywhere funds for cultu-

ral activities are regarded as volun-tary expenditure. What this meansin real life becomes obvious when amunicipal budget is unbalanced.Even if a town council publicly deci-des to invest in its cultural instituti-ons and projects, the superordina-ted body (usually the regional coun-cil) may axe or reduce these invest-ments while executing its non-pub-lic right of local budget control. Cul-ture simply is a voluntary service.This is common practice across thecountry.

Making culture a mandatorytask means nothing else than gran-ting it the same legal status thatother public services enjoy, e.g.schools or the communal waste col-lection. By this, culture would be onan equal footing with other topicsin the public debate over decisionsby local councils that cannot simplybe nullified by state-controlled su-pervisory authorities. This surelydoes not create new funds. And

consequently, local authorities can-not be exempted from publicly deli-berating and deciding about howmuch of the available financesshouldm be dedicated to culture asa municipal mandatory task. Never-theless, this step underlines the factthat culture belongs to the profile ofa city or municipality and therewithcomplies with the communal rea-lity in Germany.

In Germany, this reality grownin history cannot be taken for gran-ted anymore. This leads towards the

overall importance of the demandto award culture the legal status of amandatory task. There are influen-tial and serious voices that, by allmeans, not only question whetherculture should remain in the publicdomain but which actually denythis concept. They dream of a na-tion state authority that concentra-

Cultural Policy is an Obligatory Public TaskBy Hans Joachim Meyer

PRO

Berlin’s reform of its opera houses started in December 2003: In the future, the Deutsche Oper (see above), the Staatsoper Unter den Linden (see next page) and the Komische Oper will be comprised under the same roof ofFoundation. Photos: Deutsche Oper (see above), Staatsoper Unter den Linden (next page)

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tes on mandatory core functionsand of a society that is governed bycompetition only. Thus, culture be-

comes a mere individual choice.And should this lead to no sustai-nable platform for cultural life, thena state or a local authority need notcare any longer. Behind all thishides the escapist illusion of repla-

cing our welfare and culture statewith a completely different conceptof state and society. Indeed, there isan undeniable need for civic com-mitment towards our cultural esta-blishment. But the ones who cate-

gorically regard communally fun-ded culture as a mere voluntarygrant, or even consider it as a purelypersonal affair, compromise ourmost important intellectual re-source for the future.

The author was Minister of State forCulture and Sciences in Saxony ■

The discussion whether (the promo-tion and funding of) culture shouldbe granted the legal status of a mu-nicipal obligatory task (and of thestates, too) is a quasi-debate. No-body in the federal states, whichare holding the legislative compe-tence in cultural affairs, seriouslythinks of such a scheme – especi-ally not at present and in the fore-seeable future, regarding the extre-mely difficult financial situation wi-thin the public sector. This also ap-plies if it concerns a mere commu-nal commitment. But at the mo-ment this thought would only be fe-asible, if, according to the principleof connectivity, there was an appro-priate transfer of funds.

The repeatedly quoted SaxonianKulturraumgesetz an unsuitable

parameter: a law that defines statu-tory duties within a local councils’administrative union that – after all– solves a particular problem for Sa-xony: amongst other things it secu-res the funding of regional culturalinstitutions, a fact that cannot betaken for granted in many otherGerman regions. But for the sake offairness it has to be mentioned thata number of federal states havefound other ways of compensation,e.g. by direct state funding or ap-propriate communal financing acts.Nevertheless, this is a worthwhilediscussion leading to the princilequestions about our understandingof culture within the strained relati-onship between the state and so-ciety.

First of all, the terms „Pflichtauf-gabe“ (obligatory duty) and „freiwil-lige Leistungen“ (voluntary tasksand grants) are imprecise. Theyshould be legally differentiated bet-ween „Freiwillige Selbstverwal-tungsaufgaben“ (voluntary self-ad-ministrative duties – e.g. the main-tenance of a theatre), „pflichtigen

Selbstverwaltungsaufgaben“ (obli-gatory self-administrative tasks –e.g. the compilation of develop-ment plans) and „Pflichtaufgabenzu Erfüllung nach Weisung“ (obliga-tory duties in compliance on direc-tive usually by the state– e.g. the is-sue of identification cards). Ourparticular case can only be aboutthe transfer of cultural promotionas a duty from the first to the se-cond category. But experienceshows that the distinction with thethird category is getting increa-singly blurred, i.e. the danger isgreat that finally the scope for com-munal cultural activities could becut back and that new, usually level-ling, norms and standards are set;and this without even securing ade-quate long-term finance solutions.Prime examples are the „Weiterbil-dungsgesetz“ (Further EducationAct) in North Rhine-Westphalia andmost recently the „Musikschulge-setz“ (Music School Act) in Bran-denburg.

I am of the opinion that the de-bate reveals that we are still living ina country caught in authoritariantraditions. This affects the indivi-dual citizen as well as relevant so-cial groups, etc. And we behave ac-cordingly: During the congress„Bündnis für Theater“ (Alliance forTheatre) in Berlin, it was said thatwe must implant culture in peoples’hearts. But is a law always immedi-ately necessary?

Apart from finance, the discus-sion contains a strong welfare-statenotion: The state has to deal withsocial issues. And this also appliesto cultural aspects, e.g. „Kultur alsDaseinsvorsorge“ and „kulturelleGrundversorgung“ (culture as a ser-vice of general interest). In a note-worthy aricle in the last edition ofthis journal (politik und kultur1/2004) Prof. Dr. Fuchs, chairmanof the German Cultural Council,called attention to the inconsis-tency in the attitude set between apaternalistic concept of the state,the relevance of the individual andthe individual character of dealingwith the arts. Fuchs, in my opinion,

convincingly refers to the proble-matic idea of the „Kulturstaat“rooted in 19th century idealism. In1952 this idea became the basicprinciple in the Deutsche Städte-tag’s (German Association of Citiesand Towns) „guidelines for commu-

nal cultural work“: „Culture as con-structing the world, ascribing mea-ning, and a foundation of values inorder to integrate the individualand create a common (national)identity.“ (puk January/February2004, p.3)

Fuchs rightly concludes thatsuch understanding of culture (bythe way also responsible for errorsand wrong expectations in Germancultural policies after the 1990 uni-fication) cannot be the base for a li-vely development of culture in to-day’s society.

Culture continues to require

public support and funding. This isa constitutional mandate in mostGerman states. But by no meansdoes this entail a warranty for indi-vidual sponsorship of particularcultural sectors or institutions. Thefinancial abilities of a local council

decide. In Baden-Württemberg theadministrative jurisdiction (Verwal-tungsgerichtshof ) recently ruledthat a local council is not entitled tosubsidise a cultural institution wi-thout a legal budgetary basis. Ho-wever named, culture as an obliga-tory duty would not make a diffe-rence to a local authority. Maybe alocal council could achieve to bringculture up to the level of other pub-lic services. But this would mostcertainly aggravate the struggle forfunding within the culture budgets.

If culture wants to obtain publicfunding then it has to democrati-

cally legitimise its claim by provingits relevance for the individual asmuch as for the community to poli-tics. As comfortable as it may seemto rely on some sort of public obli-gation: The sheet anchor is illusive!In the light of ever progressing con-

strictions to the constitutionallywarranted local self-administra-tion, indispensable voluntary keyservices must be saved. Cultural po-licy is part of this. Other proposalsare not justified, they do not me-diate but polarise, and local culturalpolicies are brought to the edge.

The author is councillor for cultureat the German Association of

Cities and Towns ■

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By Bernd Meyer

CONTRA

Organisational models:The market and the state

“The little bit of cultural policy weneed, we can make ourselves!” Thatat least was how a leading Americanfilm industry representative at thelast WTO negotiations round inCancun responded to calls in (Old)Europe for a cultural policy embed-ded in a state framework. It is temp-ting simply to dismiss this as merelyexemplifying the way the spirit ofcapitalism in the USA has also im-pacted areas of life we would muchprefer to see shielded from thefierce winds of competition andbenchmarked against other criteriathan the unforgiving profit motive.But then the same film sector exe-cutive added a second sentence:people should trust in the indivi-dual’s freedom to decide in the cul-tural arena too, without wanting to

create protective state mechanisms.At this point, at the latest, it be-

comes obvious that support for li-beralised markets cannot alwayssimply be equated with maximisingprofit. Instead, completely differenttraditions may well have a role toplay when appealing either to mar-ket forces or the state as the mostapt economic framework to fosteran effective cultural policy.

Let us begin by considering themarket. One recalls that AdamSmith, the Scottish economist whofirst systematized economicthought around the key concept ofmarket forces, actually started outas a moral philosopher concernedwith the issue of how social har-mony might best be achieved. Oncethe notion of God or the king as agoverning principle in a ‘natural’ or-der had become obsolete, the aspi-ring middle-classes were concerned

to generate a social and political or-der allowing each individual to en-joy the benefits of a good life undertolerable social and political condi-tions. The economic historian Al-bert O. Hirschmann (The Passionsand the Interests, 1987) has shownwhat fervent hopes were placed inthe civilising effects to be achievedby harnessing destructive humanpassions, curbing and channellingthem into a socially acceptable ego-tism. And the economy seemed tobe the most suitable field for trans-forming those overweening emoti-ons, often enough leading to vio-lence and war, profitably givingthem a free rein – and in doing so,benefiting the entire community. InAdam Smith’s view, the market wasthe best place for the ‘invisiblehand’ to transform egotism, pro-perly understood, into a powerfulforce for the common good; it was

the place where the individual wasfree, yet it educated and civilisedthe market participants, awakenedthe good in humankind and createdpeace between nations.

However, from the very start,this view had its critics. Even AdamSmith himself evolved a theory ofpublic goods where the state nee-ded to ensure production and dis-tribution were carried out in linewith a form of distributive justice –and education was expressly inclu-ded in this category.

As the capitalist system spread,the criticisms became ever more bi-ting. Objections to capitalism didnot only come in the shape of a ra-dical critique from socialist andcommunist ranks, but were increa-singly heard from conservative cir-cles too, or were couched in termsof immanent liberal (self) criticismclaiming market forces destroy the

moral basis needed for the marketto function; the market was, as itwere, subject to a law inevitably lea-ding to conflict and war, since thiswas the only way to ensure an ade-quate supply of raw materials, secure market outlets or guaranteelabour markets.

Yet, as one discovers in accountsof the social state’s genesis, the warissue similarly figured prominentlyin justifying a need for social legis-lation. The core concerns here re-volved around, on the one hand, in-culcating a willingness to fight todefend one’s country and, on theother, fostering the loyalty of themasses as a counterweight to a bur-geoning labour movement. In otherwords, rather than these moves be-ing fuelled, if at all, by philanthropic

The State or Market Forces?Cultural Policy under Pressure to Prove its Case • By Max Fuchs

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Deutscher Text auf Seite 3

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The State or MarketForces?

concerns, or altruism, or compas-sion, they were engendered in theharsh realities of maintaining po-wer. The state was no longer solelyinterested in ensuring law and or-der, but was to guarantee individualwelfare, although admittedly at theprice of surrendering the indivi-dual’s rights to freedom.

In this way, we can discern thepolarities still prevalent today. Onthe one hand, a liberal rhetoric ad-vocating market forces as the gua-rantor of individual freedomagainst state interference, with themarket perceived as the ideal in-strument to achieve this aim and,on the other, a social state discourseemphasising the community’s re-sponsibility towards the individual.In addition to these theoretical po-sitions, a glance at the real world re-veals a broad spectrum of capitalistmodels – and this range of nationaltypes has become the subject ofcomparative capitalism studies,

where findings illustrate how far ca-pitalism can be at home with verydifferent types of political systems.Capitalism research has also foundthat however much the (neo)liberalrhetoric persistently calls for statereserve in the economic arena, nosustainable phase of economicgrowth has ever been initially trig-gered except via state investmentprogrammes.

Both of these theoretical andphilosophical notions of the state,society and the individual can befound in the Universal Declarationon Human Rights, intending toopen a “Third Way” between capita-lism and state socialism by integra-ting both the protection of the indi-vidual and justified social involve-ment.

Nonetheless, however contrarythese positions may be, they share asimilar fate in repeatedly being cal-led on to provide an ideological ba-sis to gloss over the cracks in theirpractical application – in the formerinstance, in the shape of systematiceconomic exploitation and, in thelatter, consolidation of political po-wer in the hands of the few, repres-sing the individual’s right to free-

dom in the name of some allegedlycommon good.

How do these thoughts affect cultural policy?

The reference to human rights as anormative basis for political agencyis highly relevant in the face of thegrowing internationalisation of na-tional cultural policies. In the area ofsocial policy, detailed comparativestudies looking at national policyconcepts have revealed how sub-stantially political strategies can beinfluenced by traditional nationalvalues, resulting in markedly diffe-rent solutions to quite comparableproblems (cf., F. X. Kaufmann, Vari-anten des Wohlfahrtsstaates, 2003).

A glance at current cultural po-licy shows the aims it sets out toachieve are indeed paradoxical: acultural policy of freedom, yet onerespecting communal values; a cul-tural life removed from state inter-ference, yet with the state not onlyoptimising the conditions for such alife, but also providing subsidiesand funds. We foster a rhetoric pro-claiming the autonomy of the arts,yet simultaneously want to main-

tain a system of art services whichwere once founded with a clear po-litical and social remit, designed tofulfil middle-class needs. In ourview, “art” in the emphatic senseembodied by German Weimar clas-sicism, combined with the spiritedfree expression of it, forms a keyfeature of human agency, if not oneabsolutely vital to our survival, andyet we still remain relatively blind tohow few in the general populationactually benefit from this blessingfor all of humanity. Admittedly, thewillingness and ability to approachart in this sophisticated way doesmake considerable demands: oneneeds time, at least partially esca-ping the pressures to provide forone’s own livelihood – in otherwords, able to afford a “purposeful-ness without purpose”, and the abi-lity and opportunity to create a dis-tance to one’s self (cf., Pierre Bour-dieu, Pascalian Meditations, 2001).Moreover, aside from the issue ofmaterial resources, whether andhow one can use the chances offe-red to engage in the practice of thearts in this way also depends onone’s general education. Culturalpolicy cannot have any impact wi-

thout genuine commitment to edu-cational policies.

These insights into the contra-dictions found in the daily round ofcultural policy are far from new, butit has previously been possible tocope with them rather well. Howe-ver, we may now have reached thepoint where we need to invest moreeffort into determining goals andcomparing them with their imple-mentation in the harsh light of rea-lity. Society needs art – undoubtedlytrue. But cultural policy itself hasthe inherent duty and responsibilityof making as many people as pos-sible aware of this, so that they maythen, in their turn, put pressure onthe political sphere to provide ade-quate cultural services. In any case,a laconic appeal to the “autonomyof art” or a call for dance, music andtheatre simply as a “must-be” is nolonger sufficient.

The author is Chairman of the German Cultural Council ■

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Deutscher Text auf Seite 4

The European Union is growing; itsenlargement is a settled matter.The first of May 2004 will see theaccession of ten new states. Polish,Hungarian and Czech citizens willthen hold the same passports asSpaniards, the French and Germans.The EU will both be welcoming 75million new citizens and growingcloser together. I am also confidentthe work of the European Conven-tion will soon bear fruit. The factthat the Union is about to adopt itsown Constitution is truly a historicstep towards a Europe of 25 that iscapable of action.

Against this background, the fol-lowing question arises time and

again: will the draft Constitution dojustice to the new Europe as a cultu-ral space? For my part, I firmly be-lieve the draft Constitution coversall important aspects. It calls uponthe European Union to ensure thatEurope’s cultural heritage and di-versity are safeguarded and enhan-ced, and through the EuropeanUnion Charter of FundamentalRights it clearly states our belief inour common values.

Europe needs this new Consti-tution. It will however only have acohesive function if we fill it withlife. More than anything else, Eu-rope therefore needs to intensivelysearch for answers to the crucialquestions of what it means to be aEuropean, and what Europe’s com-mon culture is.

In this discussion, the valuesthat are laid down in the Constitu-tion must play an important role. Inthe enlarged European Union, wemust ensure that the achievementsof the Enlightenment and the greatEuropean revolutions become morefirmly rooted in the European con-sciousness. Freedom, democracy,human rights and the rule of law - itmust be even more self-understoodthan in the past that these valuesare not merely the legacy of natio-nal philosophies. They belong to allof Europe. Moreover, Europe willonly be capable of meeting futurechallenges if it makes a continuouseffort to recall its own past. Ourcommon historical heritage is partof Europe’s culture. It has given riseto a mentality that connects us

across national boundaries. We areall called upon to keep this heritagealive. This also includes learning tospeak the languages of our Euro-pean neighbours. Multilingualismis a basic prerequisite for a lively ex-change in Europe.

Europe’s historical heritage alsoincludes difficult chapters: no con-tinent has witnessed as many de-structive wars as our own. Nowherehave individual nations wrought somuch havoc by attempting to domi-nate their neighbours and forcethem into line. It is therefore of pa-ramount importance that in Europetoday we no longer view our diffe-rences as defects. The diversity ofEuropean culture no longer standsin contradiction to the continent’spolitical unity. Quite the opposite istrue: today, it is precisely the diver-sity of ideas and different ways oflife that constitute Europe’s self-image. Tolerance of what is new anddifferent is part and parcel of Euro-pean identity.

Only when the citizens of Eu-rope have fully understood this factwill we achieve what is envisionedin the Constitution: a Europe that is„united in its diversity“. Culturalpolicy in particular must make animportant contribution to this. Howit can best do so still remains to beseen. I believe that, as far as its cul-tural policy is concerned, the enlar-ged European Union must above allfind the right balance between cen-tralization and regionalization.

In many areas of politics, theEuropean Union is placing an em-phasis on unification and centrali-zation. The creation of equal prere-quisites for all is one of its great re-cipes for success. The best exampleof this is its economic and mone-tary policy. It is at least questio-nable, however, if this model canalso be directly applied to the areaof culture. Europe, after all, doesnot see itself as a melting pot. FromPortugal to Estonia, people havetheir own ways of life and views ofthe world that have evolved overtime. These are precisely what makeup Europe’s rich diversity. That iswhy we must ask ourselves to whatextent cultural policy should becentralized.

At the same time, it is clear that

the principle of laissez-faire is notan option when it comes to Euro-pean cultural policy. It is part of theEuropean self-perception that artand culture should not, just like thewelfare state, be entirely left to thefree play of the forces of the market.Europe should also have room forthat which is not in itself economi-cally viable. Products of mass cul-ture should not crowd out differentforms of expression and ways of life.Otherwise we would lose the diver-sity that defines our identity as Eu-ropeans.

That is why we must provideadequate protection for art and cul-ture in Europe. Whether the culturebe Corsican or Basque, or the cul-ture of one of the ethnic minoritiesof the acceding countries: Europemust have room for all cultures.This is indispensable, in particularin view of the Union’s policies onfreedom of movement, immigra-tion, and enlargement. We musttherefore ask ourselves: Whichareas should the European Unionget involved in with a view to pro-tecting the cultural interests of itscitizens?

Europe will need to perform abalancing act: on the one hand, theEU should not acquire too muchcultural policy power. Where theprivate sector, cities, regions andmember states are closer to culturallife, subsidiarity promotes diversityand ensures that culture remainsclose to the citizens. On the otherhand, EU citizens expect the Unionto protect everyone’s cultural inte-rests. And it will soon face the taskof demonstrating to 450 millionpeople in 25 countries what theircommon ties are. Cultural policy inEurope must live up to these twoopposed expectations. It remains tobe seen how Europe will performthis delicate balancing act.

In the future, much will dependon discovering the optimum cultu-ral policy mixture for Europe. TheEU, member states, regions, citiesand the private sector will all haveto better coordinate their commit-ments in the area of culture. We allneed to focus on our own strengths.The better this coordination works,the more cultural policy will contri-bute to a successful enlargement. I

believe we have embarked upon apromising path.

Today, for example, the EU isproving its worth in the area of edu-cation policy. Both the Socrates ex-change programme at the univer-sity level and the Leonardo da Vinciprogramme at the vocational trai-ning level have turned out to besuccessful. Not only do they contri-bute to ensuring equal opportunityin the education system, but formany young people in the accedingcountries they are already todayproviding access to Europe. That iswhy we must ask ourselves now, be-fore enlargement, if the EU can andshould do even more in this area.

In the long term, the memberstates’ cultural relations policy,which is meeting the double chal-lenge of integration and enlarge-ment, remains indispensable. Aspart of this policy, the EU memberstates have created a remarkablenetwork of multilateral cultural rela-tions. I was able to see this for mys-elf most recently at the Bologna fol-low-up meeting in Berlin. The Bo-logna Process aims to create a com-mon European Higher EducationArea by 2010 that also includes theacceding countries. This process’unifying effect is not restricted tothe European level, either. The ex-change of knowledge across bordersis also required to ensure researchinstitutions’ and businesses’ abilityto compete. Here, again, the ques-tion arises: should we not furtherexpand the scope of our cultural po-licy to include this aspect as well?

Europe is also taking the lead infurther developing traditional cul-tural relations policy. Cooperationbetween European neighbours ison the rise. One example is the exhi-bition „The Centre of Europearound 1000 AD“, a joint Czech,Slovak, Polish, Hungarian and Ger-man project. Shown in Prague, Bra-tislava, Cracow, Budapest and Ber-lin, this exhibition traced Christia-nization in eastern Central Europe.Currently, possibilities are also pre-senting themselves for cultural in-stitutions from different countriesto move into joint facilities. Forexample, the Goethe-Institut in Pa-lermo shares a building with the In-stitut Français. In Kiev, it has moved

into a building with the BritishCouncil. The establishment of aFranco-German house is also beingplanned in Ramallah.

Last but not least, the partner-ships that are constantly being for-med between associations, schools,universities and cities all over Eu-rope are also indispensable. Forexample, my home city of Colognehas had an active town twinningwith Katowice in Poland since 1991.All over Europe, such contacts aremaking millions of people aware ofthe diversity and common ties ofour cultural space. This leads me toask myself: have cities and regionsalready assumed their proper rolein European cultural policy? Andhave we correctly assessed the valueof citizens’ initiatives, companies,NGOs and foundations?

The EU, member states, regionsand civil society are all indispen-sable. They will continue to shapecultural life in the European Unionafter enlargement. It is my hopethat, as they do so, they will developdiverse and innovative forms of co-operation. Furthermore, I hope wecan achieve a good consensus.Then we will come closer to rea-ching our common goal: a Europeof 25 that is united in its diversity.

Finally, let us not forget the ar-tists who constantly give new impe-tus to European integration. Theyknow best that culture constitutesEurope’s most stable foundation.That is why they remind us timeand again that cultural policy repre-sents a great opportunity for Eu-rope. In May 2003, the great Euro-pean György Konrád made the fol-lowing statement at the Federal For-eign Office: „What is special aboutEurope is that it has a great diversityof individuals, personal stories,views and achievements. It is preci-sely this uniqueness that must bestrengthened in European culturalpolicy.“

The author is Minister of State atthe Federal Foreign Office ■

Europe as a cultural union?By Minister of State Kerstin Müller

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ZUR DISKUSSION GESTELLT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 9

Der Staat, der Markt, die BürgerWer leistet die kulturelle Grundversorgung? • Von Olaf Zimmermann

Die Mehrzahl der Länder bekennensich in ihren Verfassungen zur Kulturund Kulturförderung. So ist in Art. 3(1) der Verfassung des FreistaatsBayern festgelegt „Bayern ist einRechts-, Kultur- und Sozialstaat“ undweiter steht in Art. 140 (1) „Kunstund Wissenschaft sind von Staatund Gemeinde zu fördern. (2) Sie ha-ben insbesondere Mittel zur Unter-stützung schöpferischer Künstler,Gelehrter oder Schriftsteller bereit-zustellen, die den Nachweis ernstkünstlerischer oder kultureller Tätig-keit erbringen. (3) Das kulturelle Le-ben und der Sport sind von Staat undGemeinden zu fördern.“ Nun gehörtdie Bayerische Verfassung sicherlichzu den weitgehendsten deutschenLandesverfassungen, was die Ver-pflichtung zur Kulturförderung be-trifft, doch wird in den anderen Ver-fassungen zumindest der Schutzoder, weicher formuliert, die Förde-rung des kulturellen Lebens festge-legt (siehe hierzu die nachstehendeTabelle).

Die Verfassungen der Länderschreiben damit das Erbe der

Feudalstaaten fort. Kulturförderungin Deutschland war zuerst Förde-rung durch die Kirche oder durchden Staat. Ein Blick zurück in frü-here Jahrhunderte belegt diesschnell, seien es mittelalterliche Kir-chenmalereien oder die Dichtkunstim Auftrag von Fürsten, seien es Ge-mäldesammlungen von Fürsten-häusern oder auch Theater, in de-nen nicht zuletzt der Fürst selbstteilweise Rollen übernahm. Berichteüber den weimarischen Hof derHerzogin Anna Amalia belegen diessehr anschaulich.

Es war also neben den Kirchen,die im Folgenden vernachlässigtwerden sollen, zuerst der Staat, derKünstler und damit auch das kultu-relle Leben förderte. Erst langsambildete sich mit der Entstehung desBürgertums ein Markt für Kunst, deres ermöglichte, dass ein Verlagswe-sen sowohl für Bücher als auch fürNoten entstand. Der Kunstmarkt imengeren Sinne, also die privatwirt-schaftliche Verwertung von WerkenBildender Kunst entstand erst im 19.Jahrhundert. Von der Vermarktungihrer Werke konnten jedoch nur dieallerwenigsten Künstler leben, dieMehrzahl musste sich in anderenBerufen verdingen.

Mit dem erstarkenden Bürger-tum wuchs auch das Interesse anKultur und wohlhabende Bürgerstifteten Kultureinrichtungen (z.B.Städelsches Kunstinstitut) odersammelten für Denkmäler. Geradedie Ende des 19. Jahrhunderts er-starkende Denkmalkultur ist einAusdruck des bürgerlichen Kulturle-bens. Die bürgerliche Kultur ist eineKultur in der Stadt. Kultureinrich-tungen, wie z.B. die vormalige Char-lottenburger Oper, heute DeutscheOper Berlin, sind ein Teil dieser bür-gerlichen städtischen Kultur, dieselbstbewusst eigene Kultureinrich-tungen schafft und sich damit vonder adeligen Kultur emanzipiert.

Die drei Säulen der Künstler-bzw. Kulturförderung – Markt, bür-gerschaftliches Engagement undStaat – prägen in Deutschland nachwie vor das kulturelle Leben.

Es gibt zum einen den Kultur-markt. Hier werden Bücher, Kunst-werke, Tonträger, Noten etc. gehan-delt. Bei den Kulturgütern handeltes sich um Waren; Waren besondererArt, wie immer wieder betont wird.Verlage, die Phonowirtschaft, aberauch die Filmwirtschaft verdeutli-chen immer wieder, dass sie nur mitHilfe der Massenartikel hochwertigeKunst auf den Markt bringen kön-

nen. Oder anders ausgedrückt: HeraLind finanziert Sarah Kirsch undHenning Mankell Durs Grünbein.Oder auch: dank Madonna kann indie Nachwuchsband investiert wer-den. Trotz dieser Mischkalkulationunterliegt der Kulturmarkt haupt-

sächlich ökonomischen Zwängen.Eine altruistische oder mäze-natische Kulturförderung findetnicht statt, eine kulturelle Grundver-sorgung wird nicht geleistet.

Zum zweiten sind die Stiftungenbürgerlichen Rechts sowie die Ver-eine zu nennen. Sie sind Ausdruckdes bürgerschaftlichen Engage-ments im Kulturbereich. Stiftungenwerden von Personen errichtet, dieihr Vermögen mit der Idee der Kul-turförderung verbinden wollen. DieMehrzahl der Kulturstiftungen siehtihre Aufgabe darin, zusätzliche Auf-gaben in der Kulturförderung zuübernehmen und nicht die kultu-relle Grundversorgung zu leisten.Gerade Kulturstiftungen wurden imZuge des Aufschwungs an Stiftungs-errichtungen seit dem Ende der 90erJahre häufig gegründet. Vereine ha-ben entweder als Fördervereine zumZiel, Kultureinrichtungen zu unter-stützen, wie z.B. Fördervereine vonMuseen, oder aber sie fördern direktKünstler, wie z.B. Kunstvereine bzw.sind im Bereich der Laienkultur ak-tiv. Generell kann gesagt werden,dass es sich bei der Kulturförderungdurch Bürgerschaftliches Engage-ment um das berühmte Sahnehäub-chen auf dem Kaffee handelt.

Zum dritten sind die Kulturein-richtungen in der Trägerschaft deröffentlichen Hand zu nennen. Siesind teilweise ein Ausfluss des Feu-dalismus, so ist es z.B. zugleich dieFreude und das Leid des FreistaatsThüringen, dass sich sein Gebiet ausvielen kleinen, besonders kunstsin-nigen Herzogtümern zusammen-setzt und es daher eine Vielzahl ankulturell bedeutsamen Bauwerkensowie relativ viele Kultureinrichtun-gen gibt. Zum anderen Teil wurdenKultureinrichtungen von selbstbe-wussten Bürgerstädten gegründet.Betrachtet man die verschiedenenBundesländer heute, so lässt sichdas Erbe vieler Jahrhunderte un-schwer erkennen. Die FreistaatenBayern und Sachsen zehren hin-sichtlich ihrer Kunstschätze von derSammellust ihrer feudalen Vorgän-gerstaaten und bekennen sich in derKulturförderung zur Verantwortungfür dieses Erbe. Das Land Nord-rhein-Westfalen als nach dem zwei-ten Weltkrieg neu zusammengesetz-tes Bundesland betreibt eine relativ

kleine Landeskulturförderung. Dergrößte Teil der Künstler- und Kultur-förderung wird hier von den Städtenund Gemeinden übernommen. Dieöffentlichen Hände sichern heute inallen Bundesländern die kulturelleGrundversorgung der Bevölkerung.

In der aktuellen Diskussion umdie Kulturfinanzierung kommt derWert der Kulturschätze und des kul-turellen Erbes viel zu kurz. DieWerke scheinen viel mehr sehr oftein „Klotz am Bein“ zu sein, da siebewahrt und gepflegt sein wollen.Die Kultureinrichtungen, besondersdie Theater, Opern und Museen, er-scheinen als unbeweglich. Es er-weist sich, dass Prinzipien der öf-fentlichen Hand wie ein starres Be-soldungssystem, das in erster Liniedas Älterwerden und nicht die Leis-tung belohnt, sowie eine Haushalts-politik in den engen Zwängen derKameralistik dazu führen, dass dieEinrichtungen immer mehr der öf-fentlichen Verwaltung ähneln. DasEigentliche, nämlich die Bewahrungund die Vermittlung von Kultur, tre-ten demgegenüber in den Hinter-grund.

Die Überführung von Kulturein-richtungen in Stiftungen erscheintdabei als ein geeigneter Ausweg, ausden engen Zwängen des Haushalts-rechts und der Beamtenbesoldungbzw. der Vergütung nach den Bun-des- und Landesangestelltentarifenzu entkommen. Abgesehen davon,dass der Wechsel der Rechtsformnoch lange keine neue Unterneh-menskultur bedeutet, ist die Fragezu stellen, welchem Bereich dieneuen hybriden Formen der Kultur-einrichtungen zuzuordnen sind.Nach ihrer Rechtsform gehören siedem Dritten Sektor an, sind also we-der Staat noch Markt. Sie haben aberoftmals eine große Staatsnähe, diesich u.a. auch darin niederschlägt,dass der zuständige Minister bzw.Senator in den Entscheidungsgre-mien der Stiftung vertreten ist unddirekten Einfluss auf die Ausrich-tung nehmen kann. Die Kulturein-richtung ist also nicht unabhängigwie eine Stiftung, sondern nach wievor eng mit Politik und Verwaltungdes Landes bzw. der Kommune ver-bunden. Die in Stiftungen über-führten Museen der Stadt Hamburgsind ein prägnantes Beispiel dieserhybriden Formen.

Entscheidender noch als eine so-zialwissenschaftliche Zuordnung zuden verschiedenen gesellschaftli-chen Sphären ist meines Erachtensjedoch, ob die Überführung vonKultureinrichtungen in Stiftungen

nicht zugleich einen ersten Schrittaus der Verantwortung des Staatesfür die kulturelle Grundversorgungbedeutet. Wie oben dargelegt, si-chert in Deutschland der Staat aushistorisch gewachsenen Gründeneine Grundversorgung an Kulturein-

richtungen, die zu relativ günstigenPreisen breiten Bevölkerungs-schichten zugänglich sind.

In allen Diskussionen um Libe-ralisierungen auf der europäischenbzw. im Rahmen der GATS-Ver-handlungen auf der internationalenEbene wird von Seiten der öffentli-chen Hand betont, dass dieseGrundversorgung von der Liberali-sierung ausgenommen werden soll.D.h. konkret, dass Kultureinrichtun-gen, sowie die Künstlerförderungeben nicht unter Wettbewerbsge-sichtspunkten betrachtet werdensoll. Im Vorfeld der GATS-Verhand-

lungen im September 2003 in Can-cún (Mexiko) wurde ganz besondersvon Seiten der deutschen Bundes-länder gefordert, den Kulturbereichin die Verhandlungen nicht einzube-ziehen. Der Deutsche Kulturrat hatdiese Forderung mit Nachdruck un-terstützt.

Auf der europäischen Ebenewurde im Oktober 2003 von der Eu-ropäischen Kommission der ersteKonsultationsprozess zu Dienstleis-tungen von allgemeinem Interesseabgeschlossen. Neben Dienstleis-tungen wie dem öffentlichen Perso-nennahverkehr, der Wasserversor-gung, stehen auch Kulturdienstleis-tungsunternehmen wie Theater,Opern, Museen, Konzerthäuser, Kul-turzentren u.ä., die in Trägerschaftder öffentlichen Hand oder die sichin privater Trägerschaft (Stiftung,Verein, GmbH) befinden und dievon der öffentlichen Hand subven-

tioniert werden, im Mittelpunkt desInteresse. Der Deutsche Kulturrathat sich im Rahmen dieses Konsul-tationsprozesses für eine Grundver-sorgung mit Kultureinrichtungenausgesprochen. Dabei versteht essich, dass der Begriff der Grundver-sorgung inhaltlich gefüllt und vordem Hintergrund der jeweiligen re-gionalen Gegebenheiten betrachtetwerden muss.

Das Plädoyer für eine Grundver-sorgung mit Kultur impliziert nochnicht, dass diese Grundversorgungausschließlich durch Kultureinrich-tungen in Trägerschaft der öffentli-chen Hand erbracht werden muss.Auch ist es nicht zwingend, dass derStaat Aufgaben in der Künstlerförde-rung übernimmt, wenn diese vonanderen ebenso gut, bisweilen sogarbesser, übernommen werden kön-nen.

Es sollte jedoch deutlich sein,dass ein Rückzug des Staates aus derdirekten Kulturfinanzierung – undsei es durch die Überführung vonKultureinrichtungen in eine privat-rechtliche Gesellschaftsform – einenersten Rückzug aus einer staatlichverantworteten Grundversorgungmit Kultur ist. Die Wahl einer neuenRechtsform für Kultureinrichtungenist mehr als die Ablösung der Kame-ralistik durch die kaufmännischeBuchführung. Es ist der Einstieg ineine neue Kulturpolitik, die nichtmehr vom Primat des Staates aus-geht. Die kulturpolitischen Implika-tionen der Umstrukturierung wer-den bei aller Begeisterung für mehrWirtschaftlichkeit in den Einrichtun-gen und die bessere Motivation vonMitarbeitern oftmals vergessen.Ebenfalls vergessen wird, dass pri-vate Kultureinrichtungen, wie Stif-tungen, sehr viel schneller in das Vi-sier der Liberalisierung, sei es auf dereuropäischen (Europäische Kom-mission) oder der internationalenEbene (Welthandelsorganisation),geraten können als es bei Kulturein-

richtungen in Trägerschaft der öf-fentlichen Hand ist. Es bleibt abzu-warten, ob die Europäische Kom-mission nicht in der Zukunft die För-derung von Kultureinrichtungen inder Rechtsform einer Stiftung alsWettbewerbsverzerrung gegenüberungeförderten privatwirtschaftli-chen Unternehmen betrachten wirdoder ob auf Dauer die Kultureinrich-tungsstiftungen aus dem GATS-Reg-lement herausgehalten werden kön-nen.

Als Aufgabe für die Zukunft gilt es,den Prozess der Veränderung stärkerunter kulturpolitischem Blickwinkelund weniger unter betriebswirt-schaftlichem zu betrachten.

Der Verfasser ist Geschäftsführer desDeutschen Kulturrates und Sachver-

ständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundes-

tags „Kultur in Deutschland“ ■

Kulturgut Film: Massenartikel und Filmkunst in einem? Ein Standbild aus dem Film„Was das Herz begehrt“ mit Diane Keaton, JackNicholson und Amanda Peet, der auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wurde. Foto: Internationale Filmfestspiele Berlin

Fürstenloge im Regensburger Stadttheater nach der Renovierung 2001: KommunaleKultureinrichtungen schaffen städtische Identität Foto: Peter Ferstl-Stadt Regensburg

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ZUR DISKUSSION GESTELLT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 10

Sisyphusarbeit: die Zusammenführung der KulturstiftungenVorläufiges Ende der Bund-Länder-Verhandlungen und Kündigung des KSL-Mitwirkungsabkommens • Von Günter Winands

Die Zusammenführung der Kulturstif-tung des Bundes (KSB) und der Kul-turstiftung der Länder (KSL) ist,nachdem der bayerische Minister-präsident bereits im Juni vergange-nen Jahres überraschend sein Vetoeingelegt hatte, im Dezember einweiteres Mal an der unnachgiebigenHaltung Bayerns gescheitert. AlsKonsequenz zieht der Bund sich nun-mehr im Interesse klarer Verantwort-lichkeiten aus der Mitfinanzierungder KSL zurück. Der nachfolgendeBeitrag erläutert, wie und woran imEinzelnen die „Stiftungshochzeit“ er-neut gescheitert ist. Außerdem wirddie Reaktion des Bundes und derLänder hierauf, sowie die absehbareweitere Entwicklung beleuchtet.

Vor über drei Jahren hatten Bundund Länder erste Gespräche

über eine gemeinsame Kulturstif-tung des Bundes und der Länderaufgenommen, und zwar zunächstauf der Ebene der Kulturminister. AbSommer 2001 wurden diese einge-bettet in die seinerzeit aufgekom-mene allgemeine Diskussion übereine Modernisierung der staatlichenOrdnung. Im Zuge der thematischenAusweitung entzogen auf Länder-seite die Staatskanzleien den Kultur-ministerien das Verhandlungsman-dat, richteten eine spezielle Arbeits-gruppe ein und setzten sich dabeivorrangig das Ziel, eine Entflech-tung der Kulturförderungen vonBund und Ländern (im Sinne einereinseitigen Reduzierung der Bun-deszuständigkeiten) anzustreben;zwischen der Erreichung diesesZiels und einer gemeinsamen Kul-turstiftung wurde ein Junktim her-gestellt. Auf Bundesebene blieb in-des die Kultur Verhandlungspartnerund konnte nach hartem Ringen am20.12.2001 einen beachtlichen Er-folg melden: das Einvernehmen derMinisterpräsidenten der Länder mitdem Bundeskanzler in der regelmä-ßig halbjährlich stattfindenden Re-gierungschefbesprechung, dass(laut Protokoll) „der Bund eine Stif-tung zur Förderung der Kultur imRahmen seiner verfassungsmäßigenKompetenzen gründen kann.“

Weitere zwei Jahre intensiverVerhandlungen der Kulturbeauf-tragten der Bundesregierung mitden Chefs der Staatskanzleien folg-ten; parallel wurde die Kulturstif-tung des Bundes mit Sitz in Halle ander Saale errichtet und deren jährli-che Finanzausstattung schrittweiseauf nunmehr rund 38 Mio.Euro auf-gestockt. Aus Bundessicht zeitigtendie Gespräche zunehmend weitereFortschritte: • die Übereinstimmung, statt einer

breit angelegten „Entflechtung“den Schwerpunkt eher auf eine„Systematisierung“ der Kulturför-derung zu verlegen;

• die Einsicht der Länder, den ur-sprünglichen Plan eines Ausstiegsaus ihrer Minderheitsbeteiligungan der Stiftung Preußischer Kul-turbesitz fallen zu lassen;

• die Klarstellung einer Finanzie-rungskompetenz des Bundes un-ter anderem für die Stätten desWeltkulturerbes, die kulturellen„Leuchttürme“ in den neuen Län-dern und die „Repräsentation desGesamtstaates einschließlich dergesamtstaatlichen Darstellungund Dokumentation der deut-schen Geschichte“;

• und schließlich die ausdrücklicheAkzeptanz des status quo der Kul-turförderungen des Bundes in derMinisterpräsidentenkonferenzam 26.06.2003.

Die Sisyphusarbeit mündete imJuni 2003 in ein sog. Eckpunktepa-pier. Dieses sieht eine pragmatische

Verständigung vor, bestehende Kul-turförderungen des Bundes nicht inFrage zu stellen und für künftige einKonsultationsverfahren einzufüh-ren, wobei ein Katalog unstreitigerBundeszuständigkeiten aufgelistetwird. Außerdem werden Grundsätzefür eine Zusammenführung der bei-den Kulturstiftungen KSB und KSLfestgeschrieben. Das Papier, und da-mit die Fusion der Stiftungen, solltebeim turnusmäßigen Gespräch derRegierungschefs von Bund und Län-dern am 26.06.2003 beschlossenwerden. Nachdem am Vormittag je-nes Tages die Ministerpräsidenten-konferenz dem Kompromiss zuge-stimmt hatte, stand einer Einigungeigentlich nichts mehr im Wege.Zwar hatten die Ministerpräsiden-ten noch einen Punkt, nämlich dieFrage der Abstimmungsquoren imneuen Konsultationsverfahren undin der gemeinsamen Stiftung, fürdas Gespräch mit dem Bundeskanz-ler offen gelassen. Hierzu gab es je-doch eine Vorabsprache, die vonden Länder-Verhandlungsführern,

den Chefs der Staatskanzleien vonBaden-Württemberg (StaatssekretärBöhmler) und Bremen (StaatsratProf. Hoffmann), auch mit den an-deren Staatskanzleien abgestimmtworden war. Zur Überraschung allerBeteiligten hielt sich allerdings einernicht hieran; der bayerische Minis-terpräsident Stoiber verlangte viel-mehr mit Nachdruck ein Vetorechtjedes einzelnen Landes in Kompe-tenzfragen und brachte damit – kurzvor dem Gipfelerfolg – die Sache be-kanntlich zum Scheitern.

Am bayerischen Widerstand istnunmehr im Dezember 2003 auchein zweiter Anlauf gescheitert. DieVerhandlungen waren im Herbstaufgrund eines Kompromissvor-schlags der Länder vom 20.10.2003weitergeführt worden. Der Vor-schlag (Zustimmung von 14 Län-dern bei umstrittenen Förderungen,wobei jedes Land das Recht zur Be-anstandung und damit Infragestel-lung einer Bundeskompetenz habensollte) war für den Bund freilichnicht akzeptabel, da er keine rele-vante Änderung der bayerischen Po-sition erkennen ließ. Kulturstaats-ministerin Weiss wies den Vorschlagdaher zurück, erarbeitete aber mitden Verhandlungsführern der Län-

der einen neuerlichen Kompromiss-vorschlag. Dieser lag am 28.11.2003vor und hätte aus Bundessicht, ob-wohl äußerst länderfreundlich, mit-getragen werden können. Darin warvorgesehen, dass in den Fällen, indenen die Länder bei künftigen För-derungen des Bundes Zweifel an derBundeskompetenz haben, die För-derung dann unterbleiben sollte,wenn ein Drittel der Länder, alsosechs, widersprächen. Der Bundhatte sich hiermit erneut auf dieLänder zu bewegt. Andererseitslehnte er jetzt die ernsthaft einzigvon Bayern erhobene und im Vor-feld des Juni-Spitzengesprächs nurunter Erfolgsdruck in letzter Minutewiderwillig zugestandene Forde-rung ab, einseitig so genannte Fi-nanzierungsgrundsätze für Bundes-förderungen vertraglich festzu-schreiben. Solche Grundsätze sind,wie sich nicht zuletzt aus einem vor-gelegten KMK-Vorschlag ergab, völ-lig unpraktikabel und würden zu un-zumutbaren Beschränkungen desBundes führen.

Die Länder-Verhandlungsführerhatten erklärt, insbesondere mit derbayerischen Staatskanzlei auszulo-ten, ob der zwischen den Verhand-lungspartnern einvernehmlicheVorschlag länderseitig akzeptiertwürde. Daraufhin kam es zu einerletzten Verhandlungsrunde der Bun-deskulturbeauftragten mit den bei-den Länder-Verhandlungsführern,an der auch der Amtschef der baye-rischen Staatskanzlei, sowie derHaushaltsdirektor des Bundesfi-nanzministeriums teilnahmen. Bay-ern war in der Besprechung im Bun-deskanzleramt am 12.12.2003 nichtbereit, dem gefundenen Kompro-miss zuzustimmen und hielt insbe-sondere an der Forderung nach Fi-nanzierungsgrundsätzen fest. Ange-sichts der ablehnenden HaltungBayerns baten daraufhin die Länder,den Punkt „Stiftungsfusion“ von derTagesordnung der Regierungschef-besprechung am 18.12.2003 abzu-setzen. Alle anderen 15 Länder wa-ren wiederum nicht in der Lage ge-wesen, auf Bayern einzuwirken, wasdurchaus die eine oder andere kriti-sche Frage auch nach deren Engage-ment für eine Zusammenführungder Stiftungen aufwirft.

Obgleich nunmehr das Vorha-

ben einer Fusion der Kulturstiftun-gen für die nächste Zeit ad acta ge-legt ist, befürwortet der Bund dieseweiterhin in einer langfristigen Per-spektive. „Die Tür zur gemeinsamenStiftung bleibt verschlossen, derSchlüssel aber liegt in München“, soKulturstaatsministerin Weiss in ihrerersten öffentlichen Reaktion. AlsKonsequenz des vorläufigen Schei-terns der Fusion wird der Bund sichauf seine Stiftung konzentrieren undhat das Abkommen über die Mitwir-kung des Bundes an der KSL vom04.06.1987 fristgerecht zum31.12.2005 gekündigt. In ihrem Kün-digungsschreiben an die Minister-präsidenten der Länder hat Kultur-staatsministerin Weiss ausgeführt,der Bund sehe sich hierzu nach demergebnislosen Ende der Verhandlun-gen „im Interesse einer klaren Ab-grenzung der Förderzuständigkei-ten im Kulturbereich veranlasst“. Siehat damit die immer wieder länder-seitig zu hörende Grundforderungnach klaren Verantwortlichkeitenaufgegriffen; gleichzeitig sieht siedamit aber auch eine Voraussetzunggeschaffen, zu einem späteren Zeit-punkt beide Stiftungen nahtlos zu-sammenzuführen.

Für die bisher aus Haushaltsmit-teln der Bundeskulturbeauftragtenüber die KSL geförderten Einrich-tungen und Projekte ändert sich inden nächsten zwei Jahren nichts, ab2006 gehen sie dann grundsätzlichwieder – wie bis zur Auslagerung andie KSL im Jahre 1987 – in die direktestaatliche Förderverantwortungüber. Eine Ausnahme ist bisher fürdie bundesweiten Kulturförderfonds(Fonds Darstellende Künste e.V., Stif-tung Kunstfonds, Fonds Soziokulture.V., Deutscher Literaturfonds e.V.)und die documenta vorgesehen. DieKSB hat im vergangenen Dezembereinen Grundsatzbeschluss gefasst,diese Förderungen zu übernehmenund dabei aus ihrem Stiftungsetatdie Fördermittel zu verdoppeln, fürdie vier Fonds auf jährlich 4 Mio.Euro und die documenta 12 auf ins-gesamt 2,5 Mio. Euro in den Jahren2004 bis 2008. Derzeit laufen Gesprä-che mit der KSL, im Interesse der ge-förderten Künstler und Kulturein-richtungen vorzeitig ihre bisherigeFörderzuständigkeit für die Fondsaufzugeben. Hierzu wird ein baldigerStiftungsratsbeschluss der KSL er-wartet.

Die Ministerpräsidenten derLänder haben am 18.12.2003 „mitBedauern zur Kenntnis“ genom-men, dass die Verhandlungen zurSystematisierung und Stiftungsfu-sion „nunmehr ohne Ergebnis ge-blieben sind“. Sie kündigten an, dieFrage der verfassungsrechtlichenVerteilung der Zuständigkeiten vonBund und Ländern im Kulturbereichin der Gemeinsamen Kommissionvon Bundestag und Bundesrat zurModernisierung der bundesstaatli-chen Ordnung weiter behandeln zuwollen. Damit soll aus ihrer Sicht„für die Kulturförderung inDeutschland doch noch eine ver-lässliche verfassungsrechtlicheGrundlage geschaffen und für dieFördertätigkeit der Bundeskultur-stiftung ein klarer Rahmen gezogenwerden, der ggf. zu einem späterenZeitpunkt ein Zusammengehen derbeiden Stiftungen erlaubt“. Schließ-lich, so Beschluss der Ministerpräsi-denten, „kommt es darauf an, dieKulturstiftung der Länder unter ver-änderten Rahmenbedingungen neuzu positionieren“. Dies gelte auchmit Bezug auf die KSB, die sich ent-sprechend dem Beschluss der Regie-rungschefs von Bund und Ländernvom 20.12.2001 „zukünftig strikt aufdie unstreitigen Bundeskompeten-

zen beschränken“ müsse. Die Kul-tusministerkonferenz solle parallelzu den Arbeiten der gemeinsamenVerfassungskommission zusammenmit der KSL entsprechende Vor-schläge entwickeln.

Ob die Länder die von ihnen un-terfinanzierte KSL tatsächlich künf-tig besser dotieren werden, bleibtabzuwarten. Angesichts der Zurück-haltung der letzten Jahre und einesGrundsatzbeschlusses der Länder-Finanzministerkonferenz vom06.12.2001, die Sachausgaben beiüberregional finanzierten Einrich-tungen möglichst zu „überrollen“,also nicht zu erhöhen, ist Skepsisangesagt. Dies würde freilich nichtnur unverdient der KSL schaden, eswürde vor allem dem stets hochge-haltenen Anspruch der Länder, auchfür länderübergreifende Kulturför-derungen zuständig zu sein, kaumgerecht.

Wichtig wäre es auch, wenn dieKSL sich der ostdeutschen „StiftungKulturfonds“ mit den Künstlerhäu-sern Wiepersdorf und Ahrenshoopannehmen dürfte. Deren Fortexis-tenz ist durch den angekündigtenRückzug der Länder Sachsen-Anhaltund Thüringen massiv bedroht. AufInitiative von KulturstaatsministerinWeiss war zur Rettung der Künstler-häuser vorgesehen gewesen, auchdie Stiftung Kulturfonds in die ge-meinsame Bund-Länder-Stiftung zuintegrieren. Da diese eine reine Län-derstiftung ohne jede Bundesbetei-ligung ist, liegt nach dem Scheiternder Stiftungsfusion hier die Verant-wortung wieder allein bei den Län-dern.

Aus Bundessicht bedarf es ab-schließend einer Klarstellung undeiner Feststellung. Der Bund hat inder besagten Regierungschefbespre-chung am 20.12.2001 zugesichert,darauf hinzuwirken, dass „solange“die Bund-Länder-Gespräche übereine Entflechtung bzw. Systemati-sierung der Förderkompetenzen an-dauern, die KSB nur in den zwi-schen Bund und Ländern unstreiti-gen Kompetenzbereichen des Bun-des tätig wird. Da die Gesprächeauch aus Ländersicht beendet sind,ist diese Selbstbeschränkung entfal-len, d.h. die KSB kann entsprechenddem Rechtsstandpunkt des Bundesdort fördern, wo eine gesamtstaatli-che Bedeutung eines Kulturvorha-bens oder einer Kultureinrichtungzu bejahen ist. Zweitens werden dieLänder, wenn sie sich nicht in Wi-derspruch zu vorangegangenemTun setzen wollen, bei den bevorste-henden Verhandlungen in der ge-meinsamen Verfassungskommis-sion den status quo der Kulturförde-rungen des Bundes nicht in Zweifelziehen können. Und für die ab-strakte verfassungsrechtliche Ab-grenzung der Kulturzuständigkeitendes Bundes haben die Ministerprä-sidenten mit der insoweit vorbe-haltslosen Annahme des Eckpunk-tepapiers selbst eine Vorarbeit mitgeleistet, von der sie sich ebenfallskaum werden distanzieren können.Der zurückliegende dreijährige Ver-handlungsmarathon war somitdoch nicht ganz vergeblich.

Der Verfasser leitet die Gruppe„Grundsatzfragen der Kultur, Recht-liche Rahmenbedingungen der Kul-

tur, Zentrale Angelegenheiten“ beider Beauftragten der Bundesregie-

rung für Kultur und Medien undwar maßgeblich an den Bund-Län-

der-Verhandlungen beteiligt. Dervorliegende Artikel schreibt dessen

Beitrag „(Still-)Stand der Systemati-sierung der Kulturförderung“, poli-

tik und kultur, Ausgabe Sept./Okt.2003, S. 6 fort. ■

Zwei Stiftungen, ein Gebäude: die Kulturstiftung der Länder und die Kulturstiftung desBundes am Lützowplatz in Berlin Foto: puk

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ZUR DISKUSSION GESTELLT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 12

Kultur Bildung

Baden-WürttembergArt. 86 Die Landschaft sowie die Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Natur genießen öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Ge-meinden.

Art. 11 Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage dasRecht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung.Art. 22 Die Erwachsenenbildung ist vom Staat, den Gemeinden und den Landkreisen zu fördern.

Mecklenburg-Vorpommern

BayernArt. 3 (1) Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl. (2) Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung.Art. 108 Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Art. 140 (1) Kunst und Wissenschaft sind von Staat und Gemeinde zu fördern.(2) Sie haben besonders Mittel zur Unterstützung schöpferischer Künstler, Gelehrter und Schriftsteller bereitzustellen, die den Nachweis ernster künstleri-scher und kultureller Tätigkeit erbringen.(3) Das kulturelle Leben und der Sport sind von Staat und Gemeinden zu fördern.Art. 141 (2) Staat, Gemeinden und Körperschaften des öffentlichen Rechts haben die Aufgabe,

die Denkmäler der Kunst, der Geschichte, der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen,herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und der Geschichte möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zu zuführen,die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes ins Ausland zu verhüten.

Art. 162 Das geistige Eigentum, das Recht der Urheber, der Erfinder und Künstler genießen den Schutz und die Obsorge des Staates.

Art. 111a (1) Die Freiheit des Rundfunks wird gewährleistet. (...) Er trägt zu Bildung und Unter-haltung bei.....Art. 128 (1) Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch darauf, eine seinen erkennbaren Fähigkei-ten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten. Art. 133 (1) Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Ein-richtung wirken Staat und Gemeinden zusammen. Auch die anerkannten Religionsgemein-schaften und weltanschaulichen Gemeinschaften sind Bildungsträger.Art. 139 Die Erwachsenenbildung ist durch Volkshochschulen und sonstige mit öffentlichenMitteln unterstützte Einrichtungen zu fördern.

BerlinArt. 20 (2) Das Land schützt und fördert das kulturelle Leben.Art. 21 Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. ...

Art. 20 (1) Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Das Land fördert nach Maßgabe der Ge-setze den Zugang eines jeden Menschen zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen, insbe-sondere ist die berufliche Erstausbildung zu fördern..

BrandenburgArt. 2 (1) Brandenburg ist ein freiheitliches, rechtsstaatliches, soziales, dem Frieden und der Gerechtigkeit, dem Schutz der natürlichen Umwelt und derKultur verpflichtetes demokratisches Land, welches die Zusammenarbeit mit anderen Völkern, insbesondere mit den polnischen Nachbarn, anstrebt.Art. 25 (1) Das Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes wirdgewährleistet. Das Land, die Gemeinden und die Gemeindeverbände fördern die Verwirklichung dieses Rechts, insbesondere die kulturelle Eigenständig-keit und wirksame politische Mitgestaltung des sorbischen Volkes. (3) Die Sorben haben das Recht auf Bewahrung und Förderung der sorbischen Sprache und Kultur im öffentlichen Leben und ihre Vermittlung in Schuleund Kindertagesstätten.Art. 34 (1) Die Kunst ist frei. Sie bedarf der öffentlichen Förderung, insbesondere durch Unterstützung der Künstler.(2) Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert. Kunstwerke und Denkmale der Kultur ste-hen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände.(3) Das Land, die Gemeinden und Gemeindeverbände unterstützen die Teilnahme am kulturellen Leben und ermöglichen den Zugang zu Kulturgütern.

Art 29 (1) Jeder hat das Recht auf Bildung. Art. 33 (1) Die Weiterbildung von Erwachsenen ist durch das Land, die Gemeinden und dieGemeindeverbände zu fördern. Das Recht auf Errichtung von Weiterbildungseinrichtungen infreier Trägerschaft ist gewährleistet.(2) Jeder hat das Recht auf Freistellung zur beruflichen, kulturellen oder politischen Weiterbil-dung. Das Nähere regelt ein Gesetz.

BremenArt. 2 (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben das Recht auf gleiche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten. Art. 11 (1) Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.(2) Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.(3) Der Staat schützt und fördert das kulturelle Leben.Art. 26 Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im wesentlichen folgende Aufgaben: (...)4. Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker.

Art. 27 Jeder hat nach Maßgabe seiner Begabung das gleiche Recht auf Bildung.Art. 35 Allen Erwachsenen ist durch öffentliche Einrichtungen die Möglichkeit zur Weiterbil-dung zu geben.

HamburgWeder zu Kultur noch zu Bildung werden in der Hamburgischen Verfassung expilzite Aussagen getroffen. (Die Redaktion)

HessenArt. 10 Niemand darf in seinem wissenschaftlichen oder künstlerischen Schaffen und in der Verbreitung seiner Werke gehindert werden.Art. 46 Die Rechte der Urheber, Erfinder und Künstler genießen den Schutz des Staates. Art 62 Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und Kultur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden. Siewachen im Rahmen besonderer Gesetze über die künstlerische Gestaltung beim Wiederaufbau der deutschen Städte, Dörfer und Siedlungen.

Verankerung von Kultur in den Landesverfassungen

Art. 7 (1) Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.Art. 16 (1) Land, Gemeinden und Kreise schützen und fördern Kultur, Sport, Kunst und Wissenschaft. Dabei werden die besonderen Belange der beidenLandesteile Mecklenburg und Vorpommern berücksichtigt. (2) Das Land schützt und fördert die niederdeutsche Sprache.Art. 18 Die kulturelle Eigenständigkeit ethnischer und nationaler Minderheiten und Volksgruppen von Bürgern deutscher Staatsangehörigkeit steht unterdem besonderen Schutz des Landes.Art. 75 Zur Pflege und Förderung insbesondere geschichtlicher, kultureller und landschaftlicher Besonderheiten können durch Gesetz Landschaftsver-bände mit dem Recht der Selbstverwaltung errichtet werden.

Art. 8 Jeder hat nach seiner Begabung das Recht auf freien Zugang zu allen öffentlichen Bil-dungseinrichtungen, unabhängig von seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie seinerweltanschaulichen oder politischen Überzeugung. Das Nähere regelt das Gesetz.Art. 16 (4) Land, Gemeinden und Kreise fördern Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenen-bildung.

NiedersachsenArt. 6 Das Land, die Gemeinden und die Landkreise schützen und fördern Kunst, Kultur und Sport.Art. 72 (1) Die kulturellen und historischen Belange der ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe sind durch Ge-setzgebung und Verwaltung zu wahren und zu fördern.

Art. 4 Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung.

Nordrhein-WestfalenArt. 18 (1) Kultur, Kunst und Wissenschaft sind durch Land und Gemeinden zu pflegen und zu fördern.(2) Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Kultur, die Landschaft und die Naturdenkmale stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemein-den und der Gemeindeverbände.

Art. 8 (1) Jedes Kind hat Anspruch auf Erziehung und Bildung. (...) Die staatliche Gemeinschafthat Sorge zu tragen, dass das Schulwesen den kulturellen und sozialen Bedürfnissen des Lan-des entspricht.Art. 17 Die Erwachsenenbildung ist zu fördern. Als Träger von Erwachsenenbildungseinrich-tungen werden neben Stadt, Gemeinden und Gemeindeverbänden auch andere Träger, wie dieKirchen und freien Vereinigungen, anerkannt.

Rheinland-PfalzArt. 9 Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Art. 40 (1) Das künstlerische und kulturelle Schaffen ist vom Staate zu fördern. (2) Die Erzeugnisse der geistigen Arbeit, die Rechte der Urheber, Erfinder und Künstler genießen den Schutz und die Fürsorge des Staates. (3) Der Staat nimmt die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft in seine Obhut und Pflege. Die Teilnahme an Kulturgü-tern des Lebens ist dem gesamten Volk zu ermöglichen.Art. 31 Jedem jungen Menschen soll zu einer seiner Begabung entsprechenden Ausbildung verholfen werden.

SaarlandArt. 5 Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Art. 34 (1) Kulturelles Schaffen genießt die Förderung des Staates. (2) Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates. Die Teilnahme an denKulturgütern ist allen Schichten des Volkes zu ermöglichen.

Art. 32 Staat und Gemeinde fördern fas Volksbildungswesen, einschließlich der Volksbüche-reien und Volkshochschulen.

Weiter auf Seite 13

Art. 1 Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein demokratischer, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen undder Kultur verpflichteter Rechtsstaat.Art. 5 (2) Das Land gewährleistet und schützt das Recht nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Iden-tität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung.Art. 6 (1) Die im Land lebenden Bürger sorbischer Volkszugehörigkeit sind gleichberechtigter Teil des Staatsvolks. Das Land gewährleistet und schützt dasRecht auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege und Entwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung, insbesondere durch Schu-len, vorschulische und kulturelle Einrichtungen.Art. 11 (1) Das Land fördert das kulturelle, das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen, die sportliche Betätigung sowie den Austausch auf diesenGebieten.(2) Die Teilnahme an der Kultur, ihrer Vielfalt und am Sport ist dem gesamten Volk zu ermöglichen. Zu diesem Zweck werden öffentlich zugängliche Mu-seen, Bibliotheken, Archive, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten, musikalische und weitere kulturelle Einrichtungen sowie allgemein zugängliche Uni-versitäten, Hochschulen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen unterhalten.(3) Denkmale und andere Kulturgüter stehen unter dem Schutz und der Pflege des Landes. Für ihr Verbleiben in Sachsen setzt sich das Land ein. Art. 21 Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.

Art. 29 (2) Alle Bürger haben das Recht auf gleichen Zugang zu den öffentlichen Bildungsein-richtungen. Art. 108 (1) Die Erwachsenenbildung ist zu fördern.(2) Einrichtungen der Erwachsenenbildung können außer durch den Freistaat und die Trägerder Selbstverwaltung auch durch freie Träger unterhalten werden.

Sachsen

Page 12: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

Die kulturelle Dimension der EU-ErweiterungSieben Vorschläge, sich der Aufgabe Europa zu nähern • Von Christina Weiss

Wir haben keine bessere Antwortauf das mörderische 20. Jahrhundertals die europäische Vereinigung. Esgeht um den Versuch, die Zukunftgemeinsam, friedlich und in gegen-seitiger Achtung zu gestalten. In derwestlichen Hälfte Europas ist dies inden letzten fünf Jahrzehnten gelun-gen. Jetzt müssen wir die Erfolgsge-schichte des europäischen Vereini-gungsprozesses im Osten fortschrei-ben. Das ist unsere Aufgabe.

Mit Förderprogrammen allein istdas nicht zu leisten. Wir brau-

chen einen Wahrnehmungssprung,einen Mentalitätswandel, wir brau-chen ein verändertes, ein erweiter-tes kulturelles Bewußtsein. Dann –und nur dann – werden wir die He-rausforderungen und Chancen desneuen Europa begreifen, sie anneh-men und zu unserem gemeinsamenNutzen gestalten können.

Ohne Arbeit an der wechselseiti-gen Verständigung kann dies nichtgelingen. Unsere Nachbarn sind unsunbekannt geworden. Wir wissenwenig über sie; wir sprechen ihreSprachen nicht. Ein halbes Jahrhun-dert Nachkriegsgeschichte hat eingroßes, unbekanntes Niemandslandhinterlassen.

Zu unterschiedlich waren dieprägenden Erfahrungen, die materi-ellen und sozialen Lebensbedingun-gen, zu ungleich verteilt das Maß anGlück und Leid, zu unterschiedlich,oft konträr, die utopischen Hoffnun-gen und Träume. Ängste und Vorur-teile, aus Unkenntnis, Arroganz oderSchuldgefühlen entstanden, haltensich hartnäckig – eine Folge jahr-zehntelanger Entfremdung durchden Eisernen Vorhang, der in unse-ren Köpfen teilweise noch weiterexistiert.

Auf beiden Seiten wissen nurnoch wenige, was uns einst verbun-den hat: Dabei muss man kein His-toriker sein, um in Polen oder in denbaltischen Ländern, in der Ukraineoder in Ungarn, die Spuren einesuntergegangenen Kulturraums zuentdecken, der einmal Frankfurt amMain und Tallinn (Reval), Berlin undLwiw (Lemberg) umschloss.

Denken wir an den künstleri-schen Aufbruch zu Beginn des 20.Jahrhunderts, der ganz Europa er-fasste, auch die östlichen Periphe-rien.

Dass der Dadaismus nicht in Zü-rich, sondern in Jassy (Rumänien)geboren wurde.

Dass die tschechischen Kubo-Futuristen um Bohumil Kubista ihreWerke in Herwarth Waldens Sturm-Galerin Berlin ausstellten, gemein-sam mit Bildern von Pechstein,Kirchner und Heckel und Arbeitenihrer Pariser Mentoren: Picasso, Bra-que und Gris.

Was die junge Generation zwi-schen Paris und Belgrad miteinan-der verband, war die Ahnung des

Zusammenbruchs der alten Ord-nung, die im ”Stahlgewitter” derSchlachtfelder des Ersten Weltkrie-ges zerstob. Die Suche nach neuenFormen, Klängen, Wörtern war un-trennbar mit dem Traum von einerneuen und gerechteren Welt ver-knüpft.

Vielleicht, so die Hoffnung desbritisch-ungarischen HistorikersGeorge Schöpflin, kommt die„nächste kulturelle Vision“ sogar ausMitteleuropa. Manche Anzeichensprechen dafür: Die Polen, Ungarn,Slowaken, Tschechen, kehren nachEuropa zurück, das sie – ihrem eige-nen Selbstverständnis nach – nieverlassen haben. Und sie entdeckenes neu.

Europa ist eine Herausforderungfür uns alle und unser aller Aufgabe.Sieben Vorschläge möchte ich ma-chen, um uns der Aufgabe „Europa“zu nähern:

1. Der interkulturelle Dialog, wieer bereits auf so vielen Ebenen tag-täglich realisiert wird, braucht dieUnterstützung einer weit in die Zu-kunft denkenden Politik. Denn Kul-tur ist ein Langzeitprojekt. Nicht derEuro, sondern das Sprechen und Zu-hören, Fragen und Erklären sind dasLebenselement unserer europäi-schen Gemeinschaft.

Wir brauchen ein anderes „Mar-keting” für die europäische Idee, da-mit sie ausstrahlen und wirken kann– von der mehrsprachigen Kultur-zeitschrift – wie zum Beispiel dieZeitschrift „Kafka”, die, vom Goethe-Institut finanziert, in vier Sprach-ausgaben in den mitteleuropäi-schen Ländern erscheint – bis zurErkundung der Musikszene in denOstsee-Regionen – von Szcze-cin/Stettin – bis St. Petersburg mitdem ”Motorschiff Stubnitz”.

2. „Durch die Mannigfaltigkeit

der Sprachen wächst unmittelbarfür uns der Reichtum der Welt unddie Mannigfaltigkeit dessen, was wirin ihr erkennen”, sagte Wilhelm vonHumboldt. Die erweiterte sprachli-che Vielfalt Europas wird die Men-schen und ihre Sprachen berei-chern. Lebenslanges Lernen wirdselbstverständlich werden. Länder-übergreifende Projekte und Städte-partnerschaften werden das Lernenerleichtern. Übersetzungen müssenangeregt und gefördert werden, da-mit wir uns nicht um den Reichtumgroßer Literatur in kleinen Sprachenbringen.

Die Slawistik, aber auch die Bal-tistik und Finno-Ugristik an denUniversitäten muß erhalten undausgebaut, die Dolmetscher- undÜbersetzerausbildung in diesenSprachen intensiviert und verbrei-tert werden.

3. Dem Studium der ost-, südost-und nordosteuropäischen Ge-schichte, Kultur, Politik, Ideenge-schichte etc. in Forschung und Lehrekommt im zusammenwachsendenEuropa eine besondere Bedeutungzu. Nach der Öffnung der Archive inOsteuropa steht die Forschung voreiner gewaltigen Aufgabe: die Lü-cken in der Geschichtsschreibungdes 20. Jahrhunderts zu füllen.

4. Ute Frevert hat in einem Bei-trag zur Diskussion um das geplante„Zentrum gegen Vertreibung” ge-meinsame Orte der Erinnerung imneuen Europa angeregt. Dieser Ge-danke ist nicht neu. Doch er ver-dient die größte Aufmerksamkeit.Noch ist es nicht selbstverständlich,dass Deutsche und Tschechen, Li-tauer und Polen, Rumänen und Un-garn sich ihrer Geschichte gemein-sam stellen. Das Schlesische Mu-seum in Görlitz ist hierin wegwei-send. Uns geht es beim Zentrum ge-gen Vertreibung nicht um einen Ort,sondern um einen Prozess.

Einen Prozess der Verständi-gung, der Forschung und der Aufar-beitung. Ich plane deshalb ein inter-nationales Netzwerk zu etablieren,in dem Wissenschaftler, Politikerund Betroffene miteinander in Kon-takt treten können.

5. Europa kann nur „von unten“zusammenwachsen: bürgerschaftli-ches Engagement in den Städtenund Regionen muss angeregt undgefördert werden. Von der Einrich-tung eines Heimatmuseums bis zurRenovierung ganzer Straßenzüge si-chern diese Initiativen nicht nur diekulturelle Substanz, sondern schaf-fen auch Beschäftigung. Denken wiran die gesellschaftspolitische undstabilisierende Bedeutung von Kul-turprojekten in den deutsch-polni-schen und deutsch-tschechischenGrenzregionen.

Dem Kulturtourismus gehört dieZukunft – in ganz Europa. Warumdie Vorschlagsliste der EU für dienächsten 16 Jahre kein osteuropäi-sches Land vorsieht, bleibt aller-dings Brüsseler Geheimnis, und ichbekenne hier offen: Das kann nichtso bleiben. Ich werde meine Minis-terkollegen dazu ermuntern, dasswir das Verfahren überarbeiten undneue Vorschläge annehmen. Viel-leicht wäre es auch möglich, Part-nerschaften zwischen Kulturhaupt-städten der alten und der neuenMitgliedsstaaten einzugehen. Daswäre ein wahrhafter Brückenschlag,und ich glaube, dass sich auch deut-sche Bewerberstädte mit dieser Ideeanfreunden könnten.

6. „Unbekannte Nachbarn – Kul-tur im neuen Europa” – so könnteder Titel lauten für Jahrespro-gramme, die wir mit allen osteuro-päischen Mitgliedsländern bis ins

Jahr 2015 initiieren. Die Jahre 2005und 2006 werden Polen gewidmetsein.

Ein Kulturjahr soll das fehlendeWissen auf beiden Seiten durch Auf-klärungs- und Informationskam-pagnen, durch Wanderausstellun-gen (z.B. über Städte), Künstleraus-tausch, Jugendprogramme usw. ver-mitteln. Künstler, Schriftsteller, Mu-siker und Theaterleute stellen ihreArbeit vor – Arbeiten, die auch unse-ren Blick verändern könnten, weilsie anderen ästhetischen Maßstä-ben verpflichtet sind.

Ich bin sehr froh, dass die Kul-turstiftung des Bundes die Chancendes neuen Europa erkannt hat. Ichnenne hier nur das Projekt „relati-ons”. Es initiiert in den verschiede-nen Ländern des östlichen EuropaProjekte auf den Gebieten der zeit-genössischen Künste, der Kulturund der Wissenschaft. Den inhaltli-chen Schwerpunkt der Projekte bil-den lokale und regionale Fragestel-lungen. „relations” lenkt den Blickauf kulturelle Vielfalt und die Ver-schiedenartigkeit einzelner Orteund Regionen.

7. Ein Programm „KulturelleLeuchttürme im Osten Europas”sollte vorbereitet werden. Leucht-türme spenden Licht im Dunkel. DieMetapher steht für Aufklärung, diekulturellen Leuchttürme selbst fürüber das ganze Land ausstrahlende,aufklärend wirkende Institutionen.Dunkelheit herrschte lange genug indiesen Ländern. Viele Institutionenund ihre Gebäude sind zerstört oderschwer beschädigt. Ein BlaubuchOst-, Mittel-, Nord- und Südosteu-ropa soll den kulturellen Raum Eu-ropas verzeichnen. Vielleicht wird esvor allem zukünftige Leuchttürmebeschreiben, jenseits der Grenzender EU, weil sie einmal von dort he-rübergestrahlt haben und uns an et-was erinnern, was wir nie wiedervergessen dürfen.

Die Verfasserin ist Staatsministerinfür Kultur und Medien im

Bundeskanzleramt ■

English text page 5

Verankerung von Kultur in den Landesverfassungen

Kultur Bildung

Sachsen-AnhaltArt. 10 (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. (...)Art. 36 (1) Kunst, Kultur und Sport sind durch das Land und die Kommunen zu schützen und zu fördern.(2) Die heimatbezogenen Einrichtungen und Eigenheiten der einzelnen Regionen innerhalb des Landes sind zu pflegen.(3) Das Land und die Kommunen fördern im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten die kulturelle Betätigung aller Bürger insbesondere dadurch, dass sieöffentlich zugängliche Museen, Büchereien, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten und weitere Einrichtungen unterhalten.(4) Das Land sorgt, unterstützt von den Kommunen, für den Schutz und die Pflege der Denkmale von Kultur und Natur.(5) Das Nähere regeln die Gesetze.Art. 37 (1) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten stehen unter dem Schutz des Landes und der Kommu-nen.(2) Das Bekenntnis zu einer kulturellen oder ethnischen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.

Art. 25 (1) Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine Herkunft und wirtschaftliche Lagedas Recht auf eine seine Begabungen und Fähigkeiten fördernde Erziehung und Ausbildung.Art. 30 (1) Träger von Einrichtungen der Berufsbildung und der Erwachsenenbildung sind ne-ben dem Land und den Kommunen auch freie Träger.(2) Das Land sorgt dafür, dass jeder einen Beruf erlernen kann. Die Erwachsenenbildung istvom Land zu fördern.

Schleswig-HolsteinArt. 5 (2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes,der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.Art. 9 (1) Das Land schützt und fördert Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre.(2) Das Land schützt und fördert die Pflege der niederdeutschen Sprache.(3) Die Förderung der Kultur einschließlich des Sports, der Erwachsenenbildung, des Büchereiwesens und der Volkshochschulen ist Aufgabe des Landes,der Gemeinden und Gemeindeverbände.

Siehe hierzu Art. 9 (3)

ThüringenArt. 27 (1) Kunst ist frei. Wissenschaft, Forschung und Lehre sind freiArt. 30 (1) Kultur, Kunst, Brauchtum genießen Schutz und Förderung durch das Land und seine Gebietskörperschaften. (2) Die Denkmale der Kultur, Kunst, Geschichte und die Naturdenkmale stehen unter dem Schutz des Landes und seiner Gebietskörperschaften. DiePflege der Denkmale obliegt in erster Linie ihren Eigentümern. Sie sind der Öffentlichkeit im Rahmen der Gesetze unter Beachtung der Rechte andererzugänglich zu machen.

Angaben ohne Gewähr

Art. 20 (1) Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. (...)Art. 29 (1) Das Land und seine Gebietskörperschaften fördern die Erwachsenenbildung. AlsTräger von Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind auch freie Träger zugelassen.

ZUR DISKUSSION GESTELLT/EUROPA politik und kultur • März - April 2004 • Seite 13

Fortsetzung von Seite 12

Europa kann nur „von unten“zusammenwachsen

Page 13: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

EUROPA politik und kultur • März - April 2004 • Seite 14

Europa als Union der Kultur?Verfassungsentwurf und der europäische Kulturraum • Von Kerstin Müller

Die Europäische Union wächst. IhreErweiterung ist beschlossen. Am 1.Mai 2004 werden zehn neue Staatenbeitreten. Polen, Ungarn und Tsche-chen führen dann die gleichen Reise-pässe wie Spanier, Franzosen undDeutsche. Die Europäische Unionwird 75 Millionen neue Bürgerinnenund Bürger begrüßen. Gleichzeitigwächst die Europäische Union engerzusammen. Ich bin zuversichtlich,dass die Arbeit des Verfassungs-Kon-vents bald Früchte tragen wird. Dasssich die Union eine gemeinsame Ver-fassung gibt, ist wirklich ein histori-scher Schritt hin zu einem hand-lungsfähigen Europa der 25.

Immer wieder kommt vor diesemHintergrund die Frage auf: Wird

der Verfassungsentwurf dem neuenEuropa als Kulturraum gerecht? Ichmeine ganz klar: Der Verfassungs-entwurf umfasst alle wichtigenPunkte. Er beauftragt die Union, dasgemeinsame Kulturerbe und diekulturelle Vielfalt Europas zu be-wahren und zu fördern. Und er be-kennt sich in der Charta der Grund-rechte klar zu unseren gemeinsa-men Werten.

Europa braucht diese neue Ver-fassung. Aber sie wird ihre verbin-dende Wirkung nur entfalten, wennwir sie mit Leben füllen. Europabraucht deshalb vor allem andereneine intensive Suche nach Antwor-ten auf die Kernfrage: Was heißt es,Europäer zu sein; und worin bestehtdie gemeinsame Kultur Europas?

In dieser Diskussion müssen dieWerte der Verfassung eine wichtigeRolle spielen. In der erweitertenUnion wird es darauf ankommen,die Errungenschaften der Aufklä-rung und der großen Freiheitsrevo-lutionen noch fester im europäi-schen Bewusstsein zu verankern.Freiheit, Demokratie, Menschen-rechte, Rechtstaatlichkeit: Nochselbstverständlicher als bisher musssein, dass diese Werte nicht nur Erbenationaler Philosophien sind. Siegehören ganz Europa. Ein Zweitesist wichtig. Europa ist nur dann zu-kunftsfähig, wenn es sich auch dieeigene Vergangenheit immer neu insGedächtnis ruft. Unser gemeinsa-mes geschichtliches Erbe ist Teil derKultur Europas. Es hat eine Mentali-tät herausgebildet, die uns über dieGrenzen der Staaten hinweg verbin-

det. Wir alle sind aufgerufen, diesesErbe lebendig zu halten. Dazu ge-hört auch, dass wir die Sprachen un-serer europäischen Nachbarn erler-nen. Mehrsprachigkeit ist Grundvo-raussetzung eines lebendigen Aus-tauschs in Europa.

Das geschichtliche Erbe Europashat auch seine schwierige Seite:Kein Kontinent hat so viele zerstöre-rische Kriege erlebt wie unserer. Nir-gends haben einzelne Nationen soviel Unheil angerichtet, indem sieversuchten, ihre Nachbarn zu be-herrschen und gleichzuschalten.Deshalb ist entscheidend, dass wirheute unsere Unterschiede in Eu-ropa nicht mehr als Mangel begrei-fen. Die Vielfalt europäischer Kultursteht nicht mehr im Widerspruchzur politischen Einheit des Konti-nents. Im Gegenteil: Heute gehört zuunserem Selbstverständnis, dass ge-rade die Vielfalt der Ideen und Le-bensformen Europa ausmacht. Tole-ranz gegenüber Neuem und Ande-rem zählt zum Kernbestand europä-ischer Identität.

Geeint in der VielfaltNur wenn die Bürgerinnen und Bür-ger Europas das verinnerlicht ha-ben, wird uns die Vision der Verfas-sung gelingen: Ein in Vielfalt geein-tes Europa. Dazu muss gerade dieKulturpolitik einen wichtigen Bei-trag leisten. Wie sie diesen Beitragam besten leisten kann, ist noch of-fen. Ich glaube, dass die erweiterteEuropäische Union in der Kulturpo-litik vor allem das richtige Gleichge-wicht von Zentralisierung und Re-gionalisierung finden muss.

In vielen Politikbereichen setztdie Europäische Union auf Verein-heitlichung und Zentralisierung. DieSchaffung gleicher Voraussetzungenfür alle ist eines ihrer großen Er-folgsrezepte. Bestes Beispiel ist dieWirtschafts- und Währungspolitik.Ob sich dieses Modell ohne Weiteresauf die Kultur übertragen lässt, istzumindest fraglich. Denn Europaversteht sich nicht als Schmelztie-gel. Von Portugal bis Estland habendie Menschen eigene Lebensweisenund Weltanschauungen, die ge-schichtlich gewachsen sind. Geradesie machen die Vielfalt Europas aus.Deshalb müssen wir uns fragen: Wieweit soll die Zentralisierung der Kul-turpolitik in Europa gehen?

Gleichzeitig ist klar: Laissez-fairetaugt nicht als kulturpolitische De-vise für Europa. Wie der Sozialstaatgehört zum europäischen Selbstver-ständnis, Kunst und Kultur nichtden freien Marktkräften zu überlas-sen. In Europa soll auch Platz haben,was sich wirtschaftlich nicht rech-net. Die Produkte der Massenkultursollen nicht andere Ausdrucksfor-men und Lebensstile verdrängen.Sonst verlieren wir die Vielfalt, dieunsere Identität als Europäer aus-macht. Deshalb müssen Kunst undKultur in Europa angemessenenSchutz genießen. Ob Korsen, Baskenoder die ethnischen Minderheitenin den Beitrittsländern: In Europamuss Platz für alle Kulturen sein.Das ist gerade angesichts von Frei-zügigkeit, Einwanderung und Er-weiterung unverzichtbar. Wir müs-sen also fragen: Wo soll die Europäi-sche Union sich einmischen, um diekulturellen Belange ihrer Bürgerin-nen und Bürger zu schützen?

Europa wird wohl einen Spagatmachen müssen. Einerseits soll dieEuropäische Union nicht zu großekulturpolitische Macht an sich zie-hen. Wo Private, Städte, Regionenund Staaten näher am Geschehensind, sichert Subsidiarität mehr Bür-gernähe und Vielfalt. Andererseitserwarten die Bürgerinnen und Bür-ger der Europäischen Union, dasssie die kulturellen Belange allerschützt. Und sie soll bald 450 Millio-nen Menschen in 25 Staaten deut-lich machen, was sie verbindet. Die-sen beiden gegenläufigen Ansprü-chen muss Kulturpolitik in Europagerecht werden. Wie Europa dieserSpagat am elegantesten gelingtmüssen wir noch herausfinden.

In Zukunft wird es deshalb da-rauf ankommen, die richtige kultur-politische Mischung für Europa zufinden. Europäische Union, Staaten,Regionen, Städte und Private müs-sen ihr Engagement noch besseraufeinander abstimmen. Jeder mussseine eigenen Stärken ausspielen. Jebesser diese Abstimmung gelingt,desto mehr wird Kulturpolitik zu ei-ner erfolgreichen Erweiterung bei-tragen. Ich glaube, wir sind auf ei-nem vielversprechenden Weg.

So bewährt sich die EuropäischeUnion heute vor allem in der Bil-dungspolitik. Die Austauschpro-gramme „Sokrates“ für die Hoch-

schulen und „Leonardo da Vinci“ fürdie Berufsbildung haben sich als Er-folge erwiesen. Sie leisten nicht nureinen Beitrag zur Chancengleichheitim Bildungssystem. Schon heute er-öffnen sie darüber hinaus vielenjungen Menschen in den Beitritts-ländern den Weg nach Europa. Des-halb müssen wir uns vor der Erwei-terung fragen: Kann und muss dieEuropäische Union hier noch mehrleisten?

Kulturpolitik der StaatenAuf lange Sicht bleibt aber die aus-wärtige Kulturpolitik der Staaten un-verzichtbar. Sie nimmt die doppelteHerausforderung von Integrationund Erweiterung an. Um ihr gerechtzu werden, haben die Staaten Euro-pas ein beachtliches Netz multilate-raler Kulturbeziehungen gespon-nen. Davon habe ich mich persön-lich zuletzt auf der Bologna-Folge-konferenz in Berlin überzeugt. Zieldes Bologna-Prozesses ist es, bis2010 einen gemeinsamen europäi-schen Hochschulraum zu verwirkli-chen, der auch die Beitrittsländerumfasst. Damit wächst nicht nurEuropa zusammen. Wissensaus-tausch über Grenzen hinweg istauch Voraussetzung für Wettbe-werbsfähigkeit in Wissenschaft undWirtschaft. Auch hier ist die Frage:Müssen wir dieses Netz nicht nochweiter ausbauen?

Unter europäischem Vorzeichenentwickelt sich auch die traditio-nelle auswärtige Kulturpolitik derStaaten weiter. Immer öfter setzt sieauf Zusammenarbeit mit den euro-päischen Nachbarn. Ein Beispiel istdie Ausstellung „Europa um 1000“,die Tschechen, Slowaken, Polen, Un-garn und Deutsche gemeinsam aus-gerichtet haben. In Prag, Bratislawa,Krakau, Budapest und Berlin zeich-nete die Ausstellung die Christiani-sierung Ostmitteleuropas nach.Möglich ist heute auch, dass Kultur-institute verschiedener Staaten un-ter ein gemeinsames Dach ziehen.So teilt sich das Goethe-Institut inPalermo ein Gebäude mit dem Insti-tut Français. In Kiew hat es mit demBritish Council ein gemeinsamesHaus bezogen. Ein deutsch-franzö-sisches Haus in Ramallah ist ge-plant.

Unverzichtbar sind nicht zuletztdie immer neuen Partnerschaften

zwischen Vereinen, Schulen, Hoch-schulen und Städten in ganz Eu-ropa. So unterhält meine Heimat-stadt Köln seit 1991 eine lebendigeStädtepartnerschaft mit Kattowitz inPolen. In ganz Europa bringen sol-che Verbindungen Millionen vonMenschen Vielfalt und Gemeinsam-keit unseres Kulturraums nahe. Ichfrage mich also: Spielen Städte undRegionen schon die richtige Rolle inder europäischen Kulturpolitik? Undmessen wir Bürgerinitiativen, Un-ternehmen, NGOs und Stiftungenschon den richtigen Stellenwert bei?

Europäische Union, Staaten,Städte, Regionen und Zivilgesell-schaft: Keiner dieser Akteure ist ver-zichtbar. Sie alle werden das kultu-relle Leben in der EuropäischenUnion auch nach der Erweiterungprägen. Ich wünsche mir, dass siedabei vielfältige und innovative For-men der Zusammenarbeit entwi-ckeln. Und ich hoffe, dass wir zu ei-ner guten Abstimmung finden.Dann nähern wir uns dem gemein-samen Ziel: dem in Vielfalt geeintenEuropa der 25.

Künstler als ImpulsgeberVergessen wir hier nicht die Künst-ler, die der Integration Europas im-mer neue Impulse geben. Sie wissenam besten, dass Kultur das stabilsteFundament Europas ist. Deshalb er-innern sie uns immer wieder daran,dass die Kulturpolitik eine Chancefür Europa ist. Im Mai diesen Jahreshat der große Europäer György Kon-rád im Auswärtigen Amt gesagt: „DieBesonderheit Europas besteht in dergroßen Verschiedenartigkeit der In-dividuen, der persönlichen Ge-schichten, Anschauungen und Leis-tungen. Gerade diese Eigenart giltes, in der europäischen Kulturpolitikzu stärken.“

Die Verfasserin ist Staatsministerinim Auswärtigen Amt ■

English text page 8

Eurovisionen – vom kulturellen Netzwerk zur Politik Kulturkonferenz von 29. bis 30. April in Berlin • Von Ulrike Hofmann-Steinmetz

Die Kultur spielt als Motor der Eini-gung Europas eine entscheidendeRolle. Europäische Kulturschaffendehaben sich schon seit langem intransnationalen Netzwerken zusam-men gefunden und treiben damit denIntegrationsprozess aktiv und krea-tiv voran. Am 29. und 30. April wer-den diese zivilgesellschaftlichen Ak-teure in der europäischen Kulturkon-ferenz „Eurovisionen – vom kulturel-len Netzwerk zur Politik“ über Chan-cen und Möglichkeiten, die das Eu-ropa der 25 für sie spielen wird, dis-kutieren und sich austauschen. DieKonferenz wird vom Goethe-Institut,der Bundeszentrale für Politische Bil-dung und der Robert Bosch Stiftungin Kooperation mit dem DeutschenKulturrat im Kronprinzenpalais inBerlin veranstaltet.

Tatsächlich kann das „ProjektEuropa“ nur dann gelingen,

wenn es vom Großteil seiner Zivilge-sellschaft getragen wird. Erst wennder Wille zur Gestaltungskraft von

den EU-Bürgern selbst ausgeht,kann eine europäische Gemein-schaft Zukunft haben. Der Zusam-menschluss von Kulturschaffendenaus verschiedenen EU-Staaten zuNetzwerken zeugt von einem bereitsbestehenden, sehr lebendigen Eu-ropa mit einer zukunftsfähigenAgora. Offene Strukturen erlauben esdiesen Akteuren, mit Hilfe von Pro-jekten grenzüberschreitend und fle-xibel zu arbeiten und Räume für denöffentlichen Diskurs zu ermöglichen.

Die Kulturkonferenz Eurovisio-nen geht am Vorabend der Erweite-rung vor allem der Frage nach, wie,an welchen Orten und mit wem Kul-tur den Einigungsprozess Europasbeeinflussen und zivilgesellschaftli-ches Engagement für Europa vertie-fen kann. Es wird die Rolle unter-sucht, die die kulturell orientiertenAkteure und die vielen noch lokaloder regional verhafteten jungenNetzwerke im sich neu ordnenden(EU-) Europa spielen und zukünftigspielen werden: Welche Impulse

und Wirkungen gehen von ihnen fürdie Stärkung einer europäischen Zi-vilgesellschaft und damit letztlichfür das Funktionieren einer selbst-bewussten europäischen Öffentlich-keit aus? Wen können sie in ihrer Ar-beit als Partner gewinnen, um neueund flexible Wege der Unterstützungzu finden? Welchen kulturellenMehrwert bringen sie für den Integ-rationsprozess in (EU-) Europa mit,und wie können sie diesen den poli-tischen und institutionellen Ent-scheidern bewusst machen, um da-durch bessere Rahmenbedingungenfür ihre Arbeit zu schaffen?

Die Konferenz lädt in Koopera-tion mit den europäischen Goethe-Instituten mehr als 150 Eurovisio-näre aus den 25 EU-Ländern unddem Balkan nach Berlin ein. Nebenneuen Kontakten besteht das Zielder Konferenz darin, ein interaktivesForum zu schaffen, das die Leistun-gen, Möglichkeiten und Grenzenkulturellen Lebens im erweitertenEuropa aufzeigt und diskutiert. Da-

bei werden Intellektuelle, Medien-vertreter und Politiker mit kulturel-len Praktikern zusammen geführt,die in Griechenland, Lettland, Spa-nien oder Kroatien mit individuellenIdeen bereits eine Plattform ge-schaffen haben, die grenzüber-schreitend wirkt und europäischeVisionen phantasievoll umsetzt.Während des Konferenzverlaufswird ein Referenzpapier erarbeitet,das die Situation und den Bedarf derzivilgesellschaftlichen Akteure sodarstellt, wie sie während der zwei-tägigen Tagung von ihnen selbst auf-gezeigt wird.

„Eurovisionen – Vom Netzwerkzur Politik“ findet am 29./30. April2004 im Kronprinzenpalais, Unterden Linden 7 in Berlin statt. AlsSchirmherrin der Konferenz konntedie EU-Kulturkommissarin VivianeReding gewonnen werden. Geför-dert wird das Projekt von „Partnerfür Berlin“.

Die Konferenzsprache ist Deutschmit Übersetzung ins Englische.

Aktuelle Informationen und dasProgramm finden Sie Anfang Feb-ruar unter: www.goethe.de/eurovi-sionen

Die Veranstaltung ist öffentlich.Für weitere Informationen wendenSie sich bitte an:Goethe-Institut, Hauptstadtbüro Ulrike Hofmann-Steinmetz Fon: (030) 259 06 [email protected]

Konferenzmanagement apex – Kul-tur- und Bildungsmanagement Anja OstermannFon: +49 (0) 2332 [email protected]

Görres KulturbetriebChristiane Görres Fon: +49 (0) 30 44 35 60 61 [email protected]

Page 14: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

Sei es „Cool Britannia“ Ende der90er Jahre oder „Creative Britain“heute – beim europäischen Nach-barn, ohne geschriebene Verfassung,gibt es Deutungsansätze, aber keineoffizielle Definition für das, was un-ter britischer Kultur zu verstehen ist.Das Vereinigte Königreich (UnitedKingdom) besteht aus vier Nationen– England, Wales, SchottlandundNordirland –, die Großbritannien aus-machen, jede mit eigener Kultur undGeschichte. In den meisten Groß-städten Großbritanniens wohnenheute Menschen aus allen fünf Kon-tinenten mit all ihren kulturellen,sprachlichen, ethnischen und natio-nalen Eigenheiten. Gegenstand derbritischen Kulturpolitik ist demnachkeine eindeutig zu umreißende kul-turelle Entität, sondern eine gewal-tige, für das moderne Großbritanniencharakteristische kulturelle Vielfalt.

Das gegenwärtige Kulturförde-rungssystem Großbritanniens,

das im internationalen Vergleicheine Mittelposition zwischen Län-dern mit ausgeprägt staatlich geför-derter Kultur – wie Frankreich undDeutschland – und überwiegendprivat finanzierter Kultur – wie inden USA – einnimmt, hat seine Ur-sprünge in den 1940er Jahren. AusGroßbritanniens erster öffentlichenEinrichtung zur Förderung der

Künste, dem Council for the Encou-ragement of Music and the Arts(CEMA), entwickelte sich 1946 unterder Präsidentschaft des National-ökonomen John Maynard Keynesder Arts Council of Great Britain.Erst 1992 entstand unter konservati-ver Regierung ein Kultusministe-rium, das Department of NationalHeritage (DNH), dessen Zuständig-keitsbereich die Künste, die Museen,das nationale Kulturerbe, die Me-dien, den Sport und Tourismus um-fasste. Im Zuge der politischen De-zentralisierung bildeten sich 1994der Arts Council of England, derScottish Arts Council, der ArtsCouncil of Wales und der Arts Coun-cil of Northern Ireland. 1997 er-nannte die Labour-Regierung dasDNH zum heutigen Department forCulture, Media and Sport (DCMS).Das DCMS setzt regierungspoliti-sche Entscheidungen in nationaleKampagnen (z.B. Förderung der Le-sekultur) um, verwaltet die von derRegierung zur Verfügung gestelltenMittel für die Nationalmuseen inEngland, den Arts Council England,die British Library und andere natio-nale Kultureinrichtungen. Weiterhinfallen die Gesetzesgrundlagen fürdie Film- und Musikindustrie,Rundfunk, Fernsehen und neue Me-dien, die National Lottery, dasGlücksspiel und der Export von Kul-

turerbe in den Verantwortungsbe-reich des DCMS. In europäischenund internationalen Kulturangele-genheiten wirkt das DCMS als An-sprechpartner im Namen der briti-schen Regierung. Im Rahmen einerumfassenden Verwaltungsreformwurde in den vergangenen Jahrendie Anzahl der ausführenden Kultur-organe, der sogenannten Non-de-partmental Public Bodies (NDPBs),gebündelt. Deren bedeutendste sindRe:source:the Council for Museums,Archives & Libraries, English Heri-tage, UK Film Council, Crafts Coun-cil und die Arts Councils. Einen un-abhängigen, dem Deutschen Kultur-rat vergleichbaren, sparten- undsektorenübergreifenden „Dachver-band aller Dachverbände“ gibt es inGroßbritannien jedoch nicht.

Die neue Struktur und Stimmeder britischen Kulturpolitik ist dieReaktion auf globale und gesell-schaftliche Veränderungen und aufein neues Bewusstsein dessen, wasKultur, die Künste und die CreativeIndustries für die nationale Identi-tät, die Volkswirtschaft, den Arbeits-markt, den urbanen Lebensraumund als Katalysator für soziale Ver-änderungen leisten. Zwar gilt dasanti-interventionistische Motto„God help the Government whomeddles in art!“ (1835) des ehemali-gen Premierministers Lord Mel-

bourne nach wie vor, zwar fällen dieArts Councils Entscheidungen überKulturförderungen unabhängig vontagespolitischem Denken weiterhinnach dem bewährten „Arm‘sLength“-Prinzip – aber kulturpoliti-sche Strategien auf nationaler (z.B.Chris Smith, Creative Britain, mitden vier Zielsetzungen: Kultur füralle, von höchster Qualität, der Bil-dung dienend und von wirtschaftli-chem Nutzen), regionaler (z.B. Scot-tish Arts Council, Creating our fu-ture – Minding our past) und nichtzuletzt städtischer Ebene haben inder letzten Zeit in Großbritanniendeutlich an Einfluss gewonnen.

Kulturfinanzierung funktioniertmeist über eine Mischform von Ein-nahmen, öffentlichen Zuschüssen,Spenden und Sponsoring. So zeigtsich beispielsweise das Royal Natio-nal Theatre (RNT) seit vielen Jahrenmit seinen unterschiedliche Ziel-gruppen ansprechenden Reper-toires dreier Bühnen (OlivierTheatre, Lyttlenton Theatre, Cotte-sloe Theatre) als wirtschaftlich er-folgreiches Unternehmen. Im Fi-nanzjahr 2002/03 hat sich das RNT

über 62% Eigeneinnahmen, 35% Zu-schuss des Arts Council England(entspricht 13,8 Millionen Pfund)und 3% Einnahmen aus anderenProjekten finanziert. Seine Ausga-ben bezogen sich zu 61% auf Vor-stellungen und Projekte und zu 39%auf infrastrukturelle und Werbekos-ten. Bei einer Auslastung von 80%schaffte es das RNT, trotz Intendan-tenwechsels ein Plus von 58.000Pfund zu erwirtschaften.

Seit 1994 gibt es in Großbritan-nien die National Lottery, deren Mit-tel für kulturelle Zwecke nach dem„Additionality“-Prinzip von den ArtsCouncils, dem Heritage Lottery Fund,dem Community Fund, dem NewOpportunities Fund und dem Natio-nal Endowment for Science, Tech-nology and the Arts (NESTA) verge-ben werden. Beispielsweise erhieltdie Contemporary Art Society 1998für die Einrichtung eines SpecialCollection Schemes 2,5 MillionenPfund von der National Lottery.Diese einmalige finanzielle Förderung

Über die britische KulturGewaltige kulturelle Vielfalt des United Kingdom • Von Elke Ritt

Wie ist der Kulturbereich in anderen europäischen Ländern organisiert?Wie wird Kultur finanziert? Welche Fragen beschäftigen die Kulturverbändedort? Solche und andere Fragen stellten wir Vertretern derKultureinrichtungen und Kulturattachés in Berlin. Eine kleine Serie.

beim Nachbarn

Europa und die KulturKulturpolitische Signale aus Paris und Brüssel • Von Barbara Gessler

Auf beiden Baustellen der internatio-nalen Kulturpolitik wird gezimmert:In Paris macht sich die Experten-gruppe der UNESCO nun konsequentund mit einer klaren Weisung bezüg-lich ihres Auftrags an die Arbeit zurKonstruktion einer Konvention zumSchutz der kulturellen Vielfalt, beider Welthandelsorganisation sindnach vorübergehendem Baustop wie-der die Arbeiter auf dem Weg ansWerk. In Paris ist zwar offenbar nochkeine exakte Zeitschiene für denFortgang der Arbeiten abzusehen, ineiner zweiten Sitzung sollen die Ex-perten jedoch schon ans Schreibengehen und sich möglicherweise nochvor dem Sommer ein drittes Mal tref-fen.

Aus Brüssel werden derweil Sig-nale an die Staaten gesandt, die

hauptsächlich wegen der unge-wünschten so genannten Singapur-themen, bei denen es etwa um In-vestitionsbedingungen und Wettbe-werbsfragen ging, in Mexiko rebel-liert hatten. Handelskommissar Pas-cal Lamy hat in einer Rede in Mün-chen erläutert, man wolle zwar wei-terhin an den für die EuropäischeUnion wichtigen Themen wie Han-delserleichterungen und Transpa-renz bei der Vergabe von staatlichenAufträgen prioritär festhalten, manwolle jedoch testen, ob die Singa-purthemen von Fall zu Fall behan-delt werden können, sodass es denMitgliedern der WTO offen stehenwürde, ob sie mitverhandeln odersich bei einem Resultat diesem an-schließen. Der nicht erst seit Can-cún spürbaren Tendenz zu mehr bi-lateralen Verhandlungen möchte dieEU nicht nachgeben, auch wenn dieArbeit an regionalen Abkommen wiemit Mercosur weitergeführt werdensoll. Für Empörung und Aufregunghat in den vergangenen Monatenvor allem das Handelsabkommenzwischen Marokko und den USA ge-führt, das nach Ansicht der marok-kanischen Koalition für kulturelle

Vielfalt massiv die Eigenständigkeitihrer nationalen Kulturpolitik be-drohe. Eine Demonstration gegendas Abkommen in Marokko sei ra-biat auseinander getrieben worden.Die Liberalisierungsvereinbarungenseien ein Beweis dafür, wie die Verei-nigten Staaten versuchten, an Eu-ropa angrenzende Staaten unterDruck zu setzen.

Seit Cancún hatte es dement-sprechend auch bei dem GATS-Ab-kommen, von dem auch kulturelleDienstleistungen erfasst sind, keinenennenswerten Veränderungen ge-geben. Dass dies auch so bleibensoll, haben auch die Europaabge-ordneten nicht nur im Bericht vonChrista Prets (siehe puk 1/2004) be-tont, sondern auch im Bericht überDienstleistungen von allgemeinemInteresse wiederholt. Dort fordernsie auch, dass keine neuen Ver-

pflichtungen im Bildungsbereicheingegangen werden sollen. Einig istman sich bei diesem heiß umstritte-nen Bericht auch, dass das Recht derMitgliedstaaten, auch weiterhin „öf-fentlich-rechtliche Sender zu finan-zieren und deren öffentlich-rechtli-che Dienstleistungen festzulegen“,gewahrt werden muss. Die Abgeord-neten haben, und das kann auch fürdie Arbeiten des Deutschen Kultur-rats an dem Thema Daseinsvorsorgenützlich sein, eine Reihe von Zielkri-terien für „hochwertige“ Dienstleis-tungen festgelegt: „Ziel muss es sein,dass die europäischen Bürger hoch-wertige Leistungen der Daseinsvor-sorge flächendeckend und zu er-schwinglichen Preisen oder, wennes die soziale Situation erforderlichmacht, kostenlos erhalten. SolangeQualitätsstandards eingehalten, so-wie soziale Ausgewogenheit, Versor-

gungssicherheit und Kontinuität ge-währleistet sind, ist es egal, wer dieDienstleistungen erbringt. So müs-sen die Leistungen nicht unbedingtvon der öffentlichen Hand erbrachtwerden.“ (Pressedienst Europäi-sches Parlament).

Um den freien Markt geht esauch bei den Vorschlägen zur Ände-rung der Regelung für die nationa-len Filmfördergesetze, die derzeitbei der Europäischen Kommissionin der Mache sind. Hört sich wieeine gute Idee an: anstatt, wie poli-tisch und wirtschaftlich sicher ge-wünscht und häufig auch zweckmä-ßig, die Förderung eines Films andie Reinvestition im Land oder inder Region zu koppeln, möchte dieKommission als Hüterin des Bin-nenmarkts, dass auch in anderen(EU-)Staaten Dienstleister davonprofitieren können, dass Film pro-

duziert wird, im künstlerischen oderim technischen Bereich etwa durchNutzung von Studios oder Postpro-duktion. Größter Nutznießer wärenzu diesem Zeitpunkt sicher dieneuen Mitgliedstaaten, die konkur-renzfähig solche Dienste anbietenkönnen. An der großen Kritik, die,angeführt von Frankreich, aber ge-teilt von den anderen Förderanstal-ten, an dem Vorschlag geübt wird,lässt sich ein bisschen das Dilemma,das einige bezüglich der Erweite-rung der Europäischen Union emp-finden mögen, ablesen. Ist dies eine„großzügige“ Geste und was wäredas Resultat, wenn demnächst, wiebefürchtet, auf Teufel komm rausaus allen Mitgliedsländern Teile zueinem Film beigesteuert werden?Stärkt Europa damit seine Positiongegenüber Hollywood oder könnennicht gerade Filme mit regionalemund nationalem Bezug eher Publi-kum zurückgewinnen? Die Stärkungder europäischen Kulturindustrie,so hat auch Viviane Reding in einerRede vor der Versammlung der Re-gionen nochmals betont, und mitihr den künstlerischen Ausdruck,der ihr zugrunde liegt, birgt ein gro-ßes wirtschaftliches Potenzial.

Mit Interesse kann man nunauch auf den Vorschlag der Kommis-sion warten, auf den der Parla-mentsbericht über Verwertungsge-sellschaften verweist, der im Januarim Europäischen Parlament ange-nommen wurde. Ein gemeinschaft-licher Ansatz müsse sowohl die ur-heberrechtlichen Prinzipien unddas Wettbewerbsrecht wahren, unterWahrung der Subsidiarität und derVerhältnismäßigkeit. Er anerkennt,dass Verwertungsgesellschaften inEuropa verschiedenen Traditionenentspringen und dass diese auch ge-wahrt werden müssen, ihre quasi-Monopolstellung außerdem keinWettbewerbsproblem darstelle.

Die Verfasserin ist Referentin beimDeutschen Kulturrat ■

Plenarsaals des Europäischen Parlaments in Straßburg Fotos: Europäisches Parlament

EUROPA politik und kultur • März - April 2004 • Seite 15

Weiter auf Seite 16

Page 15: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

Kulturhauptstadt Europa 2010Grußwort anlässlich des Treffens der Bewerberstädte • Von Wilfried Grolig

Ich heiße Sie ganz herzlich im Aus-wärtigen Amt zum Arbeitstreffen desDeutschen Kulturrates für „die deut-schen Bewerberstädte um die Kul-turhauptstadt Europas 2010“ will-kommen. Ich freue mich, dass Sieder Einladung des Deutschen Kultur-rates e.V. so zahlreich gefolgt sind.Ihre Präsenz zeigt, welch hohen Stel-lenwert die EU-Gemeinschaftsaktion„Europäische Kulturhauptstadt“ ge-nießt.

Die europäische Integration, diedurch die bevorstehende Er-

weiterung um zehn neue Mitglieds-staaten zum 1. Mai 2004 und durchdie Arbeiten an einer EU-Verfassungeine neue Dimension erhält, wirdsich nicht nur über die Vermittlungwirtschaftlicher Symbole wie einergemeinsamen Währung vollziehenkönnen. Sie muss auch kulturell ge-lingen. Europa muss für die Bürgerkonkret erfahrbar werden als ein al-len gemeinsamer Kulturraum, des-sen Reichtum in seiner Vielfalt liegt.

Die Europäische Gemeinschaftwar anfangs als rein wirtschaftlicherZweckverband konzipiert, dennochgab es eine gemeinsame Werte- undKulturgemeinschaft der europäi-schen Demokratien. Die Anerken-nung bzw. Kodifizierung dieser kul-turellen Dimension der Europäi-schen Union erfolgte relativ spät.

Erst 35 Jahre nach ihrer Grün-dung mit den Verträgen von Maas-tricht 1992, Amsterdam 1999 unddem jetzt gültigen Vertrag von Nizza(2000) wurde der Gemeinschaft imArtikel 151 unter Wahrung des Sub-sidiaritätsprinzips und des Harmo-

nisierungsverbots ein Beitrag zurEntfaltung der Kulturen der Mit-gliedsstaaten eingeräumt.

Die unter diesem europäischenDach prestigeträchtigste Gemein-schaftsaktion ist das Projekt „Kultur-hauptstadt Europas“. Es beruht aufdem EU-Ratsbeschluss vom 25. Mai1999 „Über die Einrichtung einerGemeinschaftsaktion zur Förderungder Veranstaltung ‘KulturhauptstadtEuropas’ für die Jahre 2005 bis2019“, der übrigens unter deutscherEU-Präsidentschaft gefasst wurde.In diesem Ihnen bekannten Ratsbe-schluss sind aus meiner Sicht auchsehr sorgfältig alle zu beachtendenBewerbungskriterien aufgeführt, dieSie bei Ihrem heutigen Gedanken-austausch besonders interessierendürften.

Ursprünglich geht die Initiativeder Kulturstädte Europas auf diegriechische Kulturministerin MelinaMercouri und den damaligen Kul-turausschuss des Europäischen Par-laments zurück. Sie wurde 1985 aufintergouvernementaler Ebene vomKulturministerrat ins Leben geru-fen, der seitdem jährlich mindestenseine Kulturstadt Europas ausgerufenhat.

Die Gemeinschaftsaktion „Kul-turhauptstadt Europas“ hat dazubeigetragen, den regional diversifi-zierten europäischen Kulturraumsichtbar und erfahrbar zu machen.Der von der EU-Kulturpolitik gefor-derte zusätzliche europäische Nut-zen, bzw. europäische Mehrwert,wird durch dieses Projekt dauerhaftgefördert. Die Nachhaltigkeit undder kulturelle Aspekt der Pro-

gramme spielen dabei eine priori-täre Rolle. Daher sollte das Haupt-augenmerk Ihrer Bewerbung aufeine nachhaltige, europäische Kul-turentwicklung gerichtet sein.

Die Auswahl der innerstaatli-chen Städtekandidaturen inDeutschland erfolgt nach einem1999 zwischen dem Bundesrat, derKMK und dem AA einvernehmlichfestgelegten Verfahren. Ich erlaubemir die Vereinbarung noch einmalin Erinnerung zu rufen:• Bis Ende 1. Quartal 2004 sollen die

Bewerbungen bei den Kulturres-sorts der Länder eingehen,

• bis Ende 2. Quartal 2004 leitendiese die Bewerbungen an das AAweiter.

• Im 3. Quartal 2004 übermittelt dasAA die Bewerbungen mit der Bitteum Stellungnahme an den Bun-desrat, die dieser

• bis Ende 2. Quartal 2005 dem AAzukommen lässt.

• Ende des 3. Quartal 2005 teilt dasAA den Gremien der EU gemäßArt. 2 Abs.1 des Beschlusses vom25. Mai 1999 die deutsche(n) Be-werbung(en) mit, wobei die Gre-mien der Europäischen Unionauch über die Stellungnahme desBundesrates unterrichtet werden.

Wir, im Auswärtigen Amt, sindim innerstaatlichen Auswahlprozessder Neutralität verpflichtet. Den-noch werden wir im gesamten Aus-wahlverfahren die Rolle eines auf-merksamen Beobachters einneh-men und, soweit es die europäi-schen Kriterien betrifft, dafür sor-gen, dass dieses Bewerbungsverfah-ren so transparent wie möglich ge-staltet ist.

Deshalb möchte ich Sie zumSchluss auf neue Entwicklungen imeuropäischen Rahmen hinweisen,die das bestehende Auswahlverfah-ren jedoch in keiner Weise beein-trächtigen:

Durch den bevorstehenden Bei-tritt der 10 neuen EU-Mitgliedsstaa-ten am 1. Mai 2004 hat sich auf euro-päischer Ebene eine neue Situationfür die Aktion „Kulturhauptstadt Eu-ropas“ ergeben:

Die bisherige Regelung hätte dieBeitrittsländer bis 2020 ausgeschlos-sen. Deshalb hat die EU-Kommis-

sion am 18.11.2003 dem Euro-päisches Parlament und Rat einenVorschlag zur Einbeziehung der 10neuen EU-Mitgliedstaaten unter-breitet. Der von allen Mitgliedsstaa-ten positiv aufgenommene neueVorschlag zielt darauf ab, die neuenEU-Mitgliedstaaten möglichst früh-zeitig in diese Gemeinschaftsinitia-tive zu integrieren. Dies soll durcheine zwischen den neuen EU-Mit-gliedsstaaten abgestimmte, von der

ersten Liste unabhängige Parallel-liste ab 2009 geschehen. Ob sich dasEP diesem Votum anschließen wird,bleibt abzuwarten. Die Planungssi-cherheit für unsere deutschen Be-werberstädte im Jahr 2010 der bis-herigen Liste wäre durch diese Ent-scheidung gewährleistet. FürDeutschland könnte das nach demjetzigen Vorschlag heißen, dass Un-garn eine „Kulturhauptstadt Euro-

pas 2010“ stellen wird.Meine Damen und Herren, ich

hoffe, dass diese Veranstaltung dazubeiträgt, den europäischen Gedan-ken und die europäische Dimensiondes Projektes „Kulturhauptstadt Eu-ropas“ zu verstärken. Welche deut-sche Stadt auch immer „Kultur-hauptstadt Europas 2010“ sein wird:das Bewusstsein für unsere gemein-same europäische Werte- und Kul-turgemeinschaft wird durch diese

Initiative erhöht. Nehmen Sie dasAuswahlverfahren sportlich. Ein Ge-winner steht jetzt schon fest: dieKultur.

Ich danke Ihnen für Ihre Auf-merksamkeit.

Der Verfasser ist Leiter der AbteilungKultur und Bildung des

Auswärtigen Amtes ■

Ach EuropaZum Abschied von Barbara Gessler

Den Leserinnen und Lesern die-ser Zeitung wohlbekannt sind

die sachkundigen Berichte von Bar-bara Gessler unter dem Titel „Eu-ropa und die Kultur“. Seit Erschei-nen dieser Zeitung gibt es diese Ru-brik und in jedem der Beiträge wirddeutlich, dass europäische Kultur-politik mehr ist als das Kulturförder-programm KULTUR 2000. BarbaraGessler zeigt jedes Mal auf, wiedurch Diskussionsprozesse bei denWettbewerbshütern, in den Aus-

schüssen des Europäischen Parla-ments, aber auch in internationalenVerhandlungen, europäische Kul-turpolitik gestaltet wird.

Von Februar 2003 bis März 2004war Barbara Gessler von der Euro-päischen Kommission beurlaubtund hat ihr Wissen, ihre Fähigkeitenund ihr Geschick als Referentinbeim Deutschen Kulturrat einge-bracht. Die in vergangenen drei Jah-ren verstärkte Internationalisierungdes Deutschen Kulturrates hat da-

durch an Fahrtwind gewonnen.Nun ruft Europa wieder: Barbara

Gessler wird zum 15.03.2004 Leite-rin der Bonner Vertretung der Euro-päischen Kommission (in Deutsch-land). Dem Deutschen Kulturratwird sie über den FachausschussEuropa des Deutschen Kulturratesund als Autorin von politik und kul-tur weiter verbunden bleiben.

Ich möchte an dieser Stelle sehrherzlich Barbara Gessler für ihr En-gagement im Deutschen Kulturrat

danken. Ihr Wechsel auf Zeit als Be-amtin aus einer großen Behörde wieder Europäischen Kommission zueiner Non-Profit-Organisation istkeineswegs selbstverständlich. Ichdenke, es war für beide Seiten einspannendes Experiment, das vieleNachahmer finden sollte.

Olaf Zimmermann ■

Barbara Gessler Foto: Susanne Glauert

Blick in den Europasaal des Auswärtigen Amtes: Zum zweiten Mal trafen sich diedeutschen Bewerberstädte „Kulturhauptstadt Europa 2010“ auf Einladung desDeutschen Kulturrates. Foto: Susanne Glauert

EUROPA politik und kultur • März - April 2004 • Seite 16

Über die britische Kultur

ermöglichte es 15 Museen in Eng-land, im Zeitraum von fünf Jahrenrepräsentative Sammlungen zeitge-nössischer Kunst aufzubauen.

Sich des Exportpotenzials seinerCreative Industries bewusst, unter-stützt Großbritannien die Liberali-sierung des Welthandels im Bereichder kulturellen Dienstleistungen un-

ter dem Aspekt des gegenseitigenNutzens für die Handelspartner(„Reciprocity“-Prinzip). Ein beson-deres Augenmerk liegt dabei aufdem audiovisuellen Sektor im Hin-blick auf den Schutz der BBC als öf-fentlich-rechtlicher Sender, auf derFörderung des britischen Films undauf der Unterstützung kleinerer un-abhängiger Musikproduzenten. Diebritische Regierung misst dem Er-halt kultureller Vielfalt große Bedeu-tung zu und will diese durch aktiveFörderung, nicht durch Protektio-

nismus, bewahren. Sie unterstütztdie GATS-Vereinbarungen, das heißtdie Überlegung, den Rahmen desAllgemeinen Übereinkommensüber den Handel mit Dienstleistun-gen auch auf audiovisuelle und an-dere kulturelle Dienstleistungenauszuweiten, solange wichtige na-tionale Interessen – wie sie sie beimöffentlich-rechtlichen Rundfunkund in den Förderprogrammen ge-geben sieht – berücksichtigt werden.

Creative Partnerships ist eine ak-tuelle Initiative zur Förderung kul-

tureller Bildung. Vom DCMS undvom Department for Education andSkills (DfES) finanziert, nimmt siezugunsten der Entfaltung kreativerFähigkeiten Einfluss auf den natio-nalen Lehrplan in den Künsten undNaturwissenschaften. Die Initiative,die kreatives Denken und Handelnals einen Grundpfeiler des Erzie-hungssystems versteht, vermitteltPartnerschaften zwischen Schulen,Schülern, Lehrern und Vertretern di-verser künstlerischer und wissen-schaftlicher Berufsgruppen. Sir Si-

mon Rattles erfolgreiche Music-in-Education-Programme, zu denendie Berliner Philharmoniker dieSchulen der Hauptstadt einladen,lassen diesen Ansatz derzeit auch inDeutschland sichtbar werden.

Die Verfasserin ist Kulturreferentinbeim British Council in

Deutschland ■

Fortsetzung von Seite 15

Page 16: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

World Summit on Information SocietyErster UN-Weltgipfel vom 10. bis 12. Dezember 2003 in Genf • Von Verena Metze-Mangold

Zufriedenheit zeigte sich schon amVorabend des ersten UN- Weltgipfelsüber die Informationsgesellschaft.Das drohende Scheitern war abge-wendet worden: Die einschlägigenMenschenrechte – das Recht aufMeinungsfreiheit und auf die „Wei-tergabe von Informationen und Ideendurch jede Art von Medien ohne Be-schränkung durch die Staatsgren-zen“ – waren in die Gipfeldokumenteaufgenommen worden.

Der Aktionsplan sah die Entwick-lung nationaler Gesetzgebun-

gen vor, die „die Unabhängigkeitund die Vielfalt der Medien garan-tiert“; damit waren auch die traditio-nellen Massenmedien und das Kon-zept kultureller Vielfalt eingebautworden. Der Schutz des Urheber-rechts in der Informationsgesell-schaft wurde in der Grundsatzerklä-rung ebenso festgeschrieben wie derfür die Kreativität einer Gesellschaftnotwendige gesellschaftliche Zu-gang zum Wissen, das „knowledgesharing“. Schließlich hatte sich dieEuropäische Union hinsichtlich derVerpflichtung der Teilnehmerstaa-ten zu Gesetzen in Bezug auf die Me-dien – Massenmedien wie Internet –durchsetzen können, um gegen„Rassismus, Rassendiskriminierung,Fremdenfeindlichkeit und damitverbundene Intoleranz, Hass, Ge-walt, alle Formen von Kindesmiss-brauch, Pädophilie, Kinderporno-graphie und Menschenhandel“ vor-gehen zu können. Qualitative Stan-dards und die Bindung an gesell-schaftliche Werte bestimmten damitweit mehr als ursprünglich gedachtdas Ergebnis des Weltgipfels.

Allerdings: Es gibt auch die Listeder mühsamen Kompromisse. Ga-rant eines erfolgreichen Genfer Gip-fels war in diesen Fällen zumeist dieVertagung in eine UN-Kommissionbis zur zweiten Gipfelrunde in Tunis

2005. Zu den besonders strittigenThemen, wo dies geschah, zähltedas Management des Internet. Nichtallein China, auch andere autoritärgeführte Staaten begehren das Netzzu überwachen, was gleichbedeu-tend mit ihrem Interesse ist, dieKontrolle des Internet der privatenamerikanischen OrganisationICANN – die einmal als erste inter-nationale Selbstregulierungsinstanzstartete – zu entziehen und einerzwischenstaatlichen Organisationzu übertragen.

Von dem „legitimen Interesse“der Regierungen, an der Aufsichtüber das Netz beteiligt zu sein,sprach auch EU-Kommissar ErkkiLiikanen. Der Kompromiss zwi-schen liberalen und autoritärenStaaten bestand zuletzt darin, dasheikle Thema einer UN-Kommis-sion “Internet-Governance” zuübertragen und bis Tunis zu verta-gen. Ein wachsweicher Kompromisskennzeichnete auch das ThemaSoftware. Die USA setzten sich dabeioffensichtlich zugunsten ihres welt-beherrschenden Konzerns Micro-soft Corporation durch. Der Alterna-tive „Free Software“, der im Blick aufdie tatsächliche Informationsfrei-heit, Zugangs- und Nutzungsrechtegerade in den ärmsten Ländernhohe Bedeutung zukommt, wurdeim Text schließlich gleichberechtigtdie „proprietäre“ Software zur Seitegestellt. Microsoft Corporation be-dankte sich postwendend mit einerSpende von „hunderttausendenDollar“ für die Bereitstellung vonComputern und Internet-Anschlüs-sen in Afrika.

Aufschiebende Wirkung hatteauch die Entscheidung zur Frage derEinrichtung eines digitalen Solidari-tätsfonds, eine Forderung derSchwellenländer, der G21, wie derG90, der ganz Armen. Wer nicht ander digitalen Entwicklung teil-

nimmt, so argumentieren sie, wirdin zunehmenden Maße von Infor-mationen, den Bausteinen der Wis-sensgesellschaft, ausgeschlossen.Und er kann die Kosten- und Effizi-enzvorteile, die mit Computer undTelekommunikation entstehen,nicht wahrnehmen. Also müsse einAusgleich her zur Überbrückung desdigitalen Grabens und zum Ausbauder Infrastruktur des Südens. DieUnterzeichnerstaaten bestätigtenzwar die Notwendigkeit, internatio-nalen Ungleichgewichten zu begeg-nen. Japan, Europa und die USAlehnten einen Fonds jedoch ab; siewollen zunächst einen Ausgleich an-derer Art in Form der Durchsetzunginternationaler Standards für Auf-sicht und Transparenz, die Herr-schaft des Rechts, sowie wettbe-werbsfördernde Bedingungen ver-wirklicht sehen. Auch für dieseFrage, so der notdürftige Kompro-miss, soll der UN-Generalsekretäreine TASK FORCE einrichten zurAusarbeitung von Empfehlungen biszum Gipfel in Tunis 2005.

170 Staaten waren in Genf ver-treten, 40 Staats- und Regierungs-chefs, 16 000 Menschen. An der Vor-bereitung der Ergebnisse warenerstmals in der UN-Geschichte dieVerbände von Wirtschaft und Zivil-gesellschaft beteiligt. Quer durchalle Gruppierungen ging der Streitum die Informationsfreiheit, die Zu-gangs- und Nutzungsrechte, jenePrinzipien also, auf deren Pfeilerndie künftige Informationsgesell-schaft global ruhen soll. Annäherun-gen bei diesem mühsamen gemein-samen Lernprozess sind nicht zuübersehen. • Im Laufe des Prozesses der Vorbe-

reitung hat sich der Schwerpunktdes einhergehenden internationa-len Diskurses von „Information“(und ihren technischen Vorausset-zungen) zu „Gesellschaft“ (und ih-

ren politischen Rahmenbedingun-gen) verschoben. Unvorhergese-hen für manche Regierung warGenf damit kein Nord-Süd-Gipfel,sondern ein Gipfel, der die gesell-schaftlichen Bedingungen künfti-ger Entwicklung weltweit allerStaaten betraf.

• Die Vision dieser Gesellschaft des21. Jahrhundert zeichnet sich nachGenf durch gleiche Standards fürdie Massenmedien und die NeuenMedien aus, die analoge und diedigitale Welt; die Entwicklung ei-nes Staates lässt sich daran fest-machen, ob in ihm vier demokrati-sche Prinzipien verwirklicht sind,das Recht auf freie Meinungsäuße-rung, grenzüberschreitender Zu-gang zum Wissen, gleiche Bil-dungschancen und die politischeröffnete Möglichkeit, kulturellesund sprachliches Erbe bewahrenund entwickeln zu können.

• Bei der Kernfrage des Zugangs al-lerdings stehen sich Konzerne inihrem Interesse, Information alsWare weltweit zu vermarkten –Software wie Inhalte, Patente undDienstleistungen – und mancheStaaten mit ihrem Interesse an in-haltlicher Kontrolle und hoheitli-cher Überwachung gelegentlich inihren Stoßrichtungen befremdlichnahe.

Die Internet-Aera begann mithochfliegenden Phantasien vonFreiheit, Gleichheit und Selbstregu-lation, schrieb die Neue Zürcher Zei-tung am letzten Konferenztag in ei-ner bemerkenswerten Analyse. Re-gierungen waren nicht willkommen.Mittlerweile aber habe die Wirklich-keit internationaler Machtpolitikauch das Internet eingeholt, es dau-erte keine zehn Jahre. Regierungenseien auf dem Weg, sich das Internetzu unterwerfen. Die politische Re-gionalisierung des Netzes sei in vol-

lem Gange, unterstützt von kom-merziellen Interessen, die bei Bedarfauch die Zensurtechnologie liefer-ten. ICANN suche inzwischen offendie Nähe zu Regierungen, weil sieden internationalen Privatsektornicht in den Griff bekomme. Das di-gitale Informationsnetz geht damitganz offensichtlich den Weg andererMedien. Und gegen Begehrlichkei-ten der Schwellenländer zeigten Eu-ropäer und die USA Mechanismeneines „amerikanisch-europäischenGlobalismus“ („G2“), wie er auch inder Welthandelsorganisation WTOanzutreffen sei.

„Die wiederkehrende Frage lau-tet“, schrieb Joseph Hanimann imNovember in der FAZ, „gedeiht kul-turelle Vielfalt“, – gedeiht Entwick-lung, könnte man hinzufügen – „ambesten im Wirbel größtmöglicherGrenzöffnung, wie das Liberalisie-rungslager meint, oder wird sie vondiesem Sog gerade erdrückt?“ ImSüden geben Erfolgsländer wie Ko-rea, Thailand oder Malaysia eineAntwort.

Auch die Kerneuropäer sind sichbei der Antwort gelegentlich unge-wöhnlich einig. Aber diese Einsichtins Internationale zu übersetzen,scheint bislang weder bei der WTOnoch beim Gipfel gelungen. Hiergreift die Habermas’sche Unter-scheidung vom verschleierten Kon-flikt zwischen Diplomatie und Mo-ral. Seine Aufhebung hieße:Deutschland und Europa profilierenihre Politik am eigenen Credo undsetzten sie international konzertiertum – bei der WTO, der UNESCO, denVereinten Nationen und dem weite-ren Gipfelprozess.

Die Verfasserin ist Vizepräsidentinder Deutschen UNESCO-

Kommission ■

Eine für alle, alle für eineZusammenarbeit auch über das Bewerbungsverfahren hinaus vereinbart • Von Olaf Zimmermann

Bereits zum zweiten Mal trafen sicham 04.02.04 die deutschen Bewer-berstädte für die KulturhauptstadtEuropas 2010 auf Einladung desDeutschen Kulturrates, um über dasBewerbungsverfahren zu sprechenund vor allem eine gemeinsame Öf-fentlichkeitsarbeit ins Auge zu fas-sen.

Das Treffen am 04.02.04 fand imEuropasaal des Auswärtigen

Amtes statt. Das Auswärtige Amt

machte damit seine Rolle im Bewer-bungsverfahren deutlich (siehehierzu auch den Beitrag von Groligin dieser Ausgabe). Neben dem Aus-wärtigen Amt nahmen auch Vertre-ter der Behörde der Beauftragten derBundesregierung für Kultur und Me-dien, der Kultusministerkonferenzund des Deutschen Städtetags teil.

Zur Zeit planen 16 Städte (Augs-burg, Bamberg, Braunschweig, Bre-men, Dessau/Wittenberg, Essen,Görlitz, Halle, Karlsruhe, Kassel,

Köln, Lübeck, Münster, Osnabrück,Potsdam, Regensburg), sich als eu-ropäische Kulturhauptstadt 2010 zubewerben.

Voraussichtlich im nächsten Jahrwird vom Bundesrat entschiedenwerden, welche Stadt gewinnenwird. Denkbar ist auch, dass derBundesrat der Europäischen Kom-mission und dem Europäischen Par-lament eine Auswahl von Städtenvorschlägt. In diesem Fall wird dieEntscheidung in Brüssel getroffen.

Bayern und Nordrhein-Westfalenwollen jeweils nur mit einer Bewer-berstadt in die nationale Ausschei-dung gehen. Die Auswahl innerhalbdieser Bundesländer steht kurz be-vor.

Das wichtigste und erfreulichsteErgebniss des Treffens am 04.02.04ist, dass die Zusammenarbeit derBewerberstädte nicht endet, wenneine Stadt das Rennen gemacht hat,sondern nach der Entscheidung dieausgewählte Europäische Kultur-

hauptstadt 2010 im Rahmen ihrerVeranstaltungen den anderen Be-werberstädten ein Podium bietet.Dieses zeugt von einer großen Soli-darität der Städte untereinanderund verleiht der Bewerbung Nach-haltigkeit. Gerade die Nachhaltigkeitkulturpolitischer Entscheidungenund Entwicklungsprozesse solldurch die Wahl einer Stadt zur Kul-turhauptstadt Europas ausgezeich-net werden. „Kulturhauptstadt Eu-ropa“ soll von der Idee her, ebenkein Event für ein Jahr sein, sondernbereits vorher und nachher sich po-sitiv auf kulturpolitische Entschei-dungsprozesse auswirken. Die ver-einbarte Zusammenarbeit auchüber das Bewerbungsverfahren hinaus zeichnet bereits im Vorfeldalle Bewerberstädte durch eben die-sen Nachhaltigkeitsfaktor aus.

Weiter wurde beim Treffen imFebruar eine Arbeitsgruppe „Öffent-lichkeitsarbeit“ gegründet, die einegemeinsame mediale Präsentationvorbereitet. Der Deutsche Kulturratwurde gebeten, die Organisation derArbeitsgruppe zu übernehmen. DerKultursender 3sat hat bereits zuge-sagt, alle Bewerberstädte in seinem„Kultur-Tüv“ im Sommer 2004 ein-gehend unter die Lupe zu nehmen.

Das nächste Treffen der Bewer-berstädte wird wiederum auf Einla-dung des Deutschen Kulturrates imSeptember 2004 in Berlin stattfin-den.

EUROPA/INTERNATIONALES politik und kultur • März - April 2004 • Seite 17

Die Bewerberrunde im Europasaal des Auswärtigen Amtes Foto: Susanne Glauert

Page 17: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

BILDUNGSREFORM politik und kultur • März - April 2004 • Seite 18

Schule als offenes Haus des LernensKulturelle Bildung in den Lehrplänen Schleswig-Holsteins • Von Ute Erdsiek-Rave

Schulische Bildung verfolgt das Ziel,„die geistigen, seelischen und kör-perlichen Fähigkeiten des jungenMenschen unter Wahrung desGleichberechtigungsgebots zu ent-wickeln“. So legt es das Schleswig-Holsteinische Schulgesetz fest.

Kulturelle Bildung ist ein wesent-licher, grundlegender Bestand-

teil dieser insgesamt sehr umfassen-den Zielsetzung. Als Kernproblemund Querschnittsaufgabe haben wirsie in allen schleswig-holsteinischenLehrplänen verankert. In Schuleund Unterricht steht kulturelle Bil-dung unmittelbar und mittelbar aufdem Stundenplan.

Künstlerische Fähigkeiten sowiedie entsprechenden Kenntnisse imengeren Sinn entwickeln die ein-schlägigen Fächer Kunst, Techni-sches Werken oder Musik. Teil diesesUnterrichts ist auch der reflektierteUmgang mit Medien aller Art. Kulturund Bildung sind jedoch nicht von-einander zu trennen, man kann sienicht auf ein schmales Segment re-duzieren. Sämtliche Unterrichts-fächer bilden kulturgeschichtlicheund kulturelle Kompetenzen aus –von Deutsch oder Religion bis zuden musischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Angebo-ten. Dies gilt grundsätzlich als con-ditio sine qua non und kann im Ein-zelfall projektbezogen vertieft wer-den. Schülerinnen und Schüler derRealschule Lübeck-Moisling zumBeispiel beschäftigen sich im Rah-men von „denkmal aktiv“ in den Un-terrichtsfächern Technik, Ge-

schichte und Wirtschaft/Politik mitzwei beweglichen Brücken über denElbe-Lübeck-Kanal, die unter Denk-malschutz stehen. So wird kulturelleBildung zur Querschnittsaufgabe.

Schule garantiert kulturelle Bil-dung anhand des lehrplangerechtenUnterrichts und indem sie die Fä-cher stärkt, in denen unmittelbarKulturkompetenzen vermittelt wer-den. Auf keinen Fall dürfen ver-meintlich „weiche Fächer“ gegen dieso genannten „harten Fächer“ aus-gespielt werden. In Schleswig-Hol-stein haben wir mit Beginn desSchuljahres 2003/04 die Initiative„Jede Stunde zählt!“ gestartet, umdas Bewusstsein für den Wert jedereinzelnen Unterrichtsstunde zuschärfen und Unterrichtsausfall ge-nerell so weit wie möglich zu redu-zieren. Um speziell den schulischenMusikunterricht zu stärken, hat dasBildungsministerium mit dem Lan-desverband der MusikschulenSchleswig-Holstein e.V. eine Rah-menvereinbarung geschlossen; da-nach können alle im Verband orga-nisierten Musikschullehrerinnenund Musikschullehrer an allgemein-bildenden Schulen musikpraktischeKursangebote, Projekte, Arbeitsge-meinschaften oder Nachmittags-kurse anbieten.

Engagierte Lehrer lenken zu-gleich die Aufmerksamkeit auf kul-turelle Programme, etwa auf Schau-spiel- und Konzertangebote, Litera-turveranstaltungen, Museen oderAusstellungen, auf Theater-, Foto-,Film-AGs an der Schule bzw. vor Ort.Sie nehmen Kooperationsmöglich-keiten wahr – mit der DeutschenStiftung Denkmalschutz oder mitortsansässigen Büchereien etc. Undsie weisen auf überregionale Initiati-ven hin, sei es auf die Sommeraka-demie auf dem Scheersberg, die seit1992 während der großen Ferien fürKinder und Jugendliche spezielleKurse in Bildender Kunst und künst-lerischem Gestalten anbietet, oderauf „Jugend musiziert“.

Ein weiter Kulturbegriff, wie erdem schulischen Bildungsauftrag zuGrunde liegt, erfordert es, alle Un-terrichtsfächer und das gesamteschulische Leben in den Blick zunehmen. Wir haben – insbesonderenach den Ergebnissen der PISA-Stu-die – für Schleswig-Holstein eineReihe von Maßnahmen beschlos-

sen, mit denen wir die Unterrichts-qualität sichern und verbessernbzw. mehr Unterrichtserfolg garan-tieren. Der Bogen reicht von derSchulprogrammarbeit und der Ent-wicklung von individuellen Lernplä-nen für besonders gute bzw. beson-ders schwache Schüler über geson-derte Angebote zur Sprachförde-rung bis hin zur Einführung vonStandards und Schul-TÜV. Darüberinformieren im Detail „Schule aktu-ell“ und der Landesbildungsserver(www.lernnetz-sh.de).

Zur kulturellen Bildung durchSchule gehört selbstverständlichauch, dass die persönlichen und so-zialen Fähigkeiten von Kindern undJugendlichen weiter entwickelt wer-den. Junge Menschen sollen ihre ei-genen Interessen entdecken bzw.entfalten und Zukunftsperspektivenerkennen. Sie lernen, zunehmendselbstbestimmt zu entscheiden, zuhandeln und zu leben. Sie sollenVerantwortung füreinander über-nehmen, tolerant und respektvollmiteinander und mit Dritten umge-hen. Kinder und Jugendliche erpro-ben die Teilhabe an demokratischenInstitutionen wie der Schülervertre-

tung oder partizipieren an der „Ju-niorwahl“, einer simulierten Ab-stimmung über die neue Zusam-mensetzung des Europäischen Par-laments. Kulturelle Bildung be-schränkt sich keineswegs auf das Le-sen oder Musizieren, auch zahlrei-che Schülerzeitungsinitiativen oderdie Bereitschaft, an europäischenWettbewerben teilzunehmen, sindIndikatoren für erfolgreiche kultu-relle Bildung.

In Schleswig-Holstein gibt es da-rüber hinaus eine Organisation, diegeradezu als Paradebeispiel geltenkann: Im Jahr 1992 haben Schülerin-nen und Schüler die Initiative

„Schüler Helfen Leben“ gegründet,die seither – vor allem über den jähr-lichen Sozialen Tag – rund 9 Millio-nen Euro gesammelt hat. Mit diesenSpenden sind in den vergangenenJahren 110 Aufbau-, Friedens- undVersöhnungsprojekte für Kinderund Jugendliche, insbesondere aufdem Balkan, unterstützt worden.Um die verschiedenen Projektelangfristig abzusichern, ist mittler-weile die erste deutsche Schülerstif-tung gegründet worden. Auf diesesherausragende Engagement vonKindern und Jugendlichen sind wirin Schleswig-Holstein sehr stolz,weil Schülerinnen und Schüler da-mit aus eigenem Antrieb einennachhaltigen Beitrag zum „Aufbauund Erhalt der Zivilgesellschaft“leisten (nähere Informationen un-ter: www.shl-online.de/SHL/pages/index.jsp).

Kulturelle Bildung, die per Defi-nition sehr weit zu fassen ist, darfnicht alleinige Aufgabe von Schulesein. Eltern und Erzieher sindebenso in der Pflicht wie die Gesell-schaft, die Medien und die Heran-wachsenden selbst. Niemand sollteseine Zuständigkeit an andere dele-

gieren. Im Gegenteil: jede Instanzträgt zur kulturellen Bildung bei undmuss diese Aufgabe bestmöglichwahrnehmen. Dieses Miteinanderwird umso besser gelingen, je mehrsich die Schulen öffnen.

Wir wollen Schule zu einem offe-nen Haus des Lernens umgestalten.Das beschränkt sich nicht auf denUnterrichtsvormittag. Nach Mög-lichkeit sollen die Schulen auch anden Nachmittagen offen stehen, umdie Bildungs- und Entwicklungs-chancen von Kindern und Jugendli-chen zu verbessern. In Schleswig-Holstein gibt es derzeit 23 gebun-dene Ganztagsschulen, 84 offene

Ganztagsschulen und darüber hi-naus ca. 50 Schulen mit Ganztags-angeboten, das sind etwa 15 % allerallgemeinbildenden Schulen. MitUnterstützung durch das Investiti-onsprogramm der Bundesregierung„Zukunft Bildung und Betreuung“wollen wir bis 2007 20 % aller schles-wig-holsteinischen Schulen zu Offe-nen Ganztagsschulen umgestalten.

Diese Ganztagsangebote deckeneine große Bandbreite ab: vom Mit-tagstisch und der Hausaufgaben-hilfe über Musik-, Sport-, Umwelt-oder Computerkurse bis hin zu sozial-psychologisch-therapeutischen undintegrativen Maßnahmen (Stressbe-wältigung, Psychomotorik, Integra-tionsprojekte für Migrantinnenetc.). Die Angebote richten sichnach dem Bedarf und nach denMöglichkeiten vor Ort. Die Jugend-hilfe, Vereine und Verbände, aberauch Privatinitiativen entwickelnzusammen mit den Schulen – alsomit der Schulleitung, mit den Schü-lerinnen und Schülern, mit den Leh-rerinnen und Lehrern und mit denEltern – ein Themen- und Veranstal-tungsnetzwerk. Davon profitierennicht bloß die Schulen und alle anihr Beteiligten, davon profitierenauch die Anbieter, die Vereine undOrganisationen, selbstverständlichauch einzelne Kulturgüter und daskulturelle Erbe. Schülerinnen undSchüler der Stapelholm-Schule inErfde etwa wollen in Zusammenar-beit mit einem Schmied altes Hand-werksgerät für eine Präsentationaufbereiten. Dieses Beispiel belegt:ein derartiges Engagement schafftHeimat und Identität, es stärkt dasSelbstbewusstsein, es trägt zur kul-turellen Bildung bei. Es belegt auch,dass Ganztagsangebote eine idealePlattform sind, um im Umfeld derSchulen Netzwerke zu entwickelnbzw. vorhandene Netzwerke zu er-weitern, die mehr und erfolgrei-chere Bildungsprozesse für alleSchülerinnen und Schüler garantie-ren.

Die Verfasserin ist Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Forschung

und Kultur des Landes Schleswig-Holstein ■

Ute Erdsiek-Rave Foto:Kultusministerium Schleswig-Holstein

Schüler im Projekt „denkmal aktiv“ beschäftigen sich mit denkmalgeschütztenBrücken über Elbe-Lübeck-Kanal Foto: Realschule Lübeck-Moisling

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BILDUNGSREFORM politik und kultur • März - April 2004 • Seite 19

Die Offene Ganztagsgrundschule in DetmoldZwei Grundschulen im Kreis Lippe an den Start gegangen • Von Friedrich Brakemeier

Für mehr als 150 Schulkinder undihre Eltern in Detmold begann imSommer 2003 mehr als nur einneues Schuljahr. Sie zählen zu denPionieren eines neuen Angebotes inNordrhein-Westfalen: Der OffenenGanztagsgrundschule. „Neue Chan-cen für Kinder“ verspricht die Lan-desschulministerin Ute Schäfer undführt Bildung, Erziehung und Betreu-ung der Grundschulkinder unter ei-nem Dach zusammen. In Detmoldsind mit der Weerthschule und derBachschule zwei Grundschulen alserste im Kreis Lippe an den Start ge-gangen.

Die Stadt Detmold und die betei-ligten Grundschulen haben das

Landesprogramm „Offene Ganz-tagsschule“ von Anfang an positivaufgenommen und im Gegensatz zuvielen anderen Kommunen nebenKraft und Zeit auch einen erhebli-chen Anteil eigener Ressourcen auf-gebracht, um das Gelingen des Pro-jektes zu gewährleisten. Vorausge-gangen war die Bildung einer „Len-kungsgruppe“, bestehend aus Politi-kern aus dem Jugendhilfe – und demSchulausschuss, Vertretern vonWohlfahrtsverbänden, Jugendver-bänden, der Stadtverwaltung (Ju-gendamt und Schulverwaltungs-amt) und dem Vorsitzenden derGrundschulleiterkonferenz.

Gemeinsam wurden Ziele für dieOffene Ganztagsgrundschule entwi-ckelt. Dabei wurde besonderes Ge-wicht auf die Qualität des neuen An-gebots gelegt und ausgedrückt, dassdie Qualitätsstandards, die im Ge-setz für Tageseinrichtungen für Kin-der für die Betreuung von Schulkin-dern verankert sind, möglichst auf-recht erhalten werden. Deutlichwurde betont, dass die Bildungs-,Erziehungs- und Betreuungsauf-träge von Schule und Kinder- undJugendhilfe miteinander verknüpftwerden sollen.

Festgeschrieben wurden darü-ber hinaus die Ziele, die sozialenKompetenzen der Grundschulkin-der auszubauen, unterschiedlicheProfessionen und unterschiedlichesKnow-how zusammen zu bringenund die Zusammenarbeit von Kin-dertageseinrichtungen und Schulenzu verstärken. Dass Eltern durch dieEinrichtung der Offenen Ganztags-schule die Sicherheit gegeben wird,ihre Kinder gut und verlässlich auf-gehoben zu wissen, um Familie undBeruf besser vereinbaren zu können,war den Mitgliedern der Lenkungs-

gruppe ein zentrales Anliegen. Klarwar ihnen auch, dass gerade sozialschwache Familien nicht ausge-grenzt werden sollen. Deshalbwurde vereinbart, die Elternbeiträgenach dem Familieneinkommen zustaffeln und davon auszugehen,dass für eine Reihe von Kindern keinElternbeitrag gezahlt werden kann.

Ein weiteres wichtiges Zielwurde formuliert: Die Berücksichti-gung der besonderen Stellung derTräger der freien Jugendhilfe. Daspädagogische Konzept der teilneh-menden Grundschulen beinhaltetdaher die enge Zusammenarbeitzwischen Jugendhilfe und Schule. Inden Offenen Ganztagsgrundschulenwurden einzelne Gruppen mit je-weils 25 Schulkindern gebildet, fürdie es über den Unterricht hinausein Förder- und Betreuungsangebotgibt. Die Stadt Detmold sowie diebeiden Schulen haben die Vorgabendes Landes nach den Bedürfnissender Eltern und ihrer Kinder so ge-staltet, dass nun ein qualitativ hoch-wertiges Programm in großer Vielfaltangeboten wird.

Der Tagesablauf der OffenenGanztagsschulen wird von 7:00 Uhr

bis 16:30 gestaltet und umfasst eineBetreuung vor Unterrichtsbeginn,den Regelunterricht am Vormittagund die außerunterrichtlichen An-gebote nach Schulschluss. Ein täg-lich frisch zubereitetes Mittagessenmit anschließender Hausaufgaben-zeit, Projekt- und auch Kursange-bote runden den Tag ab. Mit einer

Kirchengemeinde, dem Stadtsport-verband, dem Lippischen Landes-museum, Paulines Töchtern e.V.,DRK, dem Kaufhaus Allerhand, demVerein zur interkulturellen Förde-rung ausländischer Kinder und Ju-gendlicher und den Fördervereinender beiden Schulen sind dazu Koo-perationsvereinbarungen getroffenworden, um die Zusammenarbeit zuregeln.

Die außerunterrichtlichen Ange-bote am Nachmittag decken einvielfältiges und abwechslungsrei-ches Kursprogramm ab, dass vonFörderkursen für die Lernfelder Le-sen/Schreiben und Mathematik,künstlerischen und handwerklichenInhalten bis zu Museumsprojektenund Entspannungskursen reicht.

Zwei städtische Horte sind in derZwischenzeit aufgelöst worden. Die

dort arbeitenden Erzieherinnen ha-ben ihren neuen Arbeitsplatz in derOffenen Ganztagsschule gefundenund sind jetzt die Bezugspersonenfür die Schülerinnen und Schüler inden sechs Gruppen.

Ich begrüße als Bürgermeisterder Stadt Detmold die Einrichtungder Offenen Ganztagsschule und

freue mich, dass Detmold unter denPionieren ist, die dieses wichtigeProjekt auf den Weg gebracht haben.Ich bedanke mich bei allen ausSchulen, Politik und Verwaltung, diedazu beigetragen haben, in relativkurzer Zeit ein anspruchvolles Pro-gramm zu erarbeiten. Die offeneGanztagsgrundschule wird denSchulalltag in den beteiligten Schu-len verändern. Sie wird entschei-dend dazu beitragen, Familie undBeruf besser miteinander zu verein-baren und sie wird einen wichtigenImpuls für mehr Chancengleichheitund für eine bessere, individuellereFörderung der Kinder vom erstenSchultag an leisten.

Die Bundesregierung unterstütztdas Projekt Offene Ganztagsschulein Detmold mit Mitteln für Investi-tionen und Ausstattungen. Nur des-

halb war es auch möglich, die erfor-derlichen Räumlichkeiten so umzu-gestalten, dass die Schulkinder in ih-ren Gruppen außerhalb des Unter-richts während der ergänzenden An-gebote hier betreut werden können.

Die nordrhein-westfälische Lan-desregierung hat sich zum Ziel ge-setzt, bis zum Jahr 2007 einem Vier-

tel aller Grundschüler einen Ganz-tagsplatz in der offenen Ganztags-grundschule anzubieten.

Die Idee der Offenen Ganztags-grundschule wurde in Detmoldnicht uneingeschränkt mit Begeis-terung aufgenommen. Zwischen-zeitlich sind viele Skeptiker aber vondieser zukunftsorientierten neuenSchulform überzeugt. Es gibt bereitsweitere Bewerbungen von den rest-lichen 11 Grundschulen für die Ein-richtung einer Offenen Ganztags-grundschule. Zwei weitere sollenmit dem Schuljahr 2004 / 2005 inDetmold an den Start gehen.

Der Verfasser ist Bürgermeister derStadt Detmold ■

Detmolds Bürgermeister Friedrich Brakemeier weiht die offene Ganztagsschule ein Foto: Stadt Detmold

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BILDUNGSREFORM politik und kultur • März - April 2004 • Seite 20

Lernprozess mit offenem AusgangBildung und Kultur bekommen zunehmende Wichtigkeit • Von Egon Vaupel

Von Politikern wird verlangt, dasssie rasch und entschlossen Antwor-ten geben. Selten aber gab es eineZeit, in der die Zahl der drängendenFragen schneller wuchs als derzeit.Doch je drängender und vielfältigerdiese Fragen an unsere Zukunft wer-den, desto mehr schält sich für micheine Antwort von strategischer Trag-weite heraus: Bildung und Kultur alsöffentliche Güter bekommen eine zu-nehmende Wichtigkeit. Wichtig fürdie Zukunft unserer Gesellschaftund wichtig aus der Perspektive derChancengerechtigkeit für den Einzel-nen.

Nicht ganz ohne Besorgnis habeich die Debatte um die Pisa-

Studie verfolgt. Natürlich war zu er-warten, dass die verschiedenen bil-dungspolitischen Lager die alarmie-renden Daten dazu nutzen wollten,um ihre jeweilige Sicht zu unter-mauern. Schließlich entwickeltesich zumindest Einigkeit darüber,dass das bundesdeutsche Schulsys-tem im internationalen Vergleich so-ziale Spaltung allzu stark verfestigt.Soziologen nennen das auch „so-ziale Vererbung“.

Bildungssysteme anderer Ländergründen ihren Erfolg auf stärkereFörderung statt Auslese und vor al-lem auf die Ganztagsschule. Aberbei einer Einigung auf dieses Zielmüssen wir eine Gefahr vermeiden:dass wir nur mehr strikt messbareLeistungssteigerung in Lesen,Schreiben, Rechnen anstreben, zu-rück zu einer reinen Paukschulekehren. Ich sage dagegen: Ohne denBereich kreativer oder kulturellerBildung unterschlagen wir wesentli-che Dimensionen – für den einzel-nen Schüler wie perspektivisch fürdie Gesellschaft als Ganze.

Dazu zwei Anmerkungen: DerFrankfurter Musikpädagoge Prof.Hans Günther Bastian hat 2001 miteiner groß angelegten empirischenStudie Aufsehen erregt: Er fand he-raus, dass aktives Musizieren Kinderund Jugendliche nicht nur im emo-

tionalen und sozialen Bereich för-dert. Dieses musikalische Engage-ment steigert auch maßgeblich dieIntelligenzentwicklung. Ich bin si-cher: Ähnliches ließe sich auch überandere Formen kultureller Bildungermitteln.

Zweite Anmerkung: Viele hat dersozialdemokratische Vorschlagüberrascht, Deutschlands Hoch-schullandschaft durch Spitzenuni-versitäten aufzuwerten. Der Blickfiel dabei auf amerikanische Elite-Universitäten, denen übrigens eineviel größere Zahl an mäßigen Pro-vinz-Universitäten gegenüber ste-hen. Aber wer sich in Harvard oderStanford umschaut, wird überraschtfeststellen: Kulturelle Fähigkeitenund soziales Engagement spielendort eine außerordentlich gewich-tige Rolle.

Als Schul- und Kulturdezernentder Universitätsstadt Marburg habeich aus diesen Umständen Konse-quenzen gezogen: • Wir forcieren die Entwicklung zur

Ganztagsschule.• Auch in Zeiten schwieriger Haus-

haltsbedingungen darf der Kultur-bereich – und v. a. der Kulturetat –nicht aufs Spiel gesetzt werden,selbst wenn immer von „freiwilli-gen Leistungen“ die Rede ist.

• Im letzten Jahr habe ich den Startfür das Projekt „Lokale Bildungs-planung“ gegeben. Hinter dem et-

was spröden Begriff verbirgt sichdie Anstrengung, zu Kooperatio-nen zwischen außerschulischenTrägern in den Bereichen Kultur,Sport und Bildung mit den sichganztags ausweitenden Schulenzu motivieren.

Nun kann eingewandt werden:Schulpolitik ist Ländersache. DieKommune mag sich als Schulträgerdamit bescheiden, die Schulge-bäude in Ordnung und die Schul-höfe in Sauberkeit zu halten. SolcheSelbstbeschränkung wäre unverant-wortlich. Angesichts der Bildungs-misere müssen wir alle Chancennutzen. Kommunen mit ihrer be-sonderen Nähe zu außerschulischenKulturträgern können hier kultur-und bildungspolitische Akzente set-zen, zum Nutzen der Kulturträgerwie der Schulen.

In Marburg engagieren sich imRahmen der „Lokalen Bildungspla-nung“ die Musikschule und dieKunstwerkstatt in Schulen. DieStadtbücherei hat einen ganzen Ka-talog von altersspezifischen undprojektorientierten Lese-Aktions-Programmen für Schulen erarbeitet,die sich großer Beliebtheit erfreuen.Freie Theatergruppen bereitenSchulprojekte vor, der Verein „Lite-ratur und Schule“ vermittelt Auto-ren-Lesungen. Im Januar 2004 zogdas Hessische Landestheater nach„Die Müllmaus“ von Alma Jongerius

begeistert das Publikum schon inKindergärten. Mit Kai Hensels Stück„Klamms Krieg“ über Gewalt zwi-schen Lehrern und Schülern de-monstriert das Landestheater, wasTheater in der Schule und Theaterüber Schule kann. Und wie eine In-stitution auch zu Schülern findet,deren Eltern sie nie über dieSchwelle eines Stadttheaters gelei-ten würden.

Wir stehen in Marburg am An-fang. Beim Kinder- und Jugendthea-terfestival im März, bei dem dieSchülerinnen und Schüler nicht nurTheater sehen, sondern eine fastvierstellige Zahl in Workshops auchTheater praktiziert, werden Referen-ten aus Finnland und Schweden unserzählen, wie viel weiter der Wegdort beschritten ist.

Wir werden angesichts des weitenWeges nicht in hektische Betriebsam-keit eines „bunten Irgendwie“ verfal-len. Wir wollen Schritt für Schritt vor-gehen und reflektieren, wie wir selberuns dabei gemeinsam weiter entwi-ckeln. Die Kommunen und die freienTräger, aber auch die Schulen aufdem Weg in die Ganztagsschule, be-ginnen einen spannenden Lernpro-zess mit offenem Ausgang. Nur so ge-winnen wir Zukunft!

Der Verfasser ist Schul- und Kultur-dezernent der Universitätsstadt

Marburg ■

Kinder zum OlympKulturelle Bildung zwischen Küken und berühmten Dirigenten • Von Max Fuchs

Unter dem Motto „Kinder zumOlymp“ hat die Kulturstiftung derLänder zusammen mit weiteren Part-nern nicht nur ein schönes Buch zurkulturellen Bildung von Kindern undJugendlichen herausgebracht, son-dern vom 29. bis zum 31.1.2004 imGewandhaus in Leipzig einen bemer-kenswerten Kongress mit vielen pro-minenten KünstlerInnen und Politi-kerInnen veranstaltet. Der Kongressergänzte die Grundsatzbeiträge desBuches, die das Thema vom Kinder-garten bis zum Kulturmarketing be-handeln und in 85 gut präsentiertenProjekten verdeutlichen. BekannteKünstler, wie etwa Baselitz, Forsy-the oder Fischer-Dieskau wurden zu-sätzlich als „Paten“ gewonnen.

Der Kongress griff all diese The-men vertiefend auf – in Grund-

satzreden, Podiumsdiskussionen,parallelen Podien und immer wiederauch in Aufführungen gelungenerKinder- und Jugendkulturarbeit.Man konnte viele Persönlichkeitenerleben, die man bislang nur vomBildschirm oder aus der Zeitungslek-türe kannte. In subjektiver Auswahleinige Erinnerungen: Grandios derEinstieg mit gelungenen Animatio-nen und Improvisationen aus demTheater „Die Schotte“ aus Erfurt. Lei-der hat nur der Teil der begeistert ap-plaudierenden Besucher und vor al-lem der PolitikerInnen, der das Fo-rum „Außerschulische Angebote“ be-sucht hat, die massive Klage von Re-nate Lichnok, der Leiterin derSchotte, mitbekommen, unter wel-cher Mühe jährlich die Mittel zusam-mengebettelt werden müssen. Denndie Schotte gehört zu jenem Kreis all-täglicher Kulturarbeit jenseits promi-nenter Kulturnamen, die aus demKreis der „Großfamilie“ der Bundes-vereinigung kulturelle Jugendbildungheraus Tag für Tag die pädagogisch-künstlerische Kärrnerarbeit verrich-tet. Der Bundespräsident hat in ge-wohnt lockerer Form die inhaltlich

präziseste Rede gehalten. Er argu-mentierte auf der Grundlage derTheorie und Praxis eben dieser tradi-tionsreichen Kinder- und Jugendkul-turarbeit und fand für die Forderung,endlich durch geeignete (grund-)ge-setzliche Maßnahmen Kultur undkulturelle Bildung zur Pflichtaufgabezu machen, begeisterte Zustimmung.

Es gab viele PolitikerInnen-Re-den und Statements, von der Kultur-staatsministerin, Frau Weiss, überden allgegenwärtigen Steffen Reiche(der immer wieder Ministerkollegenersetzen musste, deren Anreise demSchneechaos zum Opfer gefallen ist),Karin Wolff und Jan-Hendrik Olbertz.Besonders hervorzuheben ist dieüberaus gelungene Idee, in jede Dis-kussionsrunde Jugendliche hinein-zusetzen, oft mit herzerfrischendenStatements. Mit den Politikerreden –die meisten mit stark missionieren-den Anteilen für die „gute Sache“ –hatten viele Praktiker jedoch dasProblem, dass es gerade die Politik-KollegInnen dieser Politiker sind, andenen das Anliegen kultureller Bil-dung abprallt. Daher zeigen diewohlmeinenden Überzeugungsver-suche der Redner bei den Anwesen-den in die falsche Richtung. Hierkam mir vielmehr das Positionspa-pier des Bundesjugendkuratoriumsin den Sinn („Über den irrationalenUmgang der Gesellschaft mit der Ju-gend“), denn es findet durchausauch im Kompetenzbereich derLeipziger Befürworter kultureller Ju-gendbildung eine Schließung vonBibliotheken, eine Reduzierung derFörderung, eine Verschlechterungder Arbeitsbedingungen der alltägli-chen Kulturarbeit statt.

Aus der Fülle der fachlichen Bei-träge will ich willkürlich einige we-nige Themen herausgreifen. Auf derpraktischen Ebene ist es zur Zeit dieGanztagsschule, die nach dem Zwei-ten Weltkrieg für die außerschuli-sche Jugend- und Kulturarbeit, zu-mindest in Westdeutschland, die

größte Bedrohung darstellt. Sowichtig die Argumentation ist, dassdie Schule alle Kinder und Jugendli-chen erreicht und von daher guteChancen auch für die außerschuli-sche Kulturarbeit bietet, hängt es inder Praxis entscheidend von denRahmenbedingungen ab, wie dieseChancen auch genutzt werden kön-nen. Man braucht nämlich spezifi-sche zeitliche, räumliche, personelleund finanzielle Ressourcen, damitdie außerschulische Kulturarbeitihre Stärken auch entfalten kann.Die derzeit beobachtbaren Maßnah-men der Schulpolitik lassen jedochkaum die Hoffnung zu, dass einesolche Kooperation von Schule undJugendarbeit „auf gleicher Augen-höhe“ möglich wird.

Ein zweiter hochbedeutsamerinhaltlicher Beitrag kam aus derNeurobiologie. Die MagdeburgerWissenschaftlerin Anna KatharinaBraun ergänzte den diesbezüglichenArtikel von Wolf Singer im Begleit-buch. Zwei Experimente wurdenvorgestellt: Ein Experiment mit Kü-ken, bei dem man im ersten Fall dasKüken völlig isolierte und so emo-tionalen Stress herstellte, im ande-ren Fall eine Hühnerattrappe mitGeräuschen installierte, die das Kü-ken auch gleich freudig erregt alsMutter akzeptierte. Es konnte über-zeugend gezeigt werden, dass es inbeiden Fällen zu völlig unterschied-lichen Entwicklungen in der Physio-logie des Gehirns kam.

Es wurde so die These erhärtet,dass emotionale Unterstützung ge-rade in den ersten Lebensjahren vonunersetzbarem Wert ist. Ähnlicheswurde an Rattenpärchen gezeigt,wobei hier der Akzent auf dem Nach-weis lag, wie wichtig der Vater für dasKind ist. Auf der Basis des Wissens,dass sich physiologisch die Gehirnezwischen Huhn, Ratte und Menschkaum unterscheiden, wurde aus die-sen Tierversuchen – ganz so, wie esder Verhaltensforscher Konrad Lo-

renz getan hat, auf den sich die Refe-rentin explizit bezog – auf den Men-schen geschlossen. Die Experimentelaufen zwar noch. Aber schon entwi-ckelt man eine „Biodidaktik“, die dieForschungsergebnisse der Tierversu-che auf menschliches Erziehungs-verhalten übertragen soll.

Wozu an dieser Stelle dieser rela-tiv ausführliche Bericht? Neurobio-logie ist eine reine Naturwissen-schaft. Man arbeitet mit klaren Ge-setzmäßigkeiten und Kausalitäten,man nutzt relativ einfache Modellevon „Geist“ und vom „Menschen“.Denn „Geist“ und „Mensch“ werdenhier nur als das verstanden, was inder biologischen Sichtweise relevantund erfassbar ist. Das ist natürlichsoweit legitim. Doch macht mannunmehr das, was seit Beginn derNeuzeit bekannt ist: Man hält diefachspezifischen (und dort auch le-gitimen) Modelle für den lebendigenMenschen selbst, für den realenMenschen, mit dem es die Künsteoder auch die Geisteswissenschaftenzu tun haben. Kurz: Man überdehntvöllig seine spezifische fachlicheSicht. Im 18. Jahrhundert waren esHolbach, la Mettrie oder Helvetius,die den Menschen als Maschinenachbildeten. Vor 30 Jahren war dieKybernetik die Heilslehre. Heute istes eine Mischung von Biologie undComputerwissenschaft, die uns sa-gen will, was „der Mensch“ ist undbraucht. Bemerkenswert ist, wie dieKulturpädagogik insgesamt und spe-ziell die Musikpädagogik einen sol-chen Deutungsanspruch einer spe-zialisierten Naturwissenschaft ak-zeptiert, nur weil einige Ergebnisse,die seit Jahrhunderten die allenPraktikern bekannte Erkenntnisstützen, dass künstlerische Praxisauch etwas mit dem Ausbau innererpsychischer Strukturen zu tun hat.Wie weit die Überlassung des Deu-tungsrechtes, was „Geist“ bzw.„Mensch“ ist, geht, kann man etwain einer Artikelserie der FAZ sehen,

die von prominenten Neurowissen-schaftlern gestaltet wird: Aus derSicht dieser Fachwissenschaftenwerden zentrale Begriffe wie Frei-heit, Gewissen, Verantwortlichkeitobsolet. Dass diese Disziplinen Defi-nitionsprobleme mit diesen Grund-lagenkonzepten der Zivilisation ha-ben, mag noch angehen. Nur darauszu schließen, dass es insgesamt sinn-lose Begriffe sind, ist eine in der Ge-schichte oftmals vorgekommeneHybris von Spezialisten.

Wie geht es nach dem Kongressweiter mit der kulturellen Bildung?Die Kulturstiftung der Länder hatdas Verdienst, mit einem Pauken-schlag in der Kulturpolitik – unddort vor allem bei Einrichtungenund Personen der „Hochkultur“ –nachhaltig einen Stab für kulturelleBildung gebrochen zu haben. Das istauch dann ausgezeichnet, wennman – wie geschehen – ein wenigblind gegenüber der Realität war,dass seit 50 Jahren eine breit ausge-baute Infrastruktur kultureller Bil-dung existiert, freilich nur selten mitder Medienresonanz und Promi-nenz wie in Leipzig.

Daher wäre es nach dieser gelun-genen Profilierung der Veranstaltergut, nunmehr den Schulterschlussmit dieser Praxis zu suchen und diegeknüpften Kontakte zugunsten derKinder und Jugendlichen weiter aus-zubauen. Der Alltag braucht sicher-lich immer wieder Events. Doch dannfahren alle nach Hause und müssendort ohne Simon Rattle und seineBerliner Philharmoniker, die mit ei-nem schönen Choreographieprojektmit benachteiligten Jugendlichenvorgestellt wurden, die ganz alltägli-che kulturelle Bildungsarbeit mit Kin-dern und Jugendlichen verrichten.

Der Verfasser ist Vorsitzender desDeutschen Kulturrates und

Vorsitzender der BundesvereinigungKulturelle Jugendbildung ■

Egon Vaupel Foto: Stadt Marburg

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WERT DER KREATIVITÄT politik und kultur • März - April 2004 • Seite 21

Der Film-, Fernseh- und Theaterregis-seur Andreas Dresen wurde 1963 inGera geboren. Nach Stationen alsTontechniker am Schweriner Theaterund als Volontär im DEFA-Studio fürSpielfilme studierte er Regie an derHochschule für Film und Fernsehen„Konrad Wolf“ in Potsdam-Babels-berg. Einem größeren Kinopublikumwurde er 1998 mit „Nachtgestalten“bekannt, seit „Halbe Treppe“ (2001)ist er als profilierte Stimme des

deutschen Kinos in aller Munde. Dre-sen ist Mitglied der Akademie derKünste Berlin.

puk Hallo Herr Dresen, eine ReiheIhrer Filme, zum Beispiel „Nachtge-stalten“, „Halbe Treppe“ oder „DiePolizistin“, erzählt von sozialenBrennpunkten. Wie finden Sie IhreThemen?

Andreas Dresen: Das ist ganz un-terschiedlich, manchmal auch vonZufälligkeiten bestimmt. Im Mo-ment bereite ich gerade eine Verfil-mung des Romans „Willenbrock“von Christoph Hein vor. In dem Falllese ich einfach das Buch, seine Ge-schichte erscheint mir gegenwärtig.Bei der „Polizistin“ war es die Lektü-re des veröffentlichten Tagebuchsvon Annegret Held, was für die Auto-rin Laila Stieler und mich inspirie-rend war. Es kommt über die unter-schiedlichsten Wege, es muss nurein innerer Funke überspringen, sodass ich merke, dass mir dieser Stoffbesonders wichtig ist. Denn, wennman einen solchen Film macht,dann verbringt man eine beträchtli-che Lebenszeit damit, und diemöchte ich nicht mit Nebensäch-lichkeiten verplempern.

puk Welche Bedeutung habenSchauplätze und Orte des Gesche-hens?

AD: Die sind in der Geschichteganz wesentlich verankert, sind diesoziale Folie, auf der sich das ganzeGeschehen abspielt. Zum Beispielmein Film „Halbe Treppe“: Derspielt in Frankfurt/Oder, einem„Randort“, wenn man so will, einemOrt der vergessenen Menschen, woman schnell zu träumen beginnt,und das ist für die Figuren in demFilm nicht ganz unwichtig, weil sieja an einem Punkt in ihrem Lebenangekommen sind, wo sie ein biss-chen das Träumen verlernt habenund erst wieder darauf aufmerksamgemacht werden müssen, dass danoch andere Möglichkeiten sind alsnur auf den festgefahrenen Gleisen

zu verharren. Insofern spielt ein sol-cher Ort eine große Rolle, weil er dasGefühl der Figuren verstärkt. Dasbedeutet nicht, dass dieser Filmnicht auch in Frankfurt am Mainoder New York spielen könnte, aberdas wäre dann sozial anders ge-strickt.

puk Wie groß ist der Anteil kreati-ven Schaffens an der Arbeit des Re-gisseurs?

AD: Puuh ... das ist in zu vielenTeilen eine kreative Arbeit. Man darfnatürlich nicht verleugnen, dass esauch eine organisatorische Arbeitist, die mit viel Fleiß zu tun hat.

Von außen betrachtet könnteman ja sagen: Der Regisseur ist einParasit, denn da sitzen ein HaufenLeute am Drehort, die alle arbeiten– der Kameramann macht seine Bil-der, der Schauspieler spielt seineRolle, die Kostümbildnerin ziehtdie Leute an und so weiter – wasmacht eigentlich der Regisseur?Der steht da ‘rum, schreit ‘rum undam Schluss schreibt er drunter: „EinFilm von ...“. Denkste! Es ist ganzwichtig, dass bei den vielen Leuten,die dort arbeiten, einer in der Mittesteht, der alle Einzelinteressenbündelt und zusammenführt, der

den roten Faden spinnt, an dem dasganze Ding dann abrollt. Das ist dieeigentlich kreative Arbeit, das Zent-rum der Geschichte zu definieren,nicht einfach nur bunte Bilder zumachen, sondern zu entscheiden,welche Akzente wichtig sind, wasdem Zuschauer vermittelt werdensoll. Es gibt viele verschiedeneMöglichkeiten, eine Szene zu fil-men. Aus der Vielzahl der mögli-chen Einzelentscheidungen dierichtige herauszufiltern und im Sin-ne der Geschichte umzusetzen, dasist die kreative Arbeit des Regis-seurs und zum Teil eine ziemlichkomplizierte, denn wenn man vorden Entscheidungen steht, merktman, dass es oft gar nicht so ein-fach ist, sich zu erklären. Da kommtman oft in Notstände.

puk Sie haben in einem anderen In-terview gesagt, dass die Arbeit mitden Darstellern das Wichtigste amDrehen sei. Nun haben sie ja bei„Halbe Treppe“ die Dreharbeitenohne ein fixes Drehbuch begonnen.Haben Sie das deshalb gemacht, umdas größtmögliche kreative Poten-zial aus den Schauspielern und ausIhnen selbst herauszukitzeln?

AD: Es war im Prinzip eine Ver-suchsanordnung. Wir wollten aufder Leinwand den Eindruck von Au-thentizität vermitteln. Oft erscheintes mir so, als ob die Dialoge wie Pa-pier wirken und man spürt die Ar-beit des großen Drehstabes, manmerkt, wie das alles gebaut ist. Un-sere kleine Geschichte ist ja altbe-kannt, eine Betrugsgeschichte, inder die Partner aus zwei verschiede-nen Paaren ihre jeweiligen Partnerdann betrügen. Wir dachten, wirkönnten dieser Sache nur etwasNeues abgewinnen, wenn wir es an-ders erzählen, nämlich so, dass derZuschauer die Leinwand wie einenSpiegel vor sich hat und sein eigenesLeben da oben sieht. Man ist dannso peinlich berührt, wenn man er-kennt: „Genau wie bei mir.“ Um die-sen Eindruck zu erreichen, habenwir versucht, all das, was gewöhn-

lich zwischen Zuschauer und Lein-wand steht, nämlich die ganzen Ap-parate, die zur Vermittlung nötigsind und die vielen Menschen, aufein Minimum zu reduzieren, damitder Eindruck von Direktheit ent-steht, von Unmittelbarkeit. Darausresultierte der Versuch, das Dreh-buch wegzulassen, die Schauspieler

die Texte sprechen zu lassen, die siein dem Moment, wo sie sie sagen,erst erfinden. Dadurch entstand soein etwas ruppiger Dokumentar-filmgestus, der den Zuschauern dasGefühl gibt, sie sind hier wirklichlive dabei, wie die beiden Paare ih-ren Alltag gestalten.

puk Wie erleben Sie das Arbeiten imKollektiv? Welche Vorteile sehen Siedarin im Vergleich zum „Einzel-kämpferdasein“ beispielsweise ei-nes Schriftstellers?

AD: Ich brauche das Kollektivum mich herum, ich kann gar nichtallein. Das liegt in der Natur des Re-gisseurs. Ich würde auch niemals ineinen Film reinschreiben „Ein Filmvon Andreas Dresen“, bei mir stehtimmer nur „Regie:“ da. Alles anderefinde ich eitel und falsch. Ein Filmist immer das Ergebnis der Arbeit ei-ner Gruppe von Leuten. Wenn ichdiese Leute – das sind ja größtenteilsmeine Freunde, mit denen ich auchimmer wieder arbeite, man könntees auch Ensemble nennen – nichthätte, dann wäre ich ganz hilflosund gelähmt. Allein kann ich einDrehbuch schreiben und mich anmeinem Computer ‘rumquälen,aber der Drehprozess ist eine ganzlustvolle gemeinsame Erfahrung, woman sich gegenseitig Bälle zuspielt.Wenn das funktioniert, macht es un-heimlich viel Spaß miteinander.Dieser Spaß, sich gegenseitig zu in-spirieren, in Frage zu stellen, zu pro-vozieren, der gehört für mich ganzunbedingt zur Arbeit dazu.

puk Spüren Sie jetzt so etwas wieErwartungs- oder Erfolgsdruck,nachdem Sie mehrere sehr gelobteFilme gemacht haben?

AD: Ich spüre schon, dass esnach „Halbe Treppe“, der ja für ei-nen kleinen Film doch erfreulichgelaufen ist, Erwartungen an michgibt. Ich versuche aber, mich davonsoweit als möglich freizumachen.Es ist sowieso klar, auch mir wird ir-gendwann der eine oder andereFilm misslingen, das passiert, dasgehört einfach dazu. Das Scheiternist bei unserer Arbeit immer mit anBord. Das ist auch nichts Schlim-mes. Die Gesellschaft will natürlichimmer, dass wir alle möglichst reichund möglichst erfolgreich werden.Wenn man sich das als Marschge-päck schon auflädt, dann hat manso eine Angst zu scheitern, weilman ja Erfolg haben muss, dassman sich gar nichts mehr traut.Wenn man sich nichts traut, gehtman kein Risiko ein und kriegt amSchluss auch kein gutes Ergebnis.Da beißt sich die Katze in denSchwanz. Ich finde, gescheitert istman, wenn man kein Risiko ein-geht. Deswegen bin ich geradezuverpflichtet, etwas zu riskieren,auch auf die Gefahr hin, dass esvielleicht kein guter Film wird. Aberdann kann ich trotzdem noch inden Spiegel sehen. Ich muss dannhalt hoffen, dass ich eine neueChance bekomme, um es beim

nächsten Mal besser zu machen.

puk Wie erleben Sie Konkurrenz imFilmgeschäft? Wie stark achten Sieauf andere Vertreter Ihres Fachs?

AD: Ich finde, es gehört in unse-rer Branche dazu, dass man guckt,was die Kollegen machen. Ich gehegern ins Kino und ich sehe mir gern

die Filme von Kollegen an. Es gibt ei-nige Kollegen, mit denen ich sehrgut befreundet bin. Es ist bei Weitemnicht so, dass wir uns alle gegensei-tig die Augen auskratzen. Für michist es immer sehr interessant, michmit anderen Regisseuren zu unter-halten, denn über bestimmte Dingekann man sich nur mit Regisseurenverständigen, weil die kein andererversteht. Für mich ist es am inspirie-rendsten, einen wirklich guten Filmzu sehen, weil man dann richtig Lustauf die eigene Arbeit bekommt. Dasspornt richtig an. Wenn ein Film er-folgreich ist, wie „Goodbye Lenin“beispielsweise, der über sechsMillionen Zuschauer hatte, dannfinde auch ich das erfreulich, denndas hilft letztlich allen Leuten, die inder deutschen Filmbranche arbei-ten.

puk Worin unterscheidet sich dasArbeiten als Regisseur für die ver-schiedenen Medien Film, Fernse-hen und Theater?

AD: Film und Fernsehen liegennaturgemäß dichter beieinander alsFilm und Theater, da sie mit demsel-ben Handwerkszeug ausgerüstetsind. Ich muss im Kino mutiger seinals im Fernsehen, ich muss drasti-scher erzählen, um die Leute einzu-fangen, die sich konzentriert in ei-nen dunklen Raum setzen und sichauf meine Geschichte einlassen. Dakann ich mehr von ihnen verlangen.Im Fernsehen muss ich immer be-denken, dass das möglicherweise ineinem hellen Raum geguckt wird,wo die Aufmerksamkeit nicht ganzder Sache gehört, wo vielleicht meh-rere Leute im Raum sind. Da diebreiten epischen Bilder zu entwer-fen, ist eher schwierig. Das Theaterist eine völlig andere Ebene, weil esvon einer ganz anderen Verabre-dung lebt. Der Film hat als Basis dieFotografie, das Theater diese offenevierte Wand, wo sich der Zuschauer-raum befindet, und einen Bühnen-raum, der nicht Realität ist. Das ver-langt eine Vergrößerung von Realitätdurch die Schauspieler. Die werdenauf einer Bühne im Allgemeinennicht naturalistisch agieren, son-dern Dinge vergrößert über diesevierte Wand hinweg zum Zuschauertransportieren. Damit entsteht eineeigene Kunstform, die etwas ganzBesonderes hat und die ich persön-lich sehr mag. Das ist eine guteSchule für einen Filmregisseur, weilman dort auf eine ganz andere Artgezwungen ist, mit Schauspielern zukommunizieren, als beim Film, wosich oft hinter dem technischen Ap-parat versteckt wird. Das Theater istauch in viel stärkerem Maße der Ortdes Schauspielers. Ich finde daswohltuend, weil Regisseure oft über-bewertet werden. Das Wort „Spiellei-ter“ gefällt mir für meine Arbeit oh-nehin besser. Das klingt nicht sonach Kunst, mehr nach Spielen.

Mit Andreas Dresen sprach Jens Leberl ■

Der Regisseur schreit herum und ist kreativWarum der Filmemacher ein Parasit ist – ein Gespräch mit Andreas Dresen

Regisseur Andreas Dresen Foto: Klaus-Dieter Fahlbusch

„Ich brauche das Kollektiv ummich herum“

Page 21: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

KULTURELLES LEBEN politik und kultur • März - April 2004 • Seite 22

„Immer nur klagen, was auch geschieht“Anmerkungen zur Larmoyanz der Kulturmenschen • Von Ulrich Eickhoff

War es einstmals doch bequem, alssich Künstler in Theatern, Opernhäu-sern, Orchestern und Museen beru-higt zurücklehnen konnten in der Ge-wissheit: „Der Staat hat’s immer ge-richtet, er wird’s auch weiterhin rich-ten!“ Diese Zeiten sind – sattsambekannt – längst vorbei. Bund, Län-der, und Kommunen haben kein Geldmehr. Also steht auch den Kulturin-stitutionen das Wasser tatsächlichbis zum Halse. Kein Begriff hatte inden letzten Jahren eine solche Kon-junktur wie der der KRISE: Theater-krise, Opernkrise, Filmkrise, Muse-umskrise undundund. Festgemachtwerden die in erster Linie derSpar(un)politik landauf, landab. Da-runter hat die Gesamtgesellschaft zuleiden, nicht nur die Kulturinstitutio-nen, doch die scheinen geradezuKünstler im Klagen zu sein. Unter-stützt von vielen Sympathisanten inden Medien wird ihnen immer wiederGehör und besonderes Interesse inder Öffentlichkeit verschafft.

Die Liste der Hiobsbotschaften inSachen Kulturkrisen ist lang.

Aber gerade in solchen Zeiten hilftes wenig, die Flinte ins Korn zu wer-fen, die Bühne den Finanzpolitikernzu überlassen – oder sich in Klageri-tualen, die den Untergang der deut-schen Kulturlandschaft beweinen,zu erschöpfen. Erschwerend kommt

hinzu, die Kulturmenschen sindsich selber nicht mehr grün. Kon-kurrenz ist angesagt, Einzelkämpferbestimmen die Szene.

Hilmar Hoffmann, Frankfurtslangjähriger erfolgreicher Kulturde-zernent und Präsident des Goethe –Instituts, schreibt in dem Vorwort zudem Suhrkamp – Taschenbuch „Kul-turverschwörung“: „Wenn Kultur-leute und solche, die ihnen nahe ste-hen, über den Zustand des kulturel-len Lebens in Deutschland diskutie-ren, dann ist heute mit einer Mengevon Irritationen und Verunsicherun-gen zu rechnen. Jeder Kulturpolitikerkennt, gleich wie gut oder wieschlecht die Zeiten sind, das ewigeLamento der Kreativen, man förderesie zu wenig. Die unübersehbareLangeweile der Klage – und Recht-fertigungslitaneien ist schon langeüberflüssige Tradition geworden.“

Keinem Kulturakteur möchte ichdas Recht auf Jammern absprechen.Sie sollen auf ihre immer prekärerwerdende Situation mit allen für sieverfügbaren Mitteln hinweisen, – ihrPublikum und die für sie zuständi-gen Politiker. In der Tat holzen invielen Städten die politisch Verant-wortlichen unsensibel und von we-nig Sachkenntnis getrübt in und anden Kultureinrichtungen ihre Städteund Kommunen herum. Aber wirsollten uns nicht anstecken lassen

von Larmoyanz, gar Resignationhier und da, und das erst recht nicht,wenn diese Haltungen einhergehenmit Tatenlosigkeit und Reformun-willigkeit (oder Reformunfähig-keit?). Jüngstes Beispiel: die Grün-dung der Stiftung „Oper in Berlin“,die vom Bund mit 3 Millionen Eurounterstützt wird. Am 1. Januar die-ses Jahres trat das Gesetz in Kraft.Was allerdings bis dahin zum Teilaus den drei beteiligten Opernhäu-sern – Staatsoper, Deutsche Operund Komische Oper – zu vernehmenwar, zeugte nicht nur von Behar-rungswillen und Besitzstandwah-rung, sondern erinnerte geradezuan Schlammschlachten. Das Urteilder Kulturstaatsministerin ChristinaWeiss in einem Gespräch mit derNachrichtenagentur AP: „Berlin warso lange in dieser Subventionshal-tung, dass die Notwendigkeit zumReformieren nicht ernsthaft erwo-gen wurde.“ Dabei soll nicht unter-schlagen werden: anderswo – etwain Weimar – werden neue Wege ein-geschlagen, auch wenn sie vielenBeteiligten oder Betroffenen als Not-lösungen erscheinen. Also kein ge-nereller Vorwurf an die Kulturmen-schen, sie seien durch die Bank re-formunwillig. Aber es gibt ebenauch „Meister im Klagen, Anklagenund Poltern“. Jedem fallen auf An-hieb Namen ein.

Kein Zweifel, das Verhältnis vonKultur und Politik ist gestört. Zu ei-nem gehörigen Teil sind daran diefür Kultur zuständigen Politiker, dieMinister, Senatoren, Dezernenten,schuld. Sie wirken hilflos, argumen-tieren mit dem fehlenden Geld, drü-cken sich aber meistens vor inhaltli-chen Diskussionen. Nur dazu wer-den sie von ewig jammernden Kul-turakteuren auch nicht gezwungen.Hier wäre ein Ansatz, das „gestörteVerhältnis“ zu entkrampfen, um esanschließend zu einem Dialog zubefördern. Dazu müsste auf beidenSeiten ein Klima geschaffen werden,wo sich nicht die eine von der ande-ren gelangweilt abwendet, nichtmehr zuhört, weil es in festgefahre-nen Situationen keine neuen Argu-mente gibt, wo nicht nach demkünstlerischen Aufbruch gefragtwird.

Genau hier sind wir bei der Hal-tung der „Konsumenten von Kul-tur“. Was ist denen, was ist uns derErhalt „unserer“ Kultureinrichtun-gen wert? Das bürgerschaftliche En-gagement ist gefordert (in dieserZeitschrift wurde ausführlich daraufeingegangen). Oder um es mit nochetwas veralteten Tugenden zu be-schreiben: Gemeinsinn, bürger-schaftlicher Gemeinsinn für dasMuseum oder das Theater, in das wirgehen. Der ist nicht nur über Stif-

tungs- oder Steuerrecht herzustel-len. Auch Sponsoring ist nicht dieZauberformel. Wir müssen durchunser Verhalten den Politikern deut-lich machen, was uns Kultur wert ist.Damit ist die Politik nicht entlassenaus ihrer Verantwortung für das inEuropa immer noch einmalige Sub-ventionssystem. Vielleicht würden„wir“ es als eine starke „Kultur-lobby“ auch schaffen, den ein oderanderen Kulturmenschen aus seinerLarmoyanz und seiner Jammereckezu befreien.

Allein müssten die dazu bereitsein, was Joachim Kaiser vor weni-gen Jahren auf den Musikbetrieb soformuliert hat: „Unser Subventions-betrieb ist Riesenmöglichkeit undriesige Forderung. Es muss erfülltund beseelt werden. Nur unsere Be-hutsamkeit, ehrliche Passion, selbst-verständliche Höchstleistung undvernünftige Reformcourage könnenes am Leben erhalten.“

Dann hätten Politiker nicht soein leichtes (für einige von ihnenschweres) Spiel, die Kultur aus ihrerPrioritätenliste zu streichen.

Der Verfasser ist Kulturjournalist ■

Der Nebel lichtet sichDer duale Frieden im deutschen Fernsehsystem ist brüchiger denn je • Von Armin Conrad

Er war eine Art Visum, für öffentlich-rechtliche Überzeugungszuschauereine moralische Besuchserlaubnisim Kommerzfernsehen. Der AbgangHarald Schmidts bei SAT1 ist weitmehr als eine Personalie – vermut-lich ein weitreichendes medienpoli-tisches Signal. Wie steht es um dendualen Frieden im deutschen Fern-sehsystem?

Eigentlich war die Kulturstaatsmi-nisterin bis Dezember durch Er-

klärungen zu kommerziellen Fern-sehprogrammen nicht so sehr auf-gefallen. Ihr bewegter Nachruf aufdas Ende der Harald-Schmidt-Show(„ein Meister der Kulturkritik“) in-des verrät viel. Vor allem verweist erauf eins: Das Eis, auf welchem öf-fentlich-rechtliche und privateFernsehveranstalter z.B. beim Deut-schen Fernsehpreis fast schon ver-traut ihre Parties feiern, ist dünn.

Harald Schmidt. Kollegin En-gelke nannte ihn „Gott“. Unbestrit-ten sind seine Qualitäten singulär.Alle, die – der Logik einer übergeord-neten Gesetzmäßigkeit folgend –glaubten, was sich in den USAdurchsetze, werde auch bei uns einErfolg, alle die müssen jetztfeststellen, wo ihnen nur noch Ker-ner, Beckmann, Raab und Maisch-berger bleiben: Letterman gab’s nurim Leasing. Durch Schmidt eben.

Doch wichtiger noch als HaraldSchmidts Qualitäten ist die Tatsache,dass er bei SAT1 war. Er verhalf SAT1zu Zuschauern, die diesen Knopf aufder Fernbedienung sonst nur ange-

widert drückten. „His Schmidtness“adelte nicht nur den Kirch-Senderselbst, sondern das Kommerzfernse-hen schlechthin. Er verhalf dem inintellektueller und journalistischerHinsicht immerfort um die Augen-höhe mit ARD/ZDF kämpfendenPrivat-TV in Deutschland zu einerbesonderen Reputation.

Schmidts Rückzug fällt zeitlichmit zwei äußerst erregt geführtenDebatten zusammen: Dem von eini-gen Politikern ins Grundsätzliche hi-neingetragenen Streit um die Rund-funkgebühren, sowie der morali-schen Aufregung um das RTL -Dschungelcamp.

Beide Themen führen uns zumgleichen Kern: Was soll Fernsehen?Was darf Fernsehen? Was wollen wirvom Fernsehen?

Es ähnelt einer Naturgesetzlich-keit, dass sich Inhaber von Machtdie Medien, vor allem die elektroni-schen, zudiensten machen wollen.Wir erleben es gerade in Italien.Deutsche Erfahrungen mit derGleichschaltung der elektronischenMedien während der NS-Diktaturführten nach dem zweiten Weltkriegzur Schaffung eines öffentlich-rechtlich verfassten und kontrollier-ten Rundfunks. Dieser wurde in derFolge zu einem Pfeiler für eine hu-mane demokratische Gesellschaftund zu einem Träger von Kultur füreine Kulturnation.

Niemand konnte sich damalsvorstellen, gänzlich andere Pro-gramme zu machen als solche, diesich einem aufklärerischen An-

spruch und dem Wunsch nach geist-reicher Unterhaltung verpflichtetsahen. Und deshalb war (und ist) dieRundfunkgebühr eindeutig auf dasProdukt bezogen. Die Gebührenzahlen wir für Programmleistungen.

Einige Gerichte relativierten dasin den 90ern. Sie entschieden, dassauch, wer verbindlich erklärt, erwolle keine gebührenfinanziertenProgramme sehen, er könne das so-gar aufgrund technischer Vorkeh-rungen gar nicht, deshalb nicht vonder Gebühr befreit werden könne.Allein die Tatsache, dass es öffent-lich-rechtlichen Rundfunk gibt, seidurch alle Teilnehmer an Rundfunkund Fernsehen insgesamt zu tragen.Hinzufügen muss man: Auch dieLandesmedienanstalten, die dasKommerzfernsehen beaufsichtigen,werden über diese Gebühren finan-ziert.

Heute erlauben es die techni-schen Möglichkeiten, die Grundideevom Fernsehen umzustülpen. Man-che nennen das ‚seine’ Demokrati-sierung. Es ist eher eine naive Ent-grenzung von Öffentlichkeit. DieTechnik stellt uns die Möglichkeitenhin: Wir können unser Leben aufHomepages stellen. Mit Handyskönnen wir Filme drehen. Wir übenkokett die Ortlosigkeit mit MMS. Ichbin ein Bild. Nimm mich. Ichmöchte Star werden. Klick. Durchden TED ins Ranking. Fanclubs alsTräger einer solchen Mediendemo-kratie.

Das bleibt nicht ohne Rückwir-kung auf das Fernsehen, welches be-

ginnt, sich vom Anspruch zu verab-schieden, die kulturelle Diskurs-höhe einer Gesellschaft zu spiegeln.Vielleicht will es der Markt ja so. Wirerfahren es beim Zappen schmerz-lich.

Das Fernsehen als die wichtigstePlattform zur Präsentation einerElite im kulturellen Bereich, das war(!) in früheren Jahrzehnten Konsens,es war (!) geradezu erwünscht. Wer„im Fernsehen“ war, der war was.Diese Orientierung wird vomDauer-Casting auf allen Kanälen ge-rade zerstört.

Das mag man beklagen. Wun-dern darf es uns nicht. Körperlich-keit, Gefühle, Seelen werden filet-tiert. Unbemerkt wurden Hemm-schwellen planiert. Der Menschselbst als Teil des medialen Verwer-tungsprozesses oder – ganz neweconomy – einer Wertschöpfungs-kette, das hat unbestritten auch sei-nen Reiz. Immer neue Tabus dehnenund schließlich brechen! Deutsch-land sucht die Superleber. Am Endedann vielleicht der postmortale Auf-tritt bei Gunther von Hagens Plasti-nat-TV.

In der Rundfunkgebühr stecktjedoch auch eine Ratio, die sich we-niger an die Programmleistung wen-det als an die Fähigkeit des Rund-funks, in der Gesellschaft zu Demo-kratie, zur Demokratiefähigkeit, bei-zutragen. Das machte in der Tat einrenoviertes Bekenntnis nötig. Rund-funkgebühren als eine Art Demokra-tiesteuer? Das klingt komisch undman darf bezweifeln, dass diese Be-

grifflichkeit tauglich für eine politi-sche Umsetzung wäre. Schon garnicht in der jetzigen Gebührende-batte. Aber man muss es wenigstensmal denken können dürfen und dakommen wir zurück zu HaraldSchmidt.

Die Nachricht, dass der Saarlän-dische Rundfunk die RTL-Dschun-gelcamperin Lisa Fitz gleich mit ei-nem Auftrittsverbot belegte, deutetauf eine frostige Zukunft in der dua-len TV-Landschaft hin. Der Vorgangerinnert uns an die achtziger Jahre,als öffentlich-rechtliche Intendan-ten Arbeitsverbote für alle erteiltendie bei den ‚Privaten’ mitmachten.Gottschalk, Jauch, Alexander Klugeals Produzent, aber auch und vor al-lem Harald Schmidt wurden danachprominente Vertreter einer gegen-seitigen personellen Fluktuation,eine Voraussetzung für das, wasoben ‚dualer Friede’ genannt wurde.Und Schmidts Auftritte gaben SAT1eine Aura, die durch ihre eher öf-fentlich-rechtliche Anmutung einGrundmisstrauen zwischen beidenSystemen lange kaschiert hat. DieHarald Schmidt Show auf SAT1 warder Nebel, der die Fronten ver-schwimmen ließ. Jetzt verhärten siewieder. Es geht um Grundsätzliches.Was soll Fernsehen? Was darf Fern-sehen? Was wollen wir vom Fernse-hen?

Der Verfasser ist Redaktionsleitervon KulturZeit (3sat) ■

Zeitschriften bei ConBrio

Zeitung des Deutschen Kulturrates

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KULTURELLES LEBEN politik und kultur • März - April 2004 • Seite 23

Amerika – hast du es besser ?Ein deutsch-amerikanischer Museumsdialog in Washington • Von Hans-Martin Hinz

Warum machten sich 100 deutscheMuseumsdirektoren, Kuratoren, Pä-dagogen und Marketing-Experten imNovember 2003 auf den Weg nachWashington, um mehr über Entwick-lungen in Amerikas Museen zu erfah-ren ? Haben amerikanische Museenden Einrichtungen in der Bundesre-publik etwas voraus?

In Deutschland, wie in vielen wei-teren Ländern Europas sind Mu-

seen mehr und mehr von sich ver-schlechternden öffentlichen Haus-haltslagen betroffen, die zuneh-mend die Grundlagen ihrer Arbeitgefährden. Die Abhängigkeit von öf-fentlichen Zuwendungen, über Jahr-zehnte Basis für die Entwicklung derreichen und vielfältigen deutschenMuseumslandschaft, fordert in Zei-ten von Haushaltskrisen neue Stra-tegien, mit dem Ziel, weitere Finanz-quellen zu erschließen, um so letzt-lich die Zukunft für die Einrichtun-gen zu sichern. Amerikas Museen istes in den vergangenen Jahrzehntendurch einen massiven Strukturwan-del gelungen, hohe Anteile am Bud-get selbst zu erwirtschaften. Vielfachliegt dieser bei 50 Prozent, währender bei deutschen Einrichtungen eher5% beträgt.

Es entspricht der Philosophiedes Internationalen MuseumsratesICOM, internationale Dialoge inGrundsatzfragen anzubieten, damitdie Verbandsmitglieder erfahren,wie Probleme der Branche in ande-ren Ländern angegangen werden.Die Auseinandersetzung damit er-leichtert es, die eigene Positionenbesser einzuschätzen und gegebe-

nenfalls zu ändern. Der program-matischen Arbeit von ICOM-Deutschland der vergangenen Jahrefolgend, wurde daher wegen der ak-tuellen Bedeutung des Themas erst-mals eine Jahrestagung des deut-schen Nationalkomitees außerhalbEuropas angeboten und konzeptio-nell und organisatorisch mit ICOM-USA abgestimmt und vorbereitet:„America’s Museums – Putting Visi-tors first!“ lautete das Thema der Ta-gung, für die ICOM-Deutschlandhervorragende amerikanische Refe-renten gewinnen konnte (Programmsiehe unter www.icom-deutsch-land.de).

Die Rahmenbedingungen derMuseumsarbeit in Amerika undDeutschland weichen von einanderab. Ein Großteil der amerikanischenMuseen – vielfach schon aus bil-dungspolitischen Überlegungen ge-gründet – hat sich auf eine ausge-prägte Besucherorientierung einge-stellt, während in Europa die Samm-lungsorientierung eine zentraleRolle spielt. In den USA hat dies zuder veränderten Handlungsweise ge-führt, den Besucher mehr als Kun-den, denn als Gast im Mittelpunkt al-ler Überlegungen zu sehen. Dieswirkt sich sowohl quantitativ in er-heblich höheren Besucherzahlen alsin Deutschland aus – nur ein Drittelder Amerikaner geht nicht ins Mu-seum –, es hatte vor allem aber auchKonsequenzen für die Museumsor-ganisation. Schon bei dem An-spruch, höhere Besucherzahlen kon-kret anzustreben, gibt es museums-intern eine viel stärkere Ausgewo-genheit zwischen Leitung, Kurato-

ren, Pädagogen und Marketingex-perten. Dies wirkt sich sowohl aufden professionellen Umgang unter-einander aus als auch in der Gewich-tung der Mitarbeiterstellen der un-terschiedlichen Aufgabenbereiche.

So sind zum Beispiel die Voraus-setzungen, Ziel-orientiertes Lernenanzubieten und learning by doingim Museum zu praktizieren, in be-zug auf Räumlichkeiten, Materialienund Betreuung massiv verbessertworden und damit erheblich günsti-ger als in den meisten deutschenMuseen. Allerdings gelingt Vielesauch deshalb so gut, weil das Ehren-amt in der Museumsarbeit gesell-schaftliche Anerkennung genießt, sodass etwa die großen Nationalmu-seen jeweils mehrere hundert Eh-renamtliche ausbilden, beschäftigenund als Kolleginnen und Kollegenvoll einbinden.

Den Erwartungen der Besucherwird in der Programmarbeit Rech-nung getragen: Museumsbesuchewerden überwiegend als Familien-ereignis geplant und durchgeführt –ob Kindermuseum oder Kunstmu-seum. Selbsterfahrungen gehörenzu den Motiven von Besuchen, alsodas sich Hineinversetzen wollen inandere zeitliche und räumliche Si-tuationen. Besucher bevorzugen be-stimmte Präsentationsformen undmögen die Aura der Objekte alsZeugnisse der Geschichte. Amerika-nische Museumsbesucher gehen vorallem auch deshalb in Ausstellun-gen, um ihre Wertewelt wiederzufin-den und diese auch reflektieren zukönnen. Viele Präsentationen be-rücksichtigen daher ein „Abholender Besucher“ an deren Lebenser-fahrungen.

Möglicherweise unterscheidensich Ausstellungspräsentationen inAmerika und in Europa hier amdeutlichsten. Während bei europäi-schen Ausstellungen die intellektu-elle thematische Herangehensweisedominiert und konzeptionell eherFragen an die Geschichte gestellt alsAntworten gegeben werden, präsen-tieren amerikanische Geschichts-und kulturgeschichtliche Museenihre Themen stärker narrativ.Gleichzeitig integrieren sie in dieAusstellungsgestaltung – viel stärkerals in Europa – Elemente erfolgrei-cher Themen-Parks (Freizeitanla-gen), was von den Besuchern gernangenommen wird, aber bei euro-päischen Museumsexperten zumin-dest ein Nachdenken über die Gren-zen des Bildungsauftrages auslöst.

Unterschiede sind auch in denidentitätsstiftenden Botschaftenvon Ausstellungen festzustellen.Dies betrifft Fragen, wer man alsAmerikaner oder wer man als Euro-päer beziehungsweise Deutscher ist.Identitäten von Einwanderergesell-schaften definieren sich offensicht-lich stärker über bestimmte Formendes Zusammengehörens und desPatriotismus als dies auf europäi-sche Gesellschaften zutrifft, in de-nen Themen kritischer hinterfragtund reflektiert werden.

Besucher stärker an Museen zubinden, bedeutet in Amerika, dieHäuser nicht nur als Orte des the-menbezogenen Dialoges anzuse-hen, sondern sie auch zu allgemei-nen Treffpunkten zu entwickeln, an

denen Kommunikation, Erholungund Kommerz möglich sind. Darü-ber hinaus gelingt es amerikani-schen Museen, mehr und mehr sichmit anderen gesellschaftlichen Ein-richtungen der Community zu ver-netzen. Dies betrifft nicht nur Schu-len, sondern auch Bibliotheken undKirchengemeinden. Veranstaltun-gen der Museen an anderen Ortentragen dazu bei, intensiver als ge-sellschaftliche Orte wahr- and ange-nommen zu werden.

Amerikanischen Museen wirddas Einwerben von Sponsorenleis-tungen und Stiftungen aufgrund dergesetzlichen Bedingungen in denUSA leichter gemacht als deutschenEinrichtungen. Misstrauisch wird inDeutschland oft hinterfragt, ob derexternen Einflussnahme dadurchnicht Tür und Tor geöffnet wird. Si-cherlich sehen sich amerikanische

Museen auch Konfliktsituationenausgesetzt, wenn öffentliche oderprivate Geldgeber Einflussnahmeausüben oder ausüben wollen. Ge-rade in Washington DC ist dies inden vergangenen Jahren mehrmalsöffentlich geworden. Es gibt aberauch völlig entgegengesetzte Bei-spiele, die bislang keine Vergleichein Deutschland kennen. So wurdezum Jahresende 2003 im nationalenGeschichtsmuseum in Washingtondie Ausstellung „America on theMove“ auf einer Fläche von ca. 7000qm eröffnet. Sie kostete 25 Millio-nen $ und ist zu 100% aus privatenMitteln finanziert worden und zwarnachdem die Konzeption für dieAusstellung museumsintern be-schlossen war.

Die Tagung des deutschen Natio-nalkomitees von ICOM im Novem-ber 2003 in Washington bot deut-schen Museumsvertretern hinrei-chend Chancen, erfolgreiche „Über-lebensstrategien“ kennen zu lernen.Amerikas Museen scheint es in vie-len Bereichen besser zu gehen. Ausihren Erfahrungen lernen und diese– dort wo es Sinn macht – gegebe-nenfalls bei der Lösung von Proble-men deutscher Museen mit zu be-rücksichtigen, wäre ein wunderba-res Ergebnis dieses deutsch-ameri-kanischen Museumsdialoges.

Der Verfasser ist Präsident des deutschen Nationalkomitees des

Internationalen Museums-rates ICOM ■

Leuchtturm der MusikkulturDeutscher Musikrat vor neuen Aufgaben • Von Christian Höppner

Musik und Politik – wer braucht wen?

Der Blick in die lange Lobbyisten-liste des Deutschen Bundestageszeigt ein facettenreiches Bild be-kannter und weniger bekannter In-teressenvertreter. Das wachsendeUnbehagen über „die“ Verbände, dieda im undurchsichtigen Lobbyisten-nebel mit der Politik kungeln, unter-scheidet nicht zwischen den „Gu-ten“ und den „weniger Guten“. DerDeutsche Musikrat kann, ebensowie der Deutsche Kulturrat, für sichreklamieren, aus einer gesamtgesell-schaftlichen Verantwortung herauszu handeln und ist eben nicht denVertretern wirtschaftlicher oder an-derer Partikularinteressen zuzuord-nen. Diese Mitverantwortung fürdas Ganze eröffnet andere Hand-lungsspielräume, sich in den Dis-

kurs gesellschaftlicher Entwicklungvon heute und morgen einzubrin-gen. Bildung und Kultur sind einzentraler Bestandteil dieser gesell-schaftlichen Entwicklung – viel es-sentieller, als die inflationierendenSonntagsreden erkennen lassen. Be-wusstsein zu bilden für die schlum-mernden Potentiale und die Not-wendigkeit politischen Handelns zuwecken, ist eine zentrale Aufgabeauch des Deutschen Musikrates. Da-bei wird es entscheidend darauf an-kommen, nicht noch weiter in dieVerwertbarkeitsfalle zu tappen,denn Umwegrentabilität und posi-tive Transfereffekte für die Persön-lichkeitsentwicklung sind nur dieeine Seite der Medaille. Die andereSeite – die Kunst um der Kunst wil-len – ist derzeit in der öffentlichenWahrnehmung vollkommen unter-belichtet.

In der Diskussion um aktuelleund künftige Themen zeichnen sichfür den Deutschen Musikrat die fol-genden Themenfelder ab:

Umverteilung und StrukturwandelDas zentrale Ziel, jedem Bürger sei-nen Zugang zur Musik mit einembezahlbaren und erreichbaren Kul-turangebot zu ermöglichen, wirddurch eine beispiellose Kahlschlag-politik bei den Weichteilen der kul-turellen Infrastruktur konterkariert.Dieses trifft insbesondere die Basis-bereiche kultureller Bildung wieMusikschulen und Bibliotheken –bedingt durch die dramatische Si-tuation der öffentlichen Haushalteinsbesondere auf der Kommunal-und Länderebene. Die wachsendeDiskrepanz zwischen Sonntagsre-den und Montagshandeln zur Be-deutung von Bildung und Kultur ist

auch eine Herausforderung an uns,die Musikratsarbeit politischer zugestalten. In einer Zeit der fort-schreitenden Ökonomisierung undDigitalisierung politischen Denkensund Handelns ist die Verantwortungder größten Bürgerbewegung imKulturbereich gefragt, einen kon-zeptionellen Strukturwandel einzu-fordern und zu begleiten. Schließ-lich ist der Begriff „Reform“ zumSchimpfwort mutiert, weil zu oft dieRessourcenverknappung im Vorder-grund steht. Wir müssen wieder denMut entwickeln, mehr zu fordern fürdie Basisbereiche kultureller Bil-dung – im Sinne einer Umvertei-lung. Solange aber der Straßenbauals Investition und die Kosten fürden Betrieb einer Musikschule alskonsumtive Ausgabe angesehenwerden, kann diese Umverteilungnicht gelingen. In diesem Sinne gilt

es Bewusstsein zu verändern, dennBewusstsein schafft Ressourcen.

Musikalische BildungMusik muss wieder Hauptfach wer-den. „Musik bewegt“ ist die Markedes Deutschen Musikrates für seinEngagement für die musikalischeBildung. Ziel ist es, Kindern und Ju-gendlichen möglichst früh vielfäl-tige Zugänge zur Musik zu eröffnen.Dazu bedarf es beispielsweise derBefähigung von Erzieherinnen undErziehern zur Vermittlung musikali-scher Bildung durch eine entspre-chende Änderung des Ausbildungs-ganges. Im Nachgang der PISA-Dis-kussion und ihrer überwiegendenFocusierung auf die naturwissen-schaftlichen Fächer hat der Deutsche

Richard West (links), Präsident von ICOM-USA und Hans-Martin Hinz (rechts), Präsi-dent von ICOM-Deutschland bei einer Veranstaltung deutscher und amerikanischerMuseumsfachleute in der deutschen Botschaft in Washington DC, November 2003.

Foto: York Langenstein, München

Repräsentanten deutscher Museen vor dem Stadtmuseum in Washington, DC,November 2003 Foto: York Langenstein, München

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KULTURELLES LEBEN politik und kultur • März - April 2004 • Seite 24

Kulturelle Vielfalt auf der Berlinale

Welche Vielfalt eigentlich in Ge-fahr ist, wenn wir über Bedro-

hungen für den audiovisuellen Be-reich durch die GATS-Verhandlun-gen reden, wird angesichts der fast400 Filme aus aller Herren Länderdeutlich, die dieses Jahr auf der Ber-linale gezeigt wurden. Der 2003 insLeben gerufene Talentcampus dientdazu, auch Nachwuchs für dieseVielfalt zu sichern und wurde gut an-genommen. Schwerpunkt des Cam-pus war im wahrsten Sinne das Au-dio-Visuelle, über Film und Musik.Ohne Motto zwar, dennoch wolltendie Filmfestspiele sich dieses Jahr ex-plizit politisch positionieren, nichtnur indem sie als Plattform für Werke

aus Ländern, die sonst wenig Auf-merksamkeit auf der Leinwand be-kommen, stehen wollte. So wurdenexplizit Filme aus Südamerika undSüdafrika ins Licht gerückt, wojüngste Vergangenheitsbewältigungnoch auf der Tagesordnung steht.Die von der Berlinale ausgehendeAnregung zur Schaffung eines Berli-nale World Cinema Fund zur Förde-rung von Produktionen etwa in denRepubliken der ehemaligen Sowjet-union oder auf dem Balkan zeugt da-von, dass man auch internationalVerantwortung und über die Festi-valzeit hinaus übernehmen will fürdie Realisierung von konkreten Pro-jekten in diesen Ländern.

Auf mehreren Veranstaltungen,die am Rande aber aus Anlass derBerlinale stattfanden, wurde überaktuelle Themen der kultur- undfilmrelevanten Politik debattiert: soetwa beim International ContentSummit darüber, wie denn nun dieErweiterung der EuropäischenUnion sich auf das kreative Schaffenauswirken würde. Überhaupt hatteman den Eindruck, dass das grösserwerdende Europa langsam in denKöpfen der Branche angekommenist, auch wenn man dem breitenPublikum den filmischen Reichtumeiniger dieser Länder auch außer-halb der Berlinale noch nahebrin-gen müsste. Weiterhin stand stets

die Frage im Raum nach den Urhe-berrechten, aber auch nach demÜberleben des Zelluloid schlecht-hin, in einem globalen digitalenUmfeld. Dass es jedoch der Inhaltder Filme ist, der die Weichen für dieZukunft stellen wird, war immerdeutlich. Die Bild-Zeitung berich-tete fast genüsslich über die von derfrisch gegründeten Filmakademieaufgeworfene Frage, „warum derdeutsche Film so schlecht“ sei. Frustbereitet immer wieder die schon fasttraditionelle Abwesenheit deutscherBeiträge in Cannes und es bleibt ab-zuwarten, ob das reformierte deut-sche Filmfördergesetz zu einemdauerhaften neuen Aufschwung

nach einem außergewöhnlichenJahr führen wird. Der Goldene Bärfür „Gegen die Wand“ ist jedenfallsein tolles Signal für die Vielfalt dieder deutsche Film repräsentiert. Derdieses Jahr eingeführte Dialogue enperspective, der junge Franzosenmit dem deutschen Film (und um-gekehrt) in Berührung bringensollte, ist eine gute Idee. Dennochbleibt Tatsache, dass die Anstren-gungen zur Verbesserung der Ex-portquote für deutsche Filme ver-stärkt werden müssen und derdeutsch-französische Dialog bieteteinen guten Ansatzpunkt dafür.

Barbara Gessler ■

Das Leben pfeift aufs SchreibenPorträt der Schriftstellerin Herta Müller • Von Andreas Kolb

„Das Leben lässt sich nicht fangendurch Sprache, das Leben pfeift aufsSchreiben und es hat auch recht.Sprache wird nur natürlich, indemsie total künstlich gemacht wird.“Die Schriftstellerin Herta Müllerweiß, wovon sie spricht, dennmenschliches Leben ist ihr zentralesThema: Erinnerungen an die Kind-heit, an die Familie, die Freunde, dasAlltagsleben in Dorf, Stadt oder Ar-beitswelt stehen im Zentrum ihrerRomane und Erzählungen – immerüberschattet durch die Omnipräsenzder rumänischen Diktatur unter Ceausescu.

1953 geboren im deutschsprachi-gen Nitzkydorf lernte Herta Mül-

ler früh die Enge eines noch starkvom Nationalsozialismus geprägtenEthnozentrismus kennen, mit demabsoluten Herrschaftsanspruch ei-ner Diktatur kam die deutsch-rumä-nische Philologin in schmerzhaften– und lebenslangen – Kontakt, als siein der Maschinenfabrik, wo sie alsÜbersetzerin arbeitete, entlassenwurde, weil sie sich weigerte für denrumänischen Geheimdienst Securi-tate zu arbeiten. Ihr erstes Buch lagdanach vier Jahre beim Verlag undwurde 1982 nur zensiert veröffent-licht. 1984 erschien es in der Origi-nalfassung in Deutschland unterdem Titel „Niederungen“ im Rot-buch Verlag. Herta Müller konntedanach in Rumänien nicht mehrveröffentlichen und war immer wie-der Verhören, Hausdurchsuchungenund Bedrohungen durch die Securi-tate ausgesetzt.

Zur Zeit ihrer Entlassung aus derFabrik war sie bereits fünf Jahre mitdem ebenfalls auf deutsch schrei-benden Autor Richard Wagner zu-sammen, ihrem damaligen Mann.Der hatte sich von einem dem Buka-rester Regime wohlwollendenSchriftsteller zu einem Kritiker des-

selben gewandelt. Die Folgen: Be-rufsverbot und Gefängnis. AlleFreunde von ihm und Herta Müllerwaren entweder exmatrikuliert, hat-ten Hausarrest oder saßen in U-Haft. „Ich dachte“, erinnert sichHerta Müller, „das weiß der Geheim-dienst doch, dass ich zu denen ge-höre. Ich dachte, das ist ein Kurz-schluss – heute weiß ich, dass sieimmer versuchen, Leute aus demengen Kreis zu erpressen. Der Ge-heimdienstmann hat mir auch ge-sagt: ‚Wir stecken dich ins Wasser, inden Fluss, in die Bega.‘ Ich sagte:‚Wenn das sein muss, dann machenSie es. Wenn ich das Papier über eineMitarbeit unterschreibe, müsste ichdas selber tun.‘“

Zivilcourage und ein leiden-schaftliches Temperament zeigteHerta Müller aber nicht nur in Situa-tionen der akuten Bedrohung, son-dern auch in ihrem Werk, das dieVerletzungen, die die Diktatur denMenschen und der rumänischenGesellschaft zufügte auf bedrän-gende Art schildert. Sie ist einer derwichtigsten Chronisten des alten,noch durch die Konfrontation derzwei Machtblöcke bestimmten Eu-ropa. Ihre Romane „Der Fuchs wardamals schon der Jäger“ (1992),„Herztier“ (1994) und „Heute wärich mir lieber nicht begegnet“(1997), oder auch ihr neuer Essay-band „Der König verneigt sich undtötet“ (2003), schildern den Terrorder Diktatur, der bis in die feinstenVerästelungen des Privatlebensreichte. 1987 emigrierte Herta Mül-ler nach Deutschland, seither lebtund arbeitet sie in Berlin. Doch dieSecuritate verfolgte sie weiter. VomVerfassungsschutz erhielt sie Rat-schläge zu ihrem Schutz – etwa aufihren Lesereisen nie im Parterre zuwohnen, sich nie abends von frem-den Personen begleiten zu lassen,nie in eine Wohnung zu gehen,

wenn sie die Leute nicht kenne, nieGeschenke anzunehmen, nie Ziga-rettenschachteln auf dem Tisch lie-gen zu lassen, damit man sie nichtauswechseln könne.

Doch nicht nur der Geheim-dienst stellte eine Bedrohung dar,die deutsche Minderheit in Rumä-nien reagierte sehr rabiat auf HertaMüllers Bücher. „Es ist ein Phäno-men der Provinz, jeder meint er er-kennt sich...“ Selbst in Deutschlandgingen Mitglieder der Landsmann-schaften in Müllers Lesungen, ummit Fußtrampeln und Zwischenru-fen zu stören.

Das Ende des Regimes von Ceau-sescu am 22. Dezember 1989 wareine Befreiung: „Die Angst ist wegge-fallen. Das war das größte Glück, dasman haben kann. Ich hatte nichtmehr damit gerechnet.“

Die Angst ist weg. Nicht weg sinddie Erinnerungen – auch die Erinne-rungen an die Freunde, die umge-bracht wurden, noch bis kurz vorEnde des Regimes. Ihnen fühlt sichdie Schriftstellerin noch heute ver-pflichtet, etwa wenn sie die Bundes-beauftragte für die Unterlagen desStaatssicherheitsdienstes der ehe-maligen Deutschen Demokrati-schen Republik, Marianne Birthler,auf eine Reise nach Rumänien be-gleitete. Birthler war eingeladen, derGründung der dortigen „Gauck-Be-hörde“, einer elfköpfigen Kommis-sion zur Aufarbeitung der Securi-tate-Akten, beizuwohnen.

In einer Zeit, in der der Ost-West-Konflikt in Vergessenheit gerät,wo Europa der Staatenbund der 25wird, da wenden sich auch in Rumä-nien die Blicke stärker in RichtungEU. Doch vor einer möglichen Mit-gliedschaft steht neben dem Aufbaueiner soliden Marktwirtschaft vor

Leuchtturm der MusikkulturMusikrat mit seinem Kongress „Mu-sik bewegt“ den Startpunkt für einMehr an musikalischer Bildung ge-setzt. Bundespräsident JohannesRau hat sich sehr wirkungsvoll anvielen Stellen für dieses Thema en-gagiert. Vom 20.05.-22.05.2004 wirdder Deutsche Musikrat gemeinsammit dem Verband deutscher Schul-musiker, dem Verband deutscherMusikschulen und der Strecker-Stif-tung den Kongress „Musik in derGanztagsschule“ durchführen.

MusikvermittlungDie Veränderungen im Rezeptions-

verhalten, befördert durch Verspar-tung und Häppchenkultur in denMedien und die Konsequenzen ausder demographischen Entwicklungeröffnen viele Fragen nach mögli-chen Veränderungen bzw. neuenVermittlungsformen, denen derDeutsche Musikrat u.a. auf einemKongress im kommenden Jahr nach-gehen wird.

Kulturelle Identität und interkultu-reller DialogWer das Eigene nicht kennt, kanndas Andere nicht erkennen. Die Aus-einandersetzung mit dem viel-schichtigen Begriff kultureller Iden-titäten des Individuums im Verhält-nis zu den jeweiligen Lebensberei-chen ist ein verdrängtes aber gären-

des Thema. Den Reichtum andererKulturen erfahrbar zu machen ge-hört in diesem Zusammenhang zuden wesentlichen Aufgaben aller Bil-dungs- und Kultureinrichtungen.

So definiert beispielsweise derBegriff „Jugend musiziert“ nicht, wel-che Jugend welche Musik spielt. Aufder letzten Konferenz der Jugendmusiziert-Regionen in Potsdamwurde mit der Diskussion um dieÖffnung hin zur Populären Musik einAnfang gemacht. Weitere Schritte zurEinbeziehung anderer Ethnien, wiebeispielsweise beim LandesmusikratBerlin mit der Einführung des türki-schen Nationalinstrumentes Ba-glama als Wertungskategorie, solltenbald folgen. Der Deutsche Musikratwird im kommenden Jahr einen

Schwerpunkt auf diesen Themenbe-reich legen.

Wie wirkungsvoll der DeutscheMusikrat agieren kann, wird wesent-lich von der Dialogkultur innerhalbund außerhalb des Dachverbandesabhängen. In diesem Sinne hoffeich, dass bei aller Leidenschaft inder Auseinandersetzung, wie aktuellzum Verhältnis Neue Musik-Popu-läre Musik, die gemeinsame Verant-wortung als Plattform erhaltenbleibt.

Der Deutsche Musikrat wird sicheinmischen – überall dort, wo Bil-dung und Kultur mittelbar oder un-mittelbar betroffen sind. Ziel ist es,nicht nur auf tagesaktuelle Ereig-nisse zu reagieren, sondern Themenzu setzen.

Ich wünsche mir mutige Politi-ker, die für Überzeugungen stehen,sich für diese Überzeugungen ein-setzen und ihre Arbeit nicht nur imVerwalten und Moderieren, sondernim Prägen von öffentlicher Meinungverstehen, denn nur Bewusstseinschafft Ressourcen.

Musik und Politik bedingen ei-nander.

Der Verfasser ist Generalsekretär desDeutschen Musikrates und Vorsit-

zender der Strategiekommission desPräsidiums ■

Fortsetzung von Seite 23

Herta Müller Foto: Bettina FlitnerWeiter auf Seite 25

Page 24: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

AUS DEM BUNDESTAG politik und kultur • März - April 2004 • Seite 25

Bundestagsdrucksachen

Im Folgenden wird auf Bundes-tagsdrucksachen mit kulturpoliti-

scher Relevanz hingewiesen. Be-rücksichtigt werden Kleine undGroße Anfragen, Anträge, Entschlie-ßungsanträge, Beschlussvorlagen,Schriftliche Fragen, Mündliche Fra-gen sowie Bundestagsprotokolle.Alle Drucksachen können unter fol-gender Adresse aus dem Internetheruntergeladen werden: http://dip/bundestag.de/parfors/parfors.htm.

Berücksichtigt werden Drucksachenzu folgenden Themen:

• Auswärtige Kulturpolitik,• Bürgerschaftliches Engagement,• Daseinsvorsorge,• Erinnern und Gedenken,• Europa,• Bildung,• Informationsgesellschaft,• Internationale Abkommen mit

kultureller Relevanz,• Kulturelle Bildung,• Kulturfinanzierung,• Kulturförderung nach § 96 Bun-

desvertriebenengesetz,• Kulturpolitik allgemein,• Kulturwirtschaft,• Künstlersozialversicherungsge-

setz,• Medien,• Steuerrecht mit kultureller Relevanz,• Stiftungsrecht,• Urheberrecht.

Thema Kulturpolitik allgemein

Plenarprotokoll 15/74 (12. 11. 2003)6358 C – 6359 BZustimmung zum „Vertrag über dieaus der Hauptstadtfunktion Berlinsabgeleitete Kulturfinanzierung“MdlAnfr 16, Hans-Joachim Otto(Frankfurt) FDP, Antw StMin‘in Dr.Christina Weiss BK 6358 C, ZusFrHans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP6358 D, ZusFr Eckhardt Barthel (Ber-lin) SPD 6359 A, ZusFr Horst Ku-batschka SPD 6359 B

Plenarprotokoll 15/75 (13.11.2003)6535 A – 6546 ATagesordnungspunkt 12:Antrag der Abgeordneten der Frakti-on der CDU/CSU und der Fraktionder FDP:Errichtung einer Stiftung „Staats-oper Unter den Linden“(Drucksache 15/1790)in Verbindung mitZusatztagesordnungspunkt 5:Antrag der Abgeordneten der Frakti-on der CDU/CSU und der Fraktionder FDP:Staatsvertrag für die Hauptstadt-kultur(Drucksache 15/1973)Redner: Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU); Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN), Dr. ChristinaWeiss, Staatsministerin BK; HansJoachim Otto (Frankfurt)(FDP);Günter Nooke (CDU/CSU); Eck-hardt Barthel (Berlin) (SPD)

Tagesordnungspunkt 13:Antrag der Abgeordneten der Frakti-on der SPD und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Chancengleichheit in der globalenInformationsgesellschaft sichern –VN-Weltgipfel zum Erfolg führen(Drucksache 15/1988)

Fragestunden

Fragen für die Fragestunde der 74.Sitzung des Deutschen Bundesta-ges am Mittwoch, dem 12. Novem-ber 2003, Drucksache 15/1946 (07.11. 2003)Frage des Abgeordneten Klaus Hof-bauer (CDU/CSU): Was unternimmtdie Bundesregierung bzw. welcheAkzente werden gesetzt, um denBürgerinnen und Bürgern den Euro-päischen Verfassungsvertragsent-wurf näher zu bringen?Frage des Abgeordneten Klaus Hof-bauer (CDU/CSU): Welche Informa-tionskampagnen startet die Bundes-regierung, um auf die vielen Fragender Bürgerinnen und Bürger imRahmen der EU-Osterweiterung,insbesondere in den Grenzregionen,eine Antwort zu geben?

Frage des Abgeordneten Hans-Joa-chim Otto (Frankfurt) (FDP): Wannwird die Bundesregierung der Un-terzeichnung des bereits paraphier-ten „Vertrages über die aus derHauptstadtfunktion Berlins abgelei-tete Kulturfinanzierung“ zustim-men?Frage des Abgeordneten Hans-Joa-chim Otto (Frankfurt) (FDP): Ist ausder Formulierung in § 7 dieses Ver-trages, wonach ein gemeinsamerAusschuss von Bund und Land ei-nen Hauptstadtkulturfonds „ein-richten“ kann, zu schließen, dassder bestehende Hauptstadtkultur-fonds mit sofortiger Wirkung aufge-löst wird, und wenn ja, welche Aus-wirkungen auf den Bundeshaushaltentfaltet das?

Schriftliche Fragen

Schriftliche Fragen mit den in derWoche vom 22. September 2003eingegangenen Antworten der Bun-desregierung, Drucksache 15/1612(26. 09. 2003)

Frage des Abgeordneten SteffenKampeter (CDU/CSU): Kosten fürdie Teilnahme verschiedener Regie-rungsmitglieder an der Welthandels-konferenz in Cancún.

Schriftliche Fragen mit den in derZeit vom 29. September bis 10. Ok-tober 2003 eingegangenen Antwor-ten der Bundesregierung, Drucksa-che 15/1677 (10. 10. 2003)Frage der Abgeordneten DorotheeMantel (CDU/CSU): Finanzielle undpädagogische Eigenverantwortungder Schulen.

Schriftliche Fragen mit den in derWoche vom 20. Oktober 2003 einge-

gangenen Antworten der Bundesre-gierung, Drucksache 15/1829 (24.10. 2003)Frage der Abgeordneten CorneliaPieper (FDP): Mittelabfluss undHaushaltsansatz für das Programm„Kultur in den neuen Ländern“Verwendung des Vermögens der frü-heren DDR-AußenhandelsfirmaNOVUM zur Kulturförderung in denneuen Bundesländern.

Auswärtige Kulturpolitik

Drucksache 15/2258 (12.12.2003)Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung zurAuswärtigen Kulturpolitik 2002

Bildung

Drucksache 15/2217 (12. 12. 2003)Unterrichtung über die gemäß §93der Geschäftsordnung an die Aus-schüsse überwiesenen Vorlagen(Eingangszeitraum: 26. November2003 bis 9. Dezember 2003)2. Überweisung von EU-Vorlagengemäß § 93 Abs. 1 GO2.28 Mitteilung der Kommission„Allgemeine und berufliche Bil-dung 2010“ Die Dringlichkeit vonReformen für den Erfolg der Lissa-bon-Strategie (Entwurf eines ge-meinsamen Zwischenberichts überdie Maßnahmen im Rahmen desdetaillierten Arbeitsprogramms zurUmsetzung der Ziele der Systemeder allgemeinen und beruflichenBildung in Europa)KOM (2003) 685 endg.; Ratsdok.14358/03

Europa

Drucksache 15/1898 (05. 11. 2003)Beschlussempfehlung und Berichtdes Ausschusses für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (20.Ausschuss)

1. zu dem Entschließungsantragder Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

-Drucksache 15/1212-zu der Abgabe einer Erklärungdurch die Bundesregierung zuden Ergebnissen des Europäi-schen Rates in Thessaloniki am20./21. Juni 20032. zu dem Antrag der Abgeordne-ten der Fraktion der CDU/CSU-Drucksache 15/1207-Zum Stand der Beratungen desEU-Verfassungs-Vertrages

Drucksache 15/2104 (28. 11. 2003)Unterrichtung über die gemäß § 93der Geschäftsordnung an die Aus-schüsse überwiesenen Vorlagen(Eingangszeitraum 12. bis 25. No-vember 2003)1.3. Entschließung des Europäi-schen Parlaments zum Beitrag derEuropäischen Union zum Plan fürdie Umsetzung der Beschlüsse desWeltgipfels für nachhaltige Ent-wicklung(EuB-EP 1027)

Drucksache 15/2162 (09. 12. 2003)Antrag CDU/CSU-Fraktion Konzeption zur Struktur und zur Fi-nanzierung eines Osteuropazent-rums für Wirtschaft und Kultur jetztvorlegen

Drucksache 15/2173 (10. 12. 2003)Entschließungsantrag FDP-Fraktion Zu der Abgabe einer Erklärungdurch die Bundesregierung zumEuropäischen Rat in Brüssel am12./13. Dezember 2003

Drucksache 15/2188 (10. 12. 2003)Beschlussempfehlung und Berichtdes Ausschusses für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (20.Ausschuss)

1. zu dem Antrag der FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN - Drucksache 15/1878–Die Errungenschaften des Kon-vents sichern – das EuropäischeVerfassungsprojekt erfolgreichvollenden2. zu dem Antrag der CDU/CSU-

Fraktion - Drucksache 15/1694 –Für eine zügige Regierungskon-ferenz über die EU-Verfassung3. zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion - Drucksache 15/1695 Gottesbezug im EuropäischenVerfassungsvertrag4. zu dem Antrag der Abgeordne-ten der FDP-Fraktion - Drucksa-che 15/1801 –Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschrei-ben-Unabhängigkeit der Europäi-schen Zentralbank sichern

Informationsgesellschaft

Drucksache 15/2184 (10. 12. 003)Beschlussempfehlung und Berichtdes Ausschusses für Kultur und Me-dien (21. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordnetender SPD-Fraktion und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENChancengleichheit in der globalenInformationsgesellschaft sichern -VN-Weltgipfel zum Erfolg führen

Drucksache 15/2315 (23. 12. 2003)Unterrichtung durch die Bundesre-gierungAktionsprogramm Informationsge-sellschaft Deutschland 2006

Kulturpolitik allgemein

Drucksache 15/2002 (12. 11. 2003)Beschlussempfehlung und Berichtdes Ausschusses für Kultur und Me-dien (21. Ausschuss)zu dem Antrag der CDU/CSU-Frak-tion - Drucksache 15/1094 -Umsetzung des Bundestagsbe-schlusses zur Wiedererrichtung desBerliner Stadtschlosses

Kulturwirtschaft

Drucksache 15/1977 (11. 11. 2003)Änderungsantrag der FraktionenSPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und FDPzu der zweiten Beratung des Gesetz-entwurfs der Bundesregierung –Drucksachen 15/1506, 15/1958-Entwurf eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Filmförderungsge-setzes

Drucksache 15/1958 (10. 11. 2003)Beschlussempfehlung und Berichtdes Ausschusses für Kultur und Me-dien (21. Ausschuss)zu dem Gesetzentwurf der Bundes-regierung - Drucksache 15/1506 –Entwurf eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Filmförderungsge-setzes

Drucksache 15/2275 (19. 12. 2003)Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion -Drucksache 15/1402 –Wirtschaftliche und soziale Ent-wicklung der künstlerischen Berufeund des Kunstbetriebs in Deutsch-land ■

Deutscher Bundestag im Reichstagsgebäude Fotonachweis: Deutscher Bundestag

allem eine Demokratisierung derGesellschaft, insbesondere auch dieAufarbeitung der Diktatur. Solangekeine Akten von Dissidenten undVerfolgten, von Tätern und Mitläu-fern offengelegt werden, solange derStaatspräsident Iliescu den Holo-caust in Zweifel zieht, solange dieAufarbeitung der Securitate-Aktenverschleppt werden. Solange – viel-leicht als Pendelbewegung nach derkommunistischen Ära – der Faschis-mus Antonescus als nationales Erbe

fröhlich Urstände feiert, so lange istRumäniens Weg nach Europa nochweit.

„Jetzt bekommst du auch nochdie Tapferkeitsmedaille“, habe einFreund zu ihr gesagt, als durch diePresse ging, dass Herta Müller denLiteraturpreis der Konrad AdenauerStiftung erhalten solle. Die Laudatiohält Joachim Gauck, der frühereChef der Stasi-Unterlagenbehördeals Vorsitzender des Vereins „GegenVergessen – für Demokratie“. In derBegründung der Jury heißt es folge-richtig, Herta Müller habe sich fürdemokratische Grundwerte enga-

giert. Müller beschäftige sich in ih-ren Romanen und Essays intensivmit der Diktatur und der Tätergene-ration der Eltern sowie mit dem Auf-bruch nationaler Minderheiten inOsteuropa.

Herta Müller war eine der ersten,die Einsicht in ihre Securitate-Aktengefordert hat. Das war vor zwei Jah-ren als die Aufarbeitungs-Kommis-sion ihre Arbeit aufnahm. Gesche-hen ist seither nichts – im Gegenteil:Es wird sogar abgestritten, dassüberhaupt Akten über die Schrift-stellerin existieren. Wenn HertaMüller jetzt die dringende Aufarbei-

tung der Securitate-Akten fordert,dann denkt sie dabei nicht nur ansich. Ihr geht es auch um die Zivilge-sellschaft Rumäniens, die nur danneine echte Zukunftsperspektive ent-wickeln kann, wenn sie sich der Ver-gangenheit stellt und diejenigenbeim Namen nennt, die Verantwor-tung trugen.

Den Stoff ihres nächsten Ro-mans will sie nicht preisgeben. „Ichkenne so viele erzählte Romane“,sagt sie. Doch ein Thema bewegt sienach wie vor: Es würde sie interes-sieren, wenn einer der Spitzel wirk-lich rücksichtslos gegen sich selbst

der Sache nachgehen würde. Wenner auch sich selbst analysierenwürde: Wie kam es dazu, dass erwurde, was er wurde. „Da wäre ichauch dazu bereit, wieder zu spre-chen und auch dieser Person dasnachzusehen.“ Vielleicht ist das eineGeschichte, die uns Herta Müllernoch erzählen wird.

Der Literaturpreis der Konrad-Ade-nauer-Stiftung ist mit 15.000 Eurodotiert und wird am 16. Mai in Wei-mar verliehen.

Fortsetzung von Seite 24

Page 25: Zeitung des Deutschen Kulturrateswir nach der freien Welt so begierig waren, vom Westen trennte. Wir denken an das Europa der Nach-kriegszeit im Kontext seiner „Drei großen Dekaden“:

Eine Chance vertanAnmerkungen zur Großen Anfrage der CDU/CSU und FDP zur wirtschaftlichen Entwicklung der künstlerischen Berufe • Von Gabriele Schulz

Eine Chance wurde vertan, sowohlvon den Fragestellern bei der Gro-ßen Anfrage der CDU/CSU-Fraktionund der FDP-Fraktion „Wirtschaftli-che und soziale Entwicklung derkünstlerischen Berufe und desKunstbetriebs in Deutschland“ (imFolgenden: Große Anfrage) als auchvon der Bundesregierung bei der Be-antwortung der Großen Anfrage.

Große Anfragen im DeutschenBundestag sind nicht gerade ein

Instrument, welches tagtäglich ge-nutzt werden kann. Sie bieten be-reits von ihrem Umfang her dieMöglichkeit, entweder der Regie-rung auf den Zahn zu fühlen, wenndie Große Anfrage von der Opposi-tion gestellt wird, oder aber die Leis-tungen der Bundesregierung he-rauszustreichen, wenn das Instru-ment der Großen Anfrage von denRegierungsfraktionen genutzt wird.Auf Grund der Bedeutung des In-struments sollten der Zeitpunkt undauch die Fragestellung genau über-legt sein.

Es verwunderte daher, dass dieOppositionsfraktionen zu einemZeitpunkt die Große Anfrage starte-ten, als die Einsetzung der Enquete-Kommission des Deutschen Bun-destags „Kultur in Deutschland“ be-reits eine beschlossene Sache war.Es war zu erwarten, dass die Bun-desregierung bei einer Vielzahl vonFragen darauf verweisen würde, zu-nächst die Ergebnisse der Enquete-Kommission abwarten zu wollen.

Noch verwunderlicher ist aller-dings, warum bei den Fragen zurwirtschaftlichen und sozialen Lageder Künstler die Sparte Literatur vonden Fragestellern hartnäckig ausge-klammert wird. Es wird ausschließ-lich der Status in den Sparten Musik,Bildende Kunst und DarstellendeKunst erfragt. Es kann daraus keinvollständiges Bild der Lage in denkünstlerischen Berufen entstehen,zumal auch die Bundesregierung

das „Vergessen“ der Sparte Literaturnicht genüsslich ausgeschlachtethat, sondern ausschließlich Anga-ben zu den Sparten Musik, Darstel-lende Kunst und Bildende Kunstmachte.

Nachdem die künstlerischen Be-rufe schon auf drei Sparten redu-ziert wurden, konzentrieren sich dieFragen nach der Kulturwirtschaftausschließlich auf den Kunstmarkt.Sicherlich ein wichtiges kulturwirt-schaftliches Segment, doch alleinwas die Umsätze und auch die Be-schäftigtenzahl anbelangt, nicht ge-rade die führende kulturwirtschaft-liche Branche.

So präjudizieren bereits die Fra-gen eine Schieflage bei der Darstel-lung der wirtschaftlichen und sozia-len Entwicklung der künstlerischenBerufe. Diese Schieflage wird durchdie Antwort der Bundesregierungnicht aufgefangen. Die Antwortenzur sozialen Lage der Künstlerinnenund Künstler lassen mehr Fragen of-fen als tatsächlich Antworten gege-ben wurden. Die präsentierten Da-ten werden weder in einen Kontexteingeordnet, noch interpretiert.

So wundert man sich bei Frage 2(Wie viele angestellte Künstlerinnenund Künstler (bildende Kunst, Mu-sik, darstellende Kunst) leben undarbeiten – aufgelistet nach Sparten –in Deutschland?), dass bei den ange-stellten Künstlern nach den Ergeb-nissen des Mikrozensus im April2002 gerade die Bildenden Künstenmit 47.000 angestellten Berufsange-hörigen die größte Berufsgruppestellen, gegenüber den 24.000 ange-stellten Musikern und 22.000 ange-stellten darstellenden Künstlernund Sängern. Zwar wird hinter derZahlenangabe der Bildenden Künst-ler in Klammern angegeben: Ange-wandte Kunst, doch werden keineweiteren Angaben dazu gemacht,um welche Berufe es sich letztlichhandelt. Bislang galt die Sparte Bil-dende Kunst immer als jene Sparte,

die in erster Linie zur freiberuflichenTätigkeit führt.

Auch stellt sich die Frage, wersich hinter den in der Antwort zuFrage 11 (Wie hoch ist die Zahl derkünstlerisch Ausgebildeten/Tätigen

an der Arbeitslosenzahl heute, undwie hat sich die Zahl in den vergan-genen Jahren entwickelt?) 16.414 ar-beitslosen Bildenden Künstlern ver-birgt. Hier fand in den Jahren von1995 bis 2002 mit 8.411 Arbeitslosenauf die genannten 16.414 Arbeitslo-sen immerhin fast eine Verdopplungstatt, wohingegen in den anderenSparten die Zahl der Arbeitslosenetwa konstant blieb oder vergleichs-weise moderat anstieg. In ihrer Ant-wort bleibt die Bundesregierung dieInterpretation dieser Daten schul-dig. Sie nennt lediglich die Zahlen.

Ausführlicher sind lediglich dieAngaben zu Frage 17 (Gibt es spezi-fische steuerlich Vergünstigungen,die in künstlerischen Berufen Tätigein Anspruch nehmen können, undin welchem Maße wird Gebrauchvon diesen Regelungen gemacht?).Hier nutzt die Bundesregierung dasInstrument Große Anfrage um ihrePolitik positiv darzustellen. Dass siedabei ein bisschen über das Ziel hi-naus schießt und mit der Darstel-lung der pauschalen Besteuerungausländischer Künstler, die inDeutschland auftreten, ihren Auf-trag ausweitet, sei verziehen.

Bedrückend ist die klare Antwortder Bundesregierung auf Frage 14(Plant die Bundesregierung Maß-nahmen zur Verbesserung der wirt-schaftlichen und sozialen Lage von

freischaffenden Künstlerinnen undKünstlern (bildende Kunst, Musik,darstellende Kunst), und wenn ja,welche?). Sie sagt klipp und klar,dass die Bundesregierung derzeit imBereich des Sozialwesens keine wei-

teren spezifischen Maßnahmen zurVerbesserung der Lage der selbstän-digen Künstlerinnen und Künstlerplant. Dass zuvor noch auf die kapi-talgedeckte private Altersvorsorgeverwiesen wird, die auch den ren-tenversicherungspflichtigen selb-ständigen Künstlerinnen undKünstlern zu Gute kommt, erscheintin dem Lichte fast schon als Hohn.Denn wie soll es gelingen, mit einemdurchschnittlichen Jahreseinkom-men von rund 11.100 Euro (Durch-schnittsjahreseinkommen allerSparten einschließlich des Wortbe-reiches; ohne den Wortbereich be-trug das Durchschnittseinkommenim Jahr 2003 rund 10.200 Euro),noch eine ausreichende private Al-tersvorsorge aufzubauen. Es ist da-her davon auszugehen, dass sich dieAltersarmut bei Künstlern auf ab-sehbare Zeit fortsetzen und sich mitBlick auf die Veränderung in derRentenversicherung, eventuell in ei-nigen Jahren noch verschärfen wird.

Da tröstet es wenig, wenn eben-falls in der Antwort auf die bereitserwähnte Frage 14 darauf verwiesenwird, dass mit dem so genannten„Korb 2“ zur Gestaltung des Urhe-berrechts in der Informationsgesell-schaft in einem Schwerpunkt die ur-heberrechtlichen Vergütungssys-teme reformiert werden sollen. Dasin der letzten Legislaturperiode

mühselig durchgesetzte Urheber-vertragsrecht – auf das ebenfalls ver-wiesen wird – hat bislang zu nochkeinen Vereinbarungen zwischenVerwerter- und Künstlerverbändenauf angemessene Vergütung geführt.Angesichts der derzeitigen Krise derKulturwirtschaft sind diese auchkaum in der nächsten Zeit zu erwar-ten.

Die Erwartungen und auch dieAnforderungen an die Enquete-Kommission im Deutschen Bundes-tag „Kultur in Deutschland“ sindnach dieser Großen Anfrage und derAntwort der Bundesregierung ehernoch gestiegen. Auf die Enquete-Kommission wartet die Aufgabe, dieWechselwirkungen innerhalb desKulturbereiches aufzuzeigen. Um-satzeinbußen in der Kulturwirt-schaft führen zu Entlassungen, diedie Zahl der freiberuflichen Kultur-berufler, die nach dem Künstlersozi-alversicherungsgesetz versiche-rungspflichtig sind, ansteigen las-sen. Sinkende Umsätze bei den Un-ternehmen der Kulturwirtschaftschlagen sich in niedrigeren Hono-raren nieder. Einer stetig wachsen-den Zahl an Versicherten in derKünstlersozialversicherung stehteine relativ konstante Zahl an Abga-bepflichtigen gegenüber. Darüberhinaus entsteht eine Gruppe an Kul-turberuflern, die durch alle Rasterfallen, da sie weder künstlersozial-versicherungspflichtig sind nochausreichend verdienen, um sich pri-vat abzusichern. Zusätzlich darfnicht aus dem Blick verloren wer-den, dass Einsparungen der öffentli-chen Hände, der Trend zu Eventsund anderes, mehr zu einer Schwä-chung der Einkommensbasis vielerKünstler führen. Die Enquete-Kom-mission wird auf diese Fragen Ant-worten geben müssen, damit nichtauch ihr Ergebnis mit „Chance ver-tan“ bewertet werden wird.

AUS DEM BUNDESTAG politik und kultur • März - April 2004 • Seite 26

Zwischen den StühlenBildungsreform im Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern • Von Gabriele Schulz

Nachdem sich in den vergangenenzwei Jahren der bildungspolitischeStreit vornehmlich auf die schuli-sche Bildung konzentrierte und einSchlagabtausch zwischen Bundesbil-dungsministerin Bulmahn und der je-weils amtierenden Präsidentin derKultusministerkonferenz stattfand,ob der Bund sich in schulpolitischenFragen überhaupt zu Wort meldendarf, wurde nun ein neues Feld bil-dungspolitischer Auseinandersetzun-gen eröffnet: die Hochschulpolitik.Austragungsort ist u.a. die Kommis-sion zur Modernisierung der bundes-staatlichen Ordnung (Bundesstaats-kommission), besser bekannt unterdem Kürzel „Föderalismuskommis-sion“.

Sie wurde gemeinsam vom Deut-schen Bundestag und Bundesrat

am 16./17. Oktober 2003 eingesetzt.Ziel ist es, bis zum Ende des Jahres2004 Vorschläge zu erarbeiten, wiedas Zusammenwirken von Bundund Ländern verbessert werdenkann. Kern der Diskussion ist, klareZuständigkeiten von Bund und vonLändern auszumachen. Der Bundverfolgt dabei das Ziel, handlungsfä-higer zu werden und die Mitent-scheidung des Bundesrates an derGesetzgebung zurückzudrängen.Die Länder wollen Eigenständigkeitzurückgewinnen und nicht mehrreine Ausführungsorgane der Bun-

desgesetzgebung sein. Beide erhof-fen sich mehr Handlungs- und Ent-scheidungsfähigkeit.

Die Bundesstaatskommissionsetzt sich zusammen aus je 16 Ver-tretern des Deutschen Bundestagsund des Bundesrates mit Rede-, An-trags- und Stimmrecht. Beratende

Mitglieder mit Rede- und Antrags-recht, doch ohne Stimmrecht, sindvier Mitglieder der Bundesregierungund sechs Vertreter der Landtage.Ständige Gäste mit Rede- und An-tragsrecht, doch ohne Stimmrecht,sind drei Mitglieder der Kommuna-len Spitzenverbände. Komplettiertwird die Kommission durch 12 Sach-verständige mit Rederecht, dochohne Antrags- und Stimmrecht. Bisauf die Sachverständigen haben alleKommissionsmitglieder einen Stell-vertreter.

Die Konfliktlinien laufen quer-beet und das macht die Sache ei-gentlich spannend. Denn quer zudem Gegenüber von Bund und Län-

dern verlaufen die Parteizugehörig-keiten, sowie mit Blick auf die Län-der die Interessen von Landesregie-rungen und Landtagen. Wie sich dieEreignisse scheinbar wiederholenkönnen, zeigte gleich die erste Sit-zung, in der der Erste Parlamentari-sche Geschäftsführer der SPD-Frak-

tion, Wilhelm Schmidt (SPD), auf diewachsende Bedeutung des Vermitt-lungsausschusses verwies und be-klagte, dass dadurch die Gesetzge-bungskompetenz des Bundes einge-schränkt würde. Er wurde von Jür-gen Rüttgers (CDU), Vertreter derLandtage, daran erinnert, dass inder Legislaturperiode 1994-1998 dieim Bundesrat vorhandene Mehrheitder SPD dasselbe Spiel mit der da-maligen unionsgeführten Bundesre-gierung trieb.

Im Mittelpunkt der Bundes-staatskommission steht die Fragenach Zustimmungspflicht des Bun-desrates zu Gesetzen und nach denFinanzbeziehungen zwischen Bund

und Ländern. Doch gleich zu Beginnwurde auch die Bildungspolitik the-matisiert und zwar hier Art. 91aGrundgesetz (Mitwirkung des Bun-des auf Grund von Bundesgesetzen).Ein wesentlicher Bestandteil der indiesem Grundgesetzartikel genann-ten Aufgaben ist der Aus- und Neu-bau von Hochschulen und Hoch-schulkliniken, eine der wichtigen In-novationsmaßnahmen im Zuge desAusbaus des Bildungswesens in den70er Jahren. Weiter wurde Art. 91bGrundgesetz angeschnitten, der dasZusammenwirken von Bund undLändern bei der Bildungsplanungund Forschungsförderung be-schreibt. Diese Zusammenarbeit,die institutionell durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungs-planung und Forschungsförderung(BLK) gesichert ist, war bereits Ge-genstand von Debatten im Deut-schen Bundestag, da die Unions-fraktionen die BLK für gescheiterterklären und deren Abschaffung for-dern. Demgegenüber SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP für den Er-halt der BLK eintreten (siehe hierzuauch politik und kultur 2/2003).

Mit Blick auf Art. 91a geht es inder Bundesstaatskommission da-rum, dass die Länder den Bund wei-terhin einfordern beim Aus- undNeubau von Hochschulen. Sie iden-tifizieren dieses als eine eindeutigeGemeinschaftsaufgabe. Demgegen-

über will der Bund für diese Investi-tionen nicht mehr länger aufkom-men und setzt sich für eine Neuord-nung in der Finanzierung der For-schungslandschaft ein. Dieses wirdwiederum von den Ländern abge-lehnt, die befürchten, dass sich derBund tatsächlich aus der Förderungeiniger Forschungseinrichtungenzurückziehen will.

Untergründig schwingt bei die-sen Diskussionen mit, dass die Bil-dungspolitik zu den wenigen Politik-feldern gehört, in denen sich dieverschiedenen Landesregierungenprofilieren können und bei denendie Länder eine originäre Zuständig-keit beanspruchen. Im Verlauf derweiteren Verhandlungen wird sicherweisen, ob den Ländern die Bil-dung tatsächlich am Herzen liegtoder ob hier bereits frühzeitig einPolitikfeld in die Kommission einge-bracht wurde, das zum nächtlichenKuhhandel geeignet ist.

Kulturpolitik spielte bei den bis-herigen Verhandlungen noch keineRolle. Doch das muss nicht so blei-ben. Da die Verhandlungen zwi-schen Bund und Ländern zur Syste-matisierung der Kulturförderungnoch zu keiner Einigung geführt ha-ben, bleibt offen, ob auch dieser Be-reich noch Gegenstand des Ver-handlungspokers zwischen Bundund Ländern werden wird.

Erwartungen an die Enquete-

Kommission sind gestiegen

Kulturpolitik bald Gegenstand

von Verhandlungspoker

zwischen Bund und Ländern

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AUS DEM BUNDESTAG politik und kultur • März - April 2004 • Seite 27

Kultur und RechtVeröffentlichung von Luftbild-

aufnahmen mit Privathäusern Pro-minenter zulässig – in Verbindung

mit Wegbeschreibung hingegenunzulässig

- Urteile des Bundesgerichts-hofs vom 9. Dezember 2003 - VI ZR

373/02 und 404/02 -

Der BGH hat die Klagen derFernsehjournalistinnen Christian-sen und Gundlach auf Unterlassungder Veröffentlichung von Luftbild-

aufnahmen – in Verbindung mit Na-mensnennung – der von ihnen aufMallorca bewohnten Häuser abge-wiesen. Die Klage der KlägerinGundlach auf Unterlassung der Ver-öffentlichung einer Wegbeschrei-bung zu ihrem Anwesen hatte je-doch Erfolg.

Hierzu der VI. Zivilsenat desBGH: Mit der Veröffentlichung derLuftbildaufnahmen wird zwar ge-ringfügig in die Privatsphäre der Klä-gerinnen eingegriffen und es wirdderen Recht auf informationelleSelbstbestimmung beeinträchtigt.Der Eingriff wird aber nicht durch

das Grundrecht der Pressefreiheitgedeckt, wobei u. a. zu berücksichti-gen war, dass die Anwesen der Kläge-rinnen durch Veröffentlichungenschon bekannt waren. (Dass die Klä-gerin Christiansen an den Vorveröf-fentlichungen nicht mitgewirkt hat,hat unter den Gesamtumständendes konkreten Falles keine Auswir-kung.) – Anders hingegen ist die Ver-öffentlichung der Wegbeschreibungzu dem Anwesen der Klägerin Gund-lach zu beurteilen: Das Recht auf in-

formationelle Selbstbestimmungwurde hier in nicht hinzunehmen-der Weise verletzt, die Klägerinwurde einer erhöhten Gefahr desEindringens Dritter in ihren privatenBereich ausgesetzt.

Die Urteile werden in der Zeit-schrift „Kunstrecht und Urheber-recht“, KUR, und in der Entschei-dungssammlung E. Schulze, „Recht-sprechung zum Urheberrecht“ ab-gedruckt. - Dr. Bernhard von Becker,Verlagssyndikus in München, wirddie Urteile sowohl für KUR als auchfür die Entscheidungssammlung be-sprechen.

Keine Urheberrechtsverletzungdurch das Setzen eines Hyperlinks,der unmittelbar auf urheberrecht-lich geschützte Internetangebote

verweistUrteil des Bundesgerichtshofs

vom 17. Juli 2003 – I ZR 259/00 –„Paperboy“

Ein Internet-Suchdienst - hier:„Paperboy“ -, der öffentlich zugäng-lich gemachte Internet-Informati-onsangebote Dritter auswertet, in-dem er dem Nutzer den unmittelba-ren Zugriff auf urheberrechtlich ge-schützte Angebote Dritter durch dasSetzen von Hyperlinks ermöglicht,verletzt keine urheberrechtlichenNutzungsrechte. Es wird weder indas Vervielfältigungsrecht noch ineine dem Datenbankhersteller vor-behaltene Nutzungshandlung einge-griffen. Der Internet-Suchdiensthandelt grundsätzlich auch nichtwettbewerbswidrig, wenn er durchHyperlinks den Nutzer an den Start-seiten der Internetauftritte Drittervorbei, unmittelbar auf die AngeboteDritter verweist, und zwar selbstdann, wenn der unmittelbare Zugriffauf die einzelnen Angebote zu einemVerlust von Werbeeinnahmen der In-formationsanbieter – der Nutzerwürde ansonsten auf der Startseiteder Werbung begegnen – führt.

Das Urteil ist mit seinem voll-ständigen Wortlaut in der Januar-Februar-Ausgabe 2004 (Seiten 26 f.)der Zeitschrift „Kunstrecht und Ur-heberrecht“, KUR, mit zustimmen-der Anmerkung von Dr. Eva InésObergfell, Rechtsanwältin in Berlin,abgedruckt.

Eingereicht von Dr. Marcel Schulze,Herausgeber und Schriftleiter der

Zeitschrift „Kunstrecht und Urheber-recht“, KUR, Carl Heymanns Verlag ■

Aus der Not eine Tugend machenDeutscher Kulturrat unterstützt Vorschlag der Kulturstaatsministerin nach regelmäßigem

Bericht zur sozialen Lage der Künstler • Von Olaf Zimmermann

Der Deutsche Kulturrat, der Spitzen-verband der Bundeskulturverbände,unterstützt den Vorschlag derStaatsministerin für Kultur und Me-dien, regelmäßige Berichte zur so-zialen Lage der Künstlerinnen undKünstler vorzulegen.

In der Bundestagsdebatte am12.02.04 zur Antwort der Bundes-

regierung auf die Große Anfrage derCDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion „Wirtschaftliche und so-ziale Entwicklung der künstleri-schen Berufe und des Kunstbetriebsin Deutschland“ wurde mit der Bun-desregierung hart ins Gericht gegan-gen. Die Vorsitzende des Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-land“ Gitta Connemann, MdB,fühlte sich durch die Antwort, gar inihrem Recht als Abgeordnete miss-achtet und urteilte knapp, „der Bergkreißte und gebar eine Maus.“

Damit legte sie die Latte für denAbschlussbericht der von ihr geleite-ten Enquete-Kommission des Deut-schen Bundestags „Kultur inDeutschland“ hoch. Zu erwartensind zuverlässige Angaben zur so-zialen Lage der Künstlerinnen undKünstler und vor allem Handlungs-empfehlungen zu deren Verbesse-rung.

Der kulturpolitische Sprecherder FDP-Bundestagsfraktion Hans-Joachim Otto, MdB, und Mitgliedder Enquete-Kommission „Kultur in

Deutschland“ äußerte Skepsis, obmit Blick auf die zur Verfügung ste-henden Mittel die Enquete-Kom-mission die von ihr erwartete um-fängliche Datenerfassung über-haupt leisten kann. Entscheidendsind seines Erachtens die zu erarbei-tenden Handlungsempfehlungen.

Angelika Krüger-Leißner, MdB,(SPD) Mitglied des Ausschusses fürKultur und Medien, des Ausschussesfür Gesundheit und soziale Siche-rung sowie der Enquete-Kommis-sion „Kultur in Deutschland“ stellteden Zusammenhang zu der vomRechnungsprüfungsausschuss desDeutschen Bundestags in Auftraggegebenen Machbarkeitsstudie zurErmittlung des Selbstvermarktungs-anteil der Künstlerinnen und Künst-ler und der Großen Anfrage her. Ihrsei es ein Rätsel, dass dieses Gutach-ten eingefordert wird, obwohl imKünstlerversicherungsgesetz derBezug zwischen Bundeszuschussund Selbstvermarktungsanteil ge-strichen wurde. Sie sprach sichnachdrücklich für den Erhalt desBundeszuschusses auf dem gegen-wärtigen Niveau aus. Der Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-land“ wird ihres Erachtens die Auf-gabe zukommen, die Künstlersozial-versicherung zukunftssicher zu ma-chen.

Die kulturpolitische Sprecherinder Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen Bundestagsvizepräsidentin Dr.

Antje Vollmer, MdB, ebenfalls Mit-glied der Enquete-Kommission„Kultur in Deutschland“ machteebenso mit Nachdruck deutlich,dass der Bundeszuschusses zurKünstlersozialversicherung nichtabgesenkt werden darf. Sie forderte,dass spezifische Modelle der Ries-ter-Rente für Künstler entwickeltwerden müssten.

Die Staatsministerin für Kulturund Medien Dr. Christina Weissmachte aus der Not der teilweise un-zureichenden Antworten der Bun-desregierung auf die genannteGroße Anfrage eine Tugend. Sie gingauf die fehlenden Aspekte gar nichterst ein, sondern erhob die Forde-rung, dass regelmäßige Berichte zursozialen Lage der Künstler erstelltwerden sollten.

Die von Staatsministerin Weissangeregten regelmäßigen Berichtekönnten einen Überblick über dieEinkommensentwicklung sowie diewirtschaftliche und soziale Situationder Künstlerinnen und Künstler ge-ben. Sie wären ein Instrument umauf einer soliden Datenbasis gege-benenfalls erforderliche sozial- oderwirtschaftspolitische Maßnahmeneinzuleiten. Ein solcher regelmäßigerscheinender Sozialbericht wäreein gutes Ergebnis aus einer ehermageren Beantwortung einer Gro-ßen Anfrage.

Prominenz gibt es überall: Luftbildaufnahme der Stadt RegensburgFoto: Gerald Richter

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DAS LETZTE politik und kultur • März - April 2004 • Seite 28

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Zeitung des Deutschen Kulturrats

Deutscher KulturratBundesgeschäftsstelleChausseestraße 10310115 BerlinTel: 030/24 72 80 14Fax: 030/24 72 12 45Internet:www.kulturrat.deE-Mail: [email protected]

HerausgeberOlaf Zimmermann und Theo Geißler

RedaktionOlaf Zimmermann (verantwortlich), Gabriele Schulz, Andreas Kolb

AnzeigenredaktionMartina Wagner Tel: 0941/945 93 35, Fax 0941/945 93 50E-Mail: [email protected]

VerlagConBrio Verlagsgesellschaft mbHBrunnstraße 23, 93053 RegensburgE-Mail: [email protected]

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DruckDer Neue Tag Druck- und Verlagshaus GmbH, Weiden

Erscheinungsweise6 Ausgaben im Jahr

Preis/Abonnement3,00 Euro, im Abonnement 18,00 Euro im Jahr

puk ist in Bahnhofsbuchhandlungen sowie an Flughäfen erhältlich.

Diese und die vorherigen Ausgaben von politik und kulturkönnen als pdf-Datei aus dem Internet geladen werden unter:http://www.puk-online.net

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Fotosübernehmen wir keine Haftung. Alle veröffentlichten Beiträge sindurheberrechtlich geschützt. Namentlich gekennzeichnete Beiträgegeben nicht unbedingt die Meinung des Deutschen Kulturrates e.V.wieder.

Zum Festakt der Deutschen Kultur-Kammer am fünften Jahrestag derWahren Wende:

Was kleinkarierte Datenschüt-zer, altlinke Wirtschaftsver-

teufler und der mittlerweile gottlobeliminierte Pulk professioneller Kul-turpessimisten vor fünf Jahren als„Maut-Desaster“ diffamierten, alsschmähliche Niederlage einer Bun-desregierung und ihrer angeblichunfähigen High-Tech-Partner, er-weist sich aus angemessener histori-scher Distanz als taktische Meister-leistung, ja: als die Geburtsstundeunseres neuen Deutschland. An die-sem 17. Februar 2009 bedanken wiruns bei General-Daimler-Chrysler,der Deutschen Bahn und ihrer Peo-ple-Car-Division, bei T-Com-Voda-fone samt dem angeschlossenenProfit-Center des ehemals öffent-lich-rechtlichen Rundfunks, nichtzu vergessen Deutsche Bank/CityBank und Pfizer-Bayer für jenes blü-hende Gemeinwesen, in dem wirheute leben dürfen. Es macht unsstolz festzuhalten, dass wir die Ziel-setzungen der damaligen Agenda2010 nicht nur ein Jahr früher er-reicht, sondern bei weitem übertrof-fen haben. Doch werfen wir einenkurzen Blick zurück:

Deutschland im Jammertal 2004.Fünf Millionen Arbeitslose, Staats-überschuldung, Bildungsnotstand,Zinstief und Börsen-Baisse, interna-tionale terroristische Bedrohungen.Die renommierte Historikerin Ve-rona Feldbusch prägte in RTL2 dendamals noch heftig angefeindetenSatz: „Ist ja schlimmer wie vormWeltkrieg“. Es war Zeit für die bes-ten Köpfe unseres Landes, die Sachein die Hand zu nehmen. Zunächstließen unsere führenden Wirt-schaftsexponenten – scheinbar peri-pher – die Verhandlungen über diesogenannte LKW-Maut mit dem inseiner Inkompetenz für die dama-lige Bundesregierung repräsentati-ven Verkehrsministerium scheitern.Wie vom Wirtschaftsweisen RolandBerger vorausgesagt, richtete sichder Volkszorn nicht gegen das hoch-karätige Firmenkonsortium, son-dern gegen die ohnehin schon starkangeschlagene Regierung. Die griffin ihrer Not einen von Deutsche-

Bank-Vorstand Josef Ackermann beieinem Empfang der Bertelsmann-Stiftung an Kultur-StaatsministerinChristina Weiss geschickt lanciertenVorschlag auf, die Bevölkerung miteiner revolutionären Steuerreformim Vorfeld anstehender Landtags-wahlen freundlich zu stimmen. DerRest ist bekannt und sei kompri-miert präsentiert:

Abgeschafft wurden alle Steuerneinschließlich des Dosenpfandes. Anihre Stelle trat Steuer-Gerechtigkeitund Selbstbestimmung: die beschei-dene Mobilitätsabgabe für jedenBürger (wobei man Mallorca, Ibizaund die Dominikanische Republikbehutsam zu deutschen Freibewe-gungs-Zonen ohne Gebühr dekla-rierte). Zwecks gerechter Messungder physischen Mobilität wurden anzwei Millionen Kontrollpunkten derRepublik die bekannten formschö-nen Mess-Brücken errichtet, wobeidurch Integration der an den Fern-straßen bereits vorhandenen Kon-troll-Stationen erhebliche Einspar-Effekte erzielt werden konnten. Denwirtschaftlichen Aufschwung-Faktorallein dieser Baumaßnahme nanntedie oben bereits zitierte Verona Feld-busch treffend „Adis scharfen Auto-bahn-Trick“. Seine Folge: SofortigeVollbeschäftigung.

Erleichtert wurde diese Strategieausgerechnet durch eine besondersmisslungene Regelung im Rahmeneiner kurz zuvor vollzogenen „Ge-sundheitsreform“: Den Bürgernstellte man frei, sich – statt eine so-genannte Praxisgebühr zu löhnen –fast schmerzfrei den bekannten Pic(Personen-Identifikations-Chip) inden Augenhintergrund implemen-tieren zu lassen. Eher eine zusätzli-che Kontroll-Massnahme, da bei ei-ner Handy-Sättigung von über 95Prozent die Bewegungen der Deut-schen dank GPS und T-Com-Voda-fone ohnehin schon metergenau in-dividuell zu erfassen waren.

Was Wunder, dass angesichtsdieser Erfolge im Rahmen der 2005er-Volksabstimmung die überkomme-nen Instrumente der Nachkriegs-Demokratie per Tele-Voting abge-schafft und das Toll-Correct-Con-sortium als Kompetenzzentrum zureffektiven Steuerung dieses unseresLandes mit 99,98 Prozent aller Stim-

men definitiv installiert werdenkonnte. Besonderer Dank gilt an die-ser Stelle den meisten Führungs-Persönlichkeiten der damaligenBundeswehr, die durch rasche Um-wandlung des Heeres und der Luft-waffe in einen ebenso zivilen wie effektiven Ordnungsdienst maßgeb-lich an der Gestaltung des reibungs-losen Stabwechsels mitwirkten.

Nach unbedeutenden Start-Schwierigkeiten (erinnert sei an denaufflackernden Unmut über den In-tellektuellen-Export in irakischeGerbereien und die anfänglichen Ir-ritationen bei Einführung der finalenAltersgrenze von 56 Jahren auf An-trag der Barmer Ersatzkasse) gilt esjetzt, eine Erfolgsgeschichte ohne-gleichen zu feiern und zu dokumen-tieren. Gerade auch die fast zweitau-send lizenzierten Kulturschaffendenprofitieren vom neuen System – manmöchte fast sagen: überdurch-schnittlich. Gesichert ist heute dieseinerzeit marode Künstler-Sozial-versicherung. Durch Dreimonatsver-träge auf Junior-Controller-Niveaukonnte im Gagen-Bereich eine Ba-lance zwischen permanenter Moti-vation und sozialer Sicherheit er-zeugt werden, die hör- und sichtbarleistungsfördernd wirkt. NatürlicheFolge ist: Die zwanzig MillionenDeutschen lieben Ihre Kultur. Sie ste-hen hinter Ihnen. Sie zählen auf Sie.

Theo Geißler ■

Kurz-SchlussToll-Correct

Theo Geißler, Herausgeber der „neuenmusikzeitung“ und „Jazzzeitung“ sowieMitherausgeber der puk, Moderator derRadiomagazine „taktlos“ (BR/nmz) und„contrapunkt“ (BR)

Foto: Barbara Haack

Zeichnung: Dieko Müller