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Zürcher Fachhochschule Zürcher Fachhochschule 1 Modul 63: Psychoanalytisches Pädagogik und Fallverstehen in der Sozialen Arbeit Von der Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung aus psychoanalytischer Sicht

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Modul 63: Psychoanalytisches Pädagogik und Fallverstehen in der Sozialen Arbeit

Von der Bedeutung der frühkindlichen

Entwicklung aus psychoanalytischer

Sicht

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Modul 63: Psychoanalytisches Pädagogik und Fallverstehen in der Sozialen Arbeit

Triebtheoretische und „Ich-Psychologische AnsätzeSymbiose und Individuation: Frühe Entwicklungsaufgaben nach Margret Mahler

Theoretikerin des „psychischen Geburt“ des Menschen:

„Die biologische und die psychische Geburt des Menschenkindes fallen zeitlich nicht zusammen. Die erste ist ein dramatisches, beobachtbares und genau um-rissenes Ereignis, die zweite ein sich langsam entfaltender und intrapsychischer Prozess“. (Mahler, S. 13)

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Symbiose und Individuation: Phasenmodell nach Mahler

Nach Geburt: Normale autistische Phase (mit autistischer Schale)

Ab 2. Monat Normale symbiotische Phase (Grenzen zwischen Selbst und Objekt verschwinden)

Ab 4.-5. Monat Phase der Separation-Individuation 1. Subphase, 4.-8 Mt.: Differenzierung (entdeckt Getrenntsein von Mutter; „Fremdenangst“)

2. Subphase, 9.-15.Mt.: Übungsphase (Bewegung; Gefühl narzisstischer Omnipotenz; „Checking-back“)

3. Subphase,15.-18.Mt.: Wiederannäherung (vermehrtes Empfinden der Trennungsangst („Ambitendenz“)

Wiederannäherung als besonders kritische Phase: Potential für Störungen in der Auto- nomie- und Selbstentwicklung (u.a. Borderline-Störungen: unlösbarer Konflikt zwischen Wunsch nach Autonomie und Angst vor Liebesverlust; Anklammerung und Angst vor zu vor zu viel Nähe)

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ObjektbeziehungstheorienGrundposition und Richtungen

Einfluss früher Bezugspersonen auf die Entwicklung des Kindes stehen im Vordergrundund nicht v.a. Frustrationen, die dem Triebwunsch des Kindes entgegengehalten werdenund strukturbildend wirken.

Wichtige „Schulen“:

- Kleinianische Objektbeziehungstheorie Melanie Klein, Anna Segal, Robert Hinshelwood, u.a.

- „Independent School“ der Britischen Psychoanalyse Donald W. Winnicott, Christopher Bollas Melanie Klein Donald Winnicott

- amerikanische Objektbeziehungstheoretiker Otto Kernberg,

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ObjektbeziehungstheorienKleinianische Objektbeziehungstheorie

Unterscheidung von zwei Grundpositionen

1. Paranoid-schizoide Position

„Mutter“ wird in zwei Partialobjekte geteilt: ein verfolgendendes und ein idealisie- rendes; analog im Selbst ein verfolgendes und ein idealisierendes Objekt die eigenen negativen Affekte (Wut, Hass, Ekel) werden auf das böse Objekt projiziert die guten Gefühle (Liebe, Zuneigung, Wünsche) richten sich auf ein idealisiertes, gutes Objekt, mittels Introjektion oder Identifizierung Verfolgungsangst ist charakteristisch in dieser Position

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ObjektbeziehungstheorienKleinianische Objektbeziehungstheorie

Unterscheidung von zwei Grundpositionen

1. Paranoid-schizoide Position

«Die (…) Person ist angerührt, leicht verletzlich, erlebt die Welt als bedrohlichen Ort, ist misstrauisch und ständig auf der Hut vor Ungerechtigkeiten. Sie tendiert dazu sich zu beklagen, sieht vor allem das Negative und erwartet, dass Dinge schiefgehen werden. Sie hält keine Kritik aus, kann kaum Verantwortung für misslungene Handlungen übernehmen, sucht den Schuldigen in ihrer Umgebung, ist sehr mit sich beschäftigt und neigt dazu, alles auf sich zu beziehen. Sie schwankt zwischen dem Gefühl grossartig zu sein und Phasen des Selbstzweifels und der Minderwertigkeit und versucht, andere Menschen mit verschiedenen Mit- teln zu kontrollieren. In Beziehungen werden oft die genannten Befürchtungen er- füllt, es gibt Enttäuschung und Frustration, befriedigende Beziehungen sind selten. (Diem-Wille 2007, S. 82f)

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ObjektbeziehungstheorienKleinianische Objektbeziehungstheorie

Unterscheidung von zwei Grundpositionen

2. Depressive Position

Wichtiger Entwicklungsschritt Es wird jetzt anerkannt, dass das Objekt und Selbst sowohl „gute“ wie auch „böse“ Anteile hat und akzeptiert beides Angst, mit eigenen aggressiven Impulsen Objekt zu schädigen und von ihm deswegen verlassen zu werden (depressive Angst) Nimmt Getrenntheit vom Objekt wahr und daher empfänglich für Erfahrung mit dem Dritten (Vater)

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ObjektbeziehungstheorienKleinianische ObjektbeziehungstheorieUnterscheidung von zwei Grundpositionen

2. Depressive Position

«Die (…) Person ist mit ihren Gefühlen, ihrem Ärger und Unglück, ihrer Freude und Trauer in Kontakt. Sie kann Kritik annehmen und die eigenen Handlungen kritisch einschätzen, sich um andere Menschen sorgen und Dinge wieder gutmachen, wenn etwas schiefgelaufen ist. Sie sieht ihre eigenen Motive und Handlungen realistisch und kann die eigene Position in Beziehung zu anderen und zur Welt vernünftig einschätzen. Eine optimistische Grundstimmung führt zu freundlicher Resonanz bei den andern Menschen, das Leben wird als zufriedenstellend und beglückend erlebt.» (Diem-Wille 2007, S. 83)

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ObjektbeziehungstheorienKleinianische Objektbeziehungstheorie

Zentraler Mechanismus bei Klein:

Projektive Identifizierung Externalisierung eigener unerträglicher Teile auf das Objekt Kontrolle dieser abgespaltenen Teile beim Objekt mittels manipulativer Verfahren

Relevant nun, dass (Primär-)Objekt als „Container“ für die unerträglichen Gefühle dient Aufgabe der Mutter: abgespaltene Gefühle aufnehmen und in „seelisch verdauter“, reiferer Form an Säugling zurückspiegeln

Vgl. Textauszug aus Leuzinger-Bohleber, S. 82 Vgl. Text von Priscilla Roth: «Projektive Identifizierung»

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ObjektbeziehungstheorienIndependent British SchoolGehören weder zu den Kleinianern noch zu den Freudianern um Anna Freud Beachten Einfluss einer fördernden / beeinträchtigenden Umwelt Legen Schwerpunkt auf die Entwicklung des Selbst („wahres“ und „falsches“ Selbst)

Grundproblematiken nach Winnicott: Aggression ist ein angeborener „Lebenstrieb“, ist Aktivität und Bewegung (Motilität)

Totale Abhängigkeit des Säuglings von seinen Primärobjekten? «Wie kann aus einem absolut abhängigen und der äusseren Realität völlig ausgelieferten Säugling nach und nach ein erwachsener Mensch werden, der die Realität nicht nur oder nicht überwiegend als eine Beleidigung und Bedrohung für sein Lebensgefühl empfinden muss?» (Winnicott, zit. nach Leuzinger-Bohleber 2009, S. 85)

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Thematische Schwerpunkte von Winnicott

-Konzept der ausreichend guten Mutter (good enough mother)

-Einfluss von Reifung und Umwelt (Maturational processes and the Faciliating

Environment)

-Konzept des Haltens (holding)

-Theorie des Übergangsobjekts/ des Übergangsphänomens

-Bedeutung des kindlichen Spiels für die Kreativitätsentwicklung

-Konzept der emotionalen Deprivation und der antisozialen Tendenz

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Winnicott: Übergangsobjekt / Intermediärer Raum

Repräsentiert sowohl den Säugling (das Selbst) wie auch die Mutter (das Nicht-Selbst). Ermöglicht Beziehung zu innerem, befriedigendem, nun aber real abwesendem Objekt (Mutter). Überbrückt Kluft zwischen Ich und Nicht-Ich.

Das Objekt unterliegt dabei immer noch der omnipotenten Kontrolle des Kindes. Es geht letztlich um klare und stabile Grenzen zwischen innen und aussen, Selbst und Objekt, zwischen belebten und unbelebten Objekten

Das Übergangsobjekt ermöglicht Umgang mit nicht-integrierbaren, grenzenlosen, archaischen Vernichtungsphantasien dank Möglichkeit zur Wiedergutmachung (vgl. depressive Position). Fähigkeit, sich in das Objekt eigener aggressiver Impulse einzufühlen; Fähigkeit zum Erbarmen.

Vgl. Textauszüge aus Winnicott «Vom Spiel zur Kreativität»

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Winnicott: «Was ist ein normales Kind?»

«Ist es eines, das einfach nur isst und wächst und dabei lieblich lächelt?Nein, so ist kein Kind. Ein normales Kind, das Vertrauen zu Vater und Mutter hat, überschreitet alle Grenzen. Nach und nach erprobt es seine Macht zu zerstören, zu zerreissen, zu erschrecken, zu entnerven, zu verschwenden, zu mogeln, und sich etwas anzueignen. All das, was Leute vor Gericht (oder in die geschlossene Anstalt) bringt, kommt auch als normale Erscheinung in der Säuglingszeit und frühen Kindheit eines Kindes seiner Familie gegenüber vor. Wenn die Familie alle zerstörerischen Attacken des Kindes heil übersteht, kann es zur Ruhe kommen und spielen; aber ‘zuerst kommt’s Geschäft’. Es muss erst sichergestellt werden – und besonders dann, wenn es Zweifel gibt -, dass die elterliche Beziehung und das Zuhause (womit ich viel mehr als das Haus meine) stabil genug sind. Zuallererst muss das Kind sich eines festen Rahmens bewusst sein, damit es sich frei fühlen kann, spielen, seine eigenen Bilder malen, kurz, ein verantwortungs-loses Kind sein kann.» (Winnicott 1988, S. 150f)

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Was braucht demnach ein normales Kind?

«Ganz am Anfang braucht es unbedingt Liebe und Strenge (gepaart mit Toleranz) um sich herum, damit es sich vor seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen nicht so sehr fürchten muss, dass es in seiner emotionalen Entwicklung keine Fortschritte machen kann.» (Winnicott 1988, S. 151)

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Fähigkeit zur Besorgnis

«Das Wort ‘Besorgnis’ (concern) wird verwendet, um ein Phänomen positiv zu benennen, das negativ mit dem Wort ‘Schuld’ (guilt) bezeichnet wird. Ein Gefühl von Schuld entsteht aus der Angst, die mit der Entwicklung der Ambivalenz auftritt, und setzt ein gewisses Mass an Integration im Ich voraus, die es ermöglicht, dass eine innere gute Objektrepräsentanz erhalten bleibt, auch wenn sie in der Phantasie zerstört wird. (…)Besorgnis meint die Tatsache, dass jemand sich kümmert, acht gibt und Verantwortung sowohl empfindet als auch akzeptiert.»

«Gewöhnlich geht man davon aus, dass die Fähigkeit zur Besorgnis in der Beziehung zwischen Säugling und Mutter entsteht. Man nimmt an, dass der Säugling dann schon eine einheitliche Person sein und die Mutter oder ihren Stellvertreter bereits als ganze Person erleben muss.» (Winnicott 1988, S. 133f)

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Fehlende Fähigkeit zur Besorgnis und das antisoziale Verhalten

«Das übliche Muster sieht wie folgt aus:1. Zunächst wurde das Kind ausreichend gut versorgt.2. Dann trat irgendeine Störung ein3. Das Kind war überfordert (die Abwehrmechanismen brachen zusammen)4. Das Kind richtete sich mit neuen, jetzt primitiveren Abwehrmechanismen ein5. Das Kind entwickelt neue Hoffnung und begeht antisoziale Taten, weil es hofft, die Gesellschaft zwingen zu können, mit ihm zu dem Punkt zurückzukehren, an dem die Störung eintrat, und diese Tatsache anzuerkennen.6. Wenn dies geschehen ist, dann kann das Kind wieder Verbindung zu der Zeit vor dem Augenblick der Deprivation aufnehmen und das gute Objekt und die schützende Umwelt wiederentdecken, die ihm früher ermöglicht hatte, seine Triebe, auch seine destruktiven, zu erleben» (Winnicott 1988, S. 146)

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Antisoziale Tendenz

Antisoziale Tendenz ist keine Diagnose (kommt bei allen Menschen vor)Antisoziale Tendenz ist zu sehen als Zeichen der HoffnungAntisoziale Tendenz zwingt die Umwelt, Stellung zu beziehen

Antisoziale Tendenz bedeutet, dass ein wirklicher Verlust (deprivation) stattgefunden hat, „das heisst, etwas Gutes, das das Kind bis zu einem bestimmten Zeitpunkt positiv erlebt hat, ist ihm entzogen worden“ (Winnicott 1988, S. 162ff).

Zwei Entwicklungstendenzen bei der antisozialen Tendenz:- Stehlen (das Kind sucht nach etwas)- zerstörerisches Verhalten (das Kind sucht nach einer Umwelt, die stark genug ist, um dem Druck durch sein impulsives Verhalten standzuhalten)

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Was macht das antisoziale Kind (aus)?

-«Das antisoziale Kind ist lediglich eins, das seine Suche weiter ausgedehnt hat und, und statt von seiner Familie oder Schule, nun von der Gesellschaft die Stabilität fordert, die es braucht, um die frühen und wesentlichen Stufen seines emotionalen Wachstums bewältigen zu können.»

-«Solange der Delinquent keinen offenen Konflikt heraufbeschwört, kann er in seiner Liebesfähigkeit nur immer mehr gehemmt werden und als Folge immer mehr in einen Zustand von Depression und Depersonalisation hineingeraten, bis er unfähig ist, überhaupt noch irgendetwas anderes denn Gewalt als real zu erleben.»

-«Delinquenz ist ein Hinweis, dass es immer noch ein wenig Hoffnung gibt.»

-«Das antisoziale, kranke Kind, das keine Chance hatte, eine ‘gute innere Umwelt’ zu entwickeln, braucht unbedingt Kontrolle von aussen, um über-haupt zufrieden zu sein und spielen und arbeiten zu können.» (Winnicott 1988, S. 152f)

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Strafen und Dankbarkeit

-«Die Bestrafung schwieriger Kinder kann nötig sein, aber das hat dann mit der Unbequemlichkeit der Symptome und mit der Unruhe zu tun, die diese Symptome bei denen auslösen, die das Heim für die Ausschussmitglieder hübsch zu machen versuchen, die als Abgesandte der Gesellschaft kommen»

«Eltern, die von einem Baby Dankbarkeit erwarten, suchen nach etwas falschem.»

«Kinder empfinden das ‘Danke’ als Unterwerfung und als Möglichkeit, jemanden in gute Laune zu versetzen. Dankbarkeit dagegen ist etwas sehr kompliziertes und hängt von der Art ab, in der sich die kindliche Persönlichkeit entwickelt.» (Winnicott 1988, S. 288)

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Der kritische Zeitpunkt

« Es ist ein untrennbarer Bestandteil des therapeutischen Elements unserer Arbeit, wenn Kinder, bei denen es anschlägt, zu sich selbst finden und sehr anstrengend werden. Sie machen Phasen durch, in denen Gewalttätigkeit und Stehlen die Formen von Hoffnung sind, die sie auszudrücken imstande sind. Bei jedem einzelnen Kind, das in einem Heim behandelt wird, muss eine Phase kommen, in der es zum Sündenbock gestempelt wird. ‘Wenn wir nur dieses eine Kind loswerden könnten, dann wäre alles gut’. Dies ist ein kritischer Zeitpunkt. Sie werden mir zustimmen, dass es jetzt darauf ankommt, nicht zu versuchen, Symptome zu heilen, Moral zu predigen oder Bestechungen anzubieten. Jetzt geht es darum, dass Sie überleben. In diesem Setting bedeutet das Wort überleben nicht nur, dass Sie es schaffen, diese Phase zu überstehen und keine Verletzungen davonzutragen, sondern auch, sich nicht zu Racheaktionen hinreissen zu lassen. Wenn Sie überleben, dann – und nur dann – hat das Kind auf seinem Weg dazu, eine Person zu werden, auf natürliche Weise von Ihnen Gebrauch gemacht. Es ist zum ersten Mal in der Lage, eine Geste zu machen, die auf sehr vereinfachte Weise Liebe ausdrückt.» (Winnicott 1988, S. 289)

Vgl. Textauszug aus Winnicott: Heimfürsorge als Therapie

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Beigezogene Literatur:

- Diem-Wille, G. (2007). Die frühen Lebensjahre. Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Freud, Klein und Bion. Stuttgart: Kohlhammer- Klein, M. (2000; Orig. 1959). Die Welt der Erwachsenen und ihre Wurzeln im Kindesalter. In: Gesam- melte Schriften. Band III. S. 387-412. Stuttgart: Frommann-Holzboog- Klein, M., Riviere, J. (1983). Seelische Urkonflikte. Liebe, Hass und Schuldgefühle. Frankfurt: Fischer- Leuzinger-Bohleber, M. (2009). Frühe Kindheit als Schicksal? Trauma, Embodiment, Soziale Desintegration. Psychoanalytische Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer - Mahler, M. (1975). Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt a.M.: Fischer- Winnicott, D. (1988). Aggression. Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz. Stuttgart: Klett-Cotta- Winnicott, D. (2006, Orig. 1971). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta

12.10.2012 Hanspeter Hongler