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Fallverstehen: Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein… Priv. Doz. Dr. Menno Baumann

Fallverstehen: Von der Kompetenz, ein Systemsprenger zu sein… Priv. Doz. Dr. Menno Baumann

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Fallverstehen:

Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein…

Priv. Doz. Dr. Menno Baumann

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Kinder, die Systeme sprengen - „Systemsprenger“?

Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch

Brüche geprägten negativen Interaktionsspiralemit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestatet.

(Baumann i.Vorb.)

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2% 10%

56%

31%

Anteile der angegebenen Systemsprenger zu verschiedenen Altersgruppen (vgl. Baumann 2010, 34)

Kinder bis 10 Jahre

Vorpubertät (10-13 Jahre)

Pubertät (14-16 Jahre)

Junge Erwachsene (über 17 Jahre)

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Im wesentlichen trifft dies folgende Phänomene:

Drogenkonsum und/ oder –handel auch in der Einrichtung

Anhaltende Gewaltbereitschaft auch gegenüber Erwachsenen oder gegenüber jüngeren/ schwächeren Kindern

Ständige Entweichungen, besonders in Kombination mit Prostitution

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Bei aller Beschreibung bleibt die Frage:

Warum Fallverstehen?

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Fallverstehen kommt im Rahmen der Arbeit mit vermeintlichen „Systemsprengern“ eine dreifache Bedeutung zu:1. Verstehen macht belastbarer, weil es den jungen

Menschen weniger unberechenbar erscheinen lässt!

2. Verstehen hilft, ein Angebot zu planen, gegen das der junge Mensch nicht kämpfen muss.

3. Verstehen ermöglicht, Rückzugsräume und Entlastungsmöglichkeiten zu sehen und zu nutzen.

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Dabei bewegt sich Fallverstehen auf unterschiedlichen Ebenen:

Ebene der institutionellen Eskalationslogik

Ebene der Partizipation

Ebene der verstehenden Diagnostik

Ebene der Planung des nächsten Schrittes

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1. Ebene der institutionellen EskalationslogikEntlassung/ Rauswurf/ Beendigung der Maßnahme

Rückkehr nach Hause mit erneuter niedrigschwelliger Hilfe

Unterbringung in einer anderen Einrichtung

Suche nach intensiveren Maßnahmen (Pädagogischer Auslandsaufenthalt, geschlossene Unterbringung etc.)

Kinder- und Jugendpsychiatrie

Jugendvollzugsanstalt

Straße

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Jgdl.

Phasen des Rückzuges aus gesellschaftlichen Bezügen:

Phasen des gesellschaftlichen Versuches, Jugendlichen in Strukturen zu zwingen

Straße (Obdachlosigkeit)

„offizieller“ Wohnort bei schwacher Anbindung und gleichzeitig deutlichem Bezug zu Milieu (Drogenszene, Jugendbanden, Rotlichtmilieu etc.)

Jugendhilfe

KJP

Justiz

Problem: Prozess beschleunigt sich!!!

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Die Hoffnung, eine solche Karriere durch immer rigidere bis zu freiheitsentziehende Maßnahmen reichende „Lösungen“ unterbrechen zu können, stellt sich in den allermeisten Fällen als utopisch dar!

Kernproblem: Es fehlt die Frage nach der Indikation! Eine „Verschärfung“ der Maßnahmen lediglich als „Ultima Ratio“ zu sehen, weil nichts anderes mehr geht, ist in der Regel keine gute Grundlage für eine Hilfeplanung

„Mehr desselben“ ist nicht immer gleich „Besser“

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Die zunehmende Differenzierung von Unterstützung führt also in vermeintlich schwierigen Fallverläufen gerade NICHT zu einer besseren Versorgung, sondern zu Prozessen - der Parallelität- des Nacheinanders - des Gegeneinanders von Hilfen und Professionen

Ein zweites schwerwiegendes Problem

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Hypothese:Um zu der Frage, welches Hilfesetting den Jugendlichen (noch) erreichen könnte, eine Antwort zu geben, müssen die Helfer verstehen, welchem inneren Sinn das Verhalten, welches den jungen Menschen zum „Systemsprenger“ macht, folgt!

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2. Ebene der Partizipation oder: sich am Jugendlichen orientieren

Wichtig ist die „Gleichberechtigung“ dreier Faktoren in der Beschreibung und Bewertung des Verhaltens des jungen Menschen und seiner persönlichen Ziele:

Aussagen des jungen Menschen: Was sagt er

zu seinem Verhalten, seiner Situation, seinen

Zielen?

Verhalten des jungen Menschen: Was tut er,

und in welchem Verhältnis steht das zum Verbalisierten?

Äußere Rahmenbedingungen (Es gibt nur eine Autorität auf der Welt, und das ist die Realität, (Ruth

Cohn))

Fallverstehen!!!

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3. Ebene der verstehenden Diagnostik

Analysiert man die Ausgangslage der Kinder und Jugendlichen innerhalb ihres Bezugsmilieus, kommt man zu dem Punkt, dass alle „Systemsprenger“ über

eine gewaltige innere Stärkegute Resilienzfaktoren und Lösungskompetenzen

verfügen.Mit Blick auf die institutionelle Eskalationsdynamik und den Hilfeverlauf lässt sich zeigen, dass es DIESE RESILIENZFAKTOREN SIND, die den jungen Menschen immer wieder mit dem pädagogischen System in Konflikt bringen.

Ein zentrales Ergebnis der Studie (vgl. Baumann 2010, 88 ff):

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Das pädagogische System kämpft also gegen die innere Überlebenslogik des jungen Menschen

Da die innere Not des gekränkten Kindes immer stärker ist als beruflich verordnete Konsequenz, ziehen wir in diesem Machtkampf zwangsläufig den Kürzeren!

Eskalationslogik!

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Aus den Fallanalysen konnte ein Motiv herausgearbeitet werden, das in unterschiedlichen Nuancen ein Rolle bei dieser Eskalationslogik spielt (vgl. Baumann 2010, Kap. 6):

Kontrolle

Kontrolle situativer Unsicherheiten Kontrolle im Rahmen der

eigenen Biographie über/ gegen das Hilfesystem

Kontrolle über die Tragfähigkeit des umgebenen Netzes

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Kategorie „A“ Eskalation als Kontrolle akuter situativer Unsicherheit

Ordnungsstrukturen der Umwelt/ Verhalten anderer Menschen nicht/ schwer durchschaubar; scheiternde Antizipation des Zukünftigen; -> Angst, Überforderung;

Eskalation = Kausalität = SicherheitTypische Merkmale:- Erschaffung von Alternativen Lebensräumen/ Eigenwelten- Erschaffung eigener Regel- und Gesetzmäßigkeiten- Nicht bewältigte Lebensbedingungen- Schwierige Kontaktaufnahmestrategien- häufig: Suchthaushalte oder schwere, unberechenbare Gewalterfahrungen (gilt auch für andere Kategorien)

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Kernmotiv:Hilfe wird als Übergriff gesehen; „Die wollen was von mir!“; Annehmen von Strukturen (anpassen) steht eigenen Zielen (ausbreiten) entgegen

Kategorie „B“:Eskalation als Kampf um Autonomie gegen das Hilfesystem

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B1)- teilweise bewusste Ziele d. Jugendlichen

- Enttäuschung über gescheitertes Familiensystem mischt sich mit Ablehnung des Hilfesystems

- teilweise feste, das System erhaltende Rolle in der Familie; Machtkämpfe mit Eltern, die in die Einrichtung hineingetragen werden

B2) - Jugdl. übernehmen Versorgungsauftrag für Mitglieder oder Strukturen in der Familie

- Jugendhilfe steht dem selbst auferlegten Versorgungsauftrag entgegen

- bei Aufgabe der Rolle Haltverlust

- Versuchen, alte Ordnung zu verteidigen/ wiederherzustellen

B3)- unbewusste Ziele:

Kontrolle über Erziehungshilfe-system nach erlebtem Kontrollverlust

- Eskalation als Re –Inszenierung des Verlustes/ Abbruchs

- selektive Wahrnehmung der angebotenen Hilfe

Facetten der Kategorie „B“:

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Verhaltensweisen, die Reaktion erzwingen: internalisierende Verhaltensweisen (Nahrungsverweigerung, Selbstverletzung)externalisierend: ausagierendes Verhalten, das Kontrolle und Kümmern verlangt, persönlich verletzendes Verhalten/ Respektlosigkeit hoher depressiver Anteil

Kernmerkmale der Kategorie:Völlige Entwurzelung; Kein ‚gefühltes Zuhause’ identifizierbar/ benennbar; ‚Wo gehöre ich hin?’ Kernfamilie als Identitätsgrundlage unbrauchbar

Kategorie „C“: Eskalation als Frage an Helfer: „(Er-) Tragt Ihr mich?“

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4. Ebene der Planung des nächsten Schrittes

Auf der Grundlage des Fallverstehens muss im Rahmen der weiteren Erziehungs-, Maßnahme- und Settingplanung eine Gleichberechtigung zweier Fragen erörtert werden:

1. Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit der junge Mensch nicht dagegen kämpfen muss?

2. Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit die Mitarbeiter(innen) und die Rahmung insgesamt den jungen Menschen aushalten kann?

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situativ:Möglichkeiten der Deeskalation, des Aushaltens, des immer wieder neu Startens

perspektivisch/ planerisch:Möglichkeiten der Diagnostik, des gemeinsam getragenen Fallverständnisses und der Ziel- und Perspektivplanung

als unerlässlicher Rückhalt:Möglichkeiten des Luftholens, des Zeitgewinns und des Verteilens auf viele Schultern – Trotz Kontinuität

Haltung,

Professionsve

rständnis,

Kompetenzerwerb

Was brauche ich für die Arbeit mit „Systemsprengern“?

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Literaturtipps:

Baumann, M. (2012): Kinder, die Systeme sprengen – Band 1: Wenn Jugendlich und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Baltmannsweiler (Schneider Verlag)

Baumann, M. (i.Vorb.): Kinder, die Systeme sprengen – Band 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule. Baltmannsweiler (Schneider Verlag)

Fort- und Weiter-bildungen zum Thema:

Infos bei:PD Dr. Menno Baumann

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